Philip Plickert

Die VWL auf Sinnsuche

Ein Buch für zweifelnde Studenten
und kritische Professoren

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Philip Plickert

Die VWL auf Sinnsuche

Ein Buch für zweifelnde Studenten und kritische Professoren

Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Frankenallee 71  81

60327 Frankfurt am Main

Geschäftsführung: Oliver Rohloff

1. Auflage

Frankfurt am Main 2016

ISBN 978-3-95601-216-7

Copyright

Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Frankenallee 71–81

60327 Frankfurt am Main

Umschlag

Julia Desch, Frankfurt am Main

Satz

Wolfgang Barus, Frankfurt am Main

Titelbild

© inueng – Fotolia.com

E-Book-Herstellung

Zeilenwert GmbH 2017

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1.Teil: Die Ökonomen in der Krise und im Wandel

Im Interview: Monika Schnitzer, Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik „Es geht darum, dass es den Menschen besser geht“

Im Interview: Detlef Fetchenhauer, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Universität zu Köln: „Den Ökonomen glaubt man nicht“

Gefangen in der Formelwelt

Wettlauf der Forscher

Die Tücken der Prognosen

Die Ökonomen und der Mindestlohn

Abschied von Mr. Spock

Wirtschaft als Experiment

Ein Schubs in die richtige Richtung?

Der Teufel steckt in der Empirie

Sind Ökonomen patriotisch?

Gesucht: Weibliche Top-Ökonomen

Die dunkle Seite der Wissenschaft

Ein Bindestrichfach

Ein Volk von Ökonomie-Analphabeten

2. Teil: Vom Wert der Vergangenheit

Die Renaissance der Wirtschaftsgeschichte

Alles Napoleon, oder was?

Vom Piraten zum Ehrenmann

Gute Professoren

Ökonomen gegen Hitler

Am Rande des Wirtschaftswunders

Der Planer tappt im Dunkeln

Die große Täuschung

Wunder dauern etwas länger

3.Teil: Die Finanzkrise – Doping mit billigem Geld

Geld, Gold, Greenspan

Notenbanker auf dem Gaspedal

Das „Wunder“ der Banker

Wie schön ist es, systemrelevant zu sein

Die Banken sind fett und gefährlich

Wir retten keine Banken mehr

4.Teil: Eurokrise und kein Ende

Eine Krise mit Ansage

Der Euro – eine Friedenswährung?

Vielfalt ist Trumpf

Die tiefen Wurzeln der Staatsschuldenkrisen

Bedauerlicherweise bankrott

Vereinigte Schulden von Europa?

Der Euro und die Zaubertaler

Was bedeutet europäische Integration?

Zombie-Gefahr

Alles hängt an der Formel

Wie das Eis an der Sonne?

Ist das 2-Prozent-Ziel der EZB noch zeitgemäß?

Keine Angst vor dem Deflationsgespenst

Die Zentralbank zielt daneben

Die Schrumpfgeld-Verschwörer

5.Teil: Mensch, Gesellschaft und Umwelt

Größer und fetter

Macht uns Geld nicht glücklich?

Angst essen Verstand auf

Das Märchen vom guten Strom

Neid bremst den Fortschritt

Die große Bevormundung

Wenn manche gleicher als gleich sind

Frauen und Kinder ertrinken zuerst

Die Verstaatlichung der Kinder

Frührente verkürzt das Leben

Frauen sind die besseren Diktatoren

Die Auserwählten

6.Teil: Neue Blicke auf die Politische Ökonomie

Wer regiert, ist egal

Der Bürger ist der bessere Kassenwart

Eine Stimme gegen den Superstaat

7.Teil: Arm und Reich in der Weltwirtschaft

Warum die Armen arm bleiben

Ressourcenreichtum kann ein Fluch sein

Mutter Afrikas zerstrittene Kinder

Die Kosten der Flüchtlingskrise

Die mühsame IT-Revolution

Ist es mit dem Wachstum vorbei?

Nehmen Roboter uns die Arbeit weg?

Bedrohte Meinungsfreiheit

Anmerkungen

Der Autor

Vorwort

Keine andere Sozialwissenschaft hat solche Macht über unser Leben wie die Volkswirtschaftslehre. Was Ökonomen erforschen und lehren, wozu sie raten und wovor sie warnen – all das hat großen Einfluss in Medien und Politik. Nicht zu unterschätzen ist auch der langfristige Einfluss ökonomischer Lehren. Im letzten Kapitel seiner „General Theory“ schrieb John Maynard Keynes vor achtzig Jahren: „Die Ideen von Ökonomen und politischen Philosophen, seien sie richtig oder falsch, sind mächtiger als üblicherweise angenommen (…) Praktiker, die von sich glauben, sie unterlägen keinerlei intellektuellen Einflüssen, sind gewöhnlich die Sklaven eines längst verstorbenen Ökonomen.“1

Dass sich Politiker sklavisch an Ökonomen-Lehren hielten, ist natürlich stark übertrieben. Oft genug pfeift die Politik auf das, was Wissenschaftler sagen. Politiker in Demokratien wollen Wahlen gewinnen. Viele Ökonomen beklagen sich, dass ihre Ratschläge zu wenig gehört würden.2 Doch ohne Zweifel hat ihr Wort Gewicht. Und das nicht nur im engeren Bereich der Wirtschafts- und Finanzpolitik, in Fragen der Arbeitsmarkt- oder Sozialpolitik, beim Umgang mit der Finanz–, Schulden- und Euro-Krise. Ökonomen äußern sich auch zur Bildungspolitik, zur Gesundheitspolitik, zu Energie-, Umwelt-, Klimafragen, selbst zu außenpolitischen Themen. Sie sind weit einflussreicher als Politologen oder Soziologen, von den Geisteswissenschaften ganz zu schweigen. Kritiker beklagen eine „Ökonomisierung“ (fast) aller Bereiche des Lebens, weil Ökonomen praktisch alle Fragen der menschlichen Gesellschaft mit ökonomischen Theorien analysieren.

Und zugleich gibt es ein großes Unbehagen an der VWL, auch innerhalb der Disziplin selbst. Umfragen zeigen, dass ein Großteil der Bevölkerung nur wenig Vertrauen in die Ökonomen hat. „Den Ökonomen glaubt man nicht“, fasste der Kölner Wirtschaftspsychologe Detlef Fetchenhauer die Ergebnisse einer breiten Befragung zusammen, die er vor einigen Jahren, kurz nach dem Höhepunkt der Finanz- und Wirtschaftskrise, gemacht hatte. (Siehe Interview auf S. 46 ff.) In dieser repräsentativen Umfrage sagten 80 Prozent der Deutschen, die Gesellschaft würde auch ohne Ökonomen ganz gut auskommen. Nur jeder Siebte hielt Ökonomen generell für glaubwürdig. Das waren zwar höhere Werte als für Politiker (und Astrologen), aber Ökonomen wird deutlich weniger geglaubt als etwa Psychotherapeuten oder Ärzten.3 Fetchenhauer schreibt dieses schlechte Image zum Teil der Erfahrung mit Konjunkturprognosen zu, die häufiger daneben lagen. Auf die Probleme der Konjunkturforscher und Makroökonomen werden wir unten noch mehrfach zu sprechen kommen.

Falsche Prognosen und Diagnosen gibt es auch in anderen Disziplinen. Wenn ein Arzt bei einem Patienten eine schwere Krankheit nicht richtig diagnostiziert, was durchaus nicht so selten vorkommt, wenden wir uns nicht generell von der Medizin ab. Niemand erwartet von Ärzten, dass sie den Ausbruch eines Krebserkrankung prognostizieren. Als Erdbebenforscher die verheerenden Tsunami 2004 in der Region Thailand oder 2011 in Japan oder das Beben von Haiti 2010 nicht rechtzeitig prognostizierten, hat man diese Disziplin nicht pauschal als wertlos abgetan. Wenn Ingenieure eine Brücke falsch konstruieren, so dass sie einstürzt, oder wenn der Hauptstadtflughafen BER so schlecht geplant ist, dass jahrelange Umbauten Milliarden Mehrkosten verursachen, dann ruft das Ärger oder Spott hervor, doch die Öffentlichkeit zweifelt nicht grundsätzlich an Ingenieuren oder Architekten. Fehler passieren, es gibt Versager und schwarze Schafe. Sie kratzen nicht fundamental am Image der betreffenden Wissenschaft oder Kunst.

Die Finanz- und Schuldenkrise, die im Sommer 2007 ausbrach und im Herbst 2008 beinahe zur Kernschmelze des Finanzsystems und dann in die größte Rezession seit achtzig Jahren führte, war indes eine Krise, die das Vertrauen in die Lehren der Ökonomen grundsätzlich erschüttert hat. Ökonomen sind keine Hellseher, aber dass praktisch keiner der bekannten Wirtschaftswissenschaftler vor dem drohenden Crash auch nur in Ansätzen gewarnt hat, wird in der Öffentlichkeit als Versagen wahrgenommen. Und selbst nach Ausbruch der Finanzkrise erkannten die meisten Ökonomen die zerstörerischen Ansteckungseffekte erst sehr spät.

Das hat viel Ärger über die Ökonomen ausgelöst. Auch die britische Queen war „not amused“. Mit Hut und Kostüm besuchte Elisabeth II. im November 2009 die London School of Economics (LSE). Ratlos stand sie vor einer Schautafel mit der Aufschrift „Managing the credit crunch“ mit vielen Kurven und Diagrammen. Die farbigen Linien zeigten steil nach unten. LSE-Professor Luis Garicano bemühte sich, der Monarchin zu erklären, wie der ökonomische Crash entstanden sei. Nach einiger Zeit sagte sie: „It’s awful. Why did nobody see it coming?”

Die Frage bringt die Ökonomen in Erklärungsnot. Im folgenden Jahr erhielt die Queen drei offene Briefe von Wissenschaftlern mit Erklärungen. Ich führe die Hauptargumente hier kurz auf, weil sie exemplarisch für unterschiedliche Erklär- und Kritikmuster sind. Der erste Brief an die Königin kam Ende Juli 2009 von Tim Besley und Peter Hennessy, die im Namen der British Academy schrieben.4 Viele hätten die Krise kommen sehen, behaupteten sie, doch keiner den Zeitpunkt und die Schwere des Einbruchs. Besley, ein LSE-Ökonom sowie Mitglied der Führung der britischen Notenbank, und Hennessy, ein bekannter Historiker, verwiesen auf Warnungen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Die Banken selbst hätten unzählige Risikomanager, „einige der besten mathematischen Geister unseres Landes“, beschäftigt. „Aber sie haben oftmals den Blick für das größere Bild verloren.“

Vor allem hätten sie nicht gesehen, wie all die ökonomischen Ungleichgewichte in der Welt zusammenwirkten und das System gefährlich instabil geworden sei. Besley und Hennessy vertreten die These der „globalen Sparflut“ – also dass es vor allem die Kapitalüberschüsse der Chinesen und anderer Länder waren, die die Zinsen so niedrig drückten, dass die Amerikaner sich kräftig verschuldeten und am Häusermarkt eine Preisblase entstand. Die „Finanzzauberer“, schrieben Besley und Hennessy, wollten Warnungen nicht hören und vertrauten ihren neuen Instrumenten – „Wunschdenken und Hybris“. Politiker aller Couleur seien „vom Markt verzaubert“ gewesen; die Notenbanken hätten zu lange die Leitzinsen niedrig gelassen. „Das Versagen liegt darin, dass niemand erkannt hat, wie all das zusammen zu einer Serie von verknüpften Ungleichgewichten führte, über die keine Autorität mehr herrschen konnte“, kritisierten Besley und Hennessy, die als „demütigste und gehorsamste Diener Ihrer Majestät“ unterzeichneten.

Kurz darauf veröffentlichte eine zweite Gruppe einen Brief an die Königin. Zu den Unterzeichnern gehörten der frühere LSE-Direktor und linksliberale Soziologe Anthony Giddens sowie Umweltschützer, etwa der Geschäftsführer von Greenpeace.5 Ihrer Ansicht nach ist die Wirtschaftskrise nur Symptom einer viel größeren Systemkrise. Weit schlimmer als die ökonomischen seien die ökologischen Ungleichgewichte – zwischen dem wachsenden Energiehunger der Wirtschaft und den begrenzten Ressourcen der Welt. Die Krise sei der Weckruf, um sich vom Wachstumsparadigma zu verabschieden, schrieben sie.

Wieder einen konkret wirtschaftswissenschaftlichen Fokus hat ein dritter Brief, der wenige Tage später an die Königin ging, unterzeichnet von zehn britischen und australischen Ökonomen um Geoffrey Hodgson, Professor an der Universität von Hetfordshire.6 Sie stimmen Besley und Hennessy in der Analyse zu. Allerdings gehen sie weiter und formulieren eine vernichtende Kritik der modernen Ökonomik, die sie für übermäßig mathematisiert und formelgläubig halten. Ihre Kronzeugen sind dabei Nobelpreisträger wie Ronald Coase, Milton Friedman und Wassily Leontief. Schon diese hätten beklagt, dass die Wirtschaftswissenschaften praktisch zur angewandten Mathematik verkommen seien. Eine ganze Generation von Ökonomen sei zu Fachidioten ausgebildet worden. Durch die Fixierung auf mathematisch-formale Modelle gehe die nötige Gesamtsicht auf die Welt verloren. „Modelle und Techniken sind wichtig“, schrieben die Ökonomen um Hodgson. Aber angesichts der Komplexität der globalen Wirtschaft müsse in der Ausbildung von Ökonomen viel mehr Aufmerksamkeit auf institutionelle, historische und psychologische Faktoren gelegt werden.

Was die Queen über all das denkt und ob eine Gruppe von Briefeschreibern sie überzeugen konnte, ist nicht bekannt. Bekannt ist mir allerdings, dass es schon länger eine verbreitete Unzufriedenheit und Frustration mit dem Fach Volkswirtschaftslehre gibt. Das höre ich in Gesprächen mit früheren Kommilitonen, mit Journalistenkollegen, die VWL studiert haben, und von Studenten, die ich selbst unterrichtet habe Das Studium sei zu mathematisch, zu abstrakt, zu weit weg von realen wirtschaftlichen oder sozialen Problemen.

Schon im Jahr 2000, also lange vor der jüngsten Finanzkrise, ging eine Gruppe überwiegend linker Ökonomiestudenten an der Pariser Sorbonne auf die Barrikaden. Sie veröffentlichten einen Protest gegen die aus ihrer Sicht „autistische Wirtschaftswissenschaft“. Die akademischen Ökonomen hätten eine „imaginäre“ Modell- und Theoriewelt gebaut, die wenig mit der realen Welt zu tun habe, kritisierten sie in einem offenen Brief. Es gebe eine übertriebene Fokussierung auf die mathematische Formulierung von Problemen, die zum Selbstzweck werde. Die Wirtschaftswissenschaft habe sich in einem neoklassischen Dogmatismus eingemauert, es fehlten eine „pluralistische“ Forschung und der Austausch mit anderen Sozialwissenschaften. Der Protest der Sorbonne-Studenten hat damals weltweit Aufsehen erregt und führte zu einer Bewegung, die sich „post-autistische“ Wirtschaftswissenschaft nennt. Es ist nicht alles falsch, was die Protestler damals schrieben. Zum Teil wird ihre Kritik auch von bekannten Ökonomen geteilt, auch solchen, die man eigentlich zum „Mainstream“ zählen würde.

Aus diesem Mainstream hat kein einziger Ökonom den Absturz der Weltwirtschaft 2008/2009 vorhergesehen, weder das erschreckende Ausmaß noch die zerstörerische Dynamik. In den Jahren zuvor, den scheinbar guten Jahren, als die Kredit- und Häuserpreisblase in Amerika wuchs und sich die Finanzalchemisten mit Verbriefungen eine goldene Nase verdienten, waren kaum kritische Stimmen zu hören. Es gab zwar vereinzelt Warnungen, etwa von Robert Shiller, der die Entwicklung der Häuserpreise kritisch verfolgte und vor irrationalen Übertreibungen an den Finanzmärkten warnte. Shiller zählt zu denen, die sich auch verhaltensökonomischer Erkenntnisse bedienen. Auch ein paar Ökonomen, die aus Sicht der österreichischen Konjunkturtheorie argumentierten, haben die zu lockere Zentralbankpolitik und zu viel billiges Geld kritisiert, die zu einer Kreditblase und einem aufgeblähten Bausektor führten. Aber das waren Außenseiterstimmen. Der breite Mainstream der Ökonomen sah die Risiken nicht. Ende 2008, nach dem Bankencrash, wirkten die Wirtschaftswissenschaftler, die zuvor nie um einen klugen Ratschlag verlegen waren, zeitweise sprachlos.

Die Wirtschaftswissenschaft befindet sich seitdem in einer Vertrauenskrise, von der sie sich bis heute nicht ganz erholt hat. In der Öffentlichkeit sind Ökonomen ohnehin nie sonderlich beliebt gewesen. Es gibt eine Kluft zwischen dem Denken und den Wertvorstellungen vieler ökonomischer Laien und dem der Fachwissenschaftler, wie Fetchenhauers Umfragen zeigen. Die Unterstützung für die Arbeitsmarktreformen und Einschnitte der „Agenda 2010“ hat den hiesigen Ökonomen viel Feindschaft von der Linken eingebracht. Und dass die Mehrheit der Ökonomen von einem gesetzlichen Mindestlohn abriet, weil sie langfristige Beschäftigungsverluste erwartet, hat man ihnen auch übel genommen. Während viele Laien und Politiker schnell nach Eingriffen in den Markt und den Preismechanismus rufen, raten Ökonomen davon eher ab. Ökonomen gelten als kalt und „unsozial“. Es gibt ein verbreitetes Ressentiment gegen „die Professoren“, die sozialpolitischen Wünschen widersprechen.

Um solche Fragen geht es aber nicht in der aktuellen Vertrauenskrise. Sie rüttelt grundsätzlich am Anspruch der Volkswirtschaftslehre, Aussagen über ökonomische Zusammenhänge zu treffen und Empfehlungen für eine günstige Entwicklung geben zu können. Hochmut kommt stets vor dem Fall. Während der sogenannten „Great Moderation“ der Weltwirtschaft in den späten achtziger und den neunziger Jahren, als die Inflation gering war und das Wachstum recht robust mit nur geringen konjunkturellen Schwankungen, glaubten herausragende Vertreter des Ökonomen-Mainstreams, sie hätten die großen wirtschaftstheoretischen Fragen quasi endgültig geklärt. Der Nobelpreisträger Robert Lucas und auch der spätere Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Fed, Ben Bernanke, äußerten öffentlich voll Zuversicht, dass größere Wirtschaftskrisen ausgeschlossen werden könnten. Die Makroökonomie sei am Ziel angelangt. „Das zentrale Problem der Vermeidung von Depressionen ist gelöst“, sagte Lucas von der Universität Chicago 2003 in seiner Ansprache als Präsident der American Economic Association (AEA).7 Acht Jahre zuvor war er für seine Theorie der „rationalen Erwartungen“ mit dem Nobelpreis geehrt worden.

Doch die Steuerbarkeit des Systems erwies sich als Illusion. Als sich die enormen weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte und Vermögenspreisblasen entluden, brach nicht nur das globale Finanzsystem zusammen. Es gab eine Wirtschaftskrise, deren Verlauf zumindest am Anfang starke Ähnlichkeiten mit der Großen Depression hatte. Der Irrtum so angesehener Wissenschaftler wie Lucas und Bernanke ist symptomatisch für die Selbstüberschätzung vieler Ökonomen. Ihre makroökonomischen Modelle suggerieren, dass sie die großen, makroökonomischen Zusammenhänge der Volkswirtschaften und ihre weltweite Verflechtung recht präzise erfassen und letztlich damit auch beherrschbar machen. Die Ökonomie fühlt sich als Naturwissenschaft, wie die Physik, welche die Bewegung von Körpern präzise voraussagen kann. Dem liegt aber eine „Anmaßung von Wissen“ (Friedrich August von Hayek) zugrunde, ein zu simples Bild der Realität. Die Interaktionen von Wirtschaftssubjekten entwickeln sich eben nicht mechanisch und kontrolliert, sondern in gewissen Situationen chaotisch. Wirtschaft entsteht aus dem komplexen sozialen Miteinander von Milliarden Menschen. Viele Modelle sind aber so reduziert, dass sie nur noch winzige Ausschnitte und Aspekte isoliert behandeln.

In diesen hochabstrakten Gleichgewichtsmodellen werden entscheidende Faktoren ausgeblendet, die das menschliche Verhalten prägen. Der plötzliche Vertrauensverlust, ausgelöst durch die Finanzkrise, war in keinem Modell vorgesehen. Erst in jüngerer Zeit bemüht sich die Verhaltensökonomik zu verstehen, welche Verhaltensweisen und Motive (zum Beispiel das Herdenverhalten) die Marktakteure antreiben. Wir werden auf die bohrende Kritik am einst vorherrschenden Modellbild des Homo oeconomicus zu sprechen kommen, der kühl analysiert und stets rational seinen Nutzen maximiert. Zu Fragen ist, ob die imaginäre Figur als Modellbild grundsätzlich verfehlt ist. Einzelne Ökonomen bezweifeln grundsätzlich, dass Finanzmärkte, auf denen Hunderte Milliarden an „high powered money“ auf der Suche nach Rendite vagabundieren, zu einem stabilen Gleichgewicht tendieren. Sie unterstellen, bestärkt durch die extremen Ausschläge während der Krise, dass „die Märkte“ grundsätzlich instabil seien. Sehr viel mehr Regulierung der Finanzmärkte und der Banken inklusive des Schattenbankensektors brauche es, fordern sie. In ihrer Sicht war die Krise überwiegend ein Marktversagen.

Zugleich soll in diesem Buch auch der Anteil des Staatsversagens als Ursache dieser Finanzkrise nicht unterschlagen werden. Die Krise ging zu einem erheblichen Teil auf falsch gesetzte Rahmenbedingungen, falsche Regulierung und falsche Anreize zurück. Ausgangspunkt war der amerikanische Häusermarkt. Über viele Jahre war es die erklärte Förderpolitik in den Vereinigten Staaten, dass praktisch jeder Amerikaner und auch Geringverdiener ohne Sicherheiten (sogar „Ninjas“ – No income, no job) sich ein Eigenheim kaufen sollten, finanziert auf Kredit. Im Zusammenspiel mit der sehr lockeren Zentralbankpolitik, die Geld praktisch zum Nulltarif vergab, bildete sich eine „Subprime“-Kredit- und Immobilienmarktblase, die dann mit großem Krachen platzte. Und es waren die impliziten Staatsgarantien für „systemrelevante“ Banken, die diese zu übermäßig großem Risikoappetit verleiteten (Moral Hazard). In den Jahren, in denen es gut ging, profitierten die Banken von enormen Gewinnen. Als alles den Bach runterging, wurden sie mit Steuergeld vor der Pleite gerettet – ihre Gläubiger kamen überwiegend ungeschoren davon.

Es war wohl auch der Nervosität durch die Krise geschuldet, dass die Ökonomen in Deutschland im Frühjahr 2009 in einen erbitterten öffentlichen Streit über Methoden und Ausrichtung ihres Faches verfielen. Anlass war die Abwicklung und Umwidmung traditionsreicher Lehrstühle für Wirtschaftspolitik an der Universität Köln und anderswo. Eine Reihe vorwiegend älterer Professoren erhob den Vorwurf, viele der vermeintlich modernen, angelsächsisch orientierten Ökonomen hätten sich aus der realen Welt zurückgezogen und in theoretischen Verästelungen und Modellwelten verloren. Die andere Seite tat diesen Methodenstreit als „typisch deutsch“ ab und konterte, man dürfe sich internationalen Standards einer modernen Ökonomie nicht verweigern.8

Aber auch in Amerika gibt es seit der Krise eine ähnliche Kontroverse über die „moderne Makroökonomik“. Die Zeitschrift „The Economist“ zeigte 2009 auf ihrem Titelbild ein braun eingebundenes Lehrbuch „Modern Economic Theory“, das wie Schokoladeneis in der Sonne schmilzt. Besonders scharf attackierte Paul Krugman, der Nobelpreisträger und linksliberale Kolumnist, die Mainstream-Makroökonomen: Sie seien einer Mathematik-Manie verfallen. Ihre Modelle krankten an verfehlten Annahmen, so dass der Großteil der Makroökonomik der vergangenen dreißig Jahre „spektakulär nutzlos“ oder gar schädlich gewesen sei. „Wir brauchen eine ganz neue Art, Ökonomie zu lehren“, forderte Krugman. Er fügte aber hinzu: „Ich weiß auch noch nicht genau, wie das gehen soll.“

Man mag Krugmans Pauschalurteil über die Makroökonomik für überzogen halten. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise die Forschung vor fundamentale Fragen stellt: Wann und wie entstehen gefährliche Blasen? Sind die Erwartungen der Finanzmarktakteure systematisch rational oder zuweilen auch irrational? Welche Rolle spielen asymmetrische Informationen für den plötzlichen Ausfall von Finanzmärkten? Welche Verantwortung trifft die Banker, die Boni-Systeme, die Regulierer, die Notenbanken und die Regierungen? Was war Markt–, was war Staatsversagen?

Noch über Jahrzehnte werden die Ökonomen damit beschäftigt sein, aus den Scherben der Krise ein stimmiges Puzzlebild der Ursachen und Wirkungen zusammenzusetzen. Hier tut sich ein weites Feld für Nachwuchsforscher auf. Eigentlich sollten junge Leute in Scharen an die wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten stürmen. Das Interesse hält sich aber zumindest in Deutschland in Grenzen. Die Zahl der VWL- Studienanfänger ist nicht besonders hoch. Im Wintersemester 2007/2008, kurz bevor die Krise in voller Härte ausbrach, sank die Zahl der Erstsemester erstmals unter 3000 – ein Drittel weniger als in den Jahren zuvor. Die Gesamtzahl der VWL-Studenten fiel mit 20.600 auf den niedrigsten Stand seit den frühen neunziger Jahren. Seitdem hat sie nur wenig zugelegt, zuletzt auf 23.700, so die jüngsten verfügbaren Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Dagegen wächst die Betriebswirtschaftslehre kräftig. Vor einem Jahrzehnt studierten gut 150.000 junge Männer und Frauen BWL, inzwischen sind es mehr als 230.000. Es gibt inzwischen zehnmal so viele BWL- wie VWL-Studienanfänger – in den frühen 2000er Jahren war das Verhältnis erst sieben zu eins. Auch in Österreich und der Schweiz ist der Andrang zur VWL mäßig.

All die aufreibenden und aufregenden Jahren der Krise, die hitzige Debatten über die ökonomischen Ursachen und die richtigen Therapien haben offenbar kein brennendes Interesse unter jungen Leuten für ein VWL-Studium ausgelöst. Anders als in den Jahren 1968 ff., als der Linksdrift in der Studentenschaft und die hitzigen ideologisch-politischen Debatten an den Universitäten zu einer Massenbewegung zur Politologie und Soziologie führten, bleibt der Zulauf zur VWL heute schwach. Es gab und gibt keinen Krisen-Boom. Zwar erschienen auf dem Buchmarkt einige neue und auch grundsätzliche Werke, etwa die Kapitalismuskritik des Franzosen Thomas Piketty; sie wurden an Universitäten wie in den Medien eifrig diskutiert. Doch der Zulauf von Studenten an die Ökonomiefakultäten blieb seltsamerweise gering. Die stärkere Attraktion der BWL kann man teils mit den Aussichten auf dem Arbeitsmarkt erklären, wo BWLer gefragt sind. Nur wenige Stellenangebote richten sich ausdrücklich an Volkswirte – meist von Forschungsinstitutionen, Banken oder Ministerien. Volkswirte finden aber auch in vielen Unternehmen attraktive Stellen. Es muss also andere Gründe geben, weshalb sich nur relativ wenige Studenten für VWL begeistern.

Meiner Vermutung nach liegt die mangelnde Attraktivität auch am Aufbau und der Lehre des Ökonomiestudiums: An vielen Universitäten werden die Erstsemester schon in den ersten Wochen mit übermäßig abstrakten Modellen unter rigiden Annahmen konfrontiert, deren Bezug zur Realität sich ihnen kaum erschließt. Mancherorts wird das VWL-Studium kaum mit einer Debatte der konkreten wirtschaftlichen Entwicklungen und mit politischen Kontroversen verknüpft. Wirtschaft findet in Modellwelten, im luftleeren Raum statt, abgehoben von den Institutionen und Geschichten, die zum echten Verständnis wichtig wären. „Viele Studenten klagen, ihr Studium sei zu sehr auf mathematisch-formale Methodenlehre ausgerichtet“, sagt Achim Wambach, neuer Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim, der dort vor allem zu Regulierungsfragen forscht. Man müsse in der Vorlesung nicht immer den mathematischen Einstieg wählen, gibt er zu. „Im Wettbewerbsrecht zum Beispiel könnte man zunächst fragen, warum Kartelle noch vor hundert Jahren erlaubt waren und als positiv galten. Darauf kann dann die mikroökonomische Kartelltheorie aufbauen.“

Eine Studenteninitiative, das „Netzwerk Plurale Ökonomik“, hat im Frühjahr 2016 eine vergleichende Studie über die Inhalte von fast 350 Bachelor-Studiengängen in zwölf Ländern veröffentlicht.9 Ihr Ergebnis: Die Studenten würden viel zu wenig zum Nachdenken über das eigene Fach angeregt, in Deutschland besonders wenig. Mehr als 20 Prozent der Kurse im Bachelor-Studium hierzulande sind BWL, Management und Jura gewidmet. In 18 Prozent der Kurse pauken die Studenten mathematische und statistische Methoden. Die Kernfächer Mikro- und Makroökonomie kommen zusammen auf 21 Prozent. Nur verschwindend gering ist dagegen der Anteil von „reflexiven“ Fächern wie Geschichte des ökonomischen Denkens (Dogmengeschichte), Wissenschaftstheorie, Wirtschaftsgeschichte oder auch Wirtschaftsethik. Sie machen weniger als 2 Prozent des Curriculums aus, viel weniger als im Durchschnitt der anderen untersuchten Länder (fast 6 Prozent). „Die VWL-Studierenden lernen kaum, wie die Wirtschaftswissenschaft wurde, was sie ist. Wie sollen sie dann beurteilen können, ob sie gut ist, wie sie ist?“, kritisiert Gustav Theile, ein Student aus Tübingen, der sich im „Netzwerk“ engagiert, das mit ähnlichen Initiativen in anderen Ländern zusammenarbeitet.

Beim VWL-Studium gehe es „nicht ums Nachdenken, sondern darum, eine vorgegebene Meinung rechnerisch zu reproduzieren“, kritisiert Theile. Es sei höchste Zeit, dass die Studenten im Wirtschaftsstudium wieder über Wirtschaft und Wissenschaft nachzudenken lernten, statt eine Rechenaufgabe nach der anderen zu lösen. Das Netzwerk kritisiert auch, dass die VWL-Studenten zu wenig in Kontakt mit angrenzenden Sozialwissenschaften kämen. Weniger als einer von zehn Kursen könne dort belegt werden. „Forschung ist nicht nur, große Datensätze mit vielen Zahlen durch den statistischen Reißwolf zu jagen“, sagt Theile. „Forschung heißt auch: Menschen beobachten, interviewen, Diskurse analysieren.“

Vertreter der etablierten Mainstream-Ökonomie haben die Kritik entschieden zurückgewiesen. Schon die Unterscheidung, welche Fächer „reflexiv“ und welche „nicht reflexiv“ seien, findet Rüdiger Bachmann völlig verfehlt. Wirtschaftsgeschichte oder Ideengeschichte seien nicht per se reflexiver, betont er. „Man kann auch Wirtschaftsgeschichte anspruchslos, unreflektiert lehren, und Dogmengeschichte kann reines Faktengepauke sein – so wie man auch Mikro und Makro ‚für Kühe‘ unterrichten kann, als stupides Formelpauken“, sagt Bachmann, der Nachwuchsbeauftragter des Vereins für Socialpolitik (VfS) ist, der Organisation der deutschsprachigen Ökonomen. Seine Wortwahl „VWL für Kühe“ klingt ziemlich hart. Kühe sind bekannt dafür, dass sie vorgesetztes Futter schlucken und wiederkäuen. So sollte das VWL-Studium nicht ablaufen.

Man müsse generell über die Lehre sprechen, gibt Bachmann zu. „Da gibt es Defizite, das will ich gar nicht bestreiten.“ Eigentlich sollten alle VWL-Kurse reflexiv sein, findet Monika Schnitzer, die amtierende Vorsitzende des Vereins für Socialpolitik, in dem etwa 3000 akademische Volkswirte aus dem deutschsprachigen Raum Mitglied sind (ein Interview mit Monika Schnitzer findet sich auf Seite 39 ff.). Reflexion als Nachdenken und Besinnung sei wichtig für jede Lehrveranstaltung. „Wenn wir Methoden vorstellen, dann müssen wir auch gleich die Grenzen dieser Methoden problematisieren“, sagt die Ökonomin von der Universität München. Stelle ein Dozent das Modell des Homo oeconomicus vor, solle er gleich die Annahmen und Grenzen dieses Modells hinterfragen. Schnitzer findet, die VWL sei auf einem guten Weg, sie sei weniger theoretisch-abgehoben und stärker empirisch geworden, arbeite also mehr mit Daten aus der realen Welt. Und die Methoden seien stark verfeinert. Man versuche mehr zu hinterfragen, was bloße Korrelation und was Kausalität seien.

Auf ihrer Magdeburger Jahresversammlung des VfS im Herbst 2009, in der tiefsten Wirtschaftskrise, haben die deutschen Ökonomen einen Konsens betont, dass ihre Arbeit empirisch und realitätsnah sein sollte. Studenten zu begeistern wird nur einer anschaulichen Volkswirtschaftslehre gelingen, die nicht allein auf mathematisch-formale Brillanz abzielt, sondern das Denken in Zusammenhängen, Anreizen und Ordnungen anregt und gleichzeitig einen starken Bezug zu aktuellen Entwicklungen der Wirtschaft und zu wirtschaftspolitischen Fragen hat. Mit einer einfacheren Sprache mag es auch gelingen, das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen, so die Hoffnung.

Einige Kritiker wird das aber nicht zufriedenstellen. Sie fordern ein grundsätzlich neues Paradigma in der Wirtschaftswissenschaft. Das alte, marktwirtschaftliche Paradigma sei durch die Krise widerlegt, sagen sie. Ohne Zweifel waren der Beinahe-Zusammenbruch der Finanzmärkte und die folgende große Rezession der Weltwirtschaft ein tiefer Einschnitt, der die Grundfesten der Wirtschaftswissenschaft erschütterte – doch er hat sie nur durchgerüttelt, nicht zerbrochen. Manche Kritiker finden das schier zum Verzweifeln, Philip Mirowski etwa, Theoriehistoriker an der University of Notre Dame in Indiana, der mehrere anregende, aber auch umstrittene Bücher über die Entwicklung des ökonomischen Denkens geschrieben hat. Er beklagt in seinem neuesten Werk „Untote leben länger“, wie der „Neoliberalismus“ den Crash der Finanzmärkte überlebt habe und seitdem sogar noch stärker geworden sei.10 Die Bankenrettung mit Steuergeld sieht Mirowski als „neoliberale“ Politik. Er findet es paradox, dass Vertreter des Neoliberalismus, den er mit Marktradikalismus gleichsetzt, im Zuge der Krise den Kurs der Anti-Krisen-Politik vorgeben hätten.

Ob die Bankenrettung auf Steuerzahlerkosten wirklich „neoliberale“ Politik war, darf man bezweifeln. Vertreter der neo- oder ordoliberalen Schulen gehörten zu den Kritikern der Rettungsaktionen, weil diese elementare marktwirtschaftliche Prinzipien verletzen. Im Laufe der Wirtschafts- und Finanzpolitik und der folgenden Schuldenkrise haben sich aber viele europäische Regierungen an „neoliberalen“ Rezepten orientieren müssen – etwa mit den Sparprogrammen zur Sanierung der hochdefizitären, hochverschuldeten Haushalte, mit dem Abbau von Bürokratie und der Verschlankung der staatlichen Verwaltung sowie mit den Strukturreformen zur Liberalisierung von Arbeitsmärkten und geschlossenen, privilegierten Branchen und Berufsgruppen, um mehr Wettbewerb anzuregen und die Produktivität zu steigern. Die linken Kritiker, die als Folge der Krise eine große wirtschafts- und finanzpolitische Wende und ein neues ökonomisches Paradigma nach dem Versagen des „Marktradikalismus“ erhofft hatten, wurden enttäuscht.

Um diese Entwicklungen einordnen zu können, hilft ein Rückblick. Die Geschichte der dreißiger Jahre, als die Weltwirtschaftskrise zur großen Abkehr von der Marktwirtschaft (in der täglichen Politik und im Denken der Ökonomen) führte, hat sich nicht wiederholt. In der Nachkriegszeit bildete sich ein keynesianischer Konsens, den allerdings die Krise der siebziger Jahre, die Stagflation nach dem Ölpreisschock, hinwegfegte. Zweimal hatten tiefe Krisen wirtschaftswissenschaftliche Wenden befördert. Dieses Mal scheint ein solcher Paradigmenwechsel auszubleiben.

Wie wissenschaftliche Umbrüche und „Revolutionen“ entstehen, hat der große Wissenschaftstheoretiker Thomas Kuhn analysiert.11 Obwohl von Karl Popper beeinflusst, hielt er dessen „Falsifikationismus“ für eine zu naive, unhistorische Vorstellung von Wissenschaft. Laut Popper ist der ideale Wissenschaftler ein heroischer Kämpfer gegen Irrtümer, stets gewillt, seine eigenen Theorien und Hypothesen zu falsifizieren, also durch empirische Gegenbeweise zu widerlegen. Die Falsifikation dient in dieser Sicht dem Fortschritt der Wissenschaft.12 Tatsächlich aber sind herrschende (sozial-)wissenschaftliche Paradigmen erstaunlich zäh, wenn sich nicht gelöste Probleme auftun, wie Kuhn dargestellt hat. Die ungelösten Probleme nannte er „Anomalien“. Wissenschaftler bemühen sich um ergänzende Ad-hoc-Erklärungen, um diese zu erklären. Nur wenn der Druck zu vieler und gravierender, unerklärlicher Anomalien übergroß werde, bewege sich die Wissenschaft von Stadium der „normal science“ zur „revolutionary science“ und versuche völlig neue Ansätze. Dann kann es sein, dass die Krise in die Zerstörung des alten Paradigmas mündet, das durch ein neues ersetzt wird, welches eine konsistentere Theorie zur Erklärung der strittigen Fragen liefert. Diesen scharfen Bruch mit der Tradition nannte Kuhn „wissenschaftliche Revolution“ (bzw. „Paradigmenwechsel“). Das neue Paradigma entthront die überkommenen Weltbilder und Denkgewohnheiten, es ermöglicht einen neuen Start und eine bessere Erklärung der beobachteten Phänomene der Welt. Beispiele sind die Kopernikanische Wende in der Astronomie, die Newtonsche Revolution in der Physik oder die von Einsteins Relativitätstheorie ausgelöste Revolution der Quantenphysik.

Aber sind solche Revolutionen in der Wirtschaftswissenschaft zu beobachten? Warum sind bestehende Denkmuster so widerstandsfähig, auch im Angesicht einer Krise? Einen anderen, noch differenzierteren epistemologischen Ansatz hat der Wissenschaftstheoretiker Imre Lakatos vorgelegt. Auch er glaubte nicht an die Annahme eines wissenschaftlichen Fortschritts durch eine permanente Verwerfung falsifizierter Theorien. Vielmehr stehe der Forscher vor der Aufgabe, aus verschiedenen konkurrierenden, potentiell falschen Theorien und Hypothesen die brauchbarste auszuwählen. Ganze Bündel sich gegenseitig stützender Theorien nannte Lakatos Forschungsprogramme (scientific research programmes), die jeweils aus einem Kern (hard core) und einem Schutzgürtel (protective belt) aus Hilfsannahmen und Hilfshypothesen bestünden. Bei Bedarf, wenn hartnäckige Probleme und nicht lösbare Fragen die Substanz des Forschungsprogramms gefährden, tendierten die Wissenschaftler dazu, den flexiblen Schutzgürtel neu zu justieren, um Angriffe abzuwehren, so Lakatos.13 Wissenschaftssoziologisch ist es auch völlig verständlich, dass Forscher – auch Ökonomen – versuchen, das bestehende Paradigma zu retten. Sie haben einen Großteil ihres Forscherlebens in das Erlernen und Weiterentwickeln der herrschenden Theorien investiert und damit ihr Humankapital – ihre wissenschaftliche Reputation – aufgebaut. Würden sie die Theorien aufgeben, wäre damit auch ihr Humankapital entwertet.

Besonders die keynesianische Wende in den dreißiger Jahren wurde als „Revolution“ im Sinne Kuhns verstanden – die Abkehr von der alten Lehre vom sich stets selbst räumenden Markt. Um die Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert hatte der französische Theoretiker Jean-Baptiste Say den Satz geprägt, dass sich das Angebot die Nachfrage selbst schaffe. Die Große Depression interpretierte Keynes als Ausdruck eines anhaltenden Nachfragemangels. Statt der unsichtbaren Hand des Marktes vertrauten die keynesianischen Ökonomen mehr der sichtbaren Hand des Staates und der Politik. Diese sollte mit gezielten Maßnahmen (Staatsausgaben, Steuerpolitik) die gesamtwirtschaftliche Nachfrage stärken, die Arbeitslosigkeit bekämpfen und für Vollbeschäftigung sorgen.

Weniger bekannt ist die zeitgleiche Entstehung des Neoliberalismus – ebenfalls eine Abkehr vom historischen Liberalismus – in den frühen dreißiger Jahren, die ebenfalls eine Reaktion und Neuorientierung angesichts der Herausforderungen der Zwischenkriegszeit war. Ganz im Sinne Lakatos’ suchten die Neoliberalen, die sich 1938 auf dem „Colloque Walter Lippmann“ in Paris trafen, einen Weg zur Rettung ihres (liberalen) Forschungsprogramms.14 Sie justierten den „Schutzgürtel“ neu, indem sie nun eine Rahmenordnung für die Marktwirtschaft forderten, damit der Wettbewerb funktioniere. Zuvor hatten starke Kartelltendenzen den Wettbewerb praktisch außer Kraft gesetzt, so dass der Preismechanismus beschädigt war. Im Kern hielten die Neoliberalen aber daran fest, dass freie Preise ein besserer Allokationsmechanismus seien als die lenkende Hand des Staates, den sie von Interessengruppen gesteuert sahen.15

Zwar verloren die Neoliberalen die Schlacht gegen die Keynesianer, deren Empfehlung einer Nachfragepolitik mittels „deficit spendings“ in den Nachkriegsjahrzehnten akademisch dominant wurde. Hohes Wirtschaftswachstum und annähernde Vollbeschäftigung in den westlichen Volkswirtschaften schienen die Überlegenheit einer solchen gesamtwirtschaftlichen Steuerung zu demonstrieren. Dank sprudelnder Steuereinnahmen konnte der Staat Sozialleistungen und Wohlfahrtsprogramme ausbauen; wo das Geld nicht reichte, wurden Schulden aufgenommen. Doch als der Ölpreisschock die westlichen Volkswirtschaften in den frühen siebziger Jahren traf und kreditfinanzierte Konjunkturprogramme und lockere Geldpolitik nicht mehr Wachstum, sondern nur Inflation brachten, da schlug die Stunde der neoliberalen Gegenwende. Die Neoliberalen forderten einen Rückbau des Staates, den Abbau der Defizite und die Bekämpfung der Inflation durch eine restriktive Geldpolitik.16

Die wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftspolitische Revolution der siebziger und achtziger Jahre bestand in der Abkehr von der Nachfragepolitik und Hinwendung zur Angebotspolitik. Diese will bessere Rahmenbedingungen schaffen, etwa durch Steuerreformen und Abbau von Regulierung, damit Unternehmen wieder investieren. Mehr Markt und mehr Wettbewerb sollten die Produktivität verbessern und das Wachstum wieder anregen. Die politischen Exekutoren dieser von Ökonomen angeregten Wende waren in den angelsächsischen Ländern Margaret Thatcher und Ronald Reagan; in Deutschland gab es höchstens eine halbe Wende unter der Kohl-Regierung. Mit einiger Verspätung hat die Schröder-Regierung durch die 2003 beschlossene Agenda-Politik Arbeitsmarktreformen auf den Weg gebracht, die in Teilen den neoliberalen Empfehlungen entsprachen.

Hätte die Finanzkrise von 2007/2008 und die folgende Weltwirtschaftskrise das Zeug gehabt, eine neue Revolution des ökonomischen Denkens auszulösen? Die Zweifel sind groß. „Mit stinknormaler Wirtschaftstheorie konnte man vieles vor der Krise vorhersehen und jetzt erklären, was geschehen ist“, meint etwa Martin Hellwig, Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn. Was wäre diese „stinknormale“ Standardtheorie? Wichtige Stichworte sind die „Too big to fail“-Problematik der „systemrelevanten“ Großbanken. Weil diese eine implizite Staatsgarantie genossen – also wussten, dass im Fall des Scheiterns ein von den Steuerzahlern gespanntes Rettungsnetz bereitsteht –, gingen sie übermäßig hohe Risiken ein.

Ökonomen sprechen von „Moral Hazard“, moralischem Risiko, wenn falsche Anreize zu einem unerwünschten Verhalten führen. Mit geliehenem Geld und irrwitzig hohen Kredithebeln gingen die Banker gewagte Spekulationen ein, bis die Bank mit einem Schlag über dem Abgrund hing und vom Staat wegen ihrer angeblichen Systemrelevanz gerettet wurde. Hellwig hatte Jahr vor der Krise als Vorsitzender der Monopolkommission auf die problematischen Anreizstrukturen im Finanzsystem durch Großbanken hingewiesen. In einem Gutachten argumentierte er mit der historischen Erfahrung der Großbanken in den zwanziger Jahren und frühen dreißiger Jahren, auch damals gab es Moral Hazard. Das Gutachten ist ein schöner Beleg dafür, dass historische Kenntnisse und Analysen wertvoll für das Verständnis aktueller Probleme sein können.

Folgt man dieser Analyse, dann war es nicht Marktversagen, sondern Staatsversagen, nämlich die implizite Staatsgarantie für die Banken, die so tief in den Finanzschlamassel führte. Hellwig ist heute einer der schärfsten Kritiker der aus seiner Sicht völlig unzureichenden Regulierungsantwort auf die Krise. Nötig wären viel höhere Eigenkapitalpuffer. Statt der risikogewichteten Eigenkapitalquoten fordert er eine allgemeine Verschuldungsobergrenze durch eine „Leverage Ratio“. Die neuen Basel-III-Vorgaben findet er viel zu lasch, verwässert durch die Interventionen von Lobbyisten der Finanzbranche. Es habe sich zu wenig substantiell geändert gegenüber der Vorkrisen-Regulierung. Sein mit Anat Admati geschriebenes, viel diskutiertes Buch trägt den Titel „The Bankers’ New Clothes“.17 In seinen Augen sind die Banker (wie einst der Kaiser) immer noch nackt, nur wagt es niemand zu sagen. Nur wenn Banken ausreichend eigenes Kapital als Haftungspuffer gegen Verluste vorhalten und primär auf eigene Rechnung spekulieren, ist sichergestellt, dass sie einer volkswirtschaftlich nützlichen Funktion nachkommen, keine Gefahr darstellen und im Fall des Scheiterns nicht die Steuerzahler einspringen müssen.

Dies ist ein strikt marktwirtschaftlicher Gedanke: Wer im günstigen Fall Gewinne einstreicht, muss im Verlustfall auch für Schäden haften. So betonte der Gründervater der ordoliberalen Freiburger Schule Walter Eucken das essentielle Haftungsprinzip: „Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“, schrieb er.18 Sein Freund Wilhelm Röpke beklagte schon vor mehr als achtzig Jahren, dass wirtschaftliche Verluste immer häufiger sozialisiert werden. Wenn man es pointiert ausdrückt, hat die Krise einen partiellen, asymmetrischen Bankensozialismus offenbart, in dem scheiternde Banken von der Allgemeinheit aufgefangen wurden, nachdem diese zuvor ihren Topmanagern irrwitzig hohe Boni gezahlt hatten. Im weiteren Verlauf werde ich diese Problematik in mehreren kurzen Essays wieder aufgreifen (siehe Seiten 131 ff.). Es ist fraglich, ob der Nexus zwischen Bankenrisiken und Staatsrisiken heute wirklich durchtrennt worden ist.

Eine falsche Regulierung hat zur Entwicklung eines „Kasino-Kapitalismus“ geführt, wie es der damalige Ifo-Chef Hans-Werner Sinn in seinem gleichnamigen Buch beklagte.19 Man muss kritisieren, dass die Neoliberalen, die seit den siebziger Jahren auf dem Vormarsch waren, in ihrem Drang nach Deregulierung versäumt haben, eine funktionierende Haftungs- und Insolvenzordnung für den Finanzsektor sowie auch für Staaten zu entwerfen und zu etablieren. Denn mit der Übernahme der Rettungskosten und den allgemeinen Schäden durch die Finanzkrise sind zahlreiche Staaten schon so hoch verschuldet, dass sie eigentlich nahe vor einer Insolvenz stehen. Nur durch ultraniedrige Zinsniveaus können sie sich über Wasser halten, sonst wären sie schon von den Schulden erdrückt worden.

Zur Jahreswende 2008/2009, als die Welt in die Rezession fiel, schien es kurzzeitig so, als ob eine keynesianische Finanzpolitik eine Renaissance erlebe. Paul Krugman, kurz zuvor für seine Handelstheorien mit dem Nobelpreis geehrt, sprach von einem „Keynesian moment“. Auf der AEA-Jahrestagung im Januar 2009 in San Francisco war überall der laute Ruf nach einer expansiven, kreditfinanzierten Fiskalpolitik zu hören. Selbst Martin Feldstein, der frühere Reagan-Berater, stimmte in den Chor ein – „obwohl es mir nicht leicht fällt“, wie der konservative Ökonom bekannte. Rund um den Globus legten Regierungen Konjunkturprogramme auf. Die amerikanische Regierung unter Obama schnürte ein Paket im Volumen von fast 800 Milliarden Euro, gut ein Drittel davon war für Steuersenkungen reserviert, zwei Drittel sollten in den Bau oder die Renovierung von Straßen, Brücken oder Schulen und Amtsgebäuden fließen. In Deutschland gab es ebenfalls ein (proportional kleineres) Konjunkturpaket. Hinzu kam noch die berüchtigte Abwrackprämie für Altautos, die den Absatz von Neuwägen anheizen sollte. Wie gut oder effizient all diese Programme gewirkt haben, ist in der Wissenschaft umstritten. Die meisten Ökonomen gestehen zu, dass die expansive Fiskalpolitik in der akuten Phase des konjunkturellen Absturzes notwendig war und den Fall gebremst hat; doch wie stark sie wirkten, ist unklar.

All das hängt am sogenannten fiskalischen Multiplikator, den man für die kreditfinanzierten Staatsausgaben unterstellt. Wie viel gesamtwirtschaftliche Leistung regt ein vom Staat in den Kreislauf gepumpter zusätzlicher Dollar an? Obamas ökonomische Chefberater Christina Romer und Jared Bernstein schätzten, dass der Multiplikator bei 1,5 liege. Konservative Kritiker, wie Robert Barro oder der Deutsche Volker Wieland, errechneten viel geringere Multiplikatoren von deutlich unter eins. Das hieße, dass die Wirkung zusätzlicher Staatsausgaben geringer wäre als der Einsatz – der Schuldenberg wächst mehr als die Wirtschaft. Später warf sich der keynesianische IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard in die Schlacht und postulierte, der Währungsfonds habe den Multiplikator unterschätzt, etwa als er die rezessionsverschärfende Wirkung von Staatsausgabenkürzungen in Griechenland prognostiziert habe (siehe Seiten 164 ff.).

Angesichts der seit 2009 sprunghaft steigenden Staatsschuldenberge – in der Eurozone wuchs die Schuldenquote von 60 Prozent auf über 90 Prozent des BIP – verlagerte sich der ökonomische Mainstream-Diskurs recht schnell wieder weg vom Ruf nach Staatsausgaben unter Inkaufnahme sehr hoher Defizite hin zur Konsolidierungsfrage. Eine wichtige Rolle spielten dabei die von den Harvard-Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart publizierten Studien zu historischen Schuldenkrisen, die auf einem reichen empirischen Material beruhen. Sie postulierten, dass bei sehr hohen Schuldenquoten – dabei nannten sie einen Schwellenwert von etwa 90 Prozent des BIP – das Wachstum belastet werde und ein Ausweg aus der Schuldenfalle schwierig werde, so Rogoff und Reinhart in der Studie „Growth in a Time of Debt“.20