Inhalt

Vorwort

1. Einleitung

2. Ausgangslage und Fragestellungen

3. Vorgehen und empirische Basis

4. Fallbeispiele

a. Unbegleiteter minderjähriger Flüchtling (UMF) in einer Großstadt

b. Syrische Flüchtlingsfamilie im ländlichen Raum

5. Ergebnisse und Konsequenzen

a. Fluchtgründe und Bleibeabsichten

b. Kenntnisse über und Erwartungen gegenüber dem Aufnahmeland

c. Angebotene und nachgefragte Qualifikationen

d. Soziokulturelle Unterschiede

6. Schlussfolgerungen

Nachwort von Prof. em. Dr. Volker Neumann

Das migrationspolitische Konzept des Spurwechsels in sozial- und verfassungsrechtlicher Perspektive

Über den Autor

Literatur

Stichwortverzeichnis

Für Boushra, Saleh, Jana und Zishah

Vorwort

von Roland Tichy

Es war wie ein Rausch – und sein Erleben liegt gefühlt schon sehr, sehr lange zurück. Die Rede ist vom Sommer 2015. Innerhalb weniger Monate kamen über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Am Bahnhof in München wurden sie mit Beifall empfangen und ihre Kinder mit Teddybären geradezu überschüttet.

Es gab aber auch mehr als nur spontane Begeisterung.

»Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt«, freute sich die Vorsitzende der Grünen Katrin Göring-Eckardt im Bundestag.

»Ein neues Wirtschaftswunder« sah Dieter Zetsche, Vorstandsvorsitzender der Daimler AG, heraufziehen.

»Wertvoller als Gold«, jubelte der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz.

Abgesehen davon, dass jeder Mensch ein Geschenk Gottes ist und nicht mit Gold aufgewogen werden kann – haben sich diese Hoffnungen bestätigt?

Allen drei Rednern ist ja eine Position gemeinsam: Sie erwarten von der Zuwanderung durch die Flüchtlinge wirtschaftliche Vorteile für Deutschland. Das ist schon deshalb eine starke Behauptung, weil sie ein großes Missverständnis offenbart: Wer Flüchtling ist, Verfolgter, genießt den Schutz des deutschen Asylrechts; sein ökonomischer Beitrag spielt bei dieser rein humanitär begründeten Bereitschaft zur Aufnahme keine Rolle, ja darf keine spielen. Flüchtlinge müssen kein »Gold« mitbringen, nicht einmal ihre Arbeitskraft, und sie sind keine geschenkten Prozentpunkte des Bruttosozialprodukts.

Allerdings darf trotzdem ihre Zukunft und – nicht nur angesichts der großen Zahl – auch ihre soziale und wirtschaftliche Zukunftserwartung hinterfragt werden.

Tatsächlich war Deutschland immer ein Zuwanderungsland. Seine Migrationsgeschichte ist weitgehend verschüttet. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war Deutschland gleichzeitig das größte Auswanderungsland – die USA, Kanada, Brasilien waren die Ziele – wie auch nach den USA das zweitgrößte Einwanderungsland.

Nach 1945 kamen rund 15 Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge nach Deutschland; Flucht und Vertreibung gehören zu den vielen düsteren und schmerzhaften Kapiteln der jüngeren deutschen Geschichte. Die Frage nach dem wirtschaftlichen Nutzen stellte sich nicht, es ging um die Bewältigung der Not und des Unvermeidlichen.

Aber schon 1955 waren die Arbeitskräfte so knapp, dass erste Anwerbeverträge mit Italien abgeschlossen wurden. Kurz darauf folgten Abkommen mit Spanien, Griechenland, der Türkei, mit Marokko und Portugal, zuletzt waren Tunesien und Jugoslawien die Länder, in denen die Anwerber der Arbeitsämter auf der Suche nach Arbeitskräften unterwegs waren. Der im Jahr 1976 unter der damaligen Regierung Brandt/Scheel beschlossene »Anwerbestopp« markiert einen oft übersehenen Wendepunkt, der den Charakter der Zuwanderung erneut veränderte: Er hatte die paradoxe Wirkung, dass sich die Arbeitskräfte, die da waren, aufs Bleiben einzustellen begannen, um nicht dem Anwerbestopp unterworfen zu werden. Wer aber bleibt, holt die Familie nach. Das ist die Zeit, in der Deutschlands Städte ihr Gesicht veränderten, vor allem durch Migranten aus der Türkei. Aus dem Kumpel Ali in der Massenunterkunft in unmittelbarer Nähe zur Kohlengrube oder zum Stahlwerk wurde der Gemüsehändler, der zusammen mit Frau, Onkel und Kindern die Geschäfte neu eröffnete, die von deutschen Inhabern aufgegeben worden waren.

Die Achtzigerjahre sahen die Zuwanderung von Deutschen aus Osteuropa; es war die vorerst letzte große ethnisch begründete Wanderung, ein spätes Echo der Nachkriegsflucht: Eingeladen wurde, wer in den früheren »Feindstaaten« wie der UdSSR, Polen oder Rumänien zur deutschen Minderheit gehörte.

Dann folgte die erste große Asylbewegung mit einer halben Million Menschen aus dem zerfallenden und sich im Bürgerkrieg zerfleischenden Jugoslawien, aber zunehmend auch schon aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus der Türkei, wo sich die Kurden der Verfolgung ausgesetzt sahen.

Deutschland ist in dieser Zeit nicht ärmer geworden. Wenn man das feststellt, müsste man nicht auch fragen: Wäre es wohlhabender ohne Zuwanderung? Und welches sind die Bedingungen, unter denen Zuwanderung das Zielland bereichert – oder verarmen lässt?

Das Zauberwort lautet: Integration. Damit verbunden ist in erster Linie die Integration in den Arbeitsmarkt – beruflichen Erfolg, der mit Steuer- und Beitragspflicht, mit Mehrwert bezahlt wird – oder bleibt es beim Empfang von Sozialleistungen und der kostenlosen Inanspruchnahme des Gesundheits-, Renten- und Bildungssystems?

Es geht aber auch um die gesellschaftliche Integration: Entstehen Parallelgesellschaften, die untereinander und mit den Einheimischen im Konflikt liegen, kommt es gar zu »No-go-Areas«, fremden, selbstverwalteten Gemeinschaften außerhalb des deutschen Rechts, aber innerhalb seiner Grenzen?

Roland Springer geht diesen Fragen anhand von konkreten Fluchtschicksalen nach. Als ehrenamtlicher Pate eines jungen Mannes aus Afghanistan und Unterstützer einer jungen syrischen Familie ist es ihm möglich, die Neuankömmlinge zu begleiten und zu erfahren, welche Hoffnungen und Nöte sie bewegen, welche Schritte in ihr neues Leben gelingen und wo sie zu scheitern drohen.

Aber nicht nur um die Beschreibung geht es. Integration ist ein vielschichtiger Prozess, schmerzhaft, herausfordernd, der gesellschaftlich beschleunigt und erleichtert oder erschwert und blockiert werden kann.

Wie schwer Integration gelingt, zeigte sich bereits sechzehn Monate nach dem Willkommens-Sommer 2015. Der Wahlkampf der türkischen Regierung unter deutschen und europäischen Türken offenbarte, dass die Integration vieler Türken, die seit Jahrzehnten und mehrheitlich schon in der dritten Generation in Deutschland leben, doch nicht so gelungen ist, wie viele meinten.

Für eine Fernsehsendung nach ihrem Regierungschef befragte Deutsche mit türkischen Wurzeln zeigten auf das Foto von Erdoğan statt auf das von Merkel. Die Redaktion berichtete sowohl von Türken, die seit Jahrzehnten hier leben, aber kaum Deutsch sprechen, und anderen, die zu der Diskussion um die Wahlkampfauftritte lieber schweigen – aus Angst vor Repressionen aus ihrem türkischen Umfeld. Einer der nach Erdoğan und seiner Faszination für die Deutsch-Türken Befragten bringt es auf den Punkt: »ER spricht so islamisch.«

Die Journalistin Düzen Tekkal kritisiert: »Mitschuld an den vielen Erdoğan-Anhängern hier sind gerade Islamverbände wie die DITIB, die in ihren Moscheen keine Integration, sondern das ›Türkisch sein‹ predigen.« Sie spricht davon, dass Türken »nicht losgelassen werden«, sie spricht vom islamischen Ideologieexport der türkischen Verbände wie der DITIB, denen man auch noch die Früherziehung der Kleinkinder überlassen habe und damit die Gegner der Gesellschaft erzeuge. Deutschland will integrieren, aber die Türkei arbeitet dagegen. Wie geht man damit um?

Es ist ein ernüchternder Befund. Er macht traurig. Weil man lange davon ausging, dass die Integration der Türken eigentlich ganz gut gelungen sei, so gut es halt gelingen kann, denn einfach ist es nicht, nicht für die, die da waren, und nicht für die, die kamen. Und es gibt ja auch zahllose Beispiele gelungenen Zusammenlebens, eine schweigende Mehrheit von Zufriedenen, die gern in Deutschland leben und arbeiten. Doch sie werden von den Ausgrenzern vereinnahmt. Von Verbandsfunktionären selbsternannter Migrantenorganisationen, die mit anmaßender Opfer-Haltung den bestens ausgebildeten und eloquenten »Unterdrückten« vorführen – das »Opfer« einer Gesellschaft, die seinen Studienplatz finanziert hat. »Viele Deutschtürken haben noch eine starke emotionale Beziehung zur Türkei. Auch weil sie sich hier oft wie Menschen zweiter Klasse fühlen.« Aber ist es wirklich allein die Aufgabe der Deutschen, für gelingende Integration zu sorgen?

»Opfer«, so sagt die Journalistin Düzen Tekkal weiter, »wollen herrschen«. Die Opferrolle wird zur Haltung, aus der sich allerlei ableiten lässt, auch das Missverständnis, dass Integration eine einseitige Leistung wäre, die die Deutschen zu erbringen haben, nicht die Einwanderer. Und ganz nebenbei: wenn tatsächlich die Deutschen die alleinige Verantwortung für gelingende Integration hätten, wäre das nicht eine sehr paternalistische Vorstellung? Zumindest keine auf »Augenhöhe«.

Die türkische Sprache werde als Integrationshindernis betrachtet, aber die Türken »wollen Türkisch sprechen und in ihrer Kultur leben«. Wenn das so ist, dann ist das bestehende deutsche Integrationsmodell untauglich. Denn es geht ja explizit davon aus, dass die Einwanderer wenigstens einen großen Teil ihrer Herkunft, Sprache, Kultur und Religion nebst Tradition bewahren wollen.

Doch wie kann Integration dann gelingen?

Auf diese Frage gibt Roland Springers Buch Antwort. Im konkreten Begleiten von Immigranten werden typische Missverständnisse und Missstände sichtbar und nachvollziehbar, vor allem aber Lösungsansätze und Maßnahmen entwickelt, die gangbare Wege zu einer gelingenden Integration eröffnen.

Dies ist vermutlich eine der wichtigsten Aufgaben, der sich Deutschland stellen muss.

Roland Tichy,

im April 2017

KAPITEL 1

Einleitung

Außer Deutschland versucht derzeit kein anderes europäisches Land durch die Aufnahme einer großen Anzahl von Flüchtlingen sein Arbeitskräfteangebot zu erweitern und seine Bevölkerungsstruktur zu verjüngen. Insofern beschreitet die Bundesregierung bislang unter dem Banner humanitärer Flüchtlingshilfe einen (ultra-)liberalen Sonderweg in der Einwanderungspolitik. Dieser befeuert nicht nur gesellschaftliche und politische Spaltungstendenzen innerhalb Deutschlands, sondern auch zwischen Deutschland und anderen Ländern der Europäischen Union (EU). Kritisiert wird in diesem Zusammenhang sowohl die Eigenmächtigkeit der Bundesregierung gegenüber ihren europäischen Partnern als auch der »moralische Imperialismus«, mit dem sie beansprucht, ihren in der Flüchtlingspolitik eingeschlagenen Weg in den Rang eines verbindlichen europäischen Standards zu heben.

Dieser Anspruch kann freilich allenfalls dann erhoben werden, wenn sich erweisen sollte, dass der deutsche Sonderweg in der Flüchtlingspolitik das hält, was seine Protagonisten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Verbänden, Medien und Zivilgesellschaft sich selbst und anderen von ihm versprechen: eine staatsfinanzierte Beförderung des Wirtschaftswachstums durch die gesellschaftliche Integration zusätzlicher, aus Kriegs- und Elendsgebieten importierter Arbeitskräfte und Konsumenten, unabhängig von deren Anzahl sowie von deren mitgebrachten qualifikatorischen und soziokulturellen Assets.

Mit der Öffnung der Staatsgrenzen öffnen sich indes noch keineswegs auch automatisch die Arbeits- und Wohnungsmärkte für ein erweitertes Arbeitskräftepotenzial, das offenkundige qualitative Defizite aufweist. Sollte sich daher abzeichnen, dass das Versprechen auf Arbeit und Wohnraum für die Mehrzahl der bleibeberechtigten Flüchtlinge nicht einzulösen ist, muss der eingeschlagene Sonderweg sowohl im Interesse der deutschen Bevölkerung und auch der betroffenen Flüchtlinge dringend revidiert werden. Dabei geht es nicht alleine um die Frage, wie viele Flüchtlinge der deutsche Arbeits- und Wohnungsmarkt aus makroökonomischer Sicht jährlich verkraften kann, sondern auch um die Frage, wie die mikroökonomischen Prozesse des Zutritts zu diesen Märkten so zu gestalten sind, dass mit den Flüchtlingen keine auf Dauer unterbeschäftigte und deswegen staatlich zu alimentierende neue »industrielle Reservearmee« entsteht.

Mit der vorliegenden Monographie möchte ich einen Beitrag dazu leisten, mehr Licht in das immer noch vorherrschende Dunkel der Frage zu bringen, wie gut oder schlecht der deutsche Sonderweg in der alltäglichen Praxis funktioniert und welcher Korrekturen er bedarf. Vorgeschlagen wird ein Spurwechsel, der es nicht nur erlaubt, aus integrationswilligen und integrationsfähigen Flüchtlingen möglichst schnell Arbeitsmigranten zu machen, sondern auch eine protektionistische Wende weg von einer (ultra-) liberalen Flüchtlingspolitik beinhaltet.

In regierungsamtlich »alternativlosen« Zeiten bedarf es mehr denn je alternativer Konzepte, soll die Qualität politischer Entscheidungen und Maßnahmen nicht irreparablen Schaden nehmen. Jede Alternative sollte allerdings nicht nur theoretisch gut durchdacht, sondern praktisch-empirisch solide geerdet sein. Die vorliegende Monographie stützt sich daher zum einen auf eigene Erkenntnisse aus der Betreuung mehrerer muslimischer Asylbewerber im Rahmen meiner ehrenamtlichen Flüchtlingsarbeit und versucht zum anderen, diese Erkenntnisse in den Kontext der seit Herbst 2015 anhaltenden öffentlichen Kontroverse um das Für und Wider des deutschen Sonderwegs in der Flüchtlingspolitik zu stellen.

Methodisch habe ich dafür das sozialwissenschaftliche Instrument der »beobachtenden Teilnahme« genutzt, bei dem man an einem gesellschaftlichen Geschehen selbst teilnimmt und es dabei systematisch beobachtet und analysiert. »Beobachtende Teilnahme« findet gleichsam »undercover« statt und gleicht insofern einem journalistischen Vorgehen, das insbesondere Günter Wallraff bekannt gemacht hat. Anders als im investigativen Journalismus geht es im Sinne des Mottos des Begründers der Soziologie Auguste Comte – Savoir pour prévoir, prévoir pour prévenir (»Wissen, um vorauszuschauen, vorausschauen, um voranzukommen«) – aber nicht um die Aufdeckung skandalöser Zustände, sondern um das Erkennen, Verstehen und verbesserte Gestalten gesellschaftlicher und politischer Prozesse.

Für anregende Diskussionen, Ermutigungen, Literaturhinweise, die Lektüre erster Entwürfe und Verbesserungsvorschläge danke ich Claudia Weber-Deutschmann, Christoph Deutschmann, Volker Neumann, Harald Kohler, Gerhard Gaiser und Sibylle Springer. Bei der Fertigstellung eines publikationsfähigen Buches standen mir Roland Tichy, Jutta Willand-Sellner, Georg Hodolitsch, Bettina Goschin und Susanne Schneider mit Rat und Tat zur Seite. Auch Ihnen gebührt mein aufrichtiger Dank.

Roland Springer

Stuttgart, im März 2017

KAPITEL 2

Ausgangslage und Fragestellungen

Nur wenige politische Entscheidungen haben in der jüngeren deutschen Geschichte zu so kontrovers ausgetragenen politischen Debatten und Auseinandersetzungen geführt wie die Entscheidung im Sommer des Jahres 2015, die Staatsgrenzen über einen Zeitraum von mehreren Monaten weitgehend kontrollfrei zu öffnen und in kurzer Zeit eine Million Flüchtlinge, vorwiegend aus muslimischen Ländern, ins Land zu lassen (Alexander 2017). Schon in der ersten Hälfte des Jahres 2015, als der Zustrom von Flüchtlingen erst allmählich anschwoll, zeichnete sich ab, dass Teile der deutschen Gesellschaft die Aufnahme von Flüchtlingen tolerieren oder gar befürworten und aktiv befördern, während andere Teile der Aufnahme kritisch, skeptisch oder auch rigoros ablehnend gegenüberstehen.

Der Einfachheit halber sollen nachfolgend die einen »Befürworter« und die anderen »Gegner« einer Flüchtlingspolitik genannt werden, die sich durch eine (ultra-)liberale Haltung in Fragen der Aufnahme von Flüchtlingen auszeichnet. Gemäß dieser Haltung muss Deutschland alle Flüchtlinge aufnehmen und finanziell versorgen, die auf der Grundlage geltender Gesetze ein Bleiberecht beanspruchen können, unabhängig von ihrer Anzahl. Die Festlegung einer fixen Obergrenze, an der die Zuwanderung sich gemäß gegebener Aufnahmemöglichkeiten des Landes orientieren soll und die deswegen nicht überschritten werden darf, wird kategorisch abgelehnt.

Die »Befürworter« dieser Haltung vertreten die Auffassung, dass es sich bei allen Menschen, die aus Kriegsgebieten oder aus wirtschaftlich unterentwickelten Ländern einreisen, ausnahmslos um asylberechtigte Flüchtlinge handele, die vor politischer Verfolgung und Krieg geflohen seien und keine rein wirtschaftlichen Fluchtmotive hätten. Sie verweisen auf das geltende Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention und insistieren darauf, dass es vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte »im Namen der Menschlichkeit« (siehe Prantl 2015) geboten sei, all diesen Menschen Asyl zu gewähren. Davor müssten Probleme, die sich möglicherweise aus der Zuwanderung von vielen Menschen aus anderen Ländern und Kulturen im eigenen Land ergeben, zurückstehen und von der heimischen Bevölkerung im Interesse eines »humanitären Imperativs« ausgehalten bzw. bewältigt werden. Der Zustrom des Jahres 2015 stand deswegen auch unter dem regierungsamtlichen Motto Wir schaffen das. Überdies böten sich mit der Zuwanderung, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, auch Chancen einer wirtschaftlichen, kulturellen und selbst politischen Bereicherung des Landes, das aufgrund der Flüchtlinge nun die Möglichkeit der »Selbsterneuerung« (Münkler/Münkler 2016, S. 11) erhalte und »nachhaltiger in Europa« ankommen könne (Pries 2016, S. 20).

Die »Gegner« dieser (ultra-)liberalen Flüchtlingspolitik hingegen betonen, dass viele Flüchtlinge aus vorwiegend wirtschaftlichen Gründen ihre Heimatländer verließen und nach Deutschland kämen, um ihre Berufs- und Lebensperspektiven zu verbessern oder auch nur in den Genuss der Leistungen des deutschen Sozialstaats zu gelangen (siehe Berlach 2015). Sie befürchten neben steigenden Kosten für die Unterbringung, Verpflegung, medizinische Versorgung und Qualifizierung solcher »Wirtschaftsflüchtlinge« eine verstärkte Konkurrenz an den Arbeits- und Wohnungsmärkten mit entsprechenden Auswirkungen auf Löhne und Mieten, eine zunehmende Arbeitslosigkeit und Ghettoisierung in großen Städten, einen Anstieg der Kriminalität, eine Zunahme terroristischer Attentate und nicht zuletzt eine kulturelle Überfremdung des Landes, insbesondere durch den Zustrom von vielen Flüchtlingen muslimischen Glaubens. Überdies fürchten sie angesichts stark zunehmender Flüchtlingszahlen in Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten eine verstärkte Sogwirkung auf weitere Fluchtbewegungen aus den entsprechenden Herkunftsländern Richtung Deutschland, die von der Aufnahme und finanziellen Versorgung einer großen Zahl von Flüchtlingen ausgelöst werden könnte. Um dies zu vermeiden, fordern sie unter anderem eine Änderung des Asylrechts mit einer engeren Fassung des Begriffs des Asyls (siehe Sarrazin 2016, S. 364ff.).

Zwischen den entschiedenen »Befürwortern« und den entschiedenen »Gegnern« bewegen sich die »Abwägenden«. Sie berufen sich zwar wie die »Befürworter« auf das geltende Asylrecht und die Genfer Flüchtlingskonvention, plädieren zugleich jedoch für eine klare Abgrenzung zwischen asylberechtigten Flüchtlingen, die vor Krieg und/oder politischer Verfolgung, und sogenannten »Wirtschaftsflüchtlingen«, die vor wirtschaftlicher Not fliehen (siehe Wingert 2016). Dementsprechend befürworten sie zwar die Aufnahme von Flüchtlingen, fordern zugleich jedoch neben einer klaren Abweisung von nicht bleibeberechtigten Flüchtlingen auch eine quantitative Begrenzung des Zuzugs von asylberechtigten Flüchtlingen. Des Weiteren warnen sie vor den wirtschaftlichen und sozialen Risiken einer Überforderung des Aufnahmelandes (siehe Deutschmann 2016). Sie vertreten insofern keine liberale, sondern eine eher protektionistische Haltung in Fragen des Flüchtlingszuzugs, wenden sich aber gleichzeitig gegen eine völlige Schließung der Grenzen, wie sie von einigen europäischen Ländern praktiziert wird.

Während die »Befürworter« mit Verweis auf humanitäre Verpflichtungen gegenüber Menschen in Not aus aller Welt den (Schutz-)Interessen der Flüchtlinge grundsätzlich einen Vorrang gegenüber den (Schutz-)Interessen der einheimischen Bevölkerung einräumen, sehen sich deren »Gegner« als Vertreter der Interessen der Einheimischen, die es gegen die Flüchtlinge und deren Unterstützer zu verteidigen gelte. Da es dabei aus Sicht vieler »Gegner« um den Schutz der Interessen aller Einheimischen und damit des ganzen Volkes geht, bedienen sich Teile der »Gegner« zur Begründung ihrer Haltung nationalistischer und teils völkischer Argumentationen (siehe Patzelt/Klose 2016, S. 149 ff.). Befördert wird dies nicht zuletzt dadurch, dass diejenigen Parteien, die sich unter dem Motto »soziale Gerechtigkeit« die Interessenvertretung der »kleinen Leute« auf die Fahnen geschrieben haben, die (ultra-) liberale Flüchtlingspolitik befürworten und daher Gefahr laufen, in den Augen ihrer bisherigen Anhänger und Wähler faktisch eher die Interessen der Flüchtlinge als die ihren zu vertreten.

Jenseits der damit entstandenen Konfliktlinien zwischen einem sich als universell verstehenden Humanismus und einem sich davon abgrenzenden Nationalismus hat sich vor dem Hintergrund der Flüchtlingsdebatte in Deutschland unter anderem auch ein Konflikt um Gesinnungs-und Verantwortungsethik entwickelt, der nicht mehr nur in philosophischen Seminaren, sondern auch öffentlich ausgetragen wird. Während die »Befürworter« einer liberalen Flüchtlingspolitik die moralischen Pflichten betonen, die es gesinnungsethisch gegenüber allen Flüchtlingen dieser Welt einzuhalten gelte, warnen die »Gegner« verantwortungsethisch vor der »Selbstbeschädigung«, die ein selbst verordneter, unbegrenzter Flüchtlingszustrom in einem Aufnahmeland anrichten und es schlimmstenfalls zugrunde richten könne (vgl. Sieferle 2016, S. 9).

Neben den teils hypermoralisch argumentierenden »Befürwortern« auf der einen und den teils apokalyptisch argumentierenden »Gegnern« auf der anderen Seite versuchen sich in dieser Debatte auch die »Abwägenden« Gehör zu verschaffen. Sie wollen weder den Interessen der Flüchtlinge noch den Interessen der Einheimischen einen alleinigen Vorrang einräumen, sondern plädieren für einen Interessenausgleich. Dabei gelte es Folgendes zu berücksichtigen: »Die Gesinnungsethik lässt sich aus verantwortungsethischer Sicht politisch nicht durchhalten, wohingegen sich die Verantwortungsethik aus gesinnungsethischer Perspektive moralisch nicht durchhalten lässt.« (Ott 2016, S. 88) Deswegen sei genau zu prüfen, bis zu welchem Grade den Flüchtlingen menschenrechtliche Teilhaberechte gewährt werden können, die nicht zu einer massenhaften Inanspruchnahme und damit zu einer Überforderung der Einheimischen führen.