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Die Klappe aufmachen

Inhalt

Die Klappe aufmachen

Unseren Präsidenten küsst man nicht

»Da können wir doch was tun!«

Jeder seines Glückes Schmied?

Anerkennung durch Kritik

Mein Körper – Meine Regeln

Wir waren uns viel ähnlicher als gedacht

Reden. Immer wieder.

»In Vielfalt geeint«

Ist Protest unter aller Sau?

Vorurteilen argumentativ begegnen und couragiert handeln

Fee ist mein Name und ich habe Multiple Sklerose

Wie das Reden beim Entwickeln hilft

»Das Fräulein, das immer über Sex redet«

Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom

»Wir stehen inmitten der Gesellschaft«

Wichtiger als ein Lächeln ist Respekt

Ich kommuniziere mit den Händen

»Der Konflikt als Ausgangspunkt«

Die Klappe aufmachen

Jeder kennt sie: Die Situation, in der man seine Klappe aufmachen müsste. Weil jemand in der Bahn über Schwächere herzieht. Oder ein guter Freund im Gespräch abfällig über einen Bekannten redet. Allzu oft sitzen wir daneben und ärgern uns hinterher, dass wir nichts gesagt haben. Aber warum bleiben wir stumm? Vielleicht, weil wir keine Diskussion vom Zaun brechen wollen, die am Ende möglicherweise in Streit mündet. Oder wir befürchten, dass uns die Argumente fehlen. Oder wir wollen schlicht nicht auffallen.

Dabei leben wir in einer Gesellschaft, in der Menschen viel diverser denken, als es uns Demagogen in ihren Reden und Tweets weißmachen wollen, links wie rechts. Aber diese Wirklichkeit erschließt sich erst, wenn wir nachfragen und zuhören, kurz: mit anderen ins Gespräch kommen. Das kann zu Auseinandersetzungen oder Streit führen, dazu, dass wir unsere eigene Meinung infrage stellen müssen oder am Ende sogar merken, dass Positionen unvereinbar sind.

Wie das in der Praxis aussieht, erzählen ganz unterschiedliche Menschen in diesem Buch. Menschen, die auch in kritischen Situationen Gespräche einfordern, die daran glauben, dass eine Gesellschaft nur funktioniert, wenn wir unseren Mund aufmachen und miteinander reden. Manche sind mutig, andere neugierig – allen gemeinsam ist, dass sie an Demokratie glauben.

So erzählt Katrin, warum sie es wichtig findet, für die Idee Europa einzutreten und davon, wie sie die Bewegung Pulse of Europe in ihre Stadt geholt hat. Tobias hat seine Klappe aufgemacht, als es darum ging, seiner Familie zu erklären, wie er wirklich leben will. Ähnlich wie Fee, die sich dafür entschieden hat, auf ihrem Blog über ihre chronische Erkrankung zu schreiben, damit sie keine Ausreden mehr erfinden muss in Momenten, in denen sie gerade keine Kraft hat. Die Schülerin Paula macht gemeinsam mit ihrer Klasse öffentlich auf eine drohende Abschiebung von Mitschülern aufmerksam und stellt sich so gegen die aktuelle Abschiebepolitik. Jacob erklärt, warum ein reflektiertes Gesprächsverhalten auch in beruflichen Zusammenhängen wichtig ist und der Gewerkschafter Volker zeigt dies in der Praxis auf. Friederike hingegen hat das Gespräch in der Ferne gesucht, in Russland, und wurde immer wieder damit konfrontiert, dass nicht nur die anderen ihr fremd sind, sondern sie selbst auch den anderen. Sophie wiederum bricht kulturelle Grenzen auf, indem sie eine Sprechstunde für geflüchtete Menschen zur sexuellen Aufklärung anbietet. Jana ist taub zur Welt gekommen und selbst ein Beispiel dafür, wie auch mit lautloser Kommunikation Barrieren überwunden werden können.

Die vielen unterschiedlichen Erfahrungen und Erzählungen zeigen, dass es nicht immer leicht ist, im richtigen Moment seine Klappe aufzumachen. Und nicht notwendigerweise geht man gestärkt aus so einem Gespräch hervor. Doch alle Beiträger dieses Buches sind sich darin einig, dass es wichtig ist, seine Meinung zu sagen und miteinander zu reden. Auch wenn es nicht immer und gleich beim ersten Versuch richtig gut funktioniert, es lohnt sich, dranzubleiben!

Carolin Eichenlaub & Beatrice Wallis

Unseren Präsidenten küsst man nicht

von Friederike

In meinem – phasenweise verzweifelten – Versuch, Russisch einigermaßen ordentlich zu lernen, bereise ich nun seit mittlerweile 13 Jahren die Länder der ehemaligen Sowjetunion. Dabei bin ich in den unterschiedlichsten Ländern und auf die unterschiedlichsten Arten gereist; mit dem Flugzeug, dem Zug, als Reisebegleiterin von Wohnmobilreisen, auf eigene Faust ganz alleine oder in Gruppen im Rahmen von Austauschprogrammen.

Gegen den Strom schwimmen

Meine Gefühle sind währenddessen immer ambivalent geblieben, im Grunde könnte ich von einer Hassliebe sprechen, die mich nun seit so langer Zeit begleitet. Am Ende der Reise habe ich jedes Mal ganz dringend nach Hause gewollt, und sobald ich dann zu Hause mit meinen dreckigen Koffern angekommen bin, habe ich in Gedanken gleich wieder angefangen, die nächste Reise in den wilden Osten zu planen. Warum das so ist, weiß ich eigentlich selber nicht richtig, aber es zieht mich einfach nicht an weiße Strände unter Palmen in Thailand, der Schneematsch im Ural übt immer noch eine größere Anziehungskraft auf mich aus.

Meine Faszination liegt wohl zu großen Teilen in der Kommunikation mit den Menschen begründet. Denn dadurch, dass ich mich auf Russisch verständigen kann, bekomme ich einen Einblick in eine Kultur, der meiner Meinung nach viel tiefer geht, als es interkulturelle Erfahrungen ohne Gespräche je sein könnten. Vielleicht liegt das aber einfach daran, dass das Gespräch für mich persönlich einfach die beste Form des Austauschs ist.

Die versunkene Welt

Viele Länder der ehemaligen Sowjetunion wirken auf den ersten Blick kulturell gar nicht so weit entfernt von uns, man findet fast überall McDonald’s, Burger King und Sushi, es laufen die gleichen Filme im Kino und teilweise spielen die gleichen Bands, die Architektur ist größtenteils ähnlich, es fahren die gleichen Autos, wenn sie nicht gerade im fernen Osten das Lenkrad rechts haben. Die Menschen tragen ähnliche Moden und sehen einfach auch rein physisch meistens nicht so anders aus, sodass man sich als Reisender zunächst nicht fremd fühlt. Zumindest bleibt bei mir ein Gefühl von Exotismus, das man in Indien oder Kambodscha wohl empfindet, weitgehend aus.

Aber diese kulturelle Ähnlichkeit an der Oberfläche trügt: Im Alltag und im Kontakt mit den Menschen ist es für mich immer wieder faszinierend, wie groß die Unterschiede dann doch sind. Dabei habe ich eine Reihe von Gesprächen erlebt, die mich durchaus an Grenzen gebracht haben. Es gab viele Situationen, in denen ich schockiert und überfordert war. Situationen, in denen mir die Worte gefehlt haben und ich in meiner vermeintlichen Sicherheit erschüttert wurde.

Die Menschen hinter dem Eisernen Vorhang sind in einer ganz anderen Welt groß geworden, und selbst wenn sie erst nach dem Zerfall der Sowjetunion geboren sind, gibt es doch immer noch große Unterschiede darin, wie sie aufgewachsen sind, wie sie leben und wie sie die Welt sehen.

Ich mag es, an Orte zu reisen, an denen es so gut wie keinen Tourismus gibt. An solchen Orten ist es meistens viel einfacher, echte Begegnungen zu erleben, denn es gibt noch keine etablierte Form des Umgangs mit Touristen. Man ist als Fremder etwas Besonderes für die Menschen und es gibt ein großes Interesse an Austausch. In Ländern, in denen viele Touristen unterwegs sind, gibt es oft schon bestimmte erprobte Formen, wie man Touristen begegnet, wie man mit ihnen spricht und was man von ihnen erwartet. Ich denke dabei z. B. an die typischen Gespräche unter Backpackern, wie ich sie an vielen Orten dieser Welt bereits geführt habe  und die mir oftmals sehr schablonenhaft erschienen sind.

Ins Gespräch eintauchen

Da ich keine Politik- oder Kulturwissenschaftlerin bin, sondern mich wissenschaftlich vor allem mit der russischen Literatur und der Sprache auseinandergesetzt habe, gehe ich nicht mit festen Überzeugungen und Vorstellungen über Politik, die ich mir im Laufe des Studiums erarbeitet habe, auf die Menschen zu. Mein Interesse liegt in der Begegnung an sich, in dem Wie und Wer der andere ist. Mich fasziniert die innere Welt des Gegenübers, die sich in einem Gespräch eröffnet. Ich würde sogar so weit gehen, meine Gesprächshaltung als passiv zu bezeichnen. Da ich keinen Zweck mit einem Gespräch verfolge, ich möchte nichts Konkretes erfahren und niemanden von etwas überzeugen, bin ich einfach nur offen. Genau aus diesen Situationen entstehen meiner Meinung nach die interessantesten Gespräche. Wenn das eigene Herz und die Ohren offen sind für den anderen, kann dieser sich öffnen. Das hört sich vielleicht etwas esoterisch an, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass Gespräche, in denen ich in dieser Haltung war, zum fruchtbarsten Austausch geführt haben. Dagegen waren Gespräche zu Themen, zu denen ich mir bereits eine Meinung gebildet hatte, oftmals nicht wirklich produktiv. Meistens kommen die spannenden Gespräche unvermittelt, ohne dass ich bewusst danach suche. An meinem Akzent werde ich unweigerlich als Ausländerin erkannt und daher eigentlich immer gefragt, woher ich komme. Dabei ist es bemerkenswert, wie beliebt man als Deutsche ist, obwohl sich doch ein wesentlicher Teil der offiziellen russischen Identität daraus speist, erfolgreich den Hitler-Faschismus besiegt zu haben: Jede Stadt hat ein Mahnmal, das den Gefallenen im »Großen Vaterländischen Krieg«, wie der Zweite Weltkrieg von Russen genannt wird, gewidmet ist. Die Militärparaden am Ersten Mai zu Ehren der mit Orden behängten Veteranen sind riesig und auch nach Sowjetzeiten einer der größten Feiertage im Jahr.

Untiefen umschiffen

Den ersten Kontakt mit mehr oder minder politischen Ansichten hatte ich in Usbekistan, als uns, zwei jungen deutschen Studentinnen, ein Restaurantbesitzer begeistert mit den sich in seinem Deutsch reimenden Worten »Hitler kaputt, Stalin gut(t)« begrüßte. Dabei fiel er betrunken auf die Sitzkissen auf dem zentralasiatischen Teepodest und wir haben ein weiteres Gespräch dann einfach vermieden und sind gegangen. Im Wohnheim in Moskau riefen wir als deutsche Studentengruppe Begeisterung bei einem Armenier hervor, weil Hitler es immerhin fast geschafft habe, die Juden auszurotten. Seiner Meinung nach nur schade, dass es nicht ganz geklappt hatte, die Endlösung zu verwirklichen. Die anschließende Diskussion auf Anfängerniveau im Russischen verlief dann schnell im Sande.

Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Deutschland im Allgemeinen Bewunderung und Wertschätzung hervorruft. Oft gerade aus Gründen, die einen selbst eher in Verzweiflung stürzen! In den ersten Situationen dieser Art habe ich mich ziemlich verzweifelt und hilflos gefühlt. Mir sind einfach keine Argumente eingefallen. Ich bin in bildungsbürgerlichen Verhältnissen groß geworden und nach der Etikette der politischen Korrektheit sozialisiert worden. Zudem sehe ich mich selbst eher als links und habe mich nie in Kreisen bewegt, in denen offen rassistische und antisemitische Aussagen gemacht werden durften. Auch wenn ich mir schon damals sicher war, dass es natürlich auch in Deutschland Menschen gibt, die so denken, aber sich nicht trauen, es auszusprechen. Und dass ich auf die, die es laut aussprechen, in meinen Kreisen einfach nicht treffe. Wobei die Fassade der politischen Korrektheit wohl in Zeiten der AfD und der freien Meinungsäußerung durch Hasskommentare in den sozialen Medien auch in Deutschland bröckelt.

Selbst hier fällt es mir schwer, einen Umgang damit zu finden, umso schwerer fiel es mir bei meinen ersten Aufenthalten in russischsprachigen Ländern: Ich war jung, unsicher und konnte so schlecht Russisch, dass ich, selbst wenn ich eine andere Meinung hatte, diese nicht ausdrücken konnte. Ich habe immer wieder erlebt, dass nach einigen bewundernden Worten zu Deutschland (die Autos, die Wirtschaft, die Ordnung, die Pünktlichkeit, die Nation der Dichter und Denker …) in den meisten Gesprächen unweigerlich Fragen kommen, mit denen es schwieriger ist umzugehen. So bin ich immer wieder gefragt worden, ob es mich nicht störe, dass in Deutschland so viele Türken leben. Interessanterweise kam nie die Frage, ob mich als Deutsche nicht die ganzen Russen stören würden, die in Deutschland leben. Am Anfang fand ich diese Frage nahezu anstößig, mittlerweile denke ich anders darüber: Mir ist aufgefallen, dass viele Tabus, die im Westen die Gespräche in bestimmte Bahnen lenken, im Osten weitgehend wegfallen. Das macht die Kommunikation konfrontativer, aber im Grunde auch ehrlicher. Nach den ersten Begegnungen mit dieser offenen Art der in meinen Augen »ungeschminkten« Kommunikation war ich einigermaßen gewappnet und habe angefangen, mir Standardantworten auf Standardfragen zurechtzulegen, die ich auf Russisch auch sagen konnte.

Gerade auf Zugreisen, bei denen ich immer die billigsten Plätze in den bei Rucksacktouristen so beliebten offenen Schlafwagenabteilen mit Pritschen und Toiletten mit abenteuerlichen hygienischen Bedingungen gekauft habe, bin ich mit den unterschiedlichsten Menschen in Kontakt gekommen und oft genau zu diesem Thema befragt worden. In diesen Zugabteilen trifft man Menschen, die sich keine Flugtickets leisten können und somit tendenziell aus unterprivilegierten Schichten kommen. Alle wohlhabenderen – und damit meistens einhergehend gebildeteren – Russen fliegen ausschließlich – auch im Inland. Die Eisenbahnromantik ist ein Phänomen, das es meiner Erfahrung nach nur unter Touristen aus dem Westen gibt.

Sich in fremden Gewässern spiegeln

Dabei ist mir klar geworden, dass auf den ersten Blick schockierend scheinende Fragen oft die Suche des Eigenen im Fremden spiegeln. So haben viele Russen selbst eine Abneigung, wenn nicht gar einen Hass, auf die vielen Migranten aus Zentralasien, die zum größten Teil eben auch Turkvölker sind und Turksprachen sprechen. Diese (oft illegalen) Migranten verrichten in den Boomstädten wie Moskau weitgehend die als niedrig angesehenen Arbeiten auf dem Bau, eben wie die Gastarbeiter, die in der Nachkriegszeit aus der Türkei nach Deutschland kamen. Geteiltes Leid ist halbes Leid, und ich glaube, es bringt dem Gesprächspartner auch eine gewisse Befriedigung, dass im vermeintlich so viel besseren Deutschland doch nicht alles so perfekt ist.

In solchen Situationen versuche ich zu erkennen, warum der Gesprächspartner das auf diese Art sagt, um nicht in einer Haltung der politischen Korrektheit zu erstarren. Politische Korrektheit ist meiner Meinung nach oftmals auch nur eine Form von Schablonendenken und würde in einer solchen Situation im Austausch nicht weiterhelfen. Ich versuche, eine Gesprächshaltung zu finden, die das Gegenüber so annimmt, wie es ist, und nicht versucht, es aus einer vermeintlichen westlichen Überlegenheit zurechtzuweisen. Denn das würde jeden Dialog von vornherein ersticken, niemand lässt sich gerne belehren.

Die extremste Form von Unverständnis zwischen Menschen mit unterschiedlichem Weltwissen habe ich in der transsibirischen Eisenbahn erlebt: Im tiefsten Sibirien ist ein Mann in mein Abteil eingestiegen, der mit Sicherheit noch nie im Ausland war und der einfach grundsätzlich nicht glauben konnte, dass ein Mensch eine Sprache spricht, mit der er nicht aufgewachsen ist. Das hört sich seltsam an, aber es war wirklich so, und er ließ sich nicht davon überzeugen, dass ich Russisch gelernt hatte. In seinen Augen spiegelte sich das fundamentalste Unverständnis, dem ich je begegnet bin.

Ich war eigentlich immer davon überzeugt, dass Kommunikation nur möglich ist, wenn es eine gewisse gemeinsame Basis gibt. In diesem Falle war für mich die Ungläubigkeit und Verständnislosigkeit dieses Mannes eine Art Scheitern des Gesprächs, aber vielleicht denke ich da zu kurz und allein die Begegnung mit etwas, einer Idee, einer Möglichkeit, die man bisher noch nicht gestreift hatte, kann eine Veränderung in einem Menschen anstoßen. Was diesen Mann betrifft, war es mir ehrlich gesagt egal, ob er sich vorstellen konnte, dass ein Mensch eine andere Sprache lernen kann oder nicht. Er ist dann drei Tage und drei Nächte im Vollrausch schlafend auf seiner Pritsche immer in der gleichen Trainingshose durch den endlosen Schnee gefahren. Die Desorientierung in Raum und Zeit, die ich auf dieser Zugfahrt mit den mehrfachen Zeitverschiebungen empfunden habe, in einer Landschaft, die sich tagelang nahezu nicht verändert, die immer gleichen Bäume im endlosen leeren Raum aus Schnee, hat sich im Bewusstsein dieses Mannes gespiegelt, der in meiner Wahrnehmung in einer Relationslosigkeit zur übrigen Welt lebte.

Versuche, das Eis zu brechen

Bei einem anderen Thema, das in Gesprächen immer wieder aufkommt, habe ich allerdings tatsächlich das Bedürfnis, eine andere Sichtweise aufzuzeigen: Heute ist die Frage nach den Türken durch die Frage nach den Geflüchteten ersetzt worden. Auf dieses Thema bin ich mittlerweile vorbereitet und habe mir, nachdem ich so oft nach solchen Gesprächen unzufrieden mit mir und meiner Reaktion war, vorgenommen, meine Meinung zu äußern.

So hatte ich z. B. bei meinem diesjährigen Aufenthalt als Deutschlehrerin für Studierende in Ufa das Bedürfnis, beim Thema Geflüchtete in Deutschland eine klare Meinung zu vertreten und für meine Meinung auch in konfrontativen Gesprächen geradezustehen. Ich wusste aus meinen früheren Erfahrungen, aus Gesprächen mit aus Russland stammenden Deutschen und aus Medienberichten, dass durch die offiziellen russischen Medien das Bild vermittelt wird, Deutschland sei nahezu von Geflüchteten überrannt worden und Frau Merkel habe Deutschland damit eine schwere Last aufgebürdet, die das Land nicht tragen könne. In russischen Mainstream Medien wird das Bild verbreitetet, dass die Geflüchteten in Deutschland kriminell seien, Frauen vergewaltigen und das Sozialsystem ausnutzen würden. Außerdem wird ausführlich über alle Anschläge in Deutschland berichtet; viele Russen sehen Deutschland deswegen in Gefahr. Meine Studierenden in Ufa werden ein Praktikum in Deutschland machen, und sie haben mir immer wieder erzählt, dass sich ihre Eltern große Sorgen machen, dass sie in Deutschland bei einem Anschlag umkommen könnten, da Geflüchtete so viele Anschläge verüben würden und Deutschland nicht mehr sicher sei. Ich war also entschlossen, Stellung zu beziehen und zu sagen, dass ich nicht denke, dass die Aufnahme von Geflüchteten unser Land in Chaos und eine tiefe Krise gestürzt hat. Sondern dass es, trotz aller Probleme, die ich nicht beschönigen möchte, auch positive Aspekte gibt. Diese Meinung habe ich gegenüber meinen Studierenden immer wieder vertreten. Ich habe einige Argumente genannt, so u. a., dass ich nicht denke, dass die Geflüchteten den deutschen Staat nur Geld kosten, sondern dass sie, wenn sie gut integriert werden und nicht nur in riesigen Unterkünften ohne Perspektive festsitzen, sondern in Regionen kommen, in denen Arbeitskräfte gesucht werden, auch der deutschen Wirtschaft nützen können. Außerdem können die Geflüchteten die demografische Entwicklung in Deutschland ausgleichen und sie schaffen Arbeitsplätze, z. B. für mich als Deutschlehrerin. Ich habe auch von meiner persönlichen Erfahrung mit Geflüchteten in meinen Deutschkursen berichtet.

Bei solchen Gesprächen habe ich immer wieder gemerkt, dass Argumente, die in das Selbstkonzept und die Lebenswelt des Gegenübers passen, am überzeugendsten sind. So ist beispielsweise die demografische Entwicklung in Russland ein politisches Thema, mit dem die Studenten sich auskennen. Putin will dem Bevölkerungsschwund durch Gelder für junge Familien entgegenwirken. Ich bin mir bewusst, dass ich in Bezug auf dieses Thema tatsächlich versucht habe, die Meinungen meiner Studenten zu beeinflussen. Aber ich sehe das als einen Beitrag zum Ausgleich gegen die Macht der staatlichen russischen Medien, die das Thema einseitig für sich auszunutzen wollen.

Fließendes Wasser gefriert nicht

Überhaupt finde ich, dass es in Russland viele Themen gibt, bei denen man sich auf dünnem Eis bewegt, denn sie werden von den Medien stark für Manipulationen genutzt. Oftmals auch als eine Art Retourkutsche:

Als ich die ersten Reisen nach Russland gemacht habe, gab es immer wieder Anschläge auf Züge im Kaukasus und Moskauer U-Bahnen, Nachrichten, die uns Deutsche ängstigten. Nachdem ich mit der transsibirischen Eisenbahn nach Irkutsk aufgebrochen war, sprengten sich in zwei Metrostationen der roten Linie in Moskau zwei sogenannte schwarze Witwen, Frauen aus dem Kaukasus, die ihre Männer im Krieg gegen die russische Übermacht verloren hatten, in die Luft und rissen hunderte von Menschen mitten aus dem Berufsverkehr in den Tod. Als ich nach meiner Rückkehr aus Irkutsk noch einige Tage in Moskau verbrachte, wohnte ich direkt neben einer dieser roten Metrostationen und fuhr jeden Tag in die Tiefe, in der vor ein paar Tagen noch alles rot vor Blut gewesen sein musste. Heute muss ich meine russischen Studenten beruhigen, dass sie keine Angst haben müssen, in Deutschland einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Zynischerweise belege ich das mit einem Totschlagargument: Man kann überall auf der Welt bei einem Anschlag sterben, auch in Moskau und in Deutschland, deshalb sollte man meiner Meinung nach trotzdem reisen und sich frei bewegen. Aber die Fronten sind verhärtet, und viele deutsche Eltern würden beispielsweise ihre Kinder nicht auf einen Schulaustausch mit Russland schicken, wie ich im Rahmen meiner Einsätze für die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch an Schulen in Deutschland immer wieder gehört habe.

Ich kann die Ängste auf beiden Seiten verstehen und war irgendwann selbst an einem Punkt angekommen, an dem ich den Dialog nicht mehr führen wollte und vier Jahre lang nichts mehr mit der russischen Welt zu tun haben wollte. Das war nach meinem Auslandssemester auf der Krim.

Trockenzeit – da blieb mir die Spucke weg

Im Rückblick erinnere ich mich an diese Zeit meines Lebens als eine Zeit, in der ich Kommunikation als weitgehend gescheitert empfunden habe: Mein Auslandssemester im Sommer 2011 habe ich in Simferopol auf der Krim verbracht und hatte noch nicht die leiseste Ahnung davon, dass dieser Ort, der für die meisten westlichen Menschen irgendwo im Nirgendwo liegt, kurze Zeit später in den Fokus der Weltöffentlichkeit geraten würde.

Während dieses Aufenthalts auf der Krim habe ich eine Reihe seltsamer und verstörender Gespräche geführt, die mein Verhältnis zur russischen Kultur nachhaltig gestört haben.

An der Universität habe ich z. B. an einem Kurs teilgenommen, in dem die Examenskandidatinnen im Fach Journalismus ihre Abschlussarbeiten zur linguistischen Analyse politischer Sprache vorstellten. Eine Studentin beispielsweise analysierte in ihrer Arbeit Reden von Putin sprachwissenschaftlich.