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Alle in diesem Buch dargestellten Fälle basieren auf authentischen Verhörprotokollen. Aus rechtlichen Gründen wurden die Personen jedoch verfremdet.

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Originalausgabe

1. Auflage 2017

© 2017 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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D-80636 München

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Redaktion: Sabine Franke

Umschlaggestaltung: Maria Wittek

Umschlagabbildung: TheRenderFish/shutterstock.com

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-7423-0335-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-832-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-833-2

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INHALT

Das Verschwinden von Mary Allen

Sie nannten ihn Lucifer

Psychogramm eines Serienmörders

Das Schweigen des Pastors

Der Stich

Das verlorene Kind

Die Menschenversuche des Dr. Brandt

Die Vergewaltigung

Erziehungsfragen

Die Hexe

Heroin

Im Kopf eines Massenmörders

Der Internet-Mörder

Guantanamo

Quellen

VORWORT

Menschen lügen. Täglich. Sie tun das aus den unterschiedlichsten Gründen. Menschen lügen, weil ihnen die Wahrheit peinlich oder unangenehm ist. Menschen lügen, weil sie in einem besseren Licht gesehen werden wollen. Menschen lügen, weil sie sich dadurch einen Vorteil erhoffen. Und manche Menschen lügen, weil sie etwas verheimlichen wollen. Harmlose Dinge. Brisante Dinge. Oder kriminelle Handlungen. Von diesen Menschen handelt dieses Buch.

Es handelt von Verbrechern. Von Mördern, Dealern, Vergewaltigern und Terroristen. Es handelt von Menschen, die Verbrechen begangen haben und alles dafür tun, dass ihre Taten unerkannt bleiben. Und es handelt von Menschen, deren Job es ist, diese Verbrechen aufzuklären. Von Ermittlern, die vor der Aufgabe stehen, die Lügen, die ihnen erzählt werden, zu entlarven.

Das gelingt ihnen entweder durch gute Ermittlungsarbeit. Oder durch eine besonders geschickte Verhörtechnik. In den meisten Fällen ist es eine Mischung aus beiden Elementen, die einen Täter überführen. In diesem Buch soll es aber um die Verhöre gehen. Die Techniken, die Ermittler anwenden, um Menschen zu überführen, die versuchen, die Wahrheit zu verschweigen.

Woran erkennt man, dass ein Mensch lügt? Das ist die Frage, die seit jeher sowohl die Forschung als auch die meisten einfachen Menschen interessiert. Entsprechend viele wissenschaftliche Untersuchungen gibt es zu dieser Frage. Die meisten Untersuchungen befassen sich mit der Körpersprache: Wer lügt, der vermeidet Augenkontakt. Wer lügt, der greift sich besonders häufig ins Gesicht. Wer lügt, der schaut meist nach links unten. Das alles sind gängige Klischees. Aber sie sind nur halb wahr. Keine dieser Verhaltensweisen würde ausreichen, um einen Lügner zu überführen. Alle diese körperlichen Reaktionen sind schlichtweg klassische Reaktionen auf emotionalen Stress.

Und jedes Verhör ist ein emotionaler Ausnahmezustand. Ob man schuldig ist oder nicht. Sobald man einem uniformierten Polizisten gegenübersitzt, der einem Fragen stellt, beginnt eine gewisse Nervosität. Bei jedem Menschen. Nein, es gibt keine feste Regel, an der man einen Lügner erkennen kann.

Aber es gibt Strategien: Je mehr Fakten ein Ermittler seinem Gegenüber entlocken kann, desto mehr kann er ihn auf diese Fakten auch festnageln. Nicht immer ist es klug, einen Menschen direkt auf die Widersprüche anzusprechen, die er in einem Gespräch macht. Es kann klug sein, diese Widersprüche im Hinterkopf zu behalten und sie zu einem strategisch günstigen Zeitpunkt auf den Tisch zu packen.

Und auch wenn es keine fixen Merkmale gibt, an denen man eine Lüge erkennt: Es gibt Indizien. Erfahrene Ermittler werden aufmerksam, wenn sich inmitten einer Erzählung plötzlich das Verhalten verändert. Das Erzähltempo schneller wird. Die Beschreibungen ausführlicher. Erfahrene Ermittler wissen, dass Lügner so lange die Wahrheit sagen, wie es ihnen möglich ist. Gelogen wird erst, wenn es unvermeidlich wird. Und ab diesem Zeitpunkt passiert etwas im Gespräch. Manchmal sind es kleine Details, die man kaum bemerkt. Manchmal sind es größere Verhaltensänderungen, die skeptisch machen.

Weil nur gelogen wird, wo wirklich gelogen werden muss, steckt in den meisten Lügen ein wahrer Kern. Das ist wichtig für Ermittler, die sich in der Regel nicht bloß ein Bild von dem eigentlichen Verbrechen machen. Sondern von den Dingen, die um das Verbrechen herum passiert sind. Auf diese Weise können sie die Erzählungen, die man ihnen macht, besser in einen Kontext einordnen.

Aber am Ende des Tages gibt es nicht die Strategie, die zum Ziel führt. Jedes Verhör ist anders. Die Regeln einer Vernehmung bestimmen die Menschen, die im Verhörzimmer aufeinandertreffen. Das Spannungsfeld zwischen Ermittler und Verhörtem bilden die Grundlage für dieses Buch, in dem 14 brisante Fälle aus der ganzen Welt zusammengetragen wurden. Einige der vorgestellten Verhöre sind historisch, die meisten aber stammen aus der jüngeren Geschichte. Jedes Verhör illustriert ein anderes Vorgehen der Kriminalbeamten. Und aus jedem Verhör lässt sich eine andere Strategie ableiten.

Dieses Buch soll kein Handbuch für Verhörtechniken sein. Es soll in erster Linie den Leser unterhalten. Mit spannenden Fällen. Und ihm auf diese Weise einen Eindruck von der authentischen Arbeit von Polizeibeamten geben.

DAS VERSCHWINDEN VON MARY ALLEN

Das Leben in Montgomery ist ein gemütliches Leben. Das könnte an der Hitze liegen. An der drückenden Hitze, die das kleine Städtchen in Alabama jeden Sommer für ein paar Monate in den Würgegriff nimmt. Stephen Miller kennt diese Hitze. Und er kennt Montgomery. Er arbeitet schon seit über 20 Jahren im Police Department der Stadt. Miller ist ein erfahrener Polizist. Ein Mann, der auf die Tugenden der klassischen Polizeiarbeit schwört: Genaues Hinsehen. Gezielte Ermittlungen. Präzises Nachfragen. Es sind eben jene Fähigkeiten, die ihn erkennen ließen, dass eine bestimmte Fallakte, die auf seinem Tisch landete, eine besondere Akte war. Obwohl sie auf den ersten Blick doch so harmlos wirkte.

Mary Allen ist verschwunden.

Eine Freundin hat sich bei der Polizei gemeldet. Sie habe Mary schon seit mehreren Wochen nicht mehr gesehen. Sie habe alles versucht: Sie ist bei Mary zu Hause vorbeigegangen. Sie hat wieder und wieder angerufen. Sie hat sogar Briefe geschrieben. Aber Mary Allen antwortet nicht mehr. Und bei jedem Anruf wimmelte Marys Ehemann sie nur ab: Mary sei gerade nicht da. Mary sei gerade nicht zu sprechen. Mary habe gerade keine Zeit. Auch auf der Arbeit ist Mary nicht mehr erschienen. Sie jobbte als Kassiererin in einem kleinen Supermarkt. Bei den Mitarbeitern und bei den Kunden galt sie als besonders beliebt.

Eigentlich war Mary, Ende 60, schon in Rente. Und dennoch arbeitete sie regelmäßig in dem kleinen Laden, um ihren Unterhalt ein wenig aufzubessern. Ihr Verschwinden sei »ein bisschen merkwürdig«, gab ihr Chef zu Protokoll. Mary habe bloß einen kurzen Brief geschickt, in dem sie von heute auf morgen kündigte. Das sei komisch gewesen. Mary habe doch schon seit so vielen Jahren in dem Laden gearbeitet. Man kannte sich gut. Man war doch beinahe so etwas wie eine Familie. Und dann nicht mal ein persönlicher Abschied? Ob er sich denn Sorgen machen würde, hat die Polizei den Supermarkt-Chef bei einer ersten Vernehmung gefragt. »Nein«, sagte er. Das nun nicht. Ordnungsgemäß gekündigt habe sie ja. Und er sah keinen Grund, warum er sich um Mary Sorgen machen sollte. Sie sei eine resolute Frau. Vielleicht habe sie einfach etwas Besseres gefunden.

Wo also war Mary Allen? Miller las sich die Fallakte mehrfach gründlich durch. Die Kollegen hatten bereits mehrere Zeugen befragt. Aber es gab nur eine Person, die wirklich Auskunft geben konnte: Marys Ehemann Ronald. Die beiden lebten zusammen in einem kleinen Haus am Stadtrand. Nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste Gegend. Bei seiner ersten Befragung hatte Ronald gesagt, dass Mary sich ein paar Tage Urlaub gegönnt hätte. Sie habe einfach mal raus gewollt. Aber mittlerweile waren drei Monate vergangen. Und sie war noch immer nicht aufgetaucht. Miller bestellte den Mann auf das Revier. Es sollte eine Standardbefragung werden. Miller kam die Sache merkwürdig vor. Aber einen Kriminalfall sah er noch nicht.

Es kommt immer wieder vor, dass Menschen als vermisst gemeldet werden, die gar nicht wirklich vermisst sind. Nur weil Mary sich seit einiger Zeit nicht mehr bei ihrer Freundin gemeldet hat, muss noch lange nichts Schlimmes passiert sein. Vielleicht hat sie wirklich einen neuen Job. Hat sich neu orientiert. Vielleicht hatte sie keine Lust mehr, sich mit ihrer Freundin zu treffen. Ihr Ehemann würde Licht in das Dunkel bringen.

*

Ronald Allen kommt pünktlich auf das Revier. Ronald ist ein untersetzter und ziemlich gemütlich wirkender Mann. Er passt gut in diese Stadt. Frührentner, 61 Jahre alt, grau meliertes Haar. Gelernter Handwerker. Ronald hat keinen Anwalt dabei. Wozu sollte er auch einen Anwalt brauchen? Freundliche Begrüßung. Fester Händedruck.

»Danke, dass Sie die Zeit gefunden haben«, begrüßt ihn Miller.

»Na, was ist denn los, Detective, dass Sie mich auf das Revier bestellen? Ich komme mir vor wie ein Verbrecher. Habe ich etwas angestellt?«

»Ich hoffe doch nicht, Ronald«, sagt Miller und lacht. »Ich habe nur ein paar Fragen. Alles Standard. Sie haben nichts zu befürchten. Es geht um Ihre Frau.«

»Ach, das Thema. Ich habe Ihrem Kollegen doch schon alles erzählt.«

Das stimmte. Kurz nachdem die Vermisstenanzeige aufgegeben wurde, war eine Polizeistreife bei den Allens vorgefahren. Auch das – Routine. Die Streifenbeamten befragten den Ehemann an der Haustür. Damals sagte Ronald, dass seine Frau für ein paar Tage verreist sei. Kein Grund sich Sorgen zu machen. Aber Miller wollte sich nun nicht mehr bloß auf einen kurzen Smalltalk verlassen. Er wollte ausführlich mit Ronald sprechen. Ein Gespür für die Lage entwickeln. Er brachte den Ehemann in einen kleinen Verhörraum. In der Ecke stand ein Ventilator. Es war ein verdammt heißer Tag.

»Sind Sie einverstanden, dass wir das Gespräch mitfilmen?«, fragt Miller.

»Aber natürlich«, bestätigt Allen. »Wenn Sie mir nur verraten würden, worum es eigentlich geht.«

»Das wissen Sie doch, Ronald. Es geht um Ihre Frau. Es geht um Mary. Sie ist verschwunden. Und wir würden gerne wissen, ob es ihr gut geht. Damals haben Sie meinen Kollegen gesagt, Ihre Frau sei für ein paar Tage verreist. Das ist nun schon drei Monate her.«

»Sie schauen mich an, als würden Sie mir einen Vorwurf machen, Sir.«

»Ich mache nur meinen Job, Ronald.«

Es entsteht eine kleine Pause. Die beiden Männer mustern sich. Der Ton ist freundlich, aber eine gewisse Spannung liegt in der Luft. Ganz normal, denkt sich Miller. Eine Verhörsituation ist immer auch eine Ausnahmesituation. Jede Frage wird als Angriff verstanden. Miller lächelt. Er will die Situation etwas entspannen. Sein Gegenüber reden lassen. Hören, was er zu sagen hat. Je sicherer sich Ronald fühlt, desto offener wird er aussagen.

»Hören Sie, ich kann Ihnen nur eine Sache sagen: Mary ist weg. Und sie will nicht gefunden werden.«

»Wie meinen Sie das, Ronald?«

»Sie ist abgehauen. Sie will ein neues Leben beginnen. Alles hinter sich lassen.«

Miller setzt sich auf. Das ist eine völlig neue Ausgangslage. Etwas muss passiert sein. Entweder ist aus dem Kurztrip eine Weltreise geworden oder etwas anderes geht hier vor. Der Detective spürt, dass jetzt jede Information wichtig für diesen Fall werden könnte. »Erzählen Sie mir mehr.«

»Die Sache ist die«, sagt Ronald und atmet schwer aus. »Ich habe meine Frau vor … ich glaube, es muss wohl drei Wochen her sein … vor drei Wochen etwa mit einem Mann erwischt.«

»Mit einem Mann?«

»Offenbar ihr Liebhaber. Wir waren knapp 30 Jahre verheiratet. Und dann so was. Sie können sich wahrscheinlich denken, wie ich mich gefühlt habe. Ich meine, sie hat diesen Kerl beim Bingo kennengelernt. Können Sie sich das vorstellen? Beim Bingo!«

»Wie haben Sie reagiert, Ronald?«

»Wie sollte ich denn reagieren? Ich habe sofort alle ihre Sachen in zwei große Tüten gepackt, habe diese beiden Tüten auf den Wohnzimmertisch gestellt, und als sie nach Hause kam, habe ich ihr gesagt, dass sie verschwinden soll.«

»Und wie hat sie reagiert?«

»Gelassen, würde ich sagen. Sie sagte, dass sie sowieso abhauen wollte. Dass sie keine Lust mehr auf die Ehe hätte. Nach knapp dreißig Jahren. Ich meine, wir waren knapp dreißig Jahre verheiratet, können Sie sich das vorstellen?«

»Sie ist einfach gegangen?«

»Ja, sie ist dann zu ihrem Freund gegangen, zu ihrem neuen Mann, sie hat die zwei Tüten mit ihren Klamotten mitgenommen und dann ist sie verschwunden.«

»Wer ist dieser neue Freund? Haben Sie einen Namen? Eine Adresse? Können Sie ihn beschreiben?«

»Nein, nein. Ich habe ihn nie gesehen. Er hat vor dem Haus in seinem Auto gewartet.«

»Aber ihre Frau muss Ihnen doch irgendetwas erzählt haben. Was ist er für ein Typ? Ist er ein Latino, ein Mexikaner …«

»Nein, Quatsch. Ein Weißer. Ein ganz normaler Kerl. Aber ich habe ihn wirklich nie gesehen. Ich kann ihn nicht beschreiben und ich weiß auch nicht, wie er heißt. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, es war mir auch vollkommen egal.«

»Und das ist jetzt … drei Wochen her?«

»Drei Wochen, vier Wochen, ja, so um den Dreh. Wie auch immer. Sie müssen sich keine Sorgen um Mary machen. Sie lebt, es geht ihr gut und wahrscheinlich genießt sie jetzt ihr Leben in Mexiko.«

»Hat sie denn noch irgendetwas mitgenommen?«

»Nein, nichts.« Ronald Allen stockt kurz. Er scheint zu überlegen. »Doch warten Sie. Aber … ich weiß nicht, ob ich … Das ist … Hören Sie, ich will keinen Ärger.«

»Was für Ärger, Ronald? Kommen Sie, seien Sie doch einfach ganz ehrlich und erzählen Sie mir, was Sie wissen, okay?«

»Hören Sie«, sagt Ronald mit gedämpfter Stimme. »Meine Frau und ich, wir hatten uns etwas Geld zurückgelegt. Von einigen Jobs, die wir nebenbei gemacht haben. Das Geld haben wir aber … das haben wir nirgendwo angegeben. Kann sein, dass da ein paar Steuern drauf angefallen wären.«

»Über wie viel Geld sprechen wir?«

»30000 Dollar.«

»Und Ihre Frau hat diese 30000 Dollar mitgenommen?«

»Ja. Komplett. Außerdem hat sie noch unser gemeinsames Konto leergeräumt. Das waren … mh, das waren noch einmal gut 1000 Dollar. Sie hat es abgehoben, ohne es mit mir abzusprechen. Wieder und wieder. Immer in 200-Dollar-Schritten. Als ich es gemerkt habe, habe ich ihre Karte sperren lassen. Hören Sie, ich will keinen Ärger mit dem Finanzamt.«

»Niemand will Ärger mit dem Finanzamt, Ronald.«

»Sie werden das noch nicht weitergeben, oder?«

»Ich bin nur ein Cop, der Ihre Frau finden will. Ich habe mit den Cops, die sich um Steuersünder kümmern, nicht viel zu schaffen«, sagt Miller jovial und mustert den älteren, untersetzten Mann, der da vor ihm sitzt.

Miller hat eine klare Strategie. Gib deinem Gegenüber das Gefühl, dass du ihm nichts tust. Dass ihr Freunde seid. Ein Gespräch auf Augenhöhe führt. Je sicherer Ronald sich fühlen würde, desto mehr würde er auch erzählen. Und je mehr er erzählt, desto genauer wird man seine Geschichte überprüfen können. Dass Ronald schon einmal die kleine Steuersünde ausplauderte, wertet Miller als ein gutes Zeichen. Da ist jemand, der offenbar mit offenen Karten spielt. Oder will Ronald nur, dass wir denken, dass er mit offenen Karten spielt?

»Hatten Sie geahnt, dass Mary eine Affäre hat?«

»Nein, eigentlich nicht. Sie hat sich in letzter Zeit schon komisch verhalten. Ihren Job gekündigt. Dann wollte sie für ein paar Tage durch das Land fahren. Alleine. Ohne mich. Aber ich dachte, sie wäre einfach nur ein bisschen durch den Wind. Es ist Sommer, wissen Sie. Mary hat die Hitze noch nie so gut vertragen.«

»Woher wissen Sie, dass sie ihren neuen Freund beim Bingospielen kennengelernt hat?«

»Das hat sie mir an den Kopf geworfen, als sie gegangen ist.«

»Wissen Sie, wo Mary Bingo spielen war?«

»Nein, keine Ahnung. Ich wusste nicht mal, dass sie überhaupt Bingo spielt.«

»Und in Ihrer Ehe war sonst alles in Ordnung? Ich will Ihnen da nicht zu nahe treten, Ronald, verstehen Sie mich nicht falsch.«

»Wir waren so lange Jahre verheiratet. Klar haben wir uns immer auch mal gestritten. Aber wir hatten dennoch eine gute Ehe, Sir. Ich war immer gut zu meiner Frau. Dass sie mir antut, was sie mir angetan hat – das habe ich nicht verdient.«

*

Nach dem Gespräch setzte sich Miller an seinen Schreibtisch und ging das Verhörprotokoll noch einmal durch. Alles, was Ronald Allen sagte, machte auf den ersten Blick Sinn. Die Geschichte klang schlüssig. Seine Frau lernt einen neuen Mann kennen. Sie kündigt ihren Job. Sie bricht ihre Kontakte ab. Sie brennt mit ihm durch. Aber warum hat Mary sonst niemandem etwas davon erzählt? Nicht mal ihre beste Freundin wusste etwas von einer Affäre. Auch Marys Familie hatte schon lange nichts mehr von ihr gehört.

Stimmte die Geschichte von Ronald wirklich?

Ronald hatte Miller nicht viel an die Hand gegeben. Kaum etwas von dem, was der Mann sagte, war zu überprüfen. Hatte seine Frau wirklich eine Affäre? Hatte seine Frau wirklich das Geld mitgenommen, das die beiden heimlich gespart hatten? Nur eine Sache konnte der Detective überprüfen. Die Geschichte mit dem Konto. Ronald hatte behauptet, dass Mary ihn nach dem Rauswurf bestohlen habe, indem sie mehrfach Geld von ihrem gemeinsamen Konto abhob. Das war nicht viel, aber es war alles, was Miller hatte – also nahm er sich vor, das Ganze abzuklären und vereinbarte einen Termin beim Direktor der Hausbank der Allens.

*

Jared Wales war ein noch halbwegs junger Mann. Er staunte nicht schlecht, als Miller ihn nach den Kontounterlagen ausgerechnet von Ronald Allen fragte. Denn Wales kannte Ronald ziemlich gut. Seit einigen Wochen war seine Mutter mit dem Frührentner zusammen. Miller musste sich an den Kopf fassen. Auch wenn er an gute Polizeiarbeit glaubte, war es manchmal doch auch so, dass ein kleiner Zufall die Ermittlungen in die richtige Richtung lenken konnte. Er notierte sich die Telefonnummer von Wales’ Mutter, bevor er einen Blick auf die Kontodaten der Allens warf. Und schon erlebte Miller die zweite Überraschung an diesem Tag. Ronald hatte gelogen. Nicht Mary hatte wieder und wieder Geld von dem gemeinsamen Konto abgehoben, sondern er selber. Und zwar wochenlang – bis zu dem Zeitpunkt, an dem Mary verschwunden war. Und noch eine weitere Sache war verdächtig: Marys Rente lief weiterhin auf das gemeinsame Konto. Doch seit ihrem Verschwinden hatte sie keinen Cent davon abgehoben. War ihr neuer Freund etwa so wohlhabend, dass die beiden auf das Geld verzichten konnten?

Für Miller waren das genügend Ungereimtheiten, um Ronald noch einmal vorzuladen. War das Ziel beim ersten Verhör noch gewesen, möglichst das Vertrauen des Mannes zu gewinnen, wollte er dieses Mal möglichst viele konkrete Aussagen über das Verschwinden von Mary bekommen. Fakten, die sich überprüfen ließen. Vielleicht gab es ja weitere Ungereimtheiten. Und Ronald lieferte. Er lieferte mehr, als der Officer erwartet hätte.

*

Wieder erscheint Ronald pünktlich auf die Minute. Kaum hat er das kleine Verhörzimmer betreten, da erzählt er auch schon drauflos.

»Officer, ich habe Neuigkeiten!«

»Erzählen Sie, Ronald!«

»Mary lebt. Ihr geht es gut. Ich habe sie vor drei Tagen erst gesehen.«

Miller lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Das ist eine echte Überraschung. Er hatte Ronald vor ziemlich genau einer Woche vorgeladen. Als die beiden miteinander telefonierten, sagte Ronald noch, dass sich nichts geändert habe. Er habe nichts von seiner Frau gehört. Kein Wort. Kein Brief. Absolute Funkstille. Und jetzt das.

»Das sind sehr gute Nachrichten für uns Ronald, bitte erzählen Sie.«

»Vor drei Tagen war das«, setzt der Frührentner erneut an. »Da habe ich Mary auf dem Jahrmarkt gesehen. In Pratville. Sie war mit ihrem neuen Mann da.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen, Ronald?«

»Nein, nein, nein, sie hat mich nicht mal gesehen. Was soll ich denn mit ihr sprechen? Die Frau hat mich betrogen. Sie hat unsere Ehe weggeworfen. Dreißig Jahre. Dreißig gute Jahre für so einen Typen. Ich habe ihr nichts mehr zu sagen. Aber jedenfalls lebt sie und es schien ihr auch relativ gut zu gehen.«

»Wie sah sie aus?«

»Sie sah aus wie immer. Ein bisschen müde, vielleicht. Aber sonst … sie hat sich kaum verändert. Die Haare sind schwarz gefärbt. Und vielleicht etwas kürzer. Schulterlang.«

»Und Sie sind absolut sicher, dass das Ihre Frau war?«

»Absolut. Ich werde meine Frau ja wohl noch erkennen, Officer!«

Miller hat nicht mit einer solchen Wende des Falls gerechnet. Er beschließt, die Sache mit dem Konto vorerst für sich zu behalten. Als Joker.

»Ronald, beim letzten Mal haben Sie mir erzählt, dass Ihre Frau Sie bestohlen hat.«

»Das ist richtig. Sie hat einen großen Geldbetrag entwendet und mehrfach Geld von unserem gemeinsamen Konto abgehoben.«

»Haben Sie denn nie darüber nachgedacht, das Konto sperren zu lassen, Ronald?«

»Doch, natürlich. Und das habe ich auch getan. Ich habe meine Bank angewiesen, ab sofort nur noch mir Geld auszuzahlen.«

»Wann war das, Ronald?«

»Das war etwa vier Wochen nachdem Mary verschwunden war. Da bemerkte ich zum ersten Mal, dass sie vorhat, mich auszunehmen.«

Miller lehnt sich wieder in seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme. Er fixiert Ronald Allen. Dieser Mann lügt, er lügt mich gerade eiskalt an. Und er wird nicht einmal rot dabei.

»Was haben Sie denn, Officer?«

»Nichts, Ronald. Nichts. Vielen Dank. Das mit Mary, das sind großartige Nachrichten! Ich freue mich sehr, dass ihr nichts zugestoßen ist. Ich glaube, wir sind dann auch fertig.«

Ronald Allen steht gut gelaunt auf und verlässt den Verhörraum. Miller bleibt noch einige Minuten zurück. Er ist sich jetzt ganz sicher: Ronald Miller ist ein Lügner. Und so langsam geht er davon aus, dass es sich nicht mehr bloß um einen Vermisstenfall handelt.

*

Der Jahrmarkt in Pratville ist eine kleine Institution. Jedes Jahr lockt er im Hochsommer für drei Tage Hunderte von Gästen aus der ganzen Umgebung an. Getragen und organisiert wird die Veranstaltung von Vereinen und sozialen Initiativen aus dem Landkreis. Und von der Polizei und der Feuerwehr. Stephen Miller kannte den Rummel gut. Er war selber oft genug dort gewesen. Und er wusste, dass so ziemlich jeder Polizist aus der weiteren Umgebung dort Präsenz zeigte. Entweder um für die Sicherheit zu sorgen. Oder um die Kinder im Nachmittagsprogramm zu bespaßen. Miller nahm sich eine Woche Zeit, um jeden, wirklich jeden Beamten mit einem Foto von Mary Allen zu konfrontieren.

»Können Sie sich erinnern, diese Frau gesehen zu haben?« – »Haben Sie diese Frau gemeinsam mit einem Mann auf dem Jahrmarkt gesehen?« – Nichts. Niemand erkannte Mary Allen. Als Miller alle Polizisten durchhatte, ging er zu den Feuerwehrmännern, die vor Ort gewesen waren. Als Miller auch alle Feuerwehrmänner durchhatte, ging er zu den Schaustellern. Zu den Jongleuren. Zu den Clowns. Zu jedem, der auf diesem Jahrmarkt irgendeine Funktion hatte. Niemand hatte Mary Allen dort gesehen. Natürlich hatte auch niemand dort bewusst auf Mary Allen geachtet. Aber dass selbst Polizisten, die dazu ausgebildet werden, sich Gesichter zu merken, sie nicht erkannt haben wollten, nein, das war doch sehr merkwürdig, dachte sich Miller.

Und dann rief er Ashley Wales an, die Mutter von Jared Wales, dem Bankdirektor. Sie war mit Ronald liiert. Vielleicht wusste sie mehr. Vielleicht konnte sie das Rätsel aufklären. Er lud auch sie auf das Polizeirevier vor. Und bat sie, ihrem neuen Freund erst einmal nichts davon zu erzählen.

»Ashley, ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Wie ich Ihnen bereits sagte, geht es um das Verschwinden von Mary Allen.«

»Wie kann ich Ihnen denn dabei behilflich sein, Officer? Ich kenne diese Frau gar nicht.«

»Sie sind jetzt mit Ronald liiert, stimmt das?«

»Ja, wir sind zusammen, das ist richtig.«

»Hat er jemals über Mary gesprochen?«

»Er sagte mir, dass seine Ex-Freundin ihn betrogen hat. Er hat es herausgefunden. Dann hat er ihre Sachen in zwei Tüten gepackt und sie rausgeworfen. Seitdem hat er sie nicht mehr gesehen.«

»Hat er Ihnen nicht erzählt, dass er Mary letzte Woche auf dem Jahrmarkt gesehen hat?«

»Nein. Wir waren gemeinsam auf dem Jahrmarkt – aber er hat nichts davon gesagt.«

»Sie waren mit ihm in Pratville?«

»Ja.«

»Und Sie haben Mary Allen nicht gesehen?«

»Ich weiß ja nicht einmal, wie sie aussieht. Nein. Ich verstehe das alles nicht. Ronald hat gesagt, dass sie in Mexiko oder sonstwo mit ihrem neuen Freund ist. Warum bin ich denn überhaupt hier?«

»Ashley, ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein. Ihr Mann lügt. Er hat mich mehrfach belogen. Ich weiß nicht, warum er das tut. Ich weiß nicht, was er mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun hat, aber irgendetwas stimmt da nicht. Und ich will herausfinden, was.«

»Wieso sagen Sie ›seine Frau‹? Die beiden waren doch nicht verheiratet!«

»Die beiden waren dreißig Jahre lang verheiratet.«

Ashley Wales stutzt.

»Sagen Sie mir nicht, dass Sie das nicht wussten, Ashley.«

»Er hat kein Wort davon gesagt. Er sprach nur davon, dass sie seine Freundin war.«

»Irgendetwas stimmt hier nicht, Ashley. Und Sie müssen mir helfen herauszufinden, was.«

»Jetzt machen Sie mir ganz schön Angst, Officer. Wieso hat Ronald mir das nie gesagt?«

»Ich habe keine Ahnung! Denken Sie bitte nach, Ashley. Ist Ihnen jemals etwas Merkwürdiges aufgefallen?«

»Ja … ja, mir ist wirklich etwas aufgefallen. Einmal machte ich gerade bei Ronald im Haus sauber, da fand ich eine Kiste. Und in der Kiste waren der Ausweis und die Sozialversicherungskarte und der Reisepass von Mary. Ich habe mir damals überhaupt nichts dabei gedacht …, aber … jetzt ist es doch etwas merkwürdig.«

»War da sonst noch etwas, Ashley? Bitte denken Sie nach.«

»Nein, nichts. Meinen Sie, dass Ronald …?«

»Ich weiß es nicht. Aber tun Sie mir einen Gefallen: Erzählen Sie ihm nichts von unserer Unterredung. Erzählen Sie ihm nichts davon, dass Sie hier waren. Tun Sie einfach so, als ob alles so wie immer wäre.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann, Officer.«

»Sie müssen, Ashley. Ich bitte Sie. Drei Tage. Dann werde ich noch einmal mit Ronald sprechen.«

Für Miller war spätestens jetzt ganz klar, was er die ganze Zeit über schon im Verdacht hatte. Mary Allen war nicht verschwunden. Ihr war etwas zugestoßen. Für Miller war das nun keine Vermisstenakte mehr. Hier ging es höchstwahrscheinlich um ein Verbrechen. Es gab nur ein Problem: Für ein Verbrechen gab es nicht einen einzigen Beweis. Wenn Mary Allen tot war, dann musste es doch auch eine Leiche geben. Eine Tatwaffe. Irgendetwas. Die Indizien sprachen alle dafür, dass irgendetwas passiert sein musste. Mary hatte sich seit nun knapp neun Monaten nirgendwo mehr gemeldet.

Es wurde Zeit, endlich zu handeln. In der Nähe von Ronald Allens Haus befand sich ein Waldgebiet. Miller veranlasste eine Suchaktion. Er orderte Spürhunde und Polizisten aus den benachbarten Departments. Alles wurde abgesucht. Einen Tag lang. Zwei Tage lang. Drei Tage lang. Nichts wurde gefunden, weder eine Leiche, noch sonst ein Beweismittel. Miller stand mit leeren Händen da. Er hatte nichts, außer der Gewissheit, dass Ronald ein Lügner war. Aber das reichte nicht, um ihn für ein Verbrechen zu verurteilen. Miller hatte nur noch eine Chance: Er musste Ronald zu einem Geständnis bewegen. Also bestellte er den Mann ein letztes Mal in das Police-Department. Zu einem allerletzten Verhör.

*

»Ronald«, begrüßt Miller den älteren Herren vor sich. »Danke, dass Sie noch einmal gekommen sind. Ich verspreche Ihnen, das wird sicherlich das letzte Mal gewesen sein.«

Miller muss froh sein, dass Ronald keinen Anwalt dabei hat. Offenbar fühlte er sich noch immer sicher.

»Mittlerweile bin ich hier ja schon Stammgast, was, Detective? Was kann ich denn heute für Sie tun?«

»Ich habe eigentlich nur eine Frage an Sie, Ronald: Wo ist die Leiche Ihrer Frau?«

Ronald bleibt gelassen auf seinem Stuhl sitzen. Er zwingt sich ein Lachen ab. »Ist das ein Scherz?«

»Nein, Ronald, das ist kein Scherz. Sie wissen, dass Mary tot ist. Und ich weiß, dass Mary tot ist. Und ich will wissen, wo ihre Leiche ist.«

»Mary ist nicht tot.«

»Das ist sie. Machen wir uns doch nichts vor.«

»Ich habe sie doch neulich erst gesehen. Auf dem Rummel. In Pratville.«

»Das ist gelogen, Ronald. Mary war nicht dort.«

»Aber ich habe sie doch mit meinen eigenen Augen gesehen.«

»Wussten Sie, dass das Police Department Mitveranstalter von dem Jahrmarkt ist?«

»Nein.«

»Das ist auch der Grund, warum so viele Polizisten vor Ort waren. Wissen Sie, Ronald, ich habe mit all diesen Polizisten gesprochen. Mit jedem einzelnen. Und keiner hat Mary dort gesehen.«

»Aber welches Bild haben Sie den Männern denn gezeigt?«

Miller zieht ein Foto aus seiner Aktenmappe und legt es auf den Tisch. Ein Foto von Mary und Ronald Allen.

Ronald nimmt das Foto und mustert es.

»Natürlich hat niemand Mary erkannt. Das Foto ist uralt. Es ist bestimmt fünf Jahre alt. Mary sieht heute ganz anders aus. Viel fetter.«

»Wo ist Marys Leiche, Ronald? Es geht mir nur darum, ihre Leiche zu finden. Es geht mir darum, Marys Familie Abschied nehmen zu lassen.«

»Es gibt keine Leiche, Mary ist nicht tot. Wieso glauben Sie mir nicht?«

»Sie haben schon sehr oft gelogen, Ronald. Zum Beispiel, als Sie gesagt haben, dass Mary Sie bestohlen habe.«

»Aber das hat sie. Sie hat mehrfach Geld von meinem Konto abgehoben.«

Miller zieht die ausgedruckten Kontoverbindungen aus der Mappe.

»Der Einzige, der Geld abgehoben hat, sind Sie, Ronald.«

»Das ist ein Fehler. Das muss ein Fehler sein!«

»Sie haben auch das Konto nicht sperren lassen, wie Sie es behauptet haben. Ich habe bei der Bank nachgefragt. Auch das war eine Lüge.«

»Ich dachte, ich hätte es gemacht. Ich war mir sicher, ich hätte es gesperrt. Vielleicht habe ich mich da vertan. Aber das heißt doch noch lange nicht, dass Mary tot ist.«

»Wo ist ihre Leiche, Ronald?«

»Mary ist in Mexiko. Mit ihrem neuen Freund.«

»Wie sollte sie in Mexiko sein? Sie haben doch ihren Reisepass. Sie haben ihre Sozialversicherungskarte. Ihren Ausweis. Sie haben alle Unterlagen von Mary zu Hause aufbewahrt. In einer Kiste.«

Auf einen Schlag wurde Ronald kreidebleich.

»Woher wissen Sie das?«

»Von Ashley. Ihrer Freundin. Wieso haben Sie ihr eigentlich nicht erzählt, dass Sie mit Mary verheiratet waren, Ronald? Wollten Sie unangenehmen Fragen aus dem Weg gehen?«

»Ich …«

Ronald Allen verliert nun zunehmend die Fassung. Er schwitzt. Nervös fasst er sich mehrfach an den Hinterkopf. Miller spürt, dass er ihn an der Angel hat. Es ist ein Duell. Er hat seinen Gegenspieler an die Wand gedrängt. Er muss es nur noch zu Ende bringen.

»Haben Sie es ihrer neuen Freundin nicht gesagt, um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen? Wo haben Sie Marys Leiche versteckt, Ronald? Na, kommen Sie, wir wissen beide, dass Mary tot ist.«

»Sie ist in Mexiko«, beharrt Ronald nun mantraartig. Sein Blick ist starr.

»Sie wollen alle glauben machen, dass Ihre Frau in Mexiko ist. Damit Sie weiterhin die Gelder von ihrer Rente kassieren können. Die monatlichen 968 Dollar, die auf Ihr gemeinsames Konto gehen. Mary hat seit ihrem Verschwinden keinen Cent mehr abgehoben. Sie schon, Ronald.«

»Es … es war ein Unfall.«

Miller hat ihn. Er hat Ronald Allen so sehr in die Ecke gedrängt, dass er endlich gesteht.

»Okay, Ronald. Erzählen Sie von diesem Unfall.«

»Wir sind in Streit geraten. Ich weiß nicht einmal mehr, worüber. Es wurde lauter und lauter. Und Mary hat irgendwann nach mir geschlagen. Und ich habe sie gewürgt. Ich war so wütend. Ich war völlig außer mir und dann … und dann …«

»… und dann, Ronald?«

»Und dann ist es einfach passiert. Ich habe sie einfach getötet. Ich wollte das nicht. Ich habe sie umgebracht. Ich habe Mary doch geliebt. Glauben Sie mir, es war ein Unfall.«

»Worüber haben Sie sich gestritten?«

»Ich weiß es nicht mehr so genau.«

»Mary hatte keine Affäre, oder?«

»Nein, das hatte sie nicht.«

»Hat Mary herausgefunden, dass Sie es waren, der das Geld von Ihrem gemeinsamen Konto abgehoben hat?«

Ronald fasst sich mit seinen Händen an die Stirn. Er wippt nervös in seinem Stuhl umher.

»Es ging um Geld, ja. Aber ich erinnere mich nicht mehr an den Wortlaut.«

»Wofür haben Sie das Geld gebraucht?«

»Ich … ich hatte eine neue Frau kennengelernt. Detective, das alles wollte ich nicht. Bitte glauben Sie mir das. Es war ein Unfall.«

Miller fasst Ronald am Arm. In ruhigem Ton wiederholt er seine Frage.

»Wo ist ihre Leiche, Ronald?«

»Ich habe Sie in den Fluss geworfen.«

*

Zweieinhalb Stunden dauerte das letzte große Verhör. Miller war zufrieden. Er hatte Ronald Miller des Mordes an seiner Frau überführt. Vor Gericht schwieg Ronald. Aber das Verhörprotokoll sprach eine eindeutige Sprache. Er wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Die Leiche von Mary Allen wurde niemals gefunden.

SIE NANNTEN IHN LUCIFER

Der Anruf kam weit nach Mitternacht. Eigentlich war Sheriff Marcello Toquera gar nicht im Dienst. Er hatte sich ein paar Tage freigenommen. Es war ein turbulentes Jahr gewesen. Aber was hieß das schon in dieser Ecke der Welt? Für einen Cop war in New Mexiko immer etwas los. Drogendelikte, Menschenhandel, Mord. Es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Als Sheriff hier war man immer im Dienst. Besonders wenn mitten in der Nacht ein brennendes Auto direkt vor der Stadtgrenze auftauchte.

Toquera brauchte keine halbe Stunde bis zum Tatort. Er konnte ihn gar nicht verfehlen. Mehrere Polizei- und Feuerwehrwagen standen mit eingeschaltetem Blaulicht aufgereiht am Straßenrand. Der Geruch von Schwefel lag in der Luft. Toquera parkte seinen Wagen hinter der Kolonne und stieg aus.

»Was haben wir hier?«, fragte er und ging an den zahlreichen Feuerwehrmännern vorbei. Er begutachtete das ausgebrannte Autowrack.

»Das sieht nicht nach einem Unfall aus«, sagte einer der Feuerwehrmänner »Chef, sehen Sie sich den Kofferraum an!«, rief der Deputy dazwischen.

Toquera zog sich Handschuhe an und öffnete langsam die Kofferraumtür. Ihm kam ein furchtbarer Gestank entgegen. Instinktiv hielt er sich die Hände vor die Nase und dreht sich kurz weg. Er ahnte schon, welcher Anblick sich ihm nun bieten würde. Der Sheriff hatte schon jede Menge gesehen. Und dennoch kam auch er immer wieder an seine Grenzen. Im Kofferraum lag eine zusammengekauerte Leiche. Sie war komplett verbrannt. Der Sheriff konnte nicht mehr erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Der Körper war zu stark verkohlt.

Toquera fischte sich eine Zigarette aus seiner Uniform, steckte sie an und blickte in die Wüste. In diese unendliche schwarze Weite, die da vor ihm war. Was war das hier nur für ein Höllenloch, fragte er sich und blies den Rauch aus. Er brauchte ein paar Minuten. Dann sah er sich den Tatort an und rief seinen Deputy zu sich. »Geben Sie die Informationen noch heute Nacht an die Presse weiter. Und machen Sie einen Zeugenaufruf. Jeder, der irgendwas gesehen hat, soll sich umgehend bei uns melden. Und finden Sie raus, wem dieses Auto gehört.« Dem Sheriff war klar, dass der Fall seine Kreise ziehen würde. »Mysteriöser Kofferraum-Mord in der Wüste!« – Das regte die Fantasie der Menschen an. Das wären große Schlagzeilen. Sollte die Presse ihre Story bekommen. Dafür sollte sie ihm Zeugen liefern.

*

Zwei Tage später meldeten sich im Büro des Sheriffs tatsächlich die ersten Zeugen. Sie hatten von dem Fall in der Zeitung gelesen. Und alle Anrufer berichteten übereinstimmend von einem blauen Honda Civic, der weit nach Mitternacht mit hoher Geschwindigkeit durch die Stadt Richtung Wüste fuhr. Dahinter ein zweiter Wagen. Eine Dodge Cobra. Am Steuer: eine Frau. Auf dem Beifahrersitz ein Phantom. Die Frau war angeblich eine Latina, lange, dunkle Haare, geschminkt, sehr dünn. Den Mann konnte keiner so genau beschreiben. Er hatte einen Hoodie an und die Kapuze hatte er sich so tief ins Gesicht gezogen, dass niemand ihn näher identifizieren konnte. Ein Weißer? Ein Schwarzer? Ein Latino? Niemand konnte das sagen. Breit soll er gewesen sein. Nicht dick. Aber durchtrainiert. Mehr war nicht zu erfahren. Und dann gab es noch einen Zeugen, der wirklich etwas mehr wusste. Er war sich ganz sicher, dass die Frau am Steuer des blauen Honda Civic seine Nachbarin Sheyenne Davis war. Sie hätte ihn beinahe überfahren, klagte er. Er war noch spät unterwegs, um mit seinem Hund Gassi zu gehen. Sie überfuhr eine rote Ampel, der Mann konnte in letzter Sekunde noch die Straße überqueren, bevor er auf ihrer Motorhaube gelandet wäre. »Sie ist eine Verrückte. Sie hat Probleme. Irgendetwas stimmt nicht in ihrem Kopf. Aber ich bin mir hundert Prozent sicher, dass es Sheyenne war. Ich sehe sie ja fast jeden Tag.«

Die ersten Ergebnisse der Spurensicherung bestätigten die Aussagen. Die Karosserie des Wracks sprach dafür, dass der Wagen einmal ein Honda Civic gewesen war. Außerdem gelang es dem Labor auch, das Autokennzeichen zu rekonstruieren. Der Wagen war auf eine Frau namens Daria Soul registriert. Und Daria Soul war auch die Frau, die tot im Kofferraum lag, wie die DNA-Analyse ergab. Wer also hatte diese Frau ermordet. Und warum?

*

Sheriff Toquera beschloss, Sheyenne Davis einen Besuch abzustatten. Sie war der einzige konkrete Anhaltspunkt. Sheyenne war 30 Jahre alt und wohnte in einem ziemlich miesen Viertel der Stadt. Sie war zu Hause. Aber sie wirkte extrem eingeschüchtert, als die Polizei vor ihrer Haustür stand. Toquera nahm die Frau mit auf das Revier. Er hatte ein paar Fragen an sie.

»Sheyenne, wie geht es Ihnen?«

»Es geht mir gut, Sir.«

»Sie sehen aber gar nicht gut aus.«

Sheyenne wirkte abwesend. Sie war nervös. Spielte an ihrem Shirt herum. Konnte den Blicken des Sheriffs nicht standhalten. Das merkte Toquera sofort.

»Ich … ich bin auf Entzug, Sir.«

»Auf Entzug? Was nehmen Sie?«

»Heroin.«

»Sheyenne, lassen Sie uns über das sprechen, was vor drei Tagen passiert ist.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Sie wurden gesehen, wie Sie in einem blauen Honda Civic mit hoher Geschwindigkeit aus der Stadt gefahren sind.«

»Wann soll das gewesen sein?«

»Vor drei Tagen. Samstagnacht. Gegen 23 Uhr.«

»Nein, das kann nicht sein. Ich war an diesem Tag nicht unterwegs.«