Inhalt

Danksagung

Wie Zellen sterben

Wie das Leben (und der Tod) verlängert wurden

Wo der Tod heute lebt

Wie wir lernten, nicht wiederzubeleben

Wie der Tod neu definiert wurde

Wenn das Herz aufhört zu schlagen

Wenn der Tod transzendent wird

Wenn Betreuer überfordert sind

Wenn über den Tod verhandelt wird

Warum Familien scheitern

Wenn der Tod erwünscht ist

Wenn der Stecker gezogen wird

Wenn der Tod geteilt wird

Anmerkungen

Für meine Frau Rabail, die mir die besten
Jahre meines Lebens geschenkt hat.

Danksagung

Ich stand in einem Krankenzimmer, in dem ein sterbender Patient lag, umgeben von Angehörigen. Obwohl ich der Jüngste im Raum war, sahen mich alle fragend an, als wären sie in einem Restaurant, unfähig, die Speisekarte zu lesen, und ohne das Menü je probiert zu haben. Sie wussten ebenso viel über das Leben wie ich, aber wenig über den Tod. Damals beschloss ich, dieses Buch zu schreiben: für sie und die unzähligen anderen, die mich an den schmerzlichsten Augenblicken ihres Lebens teilhaben ließen. Aber ich schrieb es auch für mich selbst und alle anderen Gesundheitsdienstleister, damit wir künftig besser darauf vorbereitet sind zu helfen.

Mein Krankenhaus, das Beth Israel Deaconess Medical Center in Boston, Massachusetts, wo ich arbeitete, während ich dieses Buch schrieb, war für mich eine Quelle der Inspiration. Dort lernte ich, wie man Kranke mitfühlend betreut und was es bedeutet, Arzt zu sein. Eileen Reynolds glaubte an mich und bot mir einen Platz in einem der anspruchsvollsten Ausbildungsprogramme des Landes an. Ich wurde in die Katherine Swan Ginsburg Fellowhip in Humanism in Medicine berufen, die zum Gedenken an Katherine Swan gegründet wurde. Diese großartige Ärztin starb im Alter von vierunddreißig Jahren an Zervikalkrebs. Ich bin ihr nie begegnet, doch ihre wundervolle Familie, die ihr Werk fortsetzt, zeugt von ihrer Menschlichkeit. Damals begann ich für die New York Times zu schreiben, deren Redakteure, unter anderem Toby Bilanow und Clay Risen, mir halfen, ein besserer Autor zu werden und ein Publikum zu erreichen, von dem ich bis dahin nicht einmal geträumt hatte.

Überall in der Medizin braucht man ein kleines Dorf, um die viele Arbeit zu bewältigen. Das gilt auch für dieses Buch. Meine Frau war zunächst skeptisch, als ich ihr die Idee vorstellte. Allein der Gedanke, ein Buch zu schreiben, ist ehrgeizig, wenn man an einem intensiven medizinischen Ausbildungsprogramm teilnimmt und Forschungsarbeit leistet. Doch als die Worte kamen und die Geschichten Form annahmen, gab sie mir die Zeit und das Selbstvertrauen, weiterzumachen. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, begann ich in unserer winzigen Bostoner Wohnung am Esstisch für zwei Personen zu schreiben. Ohne meine Frau gäbe es keine Worte, keine Seiten, keine Kapitel und kein Buch.

Nachdem ich das Buch geschrieben hatte, suchte ich einen Agenten, der bereit war, einem Erstlingswerk eine Chance zu geben. Ich wandte mich an Don Fehr, dessen Arbeit ich kannte, und obwohl ich ihn nie getroffen hatte, meldete er sich innerhalb eines Tages. Das Manuskript gefiel ihm und ich wusste, dass meine kurze Suche vorbei war.

Ich hätte keine bessere Lektorin finden können als Daniela Rapp bei St. Martin’s Press. Sie interessierte sich nicht nur für den Stoff, sondern setzte sich auch persönlich für das Buch ein, und das war für mich am wichtigsten. Das ganze Team bei St. Martin’s hatte entscheidenden Anteil daran, dass der gesamte Prozess so reibungslos und angenehm wie nur möglich ablief. Sehr dankbar bin ich auch den wundervollen Autoren, die das Buch lasen und großzügig unterstützten.

Ich schrieb das Buch zwar in Boston, aber meine neue Heimat, die Duke University in Durham, North Carolina, hat mir ebenfalls enorm geholfen. Ich habe die Gastfreundschaft des Südens reichlich genossen, sei es in der kardiologischen Abteilung und im Fachbereich Medizin, sei es beim Kommunikationsteam. Das sind jedoch nur einige der Leute, die mir halfen, aus dieser Idee, die mir an einem feierlichen Tag im Krankenhaus kam, ein Buch zu machen, das hoffentlich eine der wichtigen Geschichten unserer Zeit erzählen kann.

Wie Zellen sterben

Es war der längste aller Monate gewesen – im besten und im schlimmsten Sinne. Brockton ist eine Kleinstadt etwa eine halbe Autostunde südlich von Boston, aber in vieler Hinsicht scheint sie eine Welt für sich zu sein. Wenn Sie Boston verlassen, sehen Sie Rost an Brücken, Verkehrsschildern und Hydranten. Boston strahlt eine gewisse stilvolle Altertümlichkeit aus, vergleichbar mit ein paar silbergrauen Haarsträhnen. Die roten viktorianischen Sandsteinhäuser im Stadtteil Back Bay, von denen viele in der Kolonialzeit gebaut wurden, weisen genau das richtige Maß an Verfall auf, was ihnen eine intensive und kraftvolle Textur verleiht. Mit seiner Mixtur aus Gebäuden im klassizistischen und georgianischen Stil ist Boston gerade rau genug, um fotogen zu sein. Brockton hingegen fällt auseinander. Schiefe Torpfosten stehen auf Feldern, die wohl seit Jahrzehnten kein Fußballspiel mehr gesehen haben. Verbrechen und Drogen haben die Stadt überschwemmt.

Das Krankenhaus spiegelt viele Merkmale der Stadt wider, in der es steht. Assistenzärzte meines Doktorandenprogramms absolvierten externe Praktika auf der Intensivstation dieser Klinik und machten dort legendäre Erfahrungen. Anders als das große akademische Referenzzentrum, an das wir gewöhnt waren und in dem zahlreiche Pflegekräfte und Ärzte arbeiteten, wurde die Intensivstation (ITS) in Brockton vor allem von Assistenzärzten geleitet, obwohl die Patienten in vieler Hinsicht kränker waren. Im Allgemeinkrankenhaus, in dem ich ausgebildet wurde, gab es eine chirurgische, eine neurologische, eine kardiologische und eine unfallchirurgische ITS sowie eine ganze Reihe von medizinischen ITS. In Brockton gab es nur eine ITS, sodass Patienten mit vielen verschiedenen Beschwerden von den Assistenzärzten und dem aufsichtführenden Arzt versorgt wurden.

Es war ein Sonntag, obendrein ein Super-Bowl-Sonntag und mein letzter Tag in Brockton. Die Patriots hatten eine Woche vorher verloren; deshalb war mein Interesse etwas gedämpft. Trotzdem, es war Super-Bowl-Sonntag. Nach dem Dienstplan sollte ich bis sieben Uhr abends arbeiten und ich brauchte eine Stunde, um durch den Straßenverkehr nach Boston zurückzufahren. Also würde ich einen großen Teil des Spiels verpassen. Aber dieser Sonntag war wie durch ein Wunder ein ruhiger Tag. Das Team war gegen Mittag mit der Visite fertig und danach bekamen wir keine neuen Patienten. Wir waren so entspannt, dass ich das Undenkbare wagte: Ich fragte meine Kollegen, wer Nachtdienst habe und ob ich den Fahrdienst früher rufen könne, falls der Tag weiter so ruhig blieb. Wir trafen eine Abmachung. Als die Uhr drei schlug, die Notaufnahme nicht von Patienten wimmelte, alle unsere Patienten brav waren und die Stationen uns niemanden geschickt hatten, bestellte ich den Fahrdienst für fünf Uhr. Ich rief meine Frau an, hocherfreut darüber, früh fertig zu sein, und bat sie, unsere Freunde zu der Super-Bowl-Party einzuladen, die sie so gerne hatte schmeißen wollen.

Kaum hatte ich aufgelegt, meldete sich mein Piepser. In einer Station gab es einen medizinischen Notfall. Ich griff nach meinem Stethoskop und schlurfte in die Station. Als ich dort eintraf, stank die ganze Station nach menschlichen Exkrementen. Eine Schwester führte mich in ein Zimmer, vor dem sich eine Menge Leute versammelt hatten. Ich zwängte mich durch und fand im Badezimmer drei Schwestern vor, die sich um einen Patienten bemühten, der anscheinend nicht ganz bei Bewusstsein war. Er saß schlaff und völlig nackt auf der Toilette und der gesamte Boden war mit schwarzem, blutigem Stuhl bedeckt. Das Bad war sehr klein und der Patient war etwa zwei Meter groß und dürfte mindestens 135 Kilo gewogen haben. Die Schwestern bemühten sich vergeblich, ihn hochzuheben, während einige andere erfolglos versuchten, sein Bett ins Badezimmer zu schieben. Es herrschte totales Chaos und niemand wusste, was los war.

Der Mann atmete kaum, aber er hatte einen Puls. Mir war schnell klar, dass wir das Bett auf keinen Fall ins Badezimmer und den Patienten keinesfalls ins Bett bekommen würden. Ich bat einen Pflegehelfer, einen Rollstuhl zu bringen. Er schob ihn genau vor die Badezimmertür und ich wies die Schwestern an, den Patienten vom Toilettensitz in den Rollstuhl zu tragen. So krank wie er war, hatte ich nicht einmal Zeit, ihn gründlich zu untersuchen. Ich schickte die Leute aus dem Zimmer, damit wir den Rollstuhl aus dem Bad und auf die Intensivstation schieben konnten. Eine Schwester deckte den nackten Mann mit einem Bettlaken zu. Sein Kopf hing auf der Brust, die ganz von seinem Speichel bedeckt war. Er atmete nur schwach und ließ eine lange Spur aus Blut und Stuhl hinter sich zurück, die den ganzen Flur verschmutzte. Der Assistenzarzt, der bei mir war, fotografierte den Flur mit seinem Smartphone. Keiner von uns hatte jemals etwas Derartiges gesehen.

Sobald er in der ITS war, brauchten wir sechs Leute, um ihn aus dem Rollstuhl ins Bett zu befördern. Eine der Schwestern, die ihn auf der Station versorgt und nach oben in die ITS begleitet hatte, berichtete, er sei in den Vierzigern und habe am Abend zuvor Darmblutungen gehabt. Es sei jedoch nur eine kleine Menge gewesen und solche Symptome habe er noch nie gehabt. Das Team auf der Station habe ihn sogar später am Tag nach Hause schicken wollen. Die Schwester hatte bereits seine Frau angerufen, die jetzt unterwegs war.

Der Mann, der bis dahin benommen gewesen war, begann aufzuwachen. Das war nicht gut. Er stand unter Schock und befand sich im Delirium. Er schlug um sich und zog die Infusionsschläuche aus seinem Arm. Da er enorm stark war, mussten ihn vier Personen daran hindern, vom Rollstuhl zu fallen. Uns wurde sehr schnell klar, dass die Erstickungsgefahr bei ihm groß war und dass wir seine Atemwege nicht freihalten konnten, ohne ihn zu intubieren und künstlich zu beatmen.

Ich stellte mich ans Kopfende des Bettes und hielt seinen Kopf mit einer Hand fest. Er schaute mir starr in die Augen und grunzte. Ein Handtuch im Mund verhinderte, dass er sich auf die Zunge biss. Sein Blutdruck war im Keller und er hatte fast die Hälfte seines Blutes verloren. Er war in einem sehr, sehr schlechten Zustand. Mein Blick huschte zu der Ausrüstung, die ich brauchte, um ihn zu intubieren. Eine Schwester am anderen Ende des Zimmers hatte einen großen grünen Behälter, so robust, dass er in einen Luftschutzbunker gepasst hätte. Darin befanden sich alle Instrumente, die ich benötigte. Mit dem Oberarzt an meiner Seite griff ich nach der passenden Kehlkopfklinge, die im Wesentlichen eine große, L-förmige Zungenspatel aus Metall ist. Und die ganze Zeit überlegte ich, was ich tun sollte. Ich hatte schon Patienten intubiert, aber nie unter derart chaotischen Umständen. Der Oberarzt, ein Anästhesiologe mit den Fertigkeiten eines Jedimeisters, stand neben mir und zögerte nicht, mir die Klinge zu überlassen. Die meisten Oberärzte wären nervös geworden und hätten die Intubation lieber selbst vorgenommen, als einen Assistenzarzt herumpfuschen zu lassen. Er nicht.

Einem Menschen eine Röhre in den Hals zu schieben ist viel schwieriger, als es scheinen mag. Man darf sie auf keinen Fall durch die Speiseröhre in den Magen stoßen (was oft genug geschieht) anstatt in die Luftröhre, die zu den Lungen führt. Die Zunge, die viel weiter nach hinten reicht, als die meisten Leute glauben, blockiert den Weg. Ein weiteres kleines Problem ist der Kehlkopfdeckel, eine Art Fallklappe, die verhindert, dass das Essen in die Luftröhre gelangt, wenn wir sprechen oder atmen. Sobald man den Kehlkopfdeckel passiert hat, muss man noch an den Stimmbändern vorbeikommen, die wie flatternde Vorhänge ganz oben an der Luftröhre hängen.

Ich blieb am Kopfende des Bettes stehen, betrachtete das Gesicht des Patienten und gab der Schwester ein Zeichen. Sie hielt eine Spritze in der Hand, die mit milchigem Propofol gefüllt war. Mitten im Trubel spülte sie die Spritze mit etwas Saline durch, injizierte das Betäubungsmittel und spülte erneut. Wir hielten den Mann immer noch fest und warteten darauf, dass seine Muskeln erschlafften. Zwei Minuten vergingen, bis uns klar wurde, dass wir etwas Stärkeres brauchten. Also spritzten wir ein Paralytikum. Sein Kopf, mit dem er gegen meinen Unterarm geschlagen hatte, entspannte sich. Seine Augen, die mich unglaublich ausdauernd angestarrt hatten, blickten nun zur Decke. Der Patient erschlaffte. Er hörte auf zu atmen und der Atemtherapeut fuhr fort, ihm durch einen Beatmungsbeutel Sauerstoff zuzuführen. Sobald das Sauerstoffniveau 100 Prozent betrug, begann das Wettrennen: Ich hatte nur Sekunden Zeit, um den Patienten zu intubieren, ehe das Sauerstoffniveau fiel.

Ich schob die Kehlkopfklinge über die Zunge und drückte diese nach unten. In der Hoffnung, die Stimmbänder zu sehen, hob ich sein Kinn an. Aber die Zunge war dick, und selbst als ich mein Handgelenk maximal beugte, konnte ich die Stimmbänder kaum erkennen. Ich wollte die Röhre, die ich beklommen in der anderen Hand hielt, nicht blind nach unten drücken. Mein Supervisor wurde allmählich ungeduldig. Er sagte, ich hätte mein Handgelenk nicht stark genug gebeugt. Ich schaute über die Schulter und sah, dass das Sauerstoffniveau bereits auf 80 Prozent gesunken war. Also schob ich die Klinge weiter hinab, wobei ich seinen Kopf fast vom Bett hob. Und da war er: der dicke Rand der Stimmbänder, blass wie rissige Lippen und umgeben von Membranen voller Kapillaren. Ich ergriff den J-förmigen Atemschlauch, schob ihn durch die Kehle und drückte ihn durch die Stimmbänder, hinein in die Schwärze, die ihnen folgte. Dann zog ich den Metalldraht heraus, der dem Schlauch seine Form gab, und der Atemtherapeut schloss den Beutel an und pumpte die Manschette im Schlauch auf, die ein Entweichen der Luft verhinderte. Dann hielten wir alle Ausschau nach den typischen Anzeichen dafür, ob der Schlauch in den Magen gelangt war anstatt in die Lungen. Der Atemtherapeut drückte den Beutel und zum Glück blähten sich die Lungen auf, nicht der Magen. Eine Schwester legte ihr Stethoskop auf den Bauch und hörte dort kein Geräusch einströmender Luft. Dieser Mann war längst noch nicht über dem Berg; aber ich hob den Blick. Mein Supervisor schien zu verschwimmen, meine OP-Haube war verschwitzt. Aber ich war erleichtert darüber, dass wenigstens seine Atemwege frei waren. Ich streifte die Handschuhe ab und sah die Hilfskräfte vor dem Zimmer auf ihren Einsatz warten. Sie hatten eine Menge Beutel mit Blut, Blutplättchen und Gerinnungsfaktor bei sich.

Ich hatte das Zimmer noch nicht verlassen, als sich mein Piepser meldete, und noch bevor ich einen Blick darauf werfen konnte, plärrte der Deckenlautsprecher: »Code Blue. Eingangshalle.«

Unschlüssig warf ich dem anderen Assistenzarzt einen Blick zu. Er sagte: »Lauf runter«, und versprach, in der ITS die Stellung zu halten.

Was das Laufen im Krankenhaus betrifft, gibt es Benimmregeln. Ich vermeide es unter fast allen Umständen, weil es andere in Panik versetzen und einen selbst aus der Fassung bringen kann. Meine Regel lautet: Es ist in Ordnung, die Treppe hinunterzulaufen, wo sich keine Patienten und Angehörigen aufhalten – aber nicht durch den Flur. Darum ging ich zum ersten Treppenhaus, das ich fand, und rannte los.

Ich verließ das Treppenhaus an einem Ende des Empfangsbereichs und ging zum Eingang, wo sich eine große Menschenmenge versammelt hatte. Die meisten waren offenbar Familienmitglieder, die Patienten besuchen wollten und von irgendeinem Tumult angelockt worden waren. Als ich näher kam, hörte ich eine Frau jammern und weinen. Eine Wand verbarg die Szene, und als ich auf die Eingangstür zuging, wuchs meine Furcht vor dem, was mich erwartete. Kurz bevor ich sehen konnte, worum es ging, rief ein Kind laut: »Muss Mama sterben?«

Vor den Doppeltüren, die ins Krankenhaus führten, lag eine junge Frau auf dem Boden, anscheinend bewusstlos. Neben ihr kniete ein Sanitäter. Sobald er mich sah, berichtete er, ihr Herz schlage noch, aber sie habe eben einen Anfall gehabt. Die Frau lag zusammengekrümmt da und war offensichtlich schwanger. Es muss ein Krampfanfall gewesen sein, dachte ich. Ich legte sie flach auf den Boden, um mich zu vergewissern, dass sie normal atmete. Das war der Fall. Aber das Durcheinander dauerte an. Ihre Mutter war völlig durchgedreht; sie zerrte an ihrem Haar, kreischte und jagte allen Anwesenden Angst ein. Die Menge, die jetzt durch weitere Ärzte und Schwestern vergrößert wurde, reagierte mehr auf die Mutter als auf die bewusstlose Frau, deren Zustand erstaunlicherweise noch ziemlich stabil war. Die Mutter störte sogar die Ärzte der Notaufnahme, die der jungen Frau zur Hilfe geeilt waren; doch dann wandte sich einer der Helfer an die Frau und sagte schroffer, als ich es getan hätte: »He, Lady, reißen Sie sich zusammen!«

Ich brachte die Frau in die Notaufnahme, sorgte dafür, dass sich jemand um sie kümmerte und wurde meiner Rolle als Notarztvertreter gerecht. Nun war es Zeit, auf meinen eigentlichen Posten zurückzukehren. Ich warf einen Blick auf mein Telefon, das mit unbeantworteten Texten und Anrufen überschwemmt worden war. Auf dem Weg zurück in die ITS rief ich den Fahrdienst an, entschuldigte mich bei dem Fahrer, der draußen wartete, erklärte ihm, ein Patient befinde sich in kritischem Zustand, und bat ihn, mich abzuholen, sobald der Patient so stabil war, dass ich nach Hause gehen konnte.

Sobald ich in der ITS war, ging ich schnurstracks ins Zimmer des Patienten, den ich vor etwa fünfzehn Minuten intubiert hatte. Sofort reichte mir die Schwester die Box mit dem Zentralvenenkatheter – die Infusionsschläuche genügten nicht, um ihn ausreichend mit Blut zu versorgen. Da mein Kollege mit anderen Patienten beschäftigt war, nahm ich die Box und tauchte erneut in den Strudel ein. Wir begannen mit einem großen Infusionsschlauch in der Oberschenkelvene der Leiste und steckten dann eine weitere in den Brustkorb und einen arteriellen Schlauch ins Handgelenk. Es war, als müsse ich an einem einzigen Tag alles tun, was ich als Assistenzarzt gelernt hatte. Als ich fertig war, wusste ich, dass der Mann wohl nie wieder aufwachen würde. Er atmete zwar am Beatmungsgerät und sein Herz schlug; doch wir waren nicht sicher, ob er noch lebte oder hirntot war – oder ob er sich irgendwo dazwischen befand.

Als ich mit meinem Praktikum begonnen hatte, war es mir sehr schwergefallen, Feierabend zu machen und die Verantwortung für einen Patienten, den ich versorgt hatte, einem anderen zu übertragen, der Nachtdienst hatte. Wenn ich einen freien Tag hatte, ging es mir genauso. Einerlei, wie lange wir uns bei der Übergabe besprachen oder wie viele E-Mails wir austauschten, ich hatte immer das Gefühl, meine Patienten im Stich zu lassen. Wenn man sich um einen Patienten kümmert, glaubt man, niemand sonst sei in der Lage, ihn so zu betreuen wie man selbst, da man ihn ja am besten kennt.

Aber nun, in meinem dritten Jahr, war ich routiniert genug, um zu wissen, wann ich kürzer treten konnte. Egal, wie lange ich blieb, es würde wahrscheinlich nichts am Ergebnis ändern. Als ich den Mann betrachtete, der vor mir lag, änderte sich jedoch mein Blickwinkel: Gestern hatte er noch ein normales Leben geführt; jetzt steckten zehn Schläuche in seinem Körper und es war fraglich, ob er die Nacht durchstehen würde. Im Vergleich dazu waren meine Sorgen fast lächerlich. Ich würde einen großen Teil des Super Bowl verpassen; doch als ich auf dem Weg nach draußen die Frau des Patienten im Wartezimmer sah, wurde mir klar, dass viele, viele Menschen auf dieser Welt an diesem Abend größere Probleme hatten.

Ich ging in die Eingangshalle, die jetzt viel ruhiger war als bei meinem letzten Besuch, und sah das Auto, eine schwarze Lincoln-Limousine, draußen warten.

»Ist er durchgekommen?«, fragte der Fahrer, als ich eingestiegen war und anfing, den Salat zu essen, den ich in der Cafeteria gekauft hatte.

Ich sah im Rückspiegel, dass der Fahrer mich anschaute. Ich war etwas überrascht, aber nicht unangenehm. »Wen meinen Sie?«

»Den sterbenden Mann, von dem Sie mir am Telefon erzählt haben.«

Jetzt fiel mir ein, dass ich dem Fahrer am Telefon mitgeteilt hatte, ich würde mich verspäten.

»Ich bin nicht sicher«, sagte ich.

Sein Blick kehrte zur Straße zurück. »Der Tod ist eine echt dumme Sache«, sagte er.

Ärzte erleben den Tod häufiger als Feuerwehrleute, Polizisten oder Soldaten. Dennoch ist der Tod für uns eine sehr konkrete Vorstellung, ein Kästchen auf einer Checkliste, ein roter Balken auf einem Diagramm oder ein Resultat einer klinischen Studie. Der Tod ist profan, steril und außergewöhnlich – und weckt im Gegensatz zu vielen anderen Dingen in der Medizin unglaublich viele Emotionen. Darum war es interessant, sich den Tod eher als Idee und Prozess vorzustellen denn als Tatsache und Schlusspunkt.

Im Rückblick finde ich, dass der Fahrer in vielerlei Hinsicht recht hatte. Der primitivste Aspekt des Todes ist wohl unsere Reaktion darauf. Wir verbringen fast unser ganzes Leben damit, ihn wegzudenken, und fürchten ihn als eine Art unnatürliches Schisma in der Raumzeit. Jedes Mal, wenn wir vom Tod reden, schmeckt das Essen schlecht, das Wetter ist mies und unsere Stimmung trüb. Und jedes Mal, wenn wir an den Tod denken, werden wir so deprimiert, dass wir nicht mehr vernünftig denken können. Viele Familien reden nur über den Tod, wenn ein Angehöriger auf der Intensivstation liegt, an mehr Apparate angeschlossen als Iron Man.

Als ich zuerst daran dachte, ein Buch über den Tod zu schreiben, erzählte ich meiner Frau davon. Sie schien verwirrt zu sein. Schon das Wort »Tod« war ihr unangenehm. Ich war von ihrer Reaktion überrascht; doch inzwischen bin ich etwas mehr an Reaktionen dieser Art gewöhnt.

In unserer Gesellschaft sind viele Themen in bestimmten Momenten tabu. Sex ist wohl das Erste, was einem einfällt. Auch Geld ist zumindest in manchen Kreisen ein Tabu. Doch selbst Sex und Geld sind in jeder Kultur und zu jeder Zeit unterschiedlich tabuisiert. Aber das Thema Tod ist immer noch die verbotene Frucht, die am schwersten zu pflücken ist.

Warum fällt es uns so schwer, über den Tod zu reden? Das liegt zum Teil am gesellschaftlichen Dogma und zum Teil an der Tradition. Das Mysterium, das den Tod umgibt, erzeugt Ungewissheit und diese erzeugt Furcht. Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung wurde der Tod nie zuvor so gefürchtet wie heute. Je mehr er medikalisiert wird, desto länger sind Menschen vor ihrem Ende entkräftet, desto mehr werden Sterbende abgesondert und desto erschreckender erscheint der Tod. Das vorige Jahrhundert hat den meisten Menschen eine höhere Lebenserwartung beschert, doch das hatte eine unerwartete, schwer erträgliche Nebenwirkung: Menschen, die wissen, dass sie früh sterben werden, fühlen sich betrogen. Wenn wir etwas an dieser Situation ändern wollen, müssen wir die Ranken des Schreckens zerreißen, die an unseren Beinen emporkriechen, sobald wir vom Tod und vom Sterben reden.

Gespräche über den Tod sind belanglos geworden, losgelöst von der Realität. Der Tod wird als politische Waffe genutzt, um Wählern Angst einzujagen, und kaum noch als unvermeidliches Schicksal aller lebenden Organismen akzeptiert. Die Furcht vor dem Tod wird genutzt, um Kriege zu beginnen, Religionen zu gründen und einen Teil der Gesellschaft maßlos reich zu machen. Vor dem 20. Jahrhundert wussten wir allerdings wenig über das Sterben. Das änderte jedoch nichts daran, dass der Tod extrem polarisierte, und unser Wissen über den Tod ist bis zum heutigen Tag sehr begrenzt.

Andererseits hätte der Fahrer nichts Falscheres sagen können. Der Tod ist so alt wie das Leben und man könnte sogar behaupten, er sei älter als das Leben – denn was war vor dem Leben? Doch im vorigen Jahrhundert hat sich der Tod mehr entwickelt und verwandelt als je zuvor in der Geschichte. Fortschritte in der Biomedizin haben nicht nur die Ökologie, die Epidemiologie und die Ökonomie rund um den Tod verändert, sondern auch das Ethos des Todes im abstraktesten Sinn. Die Trennlinie zwischen Leben und Tod ist nicht deutlicher geworden, sondern viel verschwommener. Ohne zahlreiche Tests können wir heute nicht einmal sicher sein, ob ein Mensch lebendig oder tot ist. Es mag sein, dass der Tod eine primitive Vorstellung ist, aber die meisten Menschen haben wenig Ahnung vom modernen Tod. Ich hätte dem Fahrer so vieles sagen wollen; doch zumindest an diesem Tag beschloss ich, mich zurückzulehnen und zuzuhören.

Viele Jahrtausende lang war der Tod mehr oder weniger statisch. Dann veränderte er sich im Laufe eines Jahrhunderts grundlegend. Der moderne Tod ist ganz anders als der Tod noch vor wenigen Jahrzehnten. Die fundamentalen Aspekte des Todes – das Warum, das Wo, das Wann und das Wie – unterscheiden sich erheblich von den Gegebenheiten an der Wende des Jahrhunderts.

Um zu verstehen, warum wir sterben, müssen wir wissen, wie wir auf unserer feinkörnigsten Ebene leben. Menschen bestehen aus Milliarden von Zellen aller Art. Jede von ihnen lebt, wenn auch nicht bewusst. Außerdem enthalten wir Milliarden von Bakterien, hauptsächlich im Darm. Ein Mensch enthält im Durchschnitt zehn Mal so viele Bakterien wie Zellen.1 Wir wissen heute, dass Menschen mindestens vierzig Gene mit Bakterien gemeinsam haben und dass diese somit auf sonderbare Weise unsere entfernten Vettern sind.2 Jeder von uns ist also eine Art Mutterschiff mit menschlichen und bakteriellen Passagieren, die gemeinsam eine unabhängige, funktions-und empfindungsfähige Kolonie bilden, deren Identität nicht nur existenziell, sondern auch physiologisch ist.

Obwohl der Tod uns einfacher als das Leben vorkommen mag, ging unser Wissen über die Zellbildung dem Wissen über den Zelltod mindestens ein Jahrhundert voraus. Die Zellteilung oder Mitose – bei der aus einer Zelle zwei identische Tochterzellen entstehen – wurde 1882 zum ersten Mal von dem deutschen Arzt Walther Flemming beschrieben. Die Meiose – bei der sich eine Zelle in zwei einzigartige Zellen teilt, was für die Fortpflanzung notwendig ist – wurde 1887 von zwei Deutschen, Theodor Boveri und August Weismann, entdeckt.3 Die Bildung einer Zelle wurde also schon Ende des 19. Jahrhunderts gut verstanden.

Der Zelltod wurde hingegen erst vor Kurzem erforscht und nur selten beobachtet. Pathologen, Mikrobiologen und andere schauten durch Mikroskope, sahen aber kaum jemals eine sterbende Zelle, während sie die Entstehung von Zellen häufig auf Objektträgern beobachteten. Bequemerweise nahm man an, dass andauernd Zellen sterben, um den Zellen zu weichen, die sich ständig bilden. Neuere Erkenntnisse der Zellbiologen haben nicht nur unser Verständnis des Zelltodes erweitert, sondern auch das Leben der Zellen stärker erhellt als jede andere neuere Entdeckung auf diesem Gebiet.

Die Antwort auf eine der verzwicktesten Fragen der modernen Biologie sollte die unwahrscheinlichste Quelle liefern. Caenorhabditis elegans ist ein Nematode, der kleinste aller Rundwürmer, durchsichtig und nur etwa einen Millimeter lang.4 Er kümmert sich um seine eigenen Angelegenheiten, bleibt meist im Boden, frisst überwiegend Bakterien und infiziert niemals Menschen. Zwar besitzt er weder ein Herz noch Lungen, aber er hat viele Organe, die denen größerer Tiere ähneln, zum Beispiel ein Nervensystem und vollständige Fortpflanzungsorgane: Uterus, Ovarien und sogar das Äquivalent eines Penis. Interessant ist, dass 999 von tausend Rundwürmern Hermaphroditen sind und nur einer von tausend »echt männlich« ist. Der Hermaphrodit braucht keinen männlichen Wurm für die Befruchtung, obwohl er, sofern er die Wahl hat, männlichen Samen seinem eigenen oder dem eines anderen Zwitters vorzieht. Dieser Rundwurm lebt zwei bis drei Wochen lang, wenn ihm nichts Schlimmes zustößt. Er ist ein zähes Wesen, das 2003 sogar das Unglück der Columbia-Raumfähre überlebte.5 Kurz vor ihrem Tod strahlen die Würmer ein blaues Licht aus – eine Szene nicht ohne Dramatik.

Diese Würmer sind für die Wissenschaft wichtig wegen ihrer einzigartigen und recht einfachen Entwicklung. Sie sind bekannt für ein Phänomen namens Eutelie (Zellkonstanz): Die erwachsenen Tiere haben eine festgelegte Zahl von Zellen, spezifisch für diese Spezies. Sobald ein Wurmbaby geboren ist, wächst es durch Zellteilung heran. Wenn die Zahl von 1090 Zellen erreicht ist, hören sie auf, sich zu teilen. Das weitere Wachstum beruht auf der Vergrößerung dieser Zellen. Bei den Hermaphroditen sterben allerdings bestimmte Zellen automatisch ab. Dieser genetisch programmierte Tod von 26 Zellen in einem millimeterlangen Wurm verrät uns, wie Zellen beschließen oder gezwungen werden, Selbstmord zu begehen.

Der Lebenszyklus und die Programmierung dieser Rundwurmzellen wurden zuerst in Cambridge, Großbritannien, untersucht, dann in Cambridge, Massachusetts, in den USA. Sydney Brenner, ein südafrikanischer Biologe, richtete sein Labor für Entwicklungsbiologie in England ein, wo er zusammen mit John Sulston das gesamte Genom des C. elegans analysierte.6 Etwa um diese Zeit, im Jahr 1972, schlugen die Wissenschaftler John Kerr, Andrew Wyllie und Alastair Currie für dieses »bisher kaum bekannte« Phänomen des Zelltodes den Namen Apoptose vor.7 Dieses griechische Wort bedeutet Blütenblätter- oder Laubfall. Brenner und Sulston gewannen Robert Horvitz als Mitarbeiter, der später ein Labor im Massachusetts Institute of Technology einrichtete, wo er die Arbeit fortsetzte, die er jenseits des Ozeans begonnen hatte. Im Jahr 2002 wurde Brenner, Sulston und Horvitz gemeinsam der Nobelpreis für Medizin verliehen, weil ihre Entdeckungen unser Verständnis des Lebens und des Todes revolutionierten.

Wir wissen heute, dass vor allem drei Vorgänge das Absterben einer Zelle bewirken: Apoptose, Nekrose und Autophagie.8 Alle drei haben auch eine erhebliche metaphysische Bedeutung.

Der hässlichste und am wenigsten elegante Zelltod ist die Nekrose. Das griechische Wort nekros bedeutet »Leichnam« und der Prozess läuft ab, wenn Zellen plötzlich von der Nährstoff- und Energieversorgung abgeschnitten werden. Wird der Blutstrom unterbrochen, etwa der zum Gehirn nach einem Schlaganfall oder der zum Herzen nach einem Infarkt, ist eine Nekrose der betroffenen Zellen die Folge. Sie beginnt in der Zellmembran, die zunehmend durchlässiger wird. Wasser dringt von außen in die Zelle ein, bläht sie samt ihrem Inhalt grotesk auf und bringt sie zum Platzen, sodass der Inhalt sich in den extrazellulären Raum ergießt. Diese mutwillige Zerstörung ist auch zweckdienlich, weil die ersten nekrotischen Zellen den Rest des Körpers vor dem bevorstehenden Ereignis warnen, sei es eine Verletzung, extreme Hitze oder Kälte oder Gift.9 Der menschliche Körper wird ständig vom Immunsystem überwacht, das nach fremden Eindringlingen sucht. Der Zellinhalt ist das verborgene Selbst, das immer innerhalb der Zelle bleibt und daher als fremd wahrgenommen wird, wenn es ins Serum gelangt. Da der Körper nicht daran gewöhnt ist, diese Moleküle außerhalb der Zelle vorzufinden, alarmiert ihn ihre Freisetzung und er verstärkt sofort seine Immunabwehr.

Die Aktivierung des Immunsystems setzt ein Rettungs- und Reparaturprogramm in Gang. Den nekrotischen Zellen ist nicht mehr zu helfen, aber das Immunsystem hindert das Feuer daran, auf nicht betroffene Körperteile überzugreifen. Früher hielt man die Nekrose für ein zufälliges oder unkontrolliertes Ereignis, doch neuere Forschungen zeigen, dass auch sie sorgfältig geplant ist und auf molekularen Wegen selektiv ausgelöst und beendet werden kann.10

Bei der Autophagie frisst (»-phagie«) die Zelle sich selbst (»Auto-«) oder Teile ihrer selbst. Zellen nutzen die Autophagie, um beschädigte oder überflüssige Komponenten in nützliche Nährstoffe umzuwandeln, wenn diese knapp sind. Im Gegensatz zur Nekrose, die eintritt, wenn die Versorgung vollständig abgeschnitten wird, etwa nach einem Herzinfarkt, tritt die Autophagie nach einer relativen Verknappung ein, zum Beispiel bei Herzinsuffizienz. Wenn Nahrung nur knapp ist (anders als bei der Nekrose), versuchen die Zellen, unnötigen Ballast abzuwerfen oder beschädigte Bestandteile loszuwerden, indem sie Autophagosomen produzieren, kleine Bläschen, die Giftstoffe enthalten und das unerwünschte Material schlucken und in nützliche Näherstoffe umwandeln. Zu viel Autophagie kann jedoch ebenfalls zum Tod der Zelle führen.

Die Autophagie ist für die Zelle unerlässlich, um dem Tod zu entrinnen, da sie beschädigte Zellbestandteile verwertet, zum Beispiel Mitochondrien, die »Turbinen«, die Sauerstoff in reine Energie umwandeln und den Zelltod einleiten, wenn sie platzen. Die Unfähigkeit zur Autophagie beschleunigt sogar den Zelltod, anstatt ihn abzuwenden.

Die wohl wichtigste und interessanteste Form des Zelltodes ist die Apoptose. Bei der Nekrose ist ein Defekt der Zellmembran eine der ersten Folgen; bei der Apoptose bleibt die Membran hingegen bis zum Ende intakt. Trotz ihrer Komplexität läuft die Apoptose viel schneller ab als die Mitose – etwa zwanzig Mal so schnell –, was erklären könnte, warum wir sie unter dem Mikroskop seltener sehen. Der gesamte Prozess dauert Stunden.

Wenn eine Zelle kurz vor der Apoptose steht, wird sie runder und zieht sich von anderen Zellen zurück. Eine Zelle wird aufgefordert, sich selbst zu töten, wenn der Tumornekrosefaktor alpha (TNFα), der Sensenmann der zellularen Ebene, sie markiert. Er gelangt an die Seite der Zelle und heftet sich an einen Rezeptor auf der Zellmembran an. Das ist die zellulare Version des Todeskusses, die den sogenannten extrinsischen (äußeren) Signalweg aktiviert. Die Zelle erfüllt ihr Schicksal gehorsam und aktiviert Caspasen, Enzyme, die sich innerhalb von Zellen befinden und normalerweise beim Hausputz und bei Reparaturen helfen. Wenn sie jedoch durch Todessignale aktiviert werden, setzen sie eine Kaskade von Ereignissen in Gang, die dazu führt, dass die Zelle ruhig stirbt. Die Apoptose wird auch ausgelöst, wenn Mitochondrien, die Zellschäden festgestellt haben, Proteine aus dem Zellinneren freisetzen. Eines dieser Proteine mit dem passenden Namen »Smac/DIABLO« aktiviert die Killer-Caspasen und läutet die Totenglocke.

Das herausragende Merkmal der Apoptose ist das Schrumpfen der Organellen. Die Zellmembran bleibt unversehrt; sie gibt das verborgene Selbst nicht frei und belastet daher nicht das Immunsystem. Kleine Bläschen spalten sich von der Membran ab und die Zelle löst sich in kleinere Bruchstücke auf. Die Apoptose wird oft mit dem »kontrollierten Abriss« eines Wolkenkratzers verglichen. Dabei ist es sehr wichtig, Nachbargebäude nicht zu beschädigen.11 Wenn eine Zelle zum Tode verurteilt ist, alarmiert ein komplexer Mechanismus die Phagosomen, kleine Zellen, die Zellbestandteile verdauen, im Gegensatz zu den Autophagosomen jedoch andere Zellen attackieren, nicht die Zellen, aus denen sie stammen. Das Alarmsignal kennzeichnet apoptotische Zellen als »Nicht-Selbst« und somit zum Verzehr geeignet.

Leben und Tod auf der fundamentalsten zellularen Ebene sind viel komplexer, dynamischer und ausgewogener als auf der menschlichen Ebene, die wir für eine binäre Gleichung halten. In jedem Augenblick unseres Lebens entstehen und vergehen Zellen; das heißt, Teile von uns sterben, obwohl wir leben. Gäbe es keine Apoptose, würden sich in einem Menschen während seines Lebens durchschnittlich zwei Tonnen Knochenmark ansammeln und sein Darm wäre fünfzehn Kilometer lang. Selbst auf der zellularen Ebene liefern sich Faktoren, die die Apoptose fördern, einen ständigen Kampf mit andern Faktoren, die sie blockieren. Deshalb tanzt jede Zelle des Körpers zur Musik von Kräften, die sie dem Tod näher bringen oder entziehen. In einem weiteren Sinne enthalten wir zu jedem Zeitpunkt Zellen, die geboren werden und sterben. Was uns als Menschen dem Tod näher bringt, ist das Überwiegen der Apoptose gegenüber der Mitose.

Die verschiedenen Todesarten der Zellen geben uns Einblicke in das Leben und in die Kultur der Zellen. Zellen haben vermutlich keine Gefühle und denken nicht über Moral oder Ethik nach, wie Menschen es tun. Doch die Ökologie und die Mechanismen des Zelltodes zeigen, wie eng Leben und Tod miteinander verflochten sind. Wenn eine Zelle zu sterben »vergisst«, wird sie zu einem Phänomen, das den ganzen Organismus umbringen kann. Wir nennen es Krebs.

Eine fehlerhafte Apoptose ist für die Hälfte aller Krebsfälle verantwortlich. Normale Zellen verfügen über einen Wächter namens Tumorprotein p53 (TP53). Es leitet die Apoptose ein, sobald es in normalen Zellen Schäden entdeckt, und setzt zu diesem Zweck Proteine wie Puma, Noxa und Bax frei. Als Reaktion auf Schäden durch Strahlung, Toxine und andere Faktoren erlaubt TP53 diesen Proteinen, einen derart sauberen Zelltod herbeizuführen, dass andere Zellen nicht gestört werden. Doch bei Krebsarten wie chronischer myeloischer Leukämie ist TP53 mutiert, sodass lebensfördernde Proteine wie BCL2 aktiver werden und den Körper an seinen Reinigungsprozessen hindern. So entstehen unsterbliche Krebszellen. Die Chemotherapie mit Imatinib bei chronischer myeloischer Leukämie wirkt, weil sie Proteine hemmt, die zur BCL2-Familie gehören. Andere Krebsmedikamente fördern die Apoptose von Krebszellen auf andere Weise. Einige aktivieren die Todesrezeptoren, andere blockieren Survivin, ein Zellprotein, das normalerweise Caspasen deaktiviert. Der Zelltod ist derart wichtig, dass Bemühungen, ihn zu verhindern und Zellen scheinbar am Leben zu erhalten, deren Funktionen schwächen. Deshalb nennt man überlebende Zellen häufig »Zombiezellen«.12

Wie nicht anders zu erwarten, ist zu viel Apoptose ebenfalls ungünstig. Bei der Huntington-, Parkinson- und Alzheimer-Krankheit sowie bei der amyotrophen Lateralsklerose sammeln sich toxische, fehlgefaltete Proteine in Nervenzellen an und leiten vorzeitig den Zelltod ein. Chemotherapeutische Medikamente, die die Autophagie fördern, verbessern jedoch die Fähigkeit der Zellen, diese fehlerhaften Proteine auszuscheiden. Übermäßige Autophagie kommt zum Beispiel beim Schlaganfall, beim Herzinfarkt, bei AIDS und bei Autoimmunkrankheiten vor und darum werden heute experimentelle Therapien entwickelt, die die Autophagie bei solchen Krankheiten sinnvoll hemmen.

Das Studium der Apoptose wirft ein Licht auf das Sozialleben der Zellen. Der Tod ist kein einzelnes Ereignis und tritt selten ohne guten Grund ein. In einem Artikel in Nature schrieb Gerry Melino: »Diese soziale Kontrolle des Lebens und des Todes ist in multizellularen Netzwerken unerlässlich«, und stellte die Frage: »Schließt die soziale Kontrolle unweigerlich das Navigieren zwischen widersprüchlichen Signalen ein?«13 Die Zellgemeinschaft ist frei von Individualismus und dient nur dazu, den multizellularen Organismus – die Heimat der Zellen – zu erhalten. Wenn Zellen altern, werden sie markiert und willigen in einen sauberen Tod ein. Unsere Bemühungen, das Leben von Zellen zu verlängern, führen oft dazu, dass fehlerhafte Zellen überleben. Robert Horvitz nannte diese Zellen in seiner Nobelpreisrede »Untote«.14 Als ich Dr. Horvitz fragte, welche existenziellen und metaphysischen Folgen die neuen Erkenntnisse über den Tod von Organismen hätten, sagte er: »Wenn ich bedenke, wie viele Jahre ich den Zelltod erforscht habe, überrascht es vielleicht, dass bisher nur einer den Wunsch geäußert hat, über die existenziellen Fragen zu diskutieren, die möglicherweise eine Verbindung herstellen können zwischen dem, was wir vom Zelltod wissen, und der menschlichen Existenz, einschließlich der Problematik des Lebens und des Todes.« Für Horvitz ist der programmierte Tod mehr als ein Unfall. Wir können daraus Lehren ziehen, wie wir als Spezies am besten überleben. »Die Biologie ist komplex und die Evolution bevorzugt komplexe Lösungen. Vielleicht können wir als Analogie sagen: Wenn wir als Spezies überleben wollen, müssen wir dafür sorgen, dass wir keine irreparablen Schäden anrichten, die ein Überleben unmöglich machen würden.«

Viele Mechanismen, die den Tod einleiten, sind extrem wichtig für das Leben des Individuums und des gesamten Ökosystems. Fallendes Laub im Herbst ermöglicht es den Bäumen, sich immer wieder zu regenerieren. Das Einzige, was schlimmer ist als eine Zelle, die vergisst zu leben, ist eine Zelle, die sich weigert zu sterben.

Als die Wissenschaftler erkannten, dass Zellen nicht zufällig sterben, wollten sie wissen, wie Zellen vom Fließband des Lebens fallen und zum Sterben aufgefordert werden. Ist das alles nur ein kosmischer Zufall oder ein Indiz für etwas Größeres? Sind alle Zellen Gefangene des Schicksals oder sind ihre Umwelt und ihre Aktivität schuld an ihrem Ende? Können wir Zellen dazu bringen, dass sie den Handschlag mit dem Tod hinauszögern?

Unsterblichkeit ist zwar reine Theorie, aber es ist faszinierend, darüber nachzudenken, was uns daran hindert, sie zu erreichen. Die erste naheliegende Antwort lautet: Krankheiten. Während wir Menschen bis zum Überdruss über den Sinn unserer Existenz diskutieren, sind die meisten lebenden Organismen nur auf einen einzigen Zweck ausgerichtet: zu leben. Krankheiten sind lediglich eine Abweichung von dem sorgfältig inszenierten Tanz, dem wir die fundamentalen Lebensfunktionen verdanken. Während unser endloser Kampf gegen Krankheiten weitergeht, symbolisieren diese immer noch die tief hängende Frucht auf unserem Weg zur Lebensverlängerung. Zwar sind Krankheiten eigenständige und erkennbare Abweichungen vom normalen Weg, aber im Hintergrund lauert etwas, was so fundamental ist wie das Leben selbst und uns ständig ausbremst: der Alterungsprozess.

Der Mathematiker Benjamin Gompertz erkannte 1825, dass es zwei verschiedene Ursachen des Alterns gibt:15 Zu den äußeren Faktoren, zum Beispiel Verletzungen und Krankheiten, kommt ein innerer Verfall hinzu, den er »die Saat der Indisposition« nannte. Alterserscheinungen sind das Ergrauen des Haares, eine tiefer werdende Stimme und langsamere Reflexe. Die Alterung ist der hartnäckigste Feind des Menschen. Unermüdlich wie Wellen, die gegen Uferklippen schlagen, effektiv wie der Fluss, der den Grand Canyon grub, verzehrt uns der Alterungsprozess auch dann, wenn wir Krankheiten besser verhindern, heilen und bewältigen können.

Unser heutiges Wissen über das Leben der Zellen begann unter etwas ungewöhnlichen Umständen. Alexis Carrel war Medizinstudent in Lyon, als er mitansehen musste, wie der französische Präsident von einem Anarchisten erstochen wurde.16 Da die Nähte der Chirurgen die verletzten Blutgefäße nicht zusammenhalten konnten, begann Carrel sich für das Vernähen von Blutgefäßen zu interessieren. Er engagierte Madame Leroudier, eine der geschicktesten Stickerinnen der Stadt, ihm die Kunst des Wundnähens beizubringen.17 Carrel wandte die Technik, die kunstvolle Gewänder zusammenhielt, bei Blutgefäßen und Organen an. Obwohl er seine neu erworbene Kunst erfolgreich im Operationssaal anwendete, wurde er im Laufe seiner Karriere bei Beförderungen mehrfach übergangen, weil seine Kollegen neidisch auf ihn waren. Schließlich war er so enttäuscht, dass er nach Kanada auswanderte, um »die Medizin zu vergessen und Vieh zu züchen«.18 Doch wenige Monate nach seinem Umzug wurde sein Talent erkannt und die Universität Chicago warb ihn an. In den folgenden zehn Jahren brachte Carrel die Chirurgie weiter voran als fast alle anderen Chirurgen seiner Zeit. Eine Würdigung im Journal of the American Medical Association nannte einige seiner Errungenschaften: »Er verband getrennte Blutgefäße und Schleimhäute mit Schleimhäuten; er vernähte Arterien mit Arterien, Venen mit Venen, Arterien mit Venen, und zwar Enden mit Enden, Seiten mit Seiten und Seiten mit Enden. Er benutzte Hauttransplantate, Autotransplantate, Homotransplantate, Glasröhren, Metallröhren und absorbierbare Magnesiumröhren ... Er transplantierte Schilddrüsen, Milzen, Ovarien, Gliedmaßen, Nieren und sogar ein Herz und bewies damit, dass Transplantationen chirurgisch möglich sind.«19 Deshalb erhielt Carrel sehr zum Unwillen seiner Gegner in seiner Heimat im Jahr 1912 als erster Amerikaner den Nobelpreis für Medizin.

Da Carrel so viele Herausforderungen mit eigenen Händen bewältigt hatte, schien für ihn nichts unmöglich zu sein. Er hatte bereits Blutgefäße repariert, die man zuvor für irreparabel gehalten hatte, und Organe verpflanzt, deren Transplantation als unmöglich galt. Nun wollte er untersuchen, wie man menschliche Organe unbegrenzt erhalten konnte – ein notwendiger erster Schritt zur Unsterblichkeit. Erst kurz zuvor war ein Verfahren entdeckt worden, Zellkulturen außerhalb des Körpers zu züchten, und Carrel war zuversichtlich, dass Zellen sich unbegrenzt teilen konnten, im Gegensatz zur vorherrschenden Theorie, deren Begründer August Weismann war, der bereits erwähnte Entdecker der Zellteilung.20

In seiner Arbeit »Das ewige Leben der Gewebe außerhalb des Organismus« beschrieb er 1912 im Journal of Experimental Medicine Versuche, die eine »vollständige Lösung«21 bringen sollten. In seinen berühmtesten Experimenten entfernte er Herzen aus Hühnerembryos, legte sie auf Objektträger und bebrütete diese Gewebeteile bei einer bestimmten Temperatur in einem spezifischen Medium. Er wies nach, dass das entnommene Herzgewebe im Gegensatz zum normalen, sterblichen Hühnerherz viele, viele Jahre lang pulsierte. Er mutmaßte, es sei »dauerhaft«.

Carrel war der Meinung, man könne Senilität und Tod verhindern, da sie auf »die Ansammlung kataboler Substanzen und die Erschöpfung des Mediums« zurückzuführen seien. Im Grunde behauptete er, Alter und Tod würden von externen Einflüssen verursacht, nicht von irgendeinem inneren, naturgegebenen Mechanismus. Unter den richtigen Bedingungen, behauptete er, könnten Zellen und Gewebe von den schlechten Säften befreit werden, in denen sie gefangen seien, und in einer Welt ohne Mangelzustände könne das Leben endlos verlängert werden. Finanziert von John D. Rockefeller, dem reichsten Mann der Welt, gelang es Carrel und seinem Mitarbeiter Charles Lindbergh, der menschliche Grenzen ebenfalls neu definiert hatte, sein Hühnerherz 34 Jahre lang pulsieren zu lassen. Nach seinem Tod kümmerten sich seine Laborarbeiter um das Gewebe.22

Dank Carrels Experimenten schien das ewige Leben realistischer zu sein als je zuvor und in vieler Hinsicht ist es heute noch nicht realistischer. Doch nicht jeder eignete sich für eine drastische Lebensverlängerung. Nach Carrels Meinung war nicht einmal jeder Mensch tauglich fürs Leben. In seinem Bestseller Der Mensch, das unbekannte Wesen schrieb er, alle Verbrecher und jene Menschen, die »die Öffentlichkeit in wichtigen Dingen irregeführt haben, sollten human und ökonomisch in kleinen Euthanasieeinrichtungen mit geeigneten Gasen beseitigt werden«.23 Vor allem Frauen seien unwürdig und ungleich geboren. »Die Mütter schieben ihre Kinder in den Kindergarten ab, um sich ihrer Karriere, ihren gesellschaftlichen Ambitionen, ihrer sexuellen Lust, ihren literarischen oder künstlerischen Launen zu widmen oder einfach nur Bridge zu spielen.«

Doch