AKT 1
Am Anfang war
die gute Idee
Großbritannien im Jahr 2014. Wir blicken auf die Geschehnisse im Städtchen Rotherham in Nordengland. Wie jetzt enthüllt wurde, sind hier über einen Zeitraum von 16 Jahren hinweg mehr als 1400 Kinder und Jugendliche Opfer systematischen Missbrauchs geworden. Sie wurden eingesperrt, misshandelt, vergewaltigt und von den Tätern an Freunde zum weiteren Missbrauch weitergereicht. Ein 12-jähriges Mädchen beispielsweise wurde von mehreren Männern in einem Auto missbraucht, von den Männern gab es Geschenke wie Süßigkeiten, Handys, Alkohol oder Drogen. Einige der missbrauchten Mädchen sagten später aus, sie hätten die Verbrechen für normal gehalten – einfach weil sie es nicht anders kannten.
Die Umstände des Verbrechens verleihen der Gesamtsituation nochmals eine ganz besondere Brisanz: Den verantwortlichen Behörden waren die Vorgänge seit Jahren bekannt. Sowohl Polizei als auch Jugendämter schauten tatenlos zu. Immer wieder wandten sich Missbrauchsopfer hilfesuchend an die zuständige Polizei, nur um mit Ignoranz und Abwiegelungen abgespeist zu werden. Wie konnte es in einer westlichen Demokratie, in der Werte wie Minderheitenschutz hochgehalten werden, dazu kommen, dass selbst eine Bevölkerungsgruppe, die offiziell besondere Rücksicht und Förderung erfährt – nämlich Kinder, Mädchen –, jahrelang Qualen durchleben musste? Wie konnte es passieren, dass die Hilferufe der Opfer schlichtweg ignoriert wurden? Ein Grund für dieses scheinbar unerklärliche Verhalten war die Angst der Verantwortlichen. Nicht die Angst vor den Tätern. Angst vor der Öffentlichkeit, als Rassisten dazustehen, wenn sie die Täter öffentlich benennen: Die Täter kamen mehrheitlich aus Pakistan.
Selbst als die Vorfälle nicht mehr zu leugnen waren, führte dies zu keiner ehrlichen Berichterstattung. Im Gegenteil nutzten Personen auf gehobenen Positionen in der Polizei und Politik ihren Einfluss und sorgten dafür, dass die Täterherkunft verschwiegen wurde. In einigen Fällen wird die Verhinderung von Ermittlungen und Berichten mit Selbstschutz zu tun gehabt haben, denn auch Stadträte und Polizisten mit pakistanischen Wurzeln sollen Kinderschänderringen angehört haben.1 In anderen Fällen führte schlicht die Einhaltung der Regeln der Political Correctness zu einem Innehalten der Ermittlungen.
Als zugewanderte Pakistaner gehörten auch die Täter im Fall Rotherham zu einer schützenswerten Minderheit. Man habe den Eindruck erhalten, die ethnische Dimension des Kindesmissbrauchs solle heruntergespielt werden, beschreibt es der von Prof. Alexis Jay im Auftrag des Rotherham Metropolitan Borough Council verfasste Untersuchungsbericht.2
Der Fall in Rotherham ist eine besonders extreme Konsequenz falsch verstandener Political Correctness. Die Behörden stellen die PC-Regel, negative Äußerungen über Minderheiten zu unterlassen, über ihre eigentliche Aufgabe, nämlich den Schutz der Bevölkerung – hier der missbrauchten Mädchen. Das ist eine gravierende Verletzung der ihnen übertragenen Verantwortung, begleitet von den typischen Verhaltensweisen bei solch einem Konflikt: Schweigen, Ignorieren, Wegschauen, um am Ende höchstens das zuzugeben, was ohnehin längst bekannt ist.
Der Fall Rotherham demonstriert, wie die Political Correctness groteske und äußerst schädliche Konsequenzen hervorbringen kann. Ob den verantwortlichen Behörden in vollem Maße bewusst war, was sie taten – nämlich die PC-Regel über das Recht der missbrauchten Opfer zu stellen –, ist fraglich. Möglicherweise hatten sie die PC-Regel bereits so internalisiert, dass jede Fähigkeit zur Reflexion und zum Abwägen von Verhältnismäßigkeiten abhandengekommen war. Auch die letztendliche Konsequenz des Falls von Rotherham ist charakteristisch für die Auswirkungen der PC-Ideologie. Statt tatsächlich das zu unterstützen, wofür die Political Correctness ursprünglich angetreten ist, nämlich Diskriminierung und Vorverurteilung vorzubeugen, schafft sie genau dafür eine Grundlage. Statt der Gesellschaft zuzutrauen, dass sie aus der Verurteilung von vier Männern pakistanischer Herkunft wegen Vergewaltigung nicht zwangsläufig den Schluss ziehen werde, alle Pakistaner seien Vergewaltiger, wird durch die Verschleierung in der Gesellschaft das Misstrauen geschürt. Wenn hier 16 Jahre lang vor den Augen der Behörden Pakistaner ihr Unwesen treiben dürfen – was passiert dann noch alles, von dem wir nichts wissen? Die Dunkelziffer wird (je nach politischer Orientierung) überschätzt, der Raum für unheilsame Spekulation ist eröffnet. In Anbetracht dieser destruktiven Effekte selektiver Berichterstattung haben sich in Deutschland bereits einzelne Zeitungen dazu entschlossen, »mit Fakten gegen Gerüchte« vorzugehen und die Nationalität von Straftätern konsequent zu berichten, um so möglichen Fehleinschätzungen, beispielsweise zur Zahl krimineller Flüchtlinge, den Boden zu entziehen.3 Die Mehrheit der Medien folgt jedoch der Richtlinie des Presserats, die vorsieht, dass die Zugehörigkeit von Verdächtigen oder Tätern zu ethnischen, religiösen oder anderen Minderheiten in der Regel nicht erwähnt werden soll, es sei denn, es bestehe ein begründetes öffentliches Interesse. Besonders sei zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.4
Der Aspekt der Täterherkunft ist hier nur ein Beispiel für die letztlich destruktiven Auswirkungen der PC-Ideologie. Ein Gesamtproblem ist die Entwicklung der Political Correctness zu einem impliziten Regelwerk, das bestimmt, mit welchen Fragen, Fakten und Überlegungen Menschen im Rahmen medialer Berichterstattung konfrontiert werden dürfen, und das, wie Berichte von Hochschullehrern zeigen, mittlerweile auch das Spektrum erlaubter Debatten und Forschungsfragen in der Wissenschaft bestimmt.5, 6 Ein solches Regelwerk, das wie ein Filter über der Realität liegt, verfrachtet die Menschen in eine unmündige Position, nimmt ihnen das Denken ab und traut ihnen nicht zu, sich mit der nüchternen Realität auseinanderzusetzen. In vielen Fällen wirken die PC-Regeln im Hintergrund, ohne merkliche Komplikationen und ohne, dass dies von den Menschen als problematisch wahrgenommen wird. Insbesondere dann jedoch, wenn die Lücken zwischen Realität und PC-Regeln offensichtlich werden und Berichterstattung oder politische Appelle im Nachhinein als Täuschungsversuch erlebt werden, sind die Rückschlageffekte immens.
Menschen wollen nicht bevormundet und nicht betrogen werden. Sie reagieren sogar äußert empfindlich auf derartige Versuche, und verlorenes Vertrauen in Medien und Politiker ist schwer wieder aufzubauen. Menschen, denen eigenständiges Denken und freie Meinungsbildung wichtig sind, suchen nach Alternativen. Auch extreme politische Gruppierungen erhalten Zulauf und nutzen die einseitige Positionierung von Medien und Politik im Sinne der PC-Ideologie als Aufhänger für ihre Forderungen, oftmals begleitet von Ideen über Verschwörungen zwischen »Systemparteien« und »Systempresse« bzw. »Lügenpresse«. Auch um diese Tendenzen einzudämmen, werden die Forderungen im Namen der Political Correctness immer extremer und Einschränkungen in der freien Meinungsäußerung und Wissenschaft immer gravierender. So wird die gut gemeinte Idee der Political Correctness schließlich zur Gefahr für die freiheitliche Gesellschaft. Doch gehen wir zunächst zurück zu den Anfängen der Political Correctness als gute Idee.
Ursprung der Political Correctness war die Vorstellung, niemanden aufgrund seiner Herkunft zu diskriminieren, weder in Handlungen noch in Worten.
Als wichtigsten Hebel gesellschaftlicher Einflussnahme betont die PC-Ideologie die Sprache. Gemäß der Grundüberzeugung Sprache erzeugt Realität sieht die PC-Ideologie Sprache nicht nur als Ausdruck des Denkens und als Instrument zur Beschreibung der Realität, sondern auch als Mittel zu deren Gestaltung7. Demnach könne man durch die Kontrolle der Sprache, d. h. durch die Verwendung der richtigen Worte und Sprach-Codes sowie durch das Verschweigen von Missständen, eine gewünschte Realität und bessere Welt erschaffen. So betreffen auch viele der zentralen PC-Maßnahmen die sprachliche Ebene: Sprachregeln, Sprachverbote, Euphemismen, Umdeutung etablierter Begriffe oder die Verfolgung von Hassreden.
Die PC-Ideologie ist nicht notwendigerweise identisch mit linker Ideologie, teilt aber gewisse Werte – beispielsweise den Gleichheitsgrundsatz oder Sozialisierung als Haupteinflussfaktor für Unterschiede. Die historischen Wurzeln der PC-Debatte liegen in den USA, ihren Höhepunkt erreichte sie dort in den 1990er-Jahren. Prof. Gassert, Inhaber des Lehrstuhls für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim, diagnostiziert: Im Zentrum stand immer wieder die Frage, wie eine normativ auf die Idee der Gleichheit verpflichtete Gesellschaft (»All men are created equal.«) realer Ungleichheit begegnen kann, die auch auf historisch verfestigte rassische, geschlechtsspezifische oder religiöse Vorurteile zurückzuführen ist8.
Das Kernanliegen der Political Correctness, auf Äußerungen zu verzichten, die Vorurteile schüren oder zementieren könnten, ist ein Gedanke, der hervorragend in unsere Zeit passt. Eine Zeit, in der die Welt immer kleiner wird, bunte Mischungen von Gruppen verschiedener Herkunft miteinander und nebeneinander leben und man sich als offener, vorurteilsfreier Kosmopolit versteht. Somit ist die Idee der Political Correctness auch Ausdruck der guten Absicht, die konfliktreiche Phase der Welt endgültig hinter uns zu lassen und sich einem harmonischen Miteinander zuzuwenden. Eine schöne Vorstellung und lobenswerte Mission. Dass die durch Political Correctness erzeugte Unentschlossenheit, wie man die Dinge denn nun richtig formuliert oder benennt, nicht immer zum besten Gesamtresultat führt, sondern oft vielmehr von einer Beschäftigung mit den tatsächlichen Problemursachen und Opfern wegführt, zeigte in Deutschland beispielsweise der Fall Köln.
Der Vorfall: In der Silvesternacht 2015 wurden in Köln Hunderte Frauen Opfer von sexuellen Übergriffen, Diebstahl, Raub und Vergewaltigung durch Gruppen junger Männer vornehmlich aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum. Bereits am Neujahrsmorgen lagen mehr als 100 Anzeigen wegen Vorfällen in der Kölner Innenstadt vor, meist im Bereich Hauptbahnhof und Kölner Dom. Im Februar lagen der Staatsanwaltschaft Köln dann mehr als 1000 Strafanzeigen vor10.
Berichterstattung und öffentlicher Diskurs Teil 1: Schweigen. Bis auf einige Lokalblätter gab es zunächst keine Berichte in den großen Medienhäusern oder den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten (hier zusammenfassend bezeichnet als Mainstreammedien).
Berichterstattung und öffentlicher Diskurs Teil 2: Beschwichtigungen und Eröffnung von Nebenkriegsschauplätzen. Nachdem Meldungen über die Geschehnisse in Köln mittels alternativer Medien (hier als Sammelbegriff für kleinere, neuere Medienportale, meist im Internet) in die Gesellschaft durchsickerten, fingen auch die Mainstreammedien an, über die Ereignisse der Silvesternacht zu berichten. Die Berichterstattung war insgesamt geprägt von einem beschwichtigenden, die Vorkommnisse herunterspielenden Tenor. Politiker äußerten sich zurückhaltend, sie hätten zunächst von nichts gewusst. Zu Nachfragen nach einer Kommentierung der Ereignisse hieß es oft, man wolle noch abwarten, keine voreiligen Schlüsse ziehen, niemanden vorverurteilen. Auch als die oben genannten Fakten allgemein bekannt waren, bestand die Berichterstattung eher aus Beschwichtigungen. So hieß es beispielsweise, viele Anzeigen könnten auch schlicht aufgrund von Taschendiebstahl getätigt worden sein, nicht alle der Frauen wurden tatsächlich vergewaltigt. In diesem Zuge wurden auch zahlreiche Nebenkriegsschauplätze und Diskussionen um definitorische Feinheiten rund um die gewaltsamen Übergriffe eröffnet. Ein Beispiel hierfür war die Frage: Ist es tatsächlich bereits Vergewaltigung, wenn eine Frau von einer Gruppe Männer eingekesselt wird und ihr Finger in verschiedene Körperöffnungen eingeführt werden, oder ist dies nur »Beleidigung auf sexueller Grundlage«? Dieses Klima der Vertuschung, Beschwichtigung und Ablenkung auf Nebendiskussionen zog sich wie ein roter Faden durch öffentliche Reaktionen seitens Mainstreammedien und Politik. Dies mag zunächst rätselhaft scheinen, vor allem weil Gewalt gegenüber Frauen in Deutschland eigentlich als ein allgemein inakzeptables Verhalten gilt, das bei entsprechenden Vorfällen mit vehementer Schärfe verurteilt wird.
Die PC-Ideologie als Erklärung: Greifbar wird das rätselhafte Verhalten von Medien und Politik, wenn man das Regelwerk der PC-Ideologie als möglichen Einflussfaktor heranzieht. Wie auch im Fall von Rotherham passten die Täter im Fall Köln nicht in das nach PC-Ideologie vorgeschriebene Bild eines Täters. Täter sind laut PC-Ideologie typischerweise privilegierte Personen, in der Regel männlich und weiß. Wer von diesem Profil abweichende Personen als Täter benennt, muss mit Gegenwind rechnen, wird vielleicht selbst als Täter stigmatisiert, da man Diskriminierung und Vorurteile vorantreibe. So hatte wohl manch ein Journalist das durchaus verständliche Gefühl, man kann es nur falsch machen – das Thema ist zu heiß, soll sich doch bitte jemand anderes daran die Finger verbrennen. Dieses Beispiel zeigt die immense Macht impliziter Verhaltensgebote. Ohne dass sich jeder einzelne Journalist oder Politiker bewusst dafür entscheiden musste, sich den Regeln der PC-Ideologie zu unterwerfen, handelte dennoch die Mehrheit entsprechend. Es ist auch gar nicht notwendig, die Regeln der PC-Ideologie explizit zu lernen, um sie dann anwenden zu können. Wie es bei sozialen Normen der Fall ist, lernen Menschen auch implizit, was man tun darf und für welches Verhalten Sanktionen drohen – so wie es der Fall ist, wenn strafbares Verhalten im Zusammenhang mit fremdländischen Tätern thematisiert wird.
Versuche der Realitätsanpassung im Sinne der PC-Ideologie: Nicht nur die (selektive) Berichterstattung, auch die nachfolgenden Diskussionen werden nachvollziehbar, wenn man diese als Versuche versteht, die Realität im Sinne der PC-Ideologie zu interpretieren. Die Taten einer Personengruppe, die laut PC-Ideologie nicht Täter sein darf (im Fall Köln Flüchtlinge, Migranten), müssen relativiert werden und die Schuld für ihre Taten muss bei anderen als den Tätern selbst verortet werden (z. B. der Gesellschaft, den Opfern). Dies erklärt die vielen Stimmen, die darauf hinwiesen, dass ja wahrscheinlich nicht alle Täter aus Nordafrika kamen. Und es erklärt auch die Frage: Woran erkenne man überhaupt gerichtsfest einen Nordafrikaner? Simone Peter, Bundesvorsitzende der Grünen, fragte, wie lange die Täter schon in Deutschland waren und »ob sie Zugang zu Integrationsmöglichkeiten hatten« – konnten sie wissen, dass Vergewaltigung in Deutschland nicht in Ordnung ist? Auch von gefühlter und tatsächlicher Sicherheit war die Rede: Die Bürger fühlten sich unsicher, tatsächlich sei die Sicherheitslage jedoch unverändert und es gäbe keinen Grund, sich unsicher zu fühlen. Die polizeiliche Kriminalstatistik allerdings gibt allen Anlass für ein Gefühl zunehmender Unsicherheit: Von 2015 auf 2016 hatte sich die Zahl der Delikte im Bereich Vergewaltigung und schwere sexuelle Nötigung mehr als verdoppelt11. Henriette Reker – Kölner Bürgermeisterin und selbst zuvor durch einen Messerangriff schwer verletzt worden – riet Frauen in vergleichbaren Situationen zu der berüchtigten »Armlänge Abstand«.
Die fatalen Konsequenzen: Gut gemeinte Ratschläge wie die Armlänge Abstand sind fatal aus vielerlei Perspektiven. Sie wirken als Offenbarungseid der schlichten Überforderung der Politiker, die anscheinend keinerlei Lösungen anzubieten haben und ihre Bürger nicht schützen können. Sie lenken den Fokus auf die Opfer, denen implizit eine Teilschuld gegeben wird – hätten sie die Armlänge Abstand eingehalten, wäre sicherlich nichts passiert. Die Reaktionen im Internet sollten nicht lange auf sich warten lassen. Empörte Nutzer, die Frau Reker fragten, warum sie bei ihrem Messerangriff nicht selbst mit gutem Beispiel vorangegangen war, waren noch die harmloseren Kommentare.
Der Vorfall: Am Silvesterabend 2016 stand Köln von Beginn an im Fokus der Beobachtung. Geprägt von den Vorfällen im Vorjahr beobachtete die gesamte Republik gespannt die Situation. Würde es wieder Übergriffe geben? Würden Politik und Medien erneut schweigen? Im Gegensatz zum Vorjahr war die Polizei 2016 mit etlichen Hundertschaften präsent. Rund 2000 Personen, die mehrheitlich zum Verdächtigenkreis des »gewaltbereiten Nordafrikaners« gehörten, wurden eingekesselt und kontrolliert. Die Polizei stellte Personalien sicher, sprach Platzverweise aus und dokumentierte ihre Tätigkeit für die Öffentlichkeit mit dem Tweet: »Am HBF werden derzeit mehrere Hundert Nafris überprüft. Infos folgen.«
Berichterstattung und öffentlicher Diskurs: Anders als im Vorjahr wurde diesmal direkt über Köln berichtet. Im Fokus standen jedoch weniger Fragen zu den Geschehnissen selbst, sondern der von der Polizei in ihrem Tweet verwendete Begriff Nafri. Nafri ist, wie wir lernen konnten, im Polizeijargon die Kurzform für »Nordafrikaner« oder »nordafrikanischer Intensivstraftäter«. Nachfolgende Fragen, die in den Medien diskutiert wurden, waren dann beispielsweise: Ist Nafri nicht eine Vorverurteilung? Schürt das Diskriminierung? Wie sieht überhaupt ein prototypischer Nafri aus? Darf man Nafri nun sagen oder ist dies politisch unkorrekt? »Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Nafri und Neger?!«, twitterte auch der Satiriker und Moderator Jan Böhmermann. Eine weitere Diskussion, die im Rahmen der Nafri-Debatte aufkam, war die um das Prinzip des Racial Profilings. Profiling bedeutet die Erstellung von Täterprofilen, die eine Reihe von Personenmerkmalen aufführen, die für eine spezifische Tat typisch sind. Die Idee ist, dass man nicht jeden kontrollieren kann und will und durch Profiling die Trefferquote erhöht. Racial Profiling bedeutet, dass im Rahmen von Polizeikontrollen die ethnische Herkunft eine Rolle bei der Auswahl spielt, wer kontrolliert wird. Vertreter der PC-Ideologie nahmen den Bericht der Polizei über die Kontrolle der Nafris als Anlass für eine generelle Kritik am Prinzip des Racial Profilings. Kritiker dieser Argumentation führen an, dass man konsequenterweise komplett auf Profiling verzichten, also jeden kontrollieren müsse, egal, wie absurd die Verdächtigung auch scheinen mag. Greise und Kinder könnten genauso gut Drogendealer sein wie junge Erwachsene, Frauen könnten genauso gewalttätige Übergriffe begehen wie Männer usw. Es wurde also nach gleichen Kontrollen für jedermann verlangt, denn alles andere wäre Diskriminierung.
Die PC-Ideologie als Erklärung: Die Aufregung um den Begriff Nafri und die verhältnismäßig zurückhaltende Diskussion um die »Nafris« selbst lassen sich wieder erklären, wenn man dies als einen Diskurs im Dienste der PC-Ideologie betrachtet. Diesmal musste kein Schweigen vorausgehen, denn es gab direkt einen Aufhänger, an dem Journalisten und Politiker sich reiben und eine im Sinne der PC-Ideologie gute Debatte anstoßen konnten. Anders als im Vorjahr war es dieses Jahr noch naheliegender, die Diskussion direkt weg von den nicht PC-Ideologie-konformen Fakten (gewaltbereit und Flüchtling passen laut PC-Ideologie nicht zusammen) hin zu einer im Sinne der PC-Ideologie zielführenden Debatten zu lenken. Die Polizei hatte mit dem Begriff Nafri eine Vorlage geliefert, die sich wunderbar eignete, im Folgenden über zahlreiche Facetten der Diskriminierung zu debattieren. Nicht nur über die sprachliche Diskriminierung, sondern eben auch über Aspekte wie Racial Profiling. Natürlich handelt es sich hierbei um berechtigte Fragen und Überlegungen von gesellschaftlicher Relevanz, für die es auch Raum geben sollte. Für den Fall Köln zeigt sich aber auch, wie abermals die öffentliche Diskussion in eine spezifische Richtung glitt, die als voller Erfolg im Sinne der PC-Ideologie verbucht werden kann: Statt über den Täter zu debattieren, wurde er zum Diskriminierungsopfer gemacht – und es ging dann nur noch darum, wie stark er diskriminiert wurde. Die Debatte versandete irgendwann – im Großen und Ganzen war man sich einig, dass die Polizei mit ihrem Vorgehen richtig gehandelt hatte. Die Polizei ihrerseits gelobte, in Zukunft sensiblere Twitter-Vokabeln zu verwenden.
Die fatalen Konsequenzen: Was neben der übergroßen Debatte um Begriffe und Labels vollkommen in den Hintergrund geriet, waren in den Mainstreammedien erneut die Fragen zu den Geschehnissen selbst: Wie kam es überhaupt, dass wieder mehr als 1000 gewaltbereite Nordafrikaner zu ebendem Platz kamen, an dem ein Jahr zuvor die sexuellen Übergriffe stattfanden? Hatten sie die gleiche Absicht wie die Täter ein Jahr zuvor? Und auch falls nicht – warum hatten sie sich dann an diesem vorbelasteten Ort eingefunden? Diskussionen hierzu fanden großteils in den alternativen und rechtsorientierten Medien statt, die die Vorfälle in ihrem Jargon kommentierten. Die Zeitung Junge Freiheit beispielsweise beschrieb die Silvesternacht 2016 als Zusammenrottung junger afrikanisch-arabischer Einwanderer, die »auch nach einem Jahr der Integrationspropaganda« gezielt und unbeeindruckt zusammengekommen sind, um »Staatsmacht und Einheimische herauszufordern und ihnen den öffentlichen Raum streitig zu machen«. Kritisiert werden in dem Artikel auch die Reaktionen der Medien und Journalisten wie dem »ZDF-Chef-progapandist« Claus Kleber, die so taten, »als wäre die Abkürzung Nafri und der polizeiliche Umgang mit ihnen das drängendste Problem und nicht die Kriegserklärung der nordafrikanischen Intensivtäter an Staat, Gesellschaft und öffentliche Ordnung«12. Derartige Berichterstattungen sind sicherlich keine ideale Grundlage für eine sachliche und ausgewogene Auseinandersetzung. Doch wenn es die einzigen Medien sind, die dies zum Thema machen, dann findet die Diskussion auch nur dort statt.
Einige wenige Politiker der etablierten Parteien, die sich zu Wort meldeten, argumentierten, die Nordafrikaner wollten ja lediglich feiern und hätten auch alles Recht dazu. Man dürfe nicht vorverurteilen – vielleicht waren sie ja ganz ohne böse Absicht an den Kölner Bahnhofsplatz gekommen. So weit, so richtig. Wir wissen tatsächlich nicht, was sich die Männer dabei gedacht oder auch nicht gedacht haben, als sie sich zum Feiern in der Silvesternacht gerade den Platz aussuchten, an dem ein Jahr zuvor zahlreiche Verbrechen verübt wurden und die Polizei hilflos danebenstand. Der Aspekt, der uns hier beschäftigt und durch den die PC-Ideologie die Spaltung der Gesellschaft vorantreibt, ist die eingespielte PC-Rhetorik seitens der öffentlichen Berichterstattung, die je nach potenzieller Tätergruppe ganz andere Standards anlegt.
Stelle man sich für einen Moment ein Szenario mit anderer Rollenbesetzung vor. Angenommen, am Tag der Arbeit wären 1000 aggressive Neonazis vor der größten Moschee Deutschlands über ebenso viele Musliminnen hergefallen, hätten sie beraubt und sexuell belästigt. Und am Tag der Arbeit ein Jahr später – der Aufschrei, der durch die Republik ging, wäre gerade ein wenig abgeklungen – würden erneut 1000 Neonazis vor der gleichen Moschee aufmarschieren. Die Polizei hätte jedoch die Situation unter Kontrolle und twitterte, dass »mehrere Hundert Glatzen überprüft« würden. Würden auch in diesem Fall führende Politiker rhetorische Verrenkungen betreiben und fragen, wie denn ein Neonazi eigentlich aussähe? Würden die Mainstreammedien betonen, dass man nicht vorverurteilen dürfe, man müsse erst abwarten, ob die Neonazis wirklich die gleichen Absichten wie im Vorjahr hätten? Und überhaupt, die zentrale Frage sei doch, ob man eigentlich »Glatzen« sagen dürfe – könnten solche Begriffe nicht Vorurteile schüren, alle über einen Kamm scheren? Folgt man der Logik der bisherigen Berichterstattung im Falle von Gewalt von rechts, ist bei dem Verhalten der Neonazis in unserem fiktiven Beispiel kaum zu leugnen, dass dieses inakzeptabel und nicht kleinzureden wäre. Hier würde die Mehrheit sicherlich zustimmen. Aber in dem Moment, in dem es nicht mehr um die eigenen Landsleute, sondern gerade die Personengruppe geht, werden andere Standards angelegt und Medien wie führende Politiker verfallen in eingespielte Beschwichtigungsrhetorik. Und ebensolche Doppelstandards sind es, die dann bei weiten Teilen der Bevölkerung zu Ungerechtigkeitsempfinden führen und nationalistischen Kräften als Beleg für die Bedrohung des Landes und unfaire Behandlung der eigenen Bevölkerung dienen (mehr dazu folgt in Akt 5 und Akt 6).
Fazit: Was von der Silvesternacht 2016 in Köln somit bleibt, ist der Gesamteindruck, dass weder Politiker noch Medien wirklich aus ihren Fehlern vom Vorjahr gelernt haben. Ironischerweise gerät gerade die Gruppe, die aus dem Vorjahr gelernt und entsprechend anders gehandelt hat – die Kölner Polizei –, in den Fokus der Kritik und ist Anlass für ähnliche Argumente und Überlegungen abseits der eigentlichen Geschehnisse wie im Vorjahr.
Eine weitere Konsequenz der PC-Ideologie im Zuge öffentlicher Berichterstattung lässt sich in Zusammenschau mit dem nächsten Fallbeispiel nachvollziehen. Bemerkenswert an den Silvester-Vorfällen sind nämlich auch die ausgebliebenen Reaktionen der Personengruppen, die sich sonst besonders lautstark für den Schutz von Frauen einsetzen. Im Internet aktive Feministinnen, die auch schon bei kleineren Benachteiligungen von Frauen Alarm schlagen, blieben im Fall von Köln mehrheitlich stumm. Dabei fragt man sich unweigerlich: Wenn massenhafte organisierte Belästigung und sexueller Missbrauch von Frauen mitten in einer Großstadt in Deutschland vor Augen der Polizei kein Grund sind, sich über fehlenden »Respekt« vor Frauen aufzuregen, was denn dann?
Ein Blick zurück ins Jahr 2013. Damals gab es einen Vorfall mit dem FDP-Politiker Rainer Brüderle, der für Feministinnen ausreichte, aktiv zu werden. Dieser geriet ins Fadenkreuz, nachdem er der Journalistin Laura Himmelreich verunglückte Komplimente machte. An einer Stuttgarter Hotelbar am Vorabend des Dreikönigstreffens stellte Himmelreich Brüderle Fragen zu seiner Politik, wohingegen Brüderle durch seine Fragen eher Interesse an der Journalistin persönlich bekundete (ihr Alter, ihre Heimatstadt, warum sie heute keinen Alkohol trinke). Dazu zählten Bemerkungen wie »Mit Frauen in dem Alter kenne ich mich aus« oder »Sie können ein Dirndl auch ausfüllen«. Diese unerwünschten Annäherungsversuche verarbeitete Himmelreich später in dem Artikel »Der Herrenwitz«, der im Stern publiziert wurde. Die Feministin Anne Witzorek und andere Frauen nahmen dies als Anlass für die Anregung eines öffentlichen Diskurses via Twitter. So wurden unter dem Twitter-Hashtag #aufschrei innerhalb einer Woche über 57.000 Nachrichten geschrieben. Die Kampagne gegen den allgegenwärtigen Sexismus in der Gesellschaft war ein voller Erfolg, wurde bundesweit in den Medien diskutiert, erfuhr internationale Beachtung und wurde mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.
Dass das Verhalten Brüderles der Journalistin gegenüber unprofessionell war, steht außer Frage. Ob es sich bei verunglückten Komplimenten tatsächlich um Sexismus, also Diskriminierung aufgrund des Geschlechts handeln kann, darüber lässt sich streiten. Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass die Community der Internet-Feministinnen, für die eine Bemerkung eines Einzelnen Anlass für eine landesweite Debatte war, im Fall von Köln und dem Fehlverhalten von rund 1000 Männern verhältnismäßig ruhig blieb. Zumal es sich im Fall Köln doch um ein sehr geeignetes Beispiel handeln sollte, um die Notwendigkeit für das Eintreten der Rechte von Frauen zu demonstrieren: tausend weibliche Opfer, systematisch begrapscht, bestohlen, vergewaltigt, traumatisiert. Zwar geht es der Political Correctness vornehmlich um die Vermeidung von Diskriminierung und Opferschutz, schwierig wird es allerdings, sich für Opfer einzusetzen, wenn die Täter laut PC-Regelwerk ebenfalls zu den Schutzbedürftigen gehören. Wie oben bereits beschrieben, war genau das in Köln der Fall, und genau das machte es auch für Feministinnen so schwer, sich für die misshandelten Frauen einzusetzen. Denn in Köln waren die Täter vorrangig Migranten – nach PC-Doktrin eine schützenswerte Minderheit. Diese geben schlechte Täter ab, man kann sie schlecht anprangern, es ist schlicht nicht PC-konform und man begäbe sich hierdurch auf das Minenfeld, das man zuvor selbst mit ausgelegt hat. Das mehrheitliche Schweigen der Feministinnen im Internet zu den Vorfällen in Köln wurde auch von verschiedenen Seiten kritisiert. Rechtsorientierte Medien bemängelten den fehlenden Aufschrei13, auf politischen Blogs fielen Äußerungen wie »Von diesem Datum an können Feministinnen nie wieder von sich behaupten, in irgendeiner Form für die Rechte von Frauen zu kämpfen«14.
Alice Schwarzer meldete sich dann als eine der ersten Feministinnen zu Wort, bezeichnete die Vorfälle in Köln als ein »Produkt einer falschen Toleranz«15 und veröffentlichte später das Buch »Der Schock – Die Silvesternacht in Köln«. Dieses wurde allerdings auch in den Reihen der Feministinnen viel kritisiert, beispielsweise als »Hatespeech im Feminismus-Mantel«16. Wirklich aktiv wurde die Gemeinde der Internet-Feministinnen nicht etwa im Sinne einer Bestürzung über die Geschehnisse in Köln, sondern im Sinne einer Ablenkung hin zu anderen Gruppen, die sich gemäß PC-Ideologie weitaus besser als Täter eignen: einheimische Männer. Auch die Feministin Anne Witzorek war wieder dabei, unter dem Hashtag #ausnahmslos positionierte sie sich: »Gegen sexualisierte Gewalt und Rassismus. Immer. Überall.« Sie forderte Hilfe und Unterstützung für alle Betroffenen und betonte ihre Solidarität »mit all denjenigen, die sexualisierte Gewalt und Belästigung erfahren und erfahren haben«. Betont wurde in der Kampagne der »konsequente Einsatz« gegen sexualisierte Gewalt. Diese dürfe nicht nur dann thematisiert werden, »wenn die Täter die vermeintlich ›Anderen‹ sind: die muslimischen, arabischen, schwarzen oder nordafrikanischen Männer«. In der öffentlichen Diskussion führte dies zu einer Bagatellisierung der Vorfälle in Köln. Es wurde geäußert, dass die Vorfälle in Köln nicht außergewöhnlich waren, dass dies bei jedem Karnevalsumzug zu beobachten sei, dass es auf dem Oktoberfest genauso schlimm zugehe und dass die meisten Vergewaltigungen von Frauen ja innerhalb des Bekannten- und Familienkreises stattfänden17. Wie die oben erwähnte Diskussion um den Nafri-Begriff bot dieses Argumentationsmuster einen Ausweg aus der Falle der PC-Ideologie. Man konnte den Fokus auf andere Probleme lenken und die Welt war (laut PC-Doktrin) wieder im Lot – das alte Muster Gut gegen Böse war wiederhergestellt. So erklärt sich letztlich auch, warum der Fall Brüderle ganz besonders gut geeignet war als Anlass für einen allgemeinen Aufschrei: Brüderle passte perfekt ins Täterprofil laut PC-Ideologie: weiß, männlich, privilegiert – jemand, der seinen Status auf Kosten anderer nutzt.
Auch im Umfeld der Rosetta-Mission der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) fand sich ein Vorfall, der den Hütern der PC-Etiquette Grund für Empörung bot. Bei der Rosetta-Mission ging es darum, einen entfernt im Sonnensystem befindlichen Kometen (»Tschurjumow-Gerassimenko«) anzusteuern und eine weitere Sonde (eine Art mobiles Weltraumlabor mit dem Namen »Philae«) abzukoppeln, die anschließend auf dem Kometen landen sollte. Eine bis zu diesem Zeitpunkt nie unternommene Pionierleistung, deren Umsetzung insgesamt 22 Jahre dauern sollte. Die Mission war ein voller Erfolg und könnte als Meilenstein in der Geschichte der Raumfahrt betrachtet werden.
Bei der anschließenden Pressekonferenz jedoch die Wendung: Anstelle von Anerkennung für die vollbrachte wissenschaftliche Leistung startete ein Shitstorm, der unter dem Namen #shirtgate (»Hemdenskandal«) in die Geschichte eingehen sollte. Anlass des Skandals war das T-Shirt des Physikers Matt Taylor, auf dem leicht bekleidete Comic-Frauen abgebildet waren. Ein klarer Fall von Sexismus wurde dem Physiker von Kämpfern der Diskriminierungsfreiheit vorgeworfen. Die Reaktionen in den Medien folgten einem charakteristischen Ablauf: Die Aufregung begann im Internet und den sozialen Medien. Feministinnen starteten mit anprangernden Tweets, eine Opposition hielt dagegen, Blogbeiträge wurden geschrieben, die Gemüter erhitzten sich immer weiter. Schließlich wurde der Vorfall auch von den Mainstreammedien aufgegriffen, die ebenso leidenschaftlich für die Rechte der Frauen eintreten wie die Internetaktivisten. Alice Bell beispielsweise, eine britische Journalistin des »Guardian«, sah in dem T-Shirt ein Symbol einer in Wissenschaft und Ingenieurwesen vorherrschenden, generell frauenfeindlichen Kultur, die beständig dafür sorge, dass sich Frauen unwohl fühlten. So standen im Fall Taylor nun die Befindlichkeiten einer schützenswerten Minderheit im Mittelpunkt – weibliche Wissenschaftler und Ingenieure –, denen sich alles andere unterordnen musste. Um den eigentlichen Anlass, die Rosetta-Mission, das Lebenswerk vieler Physiker, die mit einer außergewöhnlichen Leistung das Wissen der Menschheit erweiterten, ging es längst nicht mehr. Der sarkastische Tweet des amerikanischen Bestsellerautors John Durant brachte es auf den Punkt: »Welcher Komet? Oh mein Gott, seht euch das T-Shirt an!!« (»WHAT COMET? OMG, LOOK AT THAT SHIRT!!«)
Während dem #shirtgate-Aufschrei immerhin noch ein Kleidungsstück mit falschem Aufdruck zugrunde lag, lassen sich auch immer häufiger inszenierte oder herbeifantasierte Vorfälle beobachten, die anschließend von Medien und Aktivisten als neue Meilensteine der Diskriminierungskultur hochstilisiert werden.
Ein Vorfall, bei dem die öffentliche Empörung durch immer neue falsche Behauptungen gefüttert wurde, war der Skandal rund um den britischen Nobelpreisträger Tim Hunt. Als sich schnell herausstellte, dass viele Darstellungen unzutreffend waren, konnte das Ruder nicht mehr herumgerissen werden. Das Opfer war bereits verurteilt und der Inszenierung ausgeliefert. Die Medien hatten mitgemischt, Details und Fakten, die den Fall in ein anderes Licht gerückt hätten, wurden weitgehend ausgeblendet.
Der Vorfall: Bei einem Kongress von Wissenschaftsjournalisten in Korea machte Tim Hunt eine herablassende Bemerkung über Frauen in der Wissenschaft. Obwohl die Briten eigentlich für ihren eigensinnigen Humor bekannt sein sollten und die Bemerkung zudem offensichtlich als Humorversuch zu werten sein sollte, ließ die Empörung nicht lange auf sich warten – dafür sorgte die ebenfalls anwesende Journalismuslehrerin Connie St. Louis, die ein Zitat Hunts publik machte: »Lassen Sie mich erzählen, was mein Problem mit Frauen ist. Drei Dinge passieren, wenn sie im Labor sind: Du verliebst dich in sie, sie verlieben sich in dich und wenn du sie kritisierst, fangen sie an zu weinen.« Diese streitbare Aussage sorgte in der Folge dafür, dass Hunt international ins Kreuzfeuer von Medien und Onlineaktivisten geriet sowie seine Honorarprofessur am University College London verlor. Man muss dazu sagen, dass Hunt seine eigene Frau im Labor kennengelernt hatte.
Der Vorwurf: Hunts Äußerung über Frauen sei diskriminierend und sexistisch. Die Forderung wurde laut, er solle seine Ehrenämter ablegen – schließlich sei ein solcher Sexismus inakzeptabel.
Das Verhalten der Medien: Die Medien griffen die Geschichte erfreut auf. Wahrscheinlich war die Vorlage auch einfach zu verlockend, lieferte sie doch eine ideale Story ganz im Sinne der PC-Ideologie: Auf der einen Seite der weiße, selbstgefällige und sexistische alte Mann – ein klassischer Patriarch und damit Alpha-Feindbild zahlreicher moderner Feministinnen. Auf der anderen Seite die schwarze, jüngere Journalismuslehrerin, die sich ihm in einem Akt bemerkenswerter Zivilcourage und ohne Rücksicht auf respekteinflößende Statussymbole wie Nobelpreise entgegenstellt und ihn in seine Schranken verweist. Zu gut. Wie hätten die Medien dieser Story widerstehen können? Es passte einfach alles.
Der Faktencheck: Bei genauerem Hinsehen wurde schnell deutlich, dass der Vorwurf des Sexismus schwer nachvollziehbar war. Das Zitat war sinnenstellend aus dem Zusammenhang gerissen, was Hunt und einige seiner Kollegen auch mehrfach betonten. Im Gegenteil – so Hunt – hatte seine Rede keinen sexistischen, sondern einen selbstironischen Charakter, er bezeichnete sich gar als »chauvinistisches Monster« und schloss die Rede mit den an die Frauen in der Wissenschaft gerichteten Worten: »Ich hoffe wirklich, dass nichts Sie zurückhalten kann, vor allem nicht Monster wie ich.« Es half jedoch nichts, Versuche der Klarstellung wurden ignoriert – von solchen Schutzbehauptungen wollte man nichts wissen.
Der erneute Vorwurf: Stattdessen legte St. Louis nach. Die Behauptung Hunts und seiner Kollegen, die Rede sollte einen humoristischen Charakter gehabt haben, wies sie als absurd zurück: »Als er ausgesprochen hatte, herrschte eine absolute Totenstille. Ganz offensichtlich lachte niemand – alle Gesichter waren wie versteinert.« Es stand also Aussage gegen Aussage.
Das Verhalten der Medien: Anders als bei den Vorfällen in Köln, bei denen die Medien keine Stellung beziehen wollten und darauf verwiesen, seriöser Journalismus mache es nötig, erst abzuwarten, bis alle Fakten auf dem Tisch liegen, und Vorverurteilungen seien unter allen Umständen zu vermeiden, gaben sich die Medien hier weniger zurückhaltend. Die Variante von St. Louis schien glaubwürdig und passte außerdem gut ins Bild.
Der Faktencheck: Interessant wurde es, als ein Tonmitschnitt auftauchte, der von einer anderen Teilnehmerin zur Verfügung gestellt wurde: Statt der von St. Louis beschriebenen Totenstille im Anschluss an Hunts Worte war darauf munteres Gelächter zu hören – Hunt hatte offenbar die Wahrheit gesagt und St. Louis gelogen.
Das Verhalten der Medien: Der Shitstorm im Internet endete abrupt, die Medien schwiegen sich aus – Ende der Berichterstattung im Fall Hunt. Eine selbstkritische Aufarbeitung der vorherigen falschen Darstellung, eine Rehabilitierung oder Entschuldigung beim Beschuldigten blieben aus.
Die oben genannten Beispiele für vermeintliche Political Correctness sind ebenso vielfältig wie verstörend: Verbrechen werden aus Gründen der Political Correctness ignoriert, ein falsches T-Shirt oder ein falsch verstandener Satz dagegen machen Personen zur Zielscheibe gesellschaftlicher Kritik, die weit über das von ihnen verübte »Fehlverhalten« hinausgeht, mit teilweise gravierenden Konsequenzen für die berufliche und gesellschaftliche Existenz. In ihrer Gesamtheit geben die oben geschilderten Fälle einen guten Einblick in die Auswüchse der PC-Ideologie im Rahmen medialer Berichterstattung. Der Fall Köln zeigt, dass eine kategorische Einteilung von Personengruppen in Opfer und Täter zwangsläufig zu Widersprüchen führen muss, wenn sich die Mitglieder einer Gruppe nicht konform der PC-Rollenvorgaben verhalten. Der Fall Taylor zeigt, dass die öffentliche Positionierung für die gute Sache (hier: Kampf gegen die frauenfeindliche Kultur in der Wissenschaft) ohne große Rücksicht darauf geführt wird, wie lächerlich das tatsächliche Vergehen (hier: ein T-Shirt) war und was die öffentliche Diffamierung für diejenigen bedeutet, die im Einzelfall zum Täter deklariert werden.
Was bei der Gesamtschau der Fälle somit zurückbleibt, ist der Eindruck, dass mehr nach dem Täterprofil als nach der eigentlichen Tat beurteilt wird. Allem Anschein nach ist das Verhältnis zwischen Anlass und öffentlicher Empörung irrelevant, stattdessen folgt die öffentliche Empörung mehr und mehr der Passung zur PC-Ideologie. Verhängnisvoll ist hierbei nicht nur die Rolle des einzelnen Individuums, das in der jeweiligen Inszenierung als Täter für die Leiden einer gesamten Gruppe in anderen Kontexten herhalten muss, sondern auch der wegen der in jedem dieser Fälle PC-ideologisch gefärbten Berichterstattung einhergehende Vertrauensverlust in die Medien und in die Politik. Sicherlich kann aus einem Aufschrei in einem Fall wie dem von Brüderle keine Verpflichtung zum Aufschrei in weiteren Fällen wie denen von Köln abgeleitet werden. Konsistentes Verhalten von Organisationen, Politikern oder Medien lässt sich nicht einfordern. Tatsächlich ist Konsistenz aber in der Wahrnehmung der Bürger ein wichtiger Baustein der Glaubwürdigkeit und inkonsistente Berichterstattung ein Grund für wachsendes Misstrauen. So hält beispielsweise laut einer Befragung von 2016 zum Medienvertrauen in Deutschland (TNS emnid, 2016) nur ein Drittel der Bevölkerung die Berichterstattung der Nachrichtenmedien für wirklich unabhängig. Wenn Reaktionen in unterschiedlichen Fällen weit auseinanderklaffen, fällt es Menschen immer schwerer, der Berichterstattung zu glauben. Leser nehmen die Schiefstände und den diametral unterschiedlichen Stil der Berichterstattung zwischen verschiedenen Opfer-Täter-Konstellationen wahr, sind immer weniger bereit, dies zu akzeptieren, und suchen sich infolgedessen Alternativen.
Ein Grund dafür, dass sich trotz fataler Konsequenzen die Vorfälle verhängnisvoller Berichterstattung im Sinne der PC-Ideologie in der modernen Medienwelt dennoch weiter mehren, ist, dass diese oft nur für sich isoliert betrachtet werden. Zu schnell kommen neue Skandale oder Schreckensmeldungen nach, als dass über den Einzelfall hinaus reflektiert wird. Nach kurzer Empörung und Kopfschütteln geht es weiter zur nächsten Episode. So bleibt verborgen, dass den verschiedenen Fällen schiefer Berichterstattung, haltloser Beschuldigungen oder dysfunktionaler Äußerungen von Politikern wie die »Armlänge Abstand« der gleiche Mechanismus zugrunde liegt. Stets geht es – bewusst oder unbewusst – darum, die Regeln der PC-Ideologie einzuhalten. Zudem werden die Forderungen der Political Correctness immer extremer, wohingegen die Tendenz, ihr Einhalt zu gebieten, stetig abnimmt. Durch dieses Auseinanderlaufen gegenläufiger Kräfte ist die Eskalation der PC-Ideologie zwangsläufig kaum zu vermeiden. Die Grundlagen hierfür liegen einerseits in den Regeln der Political Correctness selbst, andererseits in dem über Medien und Politik mehrheitlich vermittelten Eindruck der Bekräftigung dieser Regeln und fehlenden Widerstand aus Angst vor sozialer Isolation.
Der angestrebte Zielzustand einer guten Welt ist innerhalb der PC-Ideologie nicht fest definiert. Vielmehr beschreiben die Grundsätze von Gleichheit und Antidiskriminierung eine vage Vorstellung einer guten Welt. Dies bereitet auch den Boden für immer extremere Forderungen im Sinne von Political Correctness und den stetigen Einsatz von Werkzeugen wie Sprachregeln in immer weiteren Anwendungsfeldern. Was anfing mit der Suche nach angemessenen Bezeichnungen für Menschen mit dunkler Hautfarbe, geht nun so weit, dass zahlreiche Wörter und Textpassagen als potenzielle »Trigger« klassifiziert werden, die nicht mehr oder nur nach Vorankündigung durch »Trigger-Warnungen« verwendet werden dürfen. Die Grenze des Akzeptablen wird beständig ausgelotet und nach kurzer Gewöhnungszeit weiter verschoben, so weit, bis die ursprüngliche Idee ins Groteske verkehrt wurde. Diskriminierung im Namen der Antidiskriminierung, Privilegien im Namen des Privilegien-abbaus, Vorurteile im Namen der Vorurteilsfreiheit.