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Grundwissen Soziale Arbeit

Herausgegeben von Rudolf Bieker

Band 14

Ayça Polat (Hrsg.)

Migration und Soziale Arbeit

Wissen, Haltung, Handlung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031703-1

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031704-8

epub:    ISBN 978-3-17-031705-5

mobi:    ISBN 978-3-17-031706-2

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Vorwort zur Reihe

Mit dem so genannten „Bologna-Prozess“ galt es neu auszutarieren, welches Wissen Studierende der Sozialen Arbeit benötigen, um trotz erheblich verkürzter Ausbildungszeiten auch weiterhin „berufliche Handlungsfähigkeit“ zu erlangen. Die Ergebnisse dieses nicht ganz schmerzfreien Abstimmungs- und Anpassungsprozesses lassen sich heute allerorten in volumigen Handbüchern nachlesen, in denen die neu entwickelten Module detailliert nach Lernzielen, Lehrinhalten, Lehrmethoden und Prüfungsformen beschrieben sind. Eine diskursive Selbstvergewisserung dieses Ausmaßes und dieser Präzision hat es vor Bologna allenfalls im Ausnahmefall gegeben.

Für Studierende bedeutet die Beschränkung der akademischen Grundausbildung auf sechs Semester, eine annähernd gleich große Stofffülle in deutlich verringerter Lernzeit bewältigen zu müssen. Die Erwartungen an das selbständige Lernen und Vertiefen des Stoffs in den eigenen vier Wänden sind deshalb deutlich gestiegen. Bologna hat das eigene Arbeitszimmer als Lernort gewissermaßen rekultiviert.

Die Idee zu der Reihe, in der das vorliegende Buch erscheint, ist vor dem Hintergrund dieser bildungspolitisch veränderten Rahmenbedingungen entstanden. Die nach und nach erscheinenden Bände sollen in kompakter Form nicht nur unabdingbares Grundwissen für das Studium der Sozialen Arbeit bereitstellen, sondern sich durch ihre Leserfreundlichkeit auch für das Selbststudium Studierender besonders eignen. Die Autor/innen der Reihe verpflichten sich diesem Ziel auf unterschiedliche Weise: durch die lernzielorientierte Begründung der ausgewählten Inhalte, durch die Begrenzung der Stoffmenge auf ein überschaubares Volumen, durch die Verständlichkeit ihrer Sprache, durch Anschaulichkeit und gezielte Theorie-Praxis-Verknüpfungen, nicht zuletzt aber auch durch lese(r)- freundliche Gestaltungselemente wie Schaubilder, Unterlegungen und andere Elemente.

 

Prof. Dr. Rudolf Bieker, Köln

Zu diesem Buch

Mehr als 20% der Bevölkerung in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Dieser Anteil ist in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen. Trotz einer auf Abschottung zielenden Flüchtlingspolitik werden auch in den kommenden Jahren Menschen aus Krisenregionen Schutz in Deutschland und Europa suchen und die Gesellschaft prägen. Obwohl Migration und die Pluralisierung von Lebensentwürfen für moderne Gesellschaften keine neuen Phänomene darstellen, kann bei Institutionen der sozialen Sicherungssysteme sowie des Bildungs- und Gesundheitswesens oftmals ein nicht selbstverständlicher Umgang mit Differenzen festgestellt werden (vgl. Mecheril, Castro Varela, Dirim, Kalpaka & Melter 2010). Grundlegend für das Professionsverständnis von Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen ist daher der Diskurs darüber, was als normal, integriert oder abweichend von den Normalitätserwartungen wahrzunehmen ist.

„Die Thematik ist grundlegend, weil die Thematisierung von Differenz(en) – in Form von Armut, Desintegration oder abweichendem Verhalten – überhaupt erst den Katalysator bereitgestellt hat für die institutionelle Etablierung Sozialer Arbeit seit dem 19. Jahrhundert. […] Potenzielle Klient_innen sozialpädagogischer Angebote waren diejenigen Personen oder Gruppen, deren Verhalten als von diesen Verhaltensstandards abweichend kategorisierbar war.“ (Kessl & Plößer 2010, S. 7)

So waren auch das Bild und das Verständnis der sozialen und pädagogischen Arbeit mit Menschen mit Migrationsgeschichte lange Zeit von einer Perspektive geprägt, die insbesondere kulturelle, religiöse sowie soziale Differenzen betonte. Als Folge dessen entwickelte sich in den 1970er Jahren die Ausländerpädagogik, die glaubte, auf die Defizite der Zielgruppe mit Migrationsgeschichte kompensatorisch wirken zu müssen.

„Das problematisierende Interesse richtete sich unter der Annahme eines Kulturkonflikts und Modernisierungsrückstands auf die Integrationsprobleme der Migrantenfamilien aus. Dabei entstand das pädagogisch instrumentalisierte Bild von verstörten, ohnmächtigen Migrantinnen und Migranten mit sprachlich-kulturellen Defiziten.“ (Yildiz 2011, S. 35)

Damit verbunden waren oftmals assimilative, also auf Anpassung zielende Integrationsverständnisse. Die ‚Interkulturelle Pädagogik‘ entwickelte sich im Zuge der immer lauter gewordenen Kritik an der ‚Ausländerpolitik‘. Die gesellschaftspolitischen Debatten um Deutschland als Einwanderungsland sorgten für einen Perspektivenwechsel. Mit der Interkulturellen Pädagogik sollten die Defizite der Ausländerpädagogik aufgehoben werden. Die Interkulturelle Pädagogik richtet sich ausdrücklich an alle Bevölkerungsschichten (ebd.).

Seit Ende der 1990er Jahre kann (auf der wissenschaftlichen Ebene) auch eine kritische Auseinandersetzung mit interkultureller Pädagogik festgestellt werden. Die Kritik macht sich vor allem daran fest, dass interkulturelle Ansätze zur Reproduktion von ‚Wir‘- und ‚Nicht-Wir‘-Unterscheidungen beitragen und somit „in Traditionen der Über- und Unterordnung verhaftet bleiben“ (Mecheril 2010, S. 23). Plädiert wird daher für ein professionelles Handeln und Denken, das Unterscheidungsformen von Menschen nach bestimmten Merkmalen wie z. B. Kultur oder Religion kritisch reflektiert und auf ihre Wirkmächtigkeit für Benachteiligungsprozesse hin hinterfragt (ebd.). Damit werden Fachkräfte der sozialen und pädagogischen Arbeit in ihrem beruflichen Alltag zunehmend mit der Frage konfrontiert, wie sie den Bedarfen der Klient*innen mit Migrationsgeschichte angemessen begegnen können, ohne dabei Stigmatisierungs- und Benachteiligungsprozesse zu erzeugen bzw. zu reproduzieren.

Der Band möchte auf diese Fragen Antworten formulieren und dabei auf verschiedene Aspekte und äußere Rahmenbedingungen eingehen, die die Arbeit von Fachkräften maßgeblich beeinflussen.

So gibt es schon bezüglich des Begriffs ‚Integration‘ sowohl im politisch-gesellschaftlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs unterschiedliche Vorstellungen darüber, was das Ziel von Integration sein sollte und wie diese Ziele zu erreichen sind. Nicht selten ist der politische Diskurs bzw. das politische Verständnis von Integration wirkmächtiger für die Rahmenbedingungen der sozialen und pädagogischen Arbeit mit Migrant*innen als wissenschaftliche Definitionen. Hierbei geht es nicht nur um die Definition von Aufgaben und Zielen, sondern auch um (materielle) Ressourcen, die für die Umsetzung der Aufgaben und Ziele zur Verfügung gestellt werden. Umso wichtiger ist es für Fachkräfte, Kenntnisse darüber zu haben, welche rechtlichen, ökonomischen und sozial-strukturellen Rahmenbedingungen die „subjektiven Möglichkeitsräume“ (Leiprecht 2011) ihrer Klient*innen beeinflussen und welche Rolle der öffentliche Diskurs und politische Entscheidungen hierbei spielen.

Auf der Grundlage wichtiger Wissenskompetenzen müssen Fachkräfte Haltungs- und Handlungskompetenzen entwickeln, die für ihr Professionsverständnis und für die Ziele, die sie mit ihrer Arbeit verbinden, von besonderer Bedeutung sind (vgl. Spiegel 2013). Das wesentliche Ziel dieses Bandes ist es daher, Wissens- und Handlungskompetenzen für Fachkräfte der Sozialen Arbeit und Pädagogik in der Migrationsgesellschaft zu vermitteln und wichtige Impulse für Haltungskompetenzen zu geben. Der Begriff „Migrationsgesellschaft“ beinhaltet, „dass mit Migration nicht allein spezifische gesellschaftliche Bereiche, sondern vielmehr Strukturen und Prozesse der Gesellschaft im Ganzen“ (Mecheril, Castro Varela, Dirim, Kalpaka & Melter 2010, S. 9) berührt werden.

Zusammenfassend geht es in diesem Band zentral um die folgenden Fragen:

•  Wie und durch welche Strukturen, Bedingungen und Diskurse werden Zugehörigkeiten und Teilhabeprozesse von Menschen mit Migrationsgeschichte geprägt?

•  Durch welche Handlungsansätze kann verhinderter Teilhabe etwas entgegengesetzt werden?

•  Was brauchen professionelle Akteur*innen dafür?

Zur Bearbeitung dieser Fragestellungen ist der Band in drei Hauptabschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit relevanten Wissenskompetenzen über die Migrationsgesellschaft. Der zweite Abschnitt widmet sich den erforderlichen Haltungskompetenzen. Im dritten Abschnitt geht es schließlich darum, durch die Darstellung von verschiedenen Handlungsansätzen und praktischen Beispielen Handlungskompetenzen für die soziale und pädagogische Arbeit in der Migrationsgesellschaft zu vermitteln. Ein besonderer Fokus wird hierbei auf die Zielgruppe der Geflüchteten gelegt, da diese eine zunehmend wichtige Rolle in der sozialen und pädagogischen Arbeit spielen. Eine ausführliche Beschreibung der Inhalte der drei Hauptabschnitte ist jedem Abschnitt vorangestellt.

Ich möchte an dieser Stelle allen Mitautor*innen für ihre wertvollen Beiträge herzlich danken. Durch unsere gute Zusammenarbeit ist dieser facettenreiche Band entstanden, der auf die vielfältigen Fragen der sozialen und pädagogischen Arbeit in der Migrationsgesellschaft fundierte Antworten formuliert und hoffentlich viel Interesse und Neugierde für eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Thematik Soziale Arbeit und Migration wecken wird. Mein persönlicher Dank gilt meiner Familie – insbesondere meinen Eltern.

 

Kiel im Dezember 2016

Prof. Dr. Ayça Polat

Images   Literatur

 

Auernheimer, G. (Hrsg.) (2010): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden: VS.

Kessl, F. & Plößer, M. (Hrsg.) (2010): Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Wiesbaden: VS.

Leiprecht, R. (Hrsg.) (2011): Diversitätsbewusste Soziale Arbeit. Schwalbach i. T.: Wochenschau.

Mecheril, P., Castro Varela, M. d. M., Dirim, I., Kalpaka, A. & Melter, C. (Hrsg.) (2010): Migrationspädagogik. Weinheim und München: Beltz.

Mecheril, P. (2010): „Kompetenzlosigkeitskompetenz“. Pädagogisches Handeln unter Einwanderungsbedingungen. In: Auernheimer, G. (Hrsg.): Interkulturelle Kompetenz und pädagogische Professionalität. Wiesbaden: VS, S. 15–34.

Spiegel, H. von (2013): Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit. München: Ernst Reinhardt.

Yildiz, Y. (2011): Von der Ausländersozialarbeit zur interkulturellen Sozialen Arbeit. Pädagogische Paradigmenwechsel zwischen provisorischer Arbeitsmigration und dauerhafter Einwanderungssituation. In: Kunz, T. & Puhl, R. (Hrsg.) (2011): Arbeitsfeld Interkulturalität. Weinheim und München: Juventa, S. 32–43.

Inhalt

  1. Vorwort zur Reihe
  2. Zu diesem Buch
  3. Teil I Wissenskompetenzen
  4. Theoretische Grundlagen
  5. 1 Migrations- und Flüchtlingspolitik im Einwanderungsland Deutschland
  6. Ayça Polat
  7. 1.1 Einwanderungsrealitäten in Deutschland
  8. 1.2 Europäische Flüchtlingspolitik – ‚Menschliche Kolletaralschäden‘ im 21. Jahrhundert
  9. 1.3 Der Einfluss des politischen Diskurses auf das Meinungsbild in der Bevölkerung
  10. 2 Rassismuskritik als konstitutives Moment
  11. Ulrike Lingen-Ali, Paul Mecheril
  12. 2.1 Begriffsbestimmungen und Hintergründe
  13. 2.2 Rassismustheorie und Rassismuskritik
  14. 2.3 Antimuslimischer Rassismus
  15. 2.4 Rassismuskritische Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft
  16. 3 Diversität und Intersektionalität
  17. Rudolf Leiprecht
  18. 3.1 Begriffsbestimmungen und Hintergründe
  19. 3.2 Analysen mit Intersektionalität
  20. 3.3 Fazit
  21. 4 Sozialarbeitswissenschaft und Migration: Zugänge nach Staub-Bernasconi, Thiersch und Böhnisch
  22. Fabian Lamp, Ayça Polat
  23. 4.1 Silvia Staub-Bernasconi
  24. 4.2 Hans Thiersch – Lebensweltorientierung
  25. 4.3 Lothar Böhnisch – Lebensbewältigung
  26. 4.4 Anwendungsmöglichkeiten
  27. 4.5 Fazit
  28. Rechtliche und sozialstrukturelle Aspekte der Lebenslagen von Menschen mit Migrationsgeschichte
  29. 1 Das Ausländer- und Asylrecht: Relevante rechtliche Aspekte der Migrationssozialarbeit
  30. Helen Ahlert, Mario Nahrwold
  31. 1.1 Das Ausländerrecht
  32. 1.2 Das Asylrecht
  33. 2 Sozialstruktur von Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland
  34. Andrea Janßen
  35. 2.1 Warum Sozialstrukturanalysen?
  36. 2.2 Neuere Erkenntnisse zur Sozialstruktur von Menschen mit Migrationsgeschichte
  37. Teil II Haltungskompetenzen
  38. Diversitätsbewusste soziale und pädagogische Arbeit in der Migrationsgesellschaft
  39. 1 Stärkung von Haltungskompetenzen
  40. Josef Freise
  41. 1.1 Das ‚Ruhen-in-Sich‘ als Voraussetzung für Wahrnehmungsfähigkeit
  42. 1.2 Haltungen in der Sozialen Arbeit
  43. 1.3 Vorschläge zur Einübung kultursensibler Haltungen
  44. 1.4 Fazit
  45. 2 Interkulturelle Orientierung und Öffnung von Institutionen Sozialer Arbeit und Pädagogik – Grundlagen und Herausforderungen
  46. Hubertus Schröer
  47. 2.1 Die Bedeutung der Organisation
  48. 2.2 Interkulturelle Orientierung und Öffnung
  49. 2.3 Paradigmenwechsel
  50. 2.4 Vorgehen
  51. 3 Verbündet-Sein im Konzept ‚Social Justice und diskriminierungskritisches Diversity‘
  52. Leah Carola Czollek, Gudrun Perko
  53. 3.1 Social Justice als partizipative Anerkennungs- und Verteilungsgerechtigkeit
  54. 3.2 Das Verhältnis von Solidarität und Verbündet-Sein
  55. 3.3 Reflexionsebenen und Handlungsmöglichkeiten im Verbündet-Sein
  56. 3.4 Fazit
  57. Teil III Handlungskompetenzen: Handlungsziele und methodische Ansätze
  58. Diversitätsbewusste Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
  59. 1 Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung mit jungen Kindern
  60. Petra Wagner
  61. 1.1 Hintergrund und Begriffsbestimmungen
  62. 1.2 Der Ansatz vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung
  63. 1.3 Fazit
  64. 2 Jugendarbeit in der Migrationsgesellschaft – Vereine und Verbände junger Menschen mit Migrationshintergrund (VJM) als jugendpolitische Akteure der Jugendverbandsarbeit
  65. Yasmine Chehata
  66. 2.1 Vereine und Verbände Jugendlicher mit Migrationshintergrund (VJM)
  67. 2.2 Das jugendpolitische Mandat der Jugendverbände in Deutschland
  68. 2.3 Die Forderung von VJM in diskriminierungs- und machtkritischer Perspektive
  69. 2.4 Zugänge und Ausschlüsse im jugendpolitischen Vertretungssystem der Jugendringe am Beispiel des Bayrischen Jugendring
  70. Diversitätsbewusste Arbeit mit Familien und älteren Menschen mit Migrationsgeschichte
  71. 1 Beratungsarbeit mit Familien mit Migrationsbiografie am Beispiel der Arbeiterwohlfahrt – Anforderungen und Ansätze
  72. Talibe Süzen
  73. 1.1 Migrationsberatung am Beispiel der Arbeiterwohlfahrt – ein Rückblick
  74. 1.2 Standards in der Beratungsarbeit mit Familien mit Migrationsbiografie
  75. 1.3 Mobile Kulturmittlerinnen – ein Praxisbeispiel
  76. 2 Muslim Resource Centre for Social Support and Integration (MRCSSI): Ein kanadisches Beispiel für die Kooperation mit Migrantenselbstorganisationen in der Familienhilfe
  77. Mohammed Baobaid
  78. 2.1 Der Nutzen kultursensibler Dienste für von häuslicher Gewalt betroffene Migrantenfamilien
  79. 2.2 Culturally Integrative Family Safety Responses (CIFSR): Ein Beispiel für einen kultursensiblen Handlungsansatz
  80. 2.3 Four Aspects Screening Tool (FAST): Eine kultursensible Methode zur Identifizierung von Risiko- und Schutzfaktoren
  81. 2.4 Das CORT-Team: Ein koordiniertes Netzwerk gegen häusliche Gewalt
  82. 2.5 Fazit
  83. 3 Kultursensible Altenhilfe in der Migrationsgesellschaft
  84. Marcus Wächter-Raquet
  85. 3.1 Demografische Alterung
  86. 3.2 Migrationsbiografien
  87. 3.3 Lebenssituation älterer Migrant*innen
  88. 3.4 Implikationen einer Altenhilfe für ältere Migrant*innen
  89. 3.5 Ausblick
  90. Soziale Arbeit mit Geflüchteten
  91. 1 Aktuelle Herausforderungen und Ansätze in der Sozialen Arbeit – Arbeitsmarktpartizipation von Geflüchteten
  92. Özlem Erdem-Wulff, Krystyna Michalski, Ayça Polat
  93. 1.1 Relevanz der Arbeitsmarktteilhabe für Geflüchtete
  94. 1.2 Rechtliche Rahmenbedingungen
  95. 1.3 Wie kann die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt gelingen?
  96. 1.4 Beispiele aus der Praxis
  97. 2 Bildungsarbeit mit jungen Geflüchteten
  98. Mona Golla
  99. 2.1 Lebenslagen junger Geflüchteter und die Auswirkungen im Kontext von Bildung
  100. 2.2 Spezialangebote für Geflüchtete versus Öffnung der Regelangebote
  101. 2.3 Spracherwerb
  102. 2.4 Zugang zum Erwerb von Schulabschlüssen
  103. 2.5 Berufswahl und Berufsvorbereitung – Bildungsziele erarbeiten
  104. 2.6 Zugang zur Berufsausbildung
  105. 2.7 Fazit
  106. 3 Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (umF) in der Kinder- und Jugendhilfe
  107. Stephan Schmieglitz, Jakob Schwille
  108. 3.1 Eckdaten und Erstaufnahme
  109. 3.2 Reguläre Inobhutnahme und Folgeunterbringung
  110. 3.3 Asylverfahren und aufenthaltsrechtliche Situation
  111. 3.4 Konsequenzen für die Soziale Arbeit mit umF
  112. Migration und Gesundheit
  113. 1 Flucht und Trauma – Herausforderungen für die Soziale und Kindheitspädagogische Arbeit
  114. Ariane Schorn
  115. 1.1 Hintergrund und Begriffsbestimmungen
  116. 1.2 Die Besonderheiten des kindlichen Traumas
  117. 1.3 Symptome traumatischer Erfahrungen
  118. 1.4 Psychobiologische Reaktionen auf ein Trauma
  119. 1.5 Traumabelastete Interaktionen
  120. 1.6 Intergenerationale Traumatisierungen
  121. 1.7 Fazit
  122. 2 Transkulturelle Aspekte von psychischen Erkrankungen und kultursensible Ansätze in der psychotherapeutischen Behandlung
  123. Jan Ilhan Kizilhan, Ali Ekber Kaya
  124. 2.1 Migrationsverlauf
  125. 2.2 Transkulturelle Selbstkonzepte in der globalisierten Welt
  126. 2.3 Kollektivistische und individualistische Haltungen und Wertvorstellungen
  127. 2.4 Krankheitsverständnis und -verarbeitung
  128. 2.5 Psychotherapeutische Behandlung im transkulturellen Kontext
  129. 2.6 Fazit
  130. 3 Aktivierende Gesundheitsförderung im Sozialraum – Erfahrungen aus Groningen
  131. Ben Boog, Han Stoffer
  132. 3.1 Grundverständnis
  133. 3.2 Das Konzept der positiven Gesundheit
  134. 3.3 Die Bewegungs- und Spielprojekte
  135. 3.4 Handlungsforschung
  136. Stichwortverzeichnis

TEIL I    WISSENSKOMPETENZEN

 

Was Sie in diesem Abschnitt lernen können

Der erste Abschnitt des Bandes ist in zwei Kapitel aufgeteilt, die sich mit Grundlagenwissen für die soziale und pädagogische Arbeit in der Migrationsgesellschaft beschäftigen. Dabei geht es im ersten Kapitel um theoretisches und politisches Grundlagenwissen über die Migrationsgesellschaft und im zweiten Kapitel um die rechtlichen und sozialstrukturellen Aspekte der Lebenslagen von Menschen mit Migrationsgeschichte.

Die Beiträge beschäftigen sich daher im Einzelnen mit den folgenden Fragen:

1.  Welche politischen Diskurse und Entscheidungen sind für den Umgang mit Migration in Deutschland relevant und prägend? Welches Selbstverständnis folgt daraus für die Gesellschaft, die Migrant*innen und die Fachkräfte der sozialen und pädagogischen Arbeit?

2.  Welche Perspektiven bieten rassismuskritische Ansätze für die Analyse der gesellschaftlichen Diskurse über Migration und Differenz?

3.  Welchen Beitrag können Konzepte diversitätsbewusster Sozialer Arbeit und Intersektionalität zum fundierten Verständnis der Lebenslagen und Bedarfe von Menschen mit Migrationsgeschichte leisten?

4.  Welche konkreten Anknüpfungspunkte gibt es zwischen theoretischen Ansätzen der Sozialarbeitswissenschaft und den Handlungsanforderungen im Umgang mit Differenz und Benachteiligung in der Migrationsgesellschaft?

5.  Welche rechtlichen und sozialstrukturellen Rahmenbedingungen prägen die Lebensbedingungen und subjektiven Möglichkeitsräume von Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte?

THEORETISCHE GRUNDLAGEN

1          Migrations- und Flüchtlingspolitik im Einwanderungsland Deutschland

Ayça Polat

Zwölf Jahre nach dem Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes und über 50 Jahre nach der Aufnahme der ersten Gastarbeiter*innen in Deutschland ist die Frage nach den Gestaltungsmöglichkeiten und Steuerungsgrenzen von Zuwanderung eine der zentralsten Fragen im politischen Diskurs. Diese Frage bewegte auch schon vor der sogenannten „Flüchtlingskrise“ politisch und gesellschaftlich viele Gemüter. Mit der Einreise von etwa einer Million Geflüchteter im Herbst 2015 ist die Frage nach den Aufnahmekapazitäten und Akzeptanzgrenzen Deutschlands noch viel stärker in den Fokus einer zumeist emotional geführten Debatte gerückt. Dabei zeigen sich im Migrationsdiskurs Reaktionsweisen, die sich rückblickend wiederholen und in ihrer Systematik eine bestimmte Funktion annehmen. Damit verbunden ist die These, dass auf politischen Entscheidungsebenen die Thematisierung von Grenzen der Aufnahmekapazität Teil einer politischen Strategie von Gesellschaften darstellen, deren Migrationspolitik im Wesentlichen auf Kontrolle und Begrenzung von Migration basiert. Hier soll also erst gar nicht der Eindruck entstehen, dass aktive Einwanderungspolitik erwünscht ist. Dies erklärt vielleicht auch die Tatsache, dass Deutschland seit 2005 ein Zuwanderungsgesetz mit dem Titel Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern hat und für die Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes sich nach wie vor keine politischen Mehrheiten finden. Auch das am 6. August 2016 in Kraft getretene Integrationsgesetz ist im Wesentlichen eine restriktive Reaktion auf die Migration von Geflüchteten.

Dieser einführende Beitrag geht auf die Grundzüge der Migrations- und Flüchtlingspolitik und den gesellschaftlichen Diskurs über Zuwanderung der letzten 50 Jahre ein und beschäftigt sich dabei mit den folgenden Fragen:

•  Welche Veränderungen sind in der Migrations- und Flüchtlingspolitik festzustellen?

•  Welche Reaktionsweisen sind zu beobachten und welche (gesetzlichen) Wirkungen haben sie?

•  Welche politischen Perspektiven sind zur Anerkennung der migrationsgesellschaftlichen Realität und damit verbundenen Anforderungen erforderlich?

Dazu wird im ersten Abschnitt zunächst auf wichtige Begriffe, Zuwanderungsgruppen und die Migrationsgeschichte Deutschlands seit 1955 eingegangen. Daran anschließend werden relevante gesetzliche Veränderungen seit 2000 vorgestellt und ein Zwischenfazit zur bisherigen Migrationspolitik gezogen. Der zweite Abschnitt setzt sich kritisch mit der bisherigen deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik auseinander und formuliert Empfehlungen für eine humanitäre Flüchtlingsschutzpolitik. Im dritten Abschnitt geht es um die Wechselwirkungen zwischen dem politischen Migrationsdiskurs und der Wahrnehmung von Geflüchteten bzw. Migrant*innen in der Bevölkerung; außerdem findet sich dort ein Plädoyer für eine Anerkennungspolitik in der Migrationsgesellschaft.

1.1           Einwanderungsrealitäten in Deutschland

Mit über 16 Millionen Personen mit Migrationshintergrund hat in Deutschland jede*r Fünfte eine Migrationsgeschichte – eine eigene oder über mindestens ein Elternteil mitgebrachte. In vielen Großstädten Deutschlands liegt dieser Anteil bei mehr als einem Drittel der Bevölkerung. Diese Tendenz zu Migration, welche die Soziologin Annette Treibel insbesondere für moderne Gesellschaften als Normalfall beschreibt (vgl. Treibel 2003), ist eine Entwicklung, die spätestens mit dem Abschluss des Anwerbeabkommens mit Italien 1955 ein fester Bestandteil gesellschaftlicher Entwicklung und Realität in Deutschland ist. Damit ist auch Einwanderung – ob gewollt oder nicht – ein wichtiger Teil jüngerer deutscher Geschichte. Wenn man bedenkt, dass mit dem Abschluss der Anwerbeabkommen mit verschiedenen Ländern Einwanderung weder geplant noch erwünscht war, lässt sich rückblickend mit den Worten des Historikers Klaus J. Bade festhalten:

„So gesehen ist es fast ein soziales Wunder, dass unter diesen Bedingungen die Integration – allen Unkenrufen und gegenteiligen Behauptungen zum Trotz – dennoch millionenfach friedlich und erfolgreich gelang.“ (Bade 2013)

Definition Migration

„Migration ist der auf Dauer angelegte bzw. dauerhaft werdende Wechsel in eine andere Gesellschaft bzw. in eine andere Region von einzelnen oder mehreren Menschen.“ (Treibel 2003, S. 21)

Als Menschen mit Migrationshintergrund oder Migrationsgeschichte werden für gewöhnlich Personen bezeichnet, die entweder selber aus einem Land migriert sind und eine nicht-deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und/oder aber mindestens ein Elternteil haben, das zugewandert ist. Die Unterscheidung zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund ist im statistischen Sinne relevant, da es hier um die Erhebung von Zugangs- und Teilhabechancen geht (vgl. den Beitrag von Janßen in diesem Band). Problematisiert wird aber an dem Begriff die fortwährende Markierung von Personen als irgendwie ‚Andere‘ (vgl. den Beitrag von Lingen-Ali und Mecheril in diesem Band).

Nicht nur die Arbeitsmigrant*innen und ihre Familien haben mit ihrer Einwanderung, die oftmals auch von ihnen selbst ursprünglich nicht geplant war, zu einer gesellschaftlichen Veränderung beigetragen. Zu den relevantesten Einwanderungsgruppen sind auch die (Spät-)Aussiedler*innen sowie Geflüchtete bzw. Kontingentflüchtlinge zu zählen. Nicht zu vergessen ist die offiziell nur schwer zu erfassende Anzahl an Menschen, die ohne einen Aufenthaltstitel in Deutschland leben. Weil für sie nur geringe Aussichten auf die Verlängerung ihres Titels bzw. den Erhalt eines Titels bestehen, lebten und leben schon immer eine nicht unbedeutende Anzahl von Menschen als Illegalisierte in Deutschland. Zunehmend wichtiger wird auch die Gruppe der transnationalen Migrant*innen.

Ursachen von Migration

Migration hat verschiedene Ursachen. Als wichtigste Ursachen gelten die Suche nach Arbeit und nach besseren Lebensperspektiven sowie der Schutz vor Verfolgung:

„Die Suche nach einem besseren Leben und einer Perspektive war und ist das Migrationsmotiv schlechthin. […] Die Grenzen zwischen freiwilliger Migration, die man ‚Arbeitsmigration‘ nennt, und erzwungener Migration, die man ‚Fluchtmigration‘ nennt, sind fließend. Millionen Menschen sahen sich früher und sehen sich noch heute zu Migration gezwungen, selbst wenn niemand eine Waffe auf sie richtet oder ihr Land überschwemmt wird.“ (Treibel 2015, S. 24)

In der Migrationsforschung wird zwischen verschiedenen Migrationsformen unterschieden, die unterschiedliche Ursachen und gesetzliche Grundlagen haben. Die rechtlichen Grundlagen, die die Einreise nach Deutschland ermöglichen, sind im Zuwanderungsgesetz geregelt (ausführliche Darstellung des Aufenthalts- und Asylgesetzes siehe den Beitrag von Ahlert und Nahrwold in diesem Band).

Relevante Zuwanderungsgruppen

1.  Staatsangehörige eines EU-Landes: Für sie gilt Freizügigkeit, d. h., jede*r EU-Bürger*in kann frei nach Deutschland einreisen und hier arbeiten.

2.  Arbeitskräfte aus Drittstaaten wie bspw. die ehemaligen Gastarbeiter*innen aus den Anwerbeländern. Die Einreisebedingungen für Arbeitskräfte aus Drittstatten wurden seit dem Anwerbestopp 1973 sehr streng reglementiert und im Aufenthaltsgesetz geregelt.

3.  Drittstaatsangehörige, die im Rahmen des Familiennachzugs einreisen (Ehegatten- oder Kindernachzug): Familiäre Migration spielt im Rahmen von Einwanderungsprozessen die (zahlenmäßig) wichtigste Rolle, auch deshalb, weil die Entscheidung zur Migration meistens nicht rein individuell erfolgt, sondern Ergebnis eines familiären ‚Abwägungsprozesses‘ ist.

4.  Asylbewerber*innen und Flüchtlinge im Rahmen von Asylverfahren, Bleiberechtsregelungen und humanitärer Kontingente.

5.  Spätaussiedler*innen: Die Zuwanderung dieser Gruppe spielte insbesondere in den 1990er Jahren eine relevante Rolle. Die gesetzliche Grundlage für diesen Status ist § 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG).

6.  Transnationale Migrant*innen: Transmigranten sind Migranten, deren alltägliches Leben abhängt von dauerhaften Verbindungen über oftmals zwei nationalstaatliche Grenzen hinweg und zwischen verschiedenen Wohnorten (vgl. Pries 1997). Moderne Transport- und Kommunikationsmittel machen diese Migrationsform für immer mehr Menschen möglich.

Rückblick auf die Migrationsgeschichte Deutschlands seit 1955

Im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Deutschland noch ein Auswanderungsland. Seit Mitte der 1950er Jahre ist es eines der wichtigsten europäischen Zielländer für Migration.

Zuwanderung der sogenannten ‚Gastarbeiter*innen‘

1955 wurde ein erstes Anwerbeabkommen mit Italien geschlossen, ab 1960 folgten weitere mit Spanien, Jugoslawien, Türkei, Griechenland, Portugal und Marokko. Der Daueraufenthalt der angeworbenen Arbeitskräfte war zunächst nicht vorgesehen, vielmehr sollten sie nach einem begrenzten Aufenthalt wieder in ihre Heimatländer zurückkehren und durch neue angeworbene Arbeitskräfte ersetzt werden. Dieses sogenannte ‚Rotationsmodell‘ stieß auf Widerstand bei den Arbeitgeber*innen, die ständig neue Arbeitskräfte anlernen mussten. Dies bewirkte, dass die Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigungen 1971 erleichtert wurde.

Mit Einsetzen der Weltwirtschaftskrise kam 1973 der Anwerbestopp, seitdem gibt es sehr restriktive Bestimmungen für Arbeitsmigrant*innen. Der Anwerbestopp stellte für den weiteren Verlauf der Einwanderungsgeschichte Deutschlands einen entscheidenden Punkt dar. Durch den Anwerbestopp gab es für die angeworbenen Gastarbeiter*innen nicht mehr die Möglichkeit, nach ihrer Rückkehr ins Herkunftsland wieder nach Deutschland einzureisen. Sie mussten sich also entscheiden, ob sie weiterhin in Deutschland bleiben und ihren Aufenthaltsstatus verfestigen oder endgültig zurückkehren. Viele entschieden sich für einen Verbleib in Deutschland und den Nachzug ihrer Familie. Von 1955 bis zum Anwerbestopp 1973 kamen 14 Millionen Migrant*innen in die Bundesrepublik Deutschland (BRD). Aber 11 Millionen zogen in diesem Zeitraum auch wieder weg (vgl. Meier-Braun 2013, S. 17). Dies stellte die Bundesregierung vor die Herausforderung, Regelungen und Maßnahmen für den Verbleib der Gastarbeiter*innen und ihrer Familien treffen zu müssen. Der Begriff Integration wurde im damaligen politischen Kontext selten benutzt. Vielmehr ging es um aufenthaltsrechtliche Aspekte und um Fragen des rechtlichen Anspruchs auf staatliche Unterstützung sowie um die schulische (sprachliche) Integration der Kinder.

Integration – ein mehrdeutiger Begriff

Integration kann als ein sozialwissenschaftlich-analytischer oder als ein normativ-politischer Begriff verstanden werden. Aus sozialwissenschaftlich-analytischer Perspektive steht die Frage im Fokus: „Wie vollziehen sich Teilhabeprozesse von Zuwander*innen in die Gesellschaft?“ Aus normativ-politischer Perspektive geht es um das Integrationsverständnis einer Gesellschaft, also welche Ziele von Integration formuliert werden und welches Verständnis von einem Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft vorliegt.

Integrationstheorien, die ein assimilatives Verständnis von Integration haben, verstehen unter Integration den Zustand der Angleichung von Zuwander*innen an die Mehrheitsgesellschaft. Der Soziologe Esser hebt vier Dimensionen der Assimilation hervor: kognitiv, strukturell, sozial und identifikativ. Er sieht in diesem Assimilationsprozess eine Stufenabfolge. Demnach ist ohne die kognitive Assimilation die Assimilation in den anderen Dimensionen nicht möglich (vgl. Esser 2001). Demgegenüber steht ein interaktionistisches Verständnis von Integration welches der Soziologe Pries folgendermaßen definiert:

„Eine so verstandene interaktionistische und teilhabeorientierte Integration setzt an der Leitvorstellung einer möglichst chancengerechten Teilhabe aller Menschen und sozialen Gruppen einer Gesellschaft […] an. Integration ist dann vor allem ein wechselseitiger Verständigungsprozess und eine Einladung zur Teilnahme an allen für wichtig erachteten gesellschaftlichen Aktivitäten und Bereiche. […] Es ist ein ‚ergebnisoffener Prozess‘. Es ist empirisch nicht belegt, welche Stufenfolge zu eigenständiger Lebensführung und sozialer Akzeptanz führt. […] Integration sollte nicht als Diktat oder ‚Anpassungskeule‘ einer ‚Mehrheitsgesellschaft‘ gegenüber irgendwelchen (konstruierten) Gruppen von ‚Anderen‘ verstanden werden. Integration ist vielmehr eine Verhandlungssache, bei der es um die Teilhabechancen aller Gruppen eines Sozialgeflechtes geht. […] [Integration] ist nicht eine ‚Entweder-oder-Entscheidung‘, sondern eine ‚Sowohl-als-auch-Einladung‘ bezüglich Loyalitäten, Heimatgefühlen, identitären Verortungen und Lebensperspektiven. […] Zunehmende transnationale Mobilität führt auch zu einer plurilokalen Einbindung […]. Je stärker eine offene Gesellschaft plurale Formen der aktiven und aktivierenden Teilhabe ermöglicht, desto attraktiver wird sie auf Dauer für Menschen unterschiedlicher Staatsangehörigkeiten, die diese Werte als Referenzrahmen teilen.“ (Pries 2014, S. 53ff., vgl. auch den Abschnitt Was bedeutet ‚Integration‘? im Beitrag von Janßen in diesem Band)

1978 wurde durch die damalige Bundesregierung das Amt eines Ausländerbeauftragten eingeführt. Der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung legte 1979 ein Memorandum vor und kritisierte darin die bisherige Ausländerpolitik. Er forderte u. a., die Anerkennung der faktischen Einwanderungsrealität in Deutschland, eine damit verbundene Förderung der Integration der Arbeitsmigrant*innen und ihrer Familien, die Erleichterung der Einbürgerung und das Kommunalwahlrecht für Drittstaatenangehörige. Letzteres ist in Deutschland nach wie vor nicht eingeführt worden. D. h., dass auch Personen mit einer Niederlassungserlaubnis nicht das Recht haben, in ihrer jeweiligen Kommune an den Wahlen teilzunehmen. Hier findet also eine Abkoppelung eines nicht unerheblichen Teils von Bürger*innen von demokratischer Willensbildung und Partizipation statt und damit auch von integralen Bestandteilen einer Demokratie (vgl. Schulte 2016).

Zuwanderung von (Spät-)Aussiedler*innen

(Spät-)Aussiedler*innen sind Personen mit deutscher Volks- oder Staatszugehörigkeit, die vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges ihren Wohnsitz jenseits der heutigen Ostgrenzen Deutschlands hatten (Polen, ehemalige Sowjetunion, ehemalige Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien) und als Folge des Krieges diese Gebiete verlassen mussten oder aus diesen Gebieten vertrieben wurden. Dazu gehören auch deren Nachfahren, wenn sie sich zum Deutschtum bekennen (§ 6 Bundesvertriebenengesetz) und heute ihr Recht auf Rückkehr nach Deutschland wahrnehmen (Schubert & Klein 2016, S. 46). Mit dem Nachweis der Volkszugehörigkeit zu Deutschland haben sie Anspruch auf eine Einwanderung und Einbürgerung. Erfolgte die Einreise in die BRD vor dem 31. Dezember 1992, werden sie als Aussiedler, erfolgte sie danach, als Spätaussiedler bezeichnet. Die Grundlage für diese Einwanderung wurde von der BRD 1953 durch das Bundesvertriebenengesetz geschaffen (vgl. Wrobs, Bund, Kohls & Gostomski 2013). Seit Bestehen der BRD sind etwa 4,5 Millionen sogenannte (Spät-)Aussiedler*innen nach Deutschland eingereist. Durch die Einführung einer restriktiven Anerkennungspraxis 1996 und einer Begrenzung der Zuzugszahlen auf 100.000 pro Jahr ist ein deutlicher Rückgang der Zuwanderungszahlen festzustellen (2012: 1782 Personen). Bedingt durch den Bürgerkrieg in der Ukraine steigen die Zahlen wieder leicht an. Im Jahr 2015 wurden über 6000 (Spät-)Aussiedler*innen in Deutschland aufgenommen. Fast drei Viertel der (Spät-)Aussiedler*innen wohnen in den vier Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen (ebd.).

Jüdische Kontingentflüchtlinge

Anfang des Jahres 1990 hatte die letzte demokratisch gewählte Regierung der DDR damit begonnen, jüdische Personen aus der Sowjetunion in einem erleichterten Verfahren einreisen zu lassen. Diese Praxis wurde nach der deutschen Einheit vom vereinigten Deutschland fortgeführt. Im Zeitraum zwischen 1991 bis 2004 konnten Juden aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion über das Kontingentflüchtlingsgesetz (HumHAG) nach Deutschland kommen und sich hier niederlassen. Jüdische Zuwanderer galten von da an als Kontingentflüchtlinge (Haug 2005, S. 3). Als zuwanderungsberechtigt galten Personen, die nach staatlichen Personenstandsurkunden selbst jüdischer Nationalität sind (in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion gilt jüdisch als Nationalität im Sinne von Volkszugehörigkeit) oder von mindestens einem jüdischen Elternteil abstammen. Zwischen 1993 und 2014 sind insgesamt 206.000 jüdische Migranten einschließlich ihrer Familienangehörigen aus den Staaten der GUS nach Deutschland zugewandert (BMI-Migrationsbericht 2016, S. 107).

Relevante gesetzliche Veränderungen

Auch wenn die Einwanderungsrealität politisch viele Jahrzehnte ignoriert worden ist, können insbesondere seit 2000 wichtige gesetzliche Veränderungen festgestellt werden, die hier in kurzer Form benannt werden:

•  Im Januar 2000 trat das neue Staatsangehörigkeitsgesetz in Kraft. Es löste ein Recht aus dem Jahre 1913 ab. Dieses Gesetz ergänzte das Abstammungsprinzip (ius sanguinis) durch Elemente des Geburtsortsprinzips (ius soli). D. h., dass seitdem nicht nur Kinder von deutschen Staatsbürger*innen die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten, sondern auch Kinder ausländischer Eltern, die in Deutschland geboren sind. Voraussetzung ist, dass mindestens ein Elternteil zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes seit acht Jahren rechtmäßig in Deutschland gelebt hat und über eine Niederlassungserlaubnis oder seit drei Jahren über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügt. Das neue Gesetz beinhaltete bis 2015 das sogenannte ‚Optionsmodell‘: Dieses verlangte von jungen Menschen mit einem deutschen Pass und dem ihres Herkunftslandes (sogenannte Doppelstaatler aus Drittstaaten) bis zur Vollendung ihres 23. Lebensjahres eine Entscheidung darüber, ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft oder die des Herkunftslandes behalten wollen. Diese Optionspflicht wurde 2015 abgeschafft.

•  2000 wurde, als Reaktion auf den Mangel an IT-Kräften, die ‚Green Card‘ eingeführt. Durch diese Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie war es erstmals seit dem Anwerbestopp von 1973, zumindest für einen Berufsbereich, wieder möglich nach Deutschland einzuwandern. Diese Verordnung hatte nur mäßig Erfolg und lief 2004 aus. 2012 wurde in Deutschland die ‚Blaue Karte EU‘ eingeführt. Damit haben die EU-Länder erstmals einen gemeinsamen Aufenthaltstitel für Hochqualifizierte (nicht nur aus IT-Berufen) aus Ländern, die außerhalb der Europäischen Union liegen (vgl. BAMF – Blaue Karte EU 2016).

•  2000 nahm die Zuwanderungskommission unter der Leitung von Rita Süssmuth ihre Arbeit auf und legte ein Jahr nach ihrer Zusammenkunft Vorschläge für ein Zuwanderungsgesetz vor. Die Verabschiedung des Gesetzes erfolgte aber erst 2005, nach einer über mehrere Jahre andauernden politischen Debatte. Dabei wurden viele Vorschläge der Kommission nicht in das Gesetz aufgenommen.

Zentral hervorzuheben ist, dass das Zuwanderungsgesetz erstmalig ein offizielles Bekenntnis zu Deutschland als einem Einwanderungsland beinhaltet und die Förderung der Integration als gesetzliche Aufgabe des Bundes verankert wurde. Erst seit 2005 werden für Neu-Zuwander*innen und ihre Familienangehörigen mit Aufenthaltsrecht bzw. Bleibeperspektive Integrationskurse angeboten und finanziell gefördert. Diese Kurse setzen sich zusammen aus einem Sprach- und Orientierungskurs (vgl. BAMF – Integrationskurse 2016).

Als weitere wichtige gesetzliche Veränderungen sind zu benennen:

•  Die Verabschiedung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) 2006: Ziel dieses Gesetzes ist es, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen (vgl. § 1 AGG). Zehn Jahre nach Bestehen des Gesetzes sieht eine im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes durchgeführte Studie einen Reformbedarf in einzelnen Bereichen. Dies betrifft bspw. die Verlängerung der Frist zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen bzw. Entschädigungen von zwei auf sechs Monate und die Einführung eines Verbandsklagerechts für Antidiskriminierungsverbände (ausführlichere Informationen zum Gesetz können unter www.antidiskriminierungsstelle.de abgerufen werden).

•  Die Verabschiedung des Gesetz zur Verbesserung der Feststellung und Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen (Anerkennungsgesetz) 2012: Dieses Gesetz ist als neues Instrument zur Sicherung des Fachkräftebedarfs in Deutschland geschaffen worden und bezweckt „die Feststellung der Gleichwertigkeit im Ausland erworbener Ausbildungsnachweise, unter Berücksichtigung sonstiger nachgewiesener Berufsqualifikationen, und inländischer Ausbildungsnachweise für bundesrechtlich geregelte Berufe, sofern die entsprechenden berufsrechtlichen Regelungen nicht etwas anderes bestimmen“ (vgl. BMBF – Anerkennungsgesetz 2016). Ziel dieses Gesetzes ist es auch, Transparenz und Einheitlichkeit in den Anerkennungsverfahren zu schaffen und die Dauer zur Überprüfung der Gleichwertigkeit auf drei Monaten zu verkürzen. Damit reagierte der Gesetzgeber auf eine immer lauter werdende Kritik an dem beruflichen ‚Anerkennungsdschungel‘ in Deutschland, der auf viele qualifizierte Zuwander*innen entmutigend wirkte.

Das Integrationsgesetz

Als Reaktion auf die Zunahme der Flüchtlingszahlen ist im August 2016 das Integrationsgesetz verabschiedet worden. Dieses Gesetz soll den „Grundsatz des Förderns und Forderns“ stärken und „zielt auf die Verbesserung der Integration von Schutzberechtigten in die Gesellschaft, insbesondere in den Arbeitsmarkt, und auf die weitere Beschleunigung der Asylverfahren“ (vgl. BMI – Integrationsgesetz 2016). Dieses Gesetz sieht einerseits vor, dass Asylbewerber*innen künftig schneller in den Arbeitsmarkt integriert werden und dafür die sogenannte Vorrangprüfung für bestimmte Regionen abgeschafft sowie eine Ausbildungsförderung für Asylbewerber*innen bereitgestellt wird. Auch sollen 100.000 ‚Ein-Euro-Jobs‘ spezifisch für die Berufsintegration von Flüchtlingen bereitgestellt werden. Andererseits beinhaltet das Gesetz viele restriktive Maßnahmen, weshalb es bereits im Vorfeld durch Migrationsexpert*innen sowie Wohlfahrts- und Flüchtlingsverbände kritisiert worden ist. Auf einige Kritiken soll im Folgenden eingegangen werden:

•  Niederlassungserlaubnis: Anerkannte Geflüchtete sollen nicht mehr nach drei Jahren eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erhalten, sondern erst nach fünf Jahren. Die Bedingung dafür ist, dass sie ‚Integrationsleistungen‘ erbringen. Um welche Integrationsleistungen es hier geht, wird nicht klar definiert. Die Kritik richtet sich insbesondere gegen die Intention der Formulierung, dass selbst anerkannten Geflüchteten nur unter bestimmten Bedingungen eine dauerhafte Lebensperspektive in Deutschland angeboten werden soll. Dies widerspricht auch den Zielen des Zuwanderungsgesetzes.

•  Wohnsitzzuweisung: Zur Vermeidung einer Konzentration von Geflüchteten in Ballungsräumen ist eine zeitlich befristete Wohnpflicht für anerkannte Flüchtlinge eingeführt worden. Aus verschiedenen Studien ist bekannt, dass es für Integrationsprozesse von Zuwander*innen vorteilhafter ist, wenn sie in Stadtteilen leben, in denen bereits andere Migrant*innen leben, die ihre Sprache verstehen und ihnen notwendige Informationen sowie Hilfestellungen beim ‚Ankommen‘ geben können (vgl. Janßen, Polat 2006; Schader-Stiftung, 2007). Außerdem kann nach der EU-Qualifikationsrichtlinie, die für Deutschland verbindlich ist, die Bewegungsfreiheit von Menschen, denen Schutz gewährt wurde, nur dann eingeschränkt werden, wenn das auch alle anderen Drittstaatsangehörige betrifft.

•  Kürzungen von Sozialleistungen: Schutzsuchende, die Integrationsangebote nicht wahrnehmen, sollen mit Leistungskürzungen bestraft werden. Dies verstößt gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012, nach dem ein menschenwürdiges Existenzminimum gewährleistet sein muss. Außerdem ist für viele Expert*innen nicht nachvollziehbar, warum mit Sanktionen gedroht wird, wenn noch nicht einmal gewährleistet ist, dass alle berechtigten Geflüchteten an Integrationskursen teilnehmen können. Die vom BMI kalkulierten 300.000 zusätzlichen Plätze für Integrationskurse sind, gemessen an der Zahl der Berechtigten (im Juni 2016 waren es bereits 230.000), nicht ausreichend.

•  Einführung von niedrigschwelligen Arbeitsgelegenheiten (‚Ein-Euro-Jobs‘): Die Ein-Euro-Jobs als Maßnahme zur Arbeitsmarkintegration wurden ursprünglich abgeschafft, weil festgestellt wurde, dass sie, trotz eines hohen Kostenaufwands, nicht zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Arbeitssuchenden beitragen. Ähnliches wird nun für die Arbeitsmarktchancen von Geflüchteten befürchtet; zudem wird kritisiert, dass die eingeführten ‚Ein-Euro-Jobs‘ notwendige Qualifizierungs- und Sprachfördermaßnahmen be- oder verhindern (vgl. Mediendienst Integration 2016a).

Zwischenfazit – die ‚Lebenslüge vom Nicht-Einwanderungsland‘

Obwohl Deutschland schon seit den 1950er Jahren zu den wichtigsten Einwanderungsländern in Europa zählt, hat es sehr lange gedauert, diese Realität auch auf politischer Ebene anzuerkennen. Bundeskanzlerin Angela Merkel musste 2007 feststellen: „Wenn wir ehrlich sind, haben wir das Thema Integration in unserem Land zu lange auf die lange Bank geschoben“ (Meier-Braun 2013, S. 19). Spätestens mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes 2005 können Veränderungen im politischen Selbstverständnis Deutschlands wahrgenommen werden – dies gilt zumindest für die Mehrheit der Bundestagsfraktionen. Neben der Verabschiedung eines Zuwanderungsgesetzes und verschiedenen gesetzlichen Reformen finden seit 2006 Integrationsgipfel statt, ein nationaler Integrationsplan ist verabschiedet worden und 2009 wurde erstmals eine ‚Deutsche Islamkonferenz‘ durchgeführt. Außerdem wurde ein Staatsministerium für Integration und Migration im Kanzleramt eingerichtet. Die Lockerungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt betreffen, können insbesondere als eine Reaktion auf den demografischen Wandel und den Bedarf des deutschen Arbeitsmarktes betrachtet werden.

Neben den Lockerungen sind aber auch gesetzliche Verschärfungen festzustellen, wie bspw. beim Ehegattennachzug. Dieses Gesetz sieht vor, dass die Ehegatten von Drittstaatenangehörigen (wobei Länder wie bspw. Japan, USA oder Kanada nicht dazu gehören) einen Sprachtest bereits vor der Einreise erfolgreich absolvieren müssen (vgl. den Beitrag von Ahlert und Nahrwold in diesem Band).

Auch die Verschärfung der Asylgesetze in den 1990er Jahren und 2016 lassen erkennen, dass auf Zuwanderungsprozesse zumeist abgrenzende und abwehrende politische Maßnahmen folgen. Hierbei soll der Eindruck entstehen, dass mit diesen Maßnahmen auf Ängste und Sorgen in der Bevölkerung reagiert wird:

„Schon immer war Ausländerpolitik eine Art von Symbolpolitik, bei der einer vermeintlich beunruhigten Wählerschaft konsequentes Handeln vorgeführt werden sollte; sie war ein Mittel, um sich politisch zu profilieren. Die Interessen und Bedürfnisse der Minderheiten, der früheren ‚Gastarbeiter‘, Flüchtlinge, Asylsuchenden oder Spätaussiedler und ihre Integration in die Gesellschaft standen weniger im Mittelpunkt als die ‚politische Ausschlachtung‘ des Themas.“ (Meier-Braun 2013, S. 19)

Dieses Charakteristikum zeigt sich in besonders prägnanter Form in der deutschen Flüchtlingspolitik, die zunehmend durch die EU bestimmt wird.

1.2           Europäische Flüchtlingspolitik – ‚Menschliche Kolletaralschäden‘ im 21. Jahrhundert

Bereits 1949 wurde in Deutschland als Reaktion auf das Unrecht, welches vielen Menschen durch den Nationalsozialismus widerfahren ist, das Grundrecht auf Asyl in das Grundgesetz aufgenommen. Allein der Zweite Weltkrieg und seine Auswirkungen haben in Europa etwa 60 Millionen Menschen zur Flucht gezwungen und damit etwa 10% der europäischen Bevölkerung (vgl. Oltmer 2016).

In Art. 16a Abs. 1 GG ist verankert, dass politisch Verfolgten ein Asylrecht zusteht. Zudem wurde 1948 in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Art. 14 aufgenommen, der besagt: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen.“ Es folgten die Verabschiedung der Europäischen Menschenrechtskonvention und 1950 die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). 2000 hat die Europäische Union das Recht auf Asyl in die EU-Grundrechtechartagemeinsame und solidarische Regelung