Robert Gernhardt

Der kleine Gernhardt

Was war, was bleibt von A bis Z

Herausgegeben von Andrea Stoll

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Robert Gernhardt

Robert Gernhardt (1937–2006) lebte als Dichter und Schriftsteller, Maler und Zeichner in Frankfurt am Main und in der Toskana. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Heinrich-Heine-Preis und den Wilhelm-Busch-Preis. Sein umfangreiches Werk erscheint bei S. Fischer, zuletzt »Toscana mia« (2011) und »Hinter der Kurve« (2012).

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Robert Gernhardt hat von 1970 bis zu seinem Tod 2006 kontinuierlich in Schulhefte geschrieben und gezeichnet. Ein »Work in progress«, aus dem die legendären »Brunnenhefte« hervorgegangen sind. Aus diesem Fundus schöpfend, hat der Dichter und bildende Künstler noch zu Lebzeiten ein außergewöhnliches Buchprojekt mit dem Arbeitstitel »Der kleine Gernhardt« begonnen, das er nicht mehr selbst vollenden konnte. Eine Autobiographie in alphabetisch geordneten »Stich- und Hauptworten« sollte es werden, die schon in ihrem Titel so ironisch wie selbstbewusst zu erkennen gibt, dass hier Grundsätzliches verhandelt wird und sich zwischen scheinbar harmlosen Begriffen Wege zur Erschließung von Werk und Person verbergen, die es in sich haben.

Was Robert Gernhardt in seinen literarischen Miniaturen dem Augenblick entreißt, liegt vor allem im Menschlich-Allzumenschlichen und offenbart gerade darin eine unverwechselbare persönliche Haltung und gesellschaftspolitische Reflexion. Um so aktuelle Themen wie Flucht und Vertreibung geht es dabei ebenso wie um Theodor W. Adornos »Hammersatz«: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, der eine ganze Generation geprägt hat.

Ausgehend von den von Gernhardt selbst vorgesehenen Begriffen, hat die Herausgeberin Andrea Stoll das Werk mit weiteren Texten aus den »Brunnenheften« komplettiert. Entstanden ist so ein lebendiges Zeugnis von großer Tiefenschärfe und hellsichtiger Komik im typischen Gernhardt-Sound. Ein Buch, mit dem wir Robert Gernhardt so nah kommen wie nie zuvor.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: buxdesign, München

Coverabbildung: Robert Gernhardt

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-401411-1

Schau ich in den Spiegel rein

schaut ein alter Mann mich an.

»Weg, weg, du alter Mann,

geh zu deinesgleichen!«

Seh ich auf den Buchempfang,

schaun mich alte Männer an.

»Oh Entschuldigung. Ich bin

hier wohl fehl am Platze!«

Hör ich in das Radio rein,

mähren sich Senioren aus.

»Wer heut Jugendkult betreibt,

ist morgen altes Eisen.«

Seh ich mir den Fernseh an,

schauen alte Leute raus.

»Mit der Kraft der zwei Herzen

bleibst auch Du fit!«

Treff mit Polaczek, der sich als ziemlicher Apokalyptiker entpuppt: Wir lebten doch in einer Villa mit 3 Hektar Park, indes direkt am Zaun tausende auf einem Hektar kampierten: Wie lange lassen die den Zaun unangetastet?

Erstmals während der Menschheitsgeschichte gibt es kein Entweichen mehr – das Go west der endgültigen Vergangenheit. Ein kolumbianischer Großholzroder und -fäller habe ihn sehr nachdenklich gemacht – befragt, was er denn tun wolle, wenn der Wald weg und die verbleibende Erde unfruchtbar sei? Habe der geantwortet: Ich lebe noch zwanzig Jahre – das erlebe ich nicht mehr.

Die Ruppigkeit der Taxifahrer am Bahnhof: Der eine bezeichne eine Aktentasche als Gepäck, das in den Kofferraum gehöre, der zweite behauptet, bereits einen Kunden zu haben (der ist noch zehn Meter entfernt), der dritte entpuppt sich als Serbe, der die Schuld am Bosnienkrieg Genscher + den Deutschen in die Schuhe schiebt.

Ich muß zwangsläufig den antiapokalyptischen Part übernehmen: »Für mich ist das Glas nicht halbleer, sondern halbvoll.«

Ich versuche lichte Gegenbilder zu malen: Wie rasch sich die Oliven nach dem großen Frost erholt

Aber natürlich sind das nur Tropfen auf den heißen Apokalypse-Stein, ja es scheint so, als ob der sich mit jedem beschwichtigend gemeinten Argument noch auflade: Im Wirtschaftssystem, das alle Untüchtigen aussondert! Die steigende Zahl der Obdachlosen und Bettler – in New York wie in Rom wie in F/M! Die Entwurzelung weltweit! Die schmutzigen Strände noch da, wo man sich am Ende der Welt wähnt, auf den Azoren! Das alles trägt er mit leiser, ein wenig leidender Stimme vor, das alles kenne ich natürlich aus der WG.

Spannender wird es dann, wenn er von italienisch-deutschen Querelen auf Journalistenniveau berichtet: Von einer RAI-Korrespondentin, die kein Wort deutsch spricht, die sich weigert, ein Wort deutsch zu lernen, und die sich in Berlin, das sie haßt, aufhält, um dort einen Film über Berlin zu drehen.

Von einem Journalisten-Treffen, in Italien, auf welchem ein deutsches Team die Berichterstattung der RAI beklagte: Von dreißig Beiträgen über Deutschland hätten sich 27 mit Neo-Nazismus und

Apokalyptischer Blick

Der Apokalyptische Blick: Er kann sich auf den Mikro- oder den Makrokosmos richten.

B: Was willst du? Wir haben es doch gut. Sitzen auf unserer Terrasse, essen guten Salat …

A: Guten Salat? Weißt du, welche Schadstoffe solch ein Salat enthält? Blei … Kadmium … etc.

B: Aber der ist doch aus organischem Anbau!

A: Du glaubst an organischen Anbau? Du hältst es im Ernst für möglich, daß inmitten vergifteter Landschaft ein Feld unvergiftet bleiben kann …? Bzw. (makroskopisch gesehen):

A: Lass dir deinen Salat ruhig schmecken. Zwar verhungern laut einer Statistik der Unesco jede Stunde weltweit 2000 Kinder, doch wenn dir der Salat schmeckt … Bitte sehr … lass dich nicht stören …

Autobiographie

Eine Autobiographie in Stich- und Hauptworten:

Wohnen. Essen. Reden. Lieben. Rauchen. Reisen. Schreiben. Zeichnen. Verlieren. Gewinnen. Scherzen. Trauern. Hassen. Schrumpfen. Wachsen. Kochen. Schlafen. Absondern. Mitmachen. Suchen. Finden.

Das könnte schön finster werden.

Autoritäten

Es ist schon schier unglaublich, was alles in den Heranwachsenden während der 50er Jahre von institutionellen Kreisen gepumpt wurde: Ich war zwei Indoktrinationen ausgesetzt, der kirchlichen und der staatlichen.

Zwölf Jahre hatte die Nazizeit gedauert, und sie dauerte in beiden Indoktrinationen an, bis weit in

Die »Junge Schar«, das Unterhaltungs-, Belehrungs- und Informationsblatt der Ev. Jugend wurde von Karl Otto HorchHorch, Karl Otto gestaltet und gefüllt, einem Finstermann, der an Gottesurteile glaubte und empfahl, im Interesse einer sauberen Jugendgruppe keine »faulen Radieschen« als Mitglieder zuzulassen, worunter er Skeptiker und Selbstdenker verstand. Das erinnere ich ohne Einsicht in die damalige Lektüre – sie wäre schwerlich erhellend.

So wie es eine andere Lektüre bereits gewesen ist, dank C.s Bruder ist mir jener Band der »Fackel« in die Hände gefallen, der den Deutschunterricht unseres Abiturjahrgangs begleitet hat – der 3. Fackel-Band, wenn ich nicht irre, da schon 11. und 12. Klasse »Fackel« geprägt waren.

Schwer, ohne Zorn und Eifer über die Fackel-Lektüre zu reden, ich will es versuchen.

Die Herausgeber hätten ihre Haltung wohl als »wertkonservativ« oder »abendländisch« beschrieben, man darf sie ohne Scheu reaktionär nennen. Am deutlichsten wird das bei der Gedichtauswahl,

Folgt man der Fackel, so hat eine Moderne ebensowenig stattgefunden wie die Reaktion auf sie, es gab keine Revolution und keinen Nationalsozialismus, keinen Krieg und keinen Zusammenbruch – eines der wenigen Gedichte, die dunkel von dunklen Zeiten in Deutschland reden, stammt von Gertrud von le FortFort, Gertrud von le und mir fehlen die Worte, dieses Elaborat angemessen zu verdammen:

Es sollte einen seinerzeit verdummen und hat es zum Glück nicht geschafft.

Die Fackel bringt Gedichte und reflektierende Texte.

»Besinnung« auf irgendwas wird fast durchgehend gelehrt: Auf die abendländisch-christlichen Werte, auf die conditio des Menschen an sich: Warum das alles eigentlich geleistet werden muß, bleibt im Unklaren, da bestenfalls in Gegensätzen, wie dialektisch verhandelt wird und da selbst das zu Bekämpfende im Interesse der Nichtaufklärung über die Vorgänge der zurückliegenden Zeit nicht beim Namen genannt wird.

Das Werk ist im Vandenhoeck und Ruprecht Verlag Göttingen erschienen, ein Herausgebergremium zeichnet für den Inhalt verantwortlich.

Es wäre sicherlich aufschlußreich, die Viten dieser Herren vor dieser Tätigkeit kennenzulernen – allzu saubere Westen können die nicht gehabt haben. Aber sie hatten den Zeitgeist im Rücken. Und wir Schüler? Wir hatten glücklicherweise noch andere Informationsquellen: Da gab es das »British Centre«, später »Die Brücke«, in welcher sogar DDR-Literatur zu finden war – »Die Westmark fällt weiter« von

Bahnfahren

In Hamburg fällt das Stellwerk aus, nichts läuft mehr, und das schon seit Stunden.

Im Reisezentrum, in dem ich die Fahrkarte kaufe, verliert niemand ein Wort über diesen Umstand, erste Irritationen, als ich auf der Schalttafel sehe, daß der 13 Uhr 37 immer noch angeführt ist, der 14 Uhr 37 noch nicht. Dann eine ziemlich verhallte Lautsprecherdurchsage: Schaden … Verspätungen auf unbestimmte Zeit …

Mittlerweile ist deutlich, daß der Bahnhof unnormal funktioniert: Unnormal viele Menschen auf Bahnsteigen vor Telefonzellen.

Eine sehr undeutliche Durchsage empfiehlt, mit der S-Bahn nach Harburg zu fahren, dort warte der 37er – nun ein 47er-Zug. In Harburg macht es Schwierigkeiten, den Zug zu finden, schließlich habe ich einen Platz – ohne Probleme, da keine Reservierungen gelten. Mit 40 Minuten Verspätung geht

– Die Reservierungen gelten nicht.

– Es sind unsere Plätze.

– Da ist nichts reserviert, da alles durcheinandergebracht worden ist. Aber schauen Sie mal hinter Ihnen sind zwei gegenüberliegende Plätze frei – das Pendant zu diesen. Nehmen Sie die.

– Wir hatten aber diese.

– Die kriegen Sie aber nicht.

– Das werden wir nochmal sehn. Das wird der Schaffner entscheiden.

– Setzen Sie sich doch auf die beiden Plätze, sonst tut es ein anderer. Hier ist nichts reserviert.

Schließlich tun sie das, die Frau unter Protest: Also das dürfte es eigentlich nicht geben.

Bauen

Ankunft in Montaio, mit leichter Bänglichkeit wg. des begonnenen Capanna-Ausbaus, und es wiederholt sich, was mir bereits vor 23 Jahren widerfuhr, als

Und wieder geschah, was bereits vor 23 Jahren passierte, nur ging es noch schneller: Während ich die Türstürze nach 3 Tagen nicht mehr schlecht und nach fünfen gut fand, befanden LGehebe-Gernhardt, Almut»L.« → Almut Gehebe-Gernhardt. und ich bereits am Morgen nach der Ankunft, ein durchgehendes Fenster sei bei einem Schlaf + Ruheraum Unsinn: So, mit zwei kleinen wirke der Raum intim + südlich. Ein durchgehendes Innsbruck. Außerdem war die Lösung im Plan verzeichnet – wir hatten ihn nicht sorgfältig gelesen.

Die Capanna präludiert Siena: Es ist eines, sich in gemachte Nester oder gelegte Eier zu setzen, ein anderes, selbst ein solches Nest zu bauen und ein solches Ei darein zu legen: Man kann dafür haftbar gemacht werden: Ach so sieht dem sein Idealnest aus! Ach das stellt er sich unter einem gelegten Ei vor!

Wer baut, hat entweder Interessen finanzieller Art oder Interessen persönlicher Art. Im ersten Fall braucht er eine dicke Haut, im zweiten wäre eine dünne zu begrüßen, in beiden Fällen ist eine Haut vonnöten – wer die nicht hat, traut sich gar nicht zu bauen.

Zumal dann, wenn er dergleichen schon mal veranlaßt hat. Dann weiß er, was ›Bauen‹ bedeutet: Unordnung verbreiten und Tatsachen schaffen.

Wobei die Unordnung noch zu verkraften wäre, die den Tatsachen vorausgeht: Erde wird aufgerissen, Grün wird zerstampft. Abraum häuft sich, Materialien stapeln sich.

Das alles ist reversibel, die Tatsachen sind es nicht: Wo bisher nichts war, ist nun etwas. Wo bisher Aussicht war, ist nun keine. Wo bisher Natur war, ist nun Architektur.

Denn ob Neubau, Umbau oder Ausbau: Anfangs war der Bauherr Herr nicht über den einen Bau,

Wer die Vermutung nahelegt, er wolle, daß ein von ihm veranlaßter Bau soundso aussehe, provoziert die Reaktion: So siehst du aus!

Ertappt! – keine so angenehme Erfahrung für jemanden mit dünner Haut, weshalb er auch das Bauen gerne denen mit dicker Haut überläßt, nur: Was ist damit gewonnen? Auf jeden Fall geht viel verloren: Ein jeder Dickhäutige richtete unendlich mehr Schaden in Sachen Natur und Architektur an als eine Legion Dünnhäutiger, und wenn die alle von ihren

Aber für wen schreibe ich eigentlich diese verdrehten Zeilen?

Letzten Endes für jene, die jeden Bauherrn, auch mich, seit jeher mit Mißtrauen beobachtet, ja mit Hass verfolgt haben. ›Hauseigentümer‹, ›Wohnungseigner‹, ›Ferienhausbesitzer‹ gar ›Bauherr‹ – sie alle hatten jenen Rubikon überschritten, der in den 60ern, 70ern die Ausgebeuteten von den Ausbeutern schied, wobei die Ausbeutung bereits damit begann, daß jemand eine wie immer geartete Miete verlangte.

60AdornoAdorno, Theodor W.SartreSartre, Jean-Paul