Vorwort

Die Bibel ist voller Geschichten über alle Arten von Migra­tion. Wir lesen von Männern und Frauen, die ihre Heimat verlassen, weil sie von Gott einen besonderen Auftrag erhalten haben. Andere werden aus ihrem Heimatland vertrieben oder fliehen vor Hunger, Unterdrückung, Krieg und Verfolgung. Die Geschichten sind sehr lebensnah erzählt und schildern das Schicksal der Flüchtlinge auf bewegende Weise. Die Aus- und Einwanderer in der Bibel machen ähnliche Erfahrungen wie heutige Migranten. Nie vergessen sie das Land ihrer Geburt. Es bleibt immer ein Stück ihrer eigenen Identität. Auch ihren Glauben lassen sie nicht hinter sich, sondern bewahren ihn.

Man kann die biblischen Geschichten über Migranten auf unterschiedliche Weise lesen. Entweder interpretieren wir sie als Erzählungen aus lang vergangener Zeit ohne weiteren Bezug zum heutigen Leben. Oder wir lesen sie vor dem Hintergrund der Erfahrung heutiger Migration. In diesem Buch haben wir uns für die zweite Möglichkeit entschieden. Denn so kann das Wort Gottes für uns lebendig werden. Es kann zu uns sprechen und uns als Christen für die Herausforderungen der weltweiten Migrationsbewegungen in unserer Zeit sensibilisieren. Aber vor allem möchten wir mit diesen Geschichten alle Migranten ermutigen und stärken.

Nach einer Statistik der Vereinten Nationen gibt es 230 Millionen Migranten auf der Welt. Große Menschengruppen fliehen in fremde Länder oder innerhalb eines Landes. Das ist nichts Neues. Dass Menschen an andere Orte vertrieben wurden, gab es schon immer. Geschichtliche Ereignisse und anthropologische Analysen zeigen, dass das Wandern zu den Wesensmerkmalen des Menschen gehört. Menschen verlassen ihren Heimatort und leben anderswo als Einwanderer. Freilich sind sie nun Fremde, und das tägliche Leben hat für sie sowohl gute als auch schlechte Seiten. So ist das schon seit jeher.

Schon das erste Glaubensbekenntnis in der Bibel nimmt Bezug auf die Flucht Abrahams nach Ägypten: »Mein Vorfahr war ein heimatloser Aramäer. Als er am Verhungern war, zog er mit seiner Familie nach Ägypten und lebte dort als Fremder.« (5Mose/Deuteronomium 26,5) Es gibt nur wenige wichtige Ereignisse in der Bibel, die nichts mit Wanderbewegungen zu tun haben, ob nun aus wirtschaftlichen Gründen, aus dem Wunsch, einem Familienmitglied nah zu sein, weil ein Krieg ausbricht oder aus anderen Gründen. Selbst Jesus Christus, der Sohn Gottes, kam aus Liebe zu den Menschen als Fremder auf die Erde (Philipper 2,6-7). Er wurde ein Mensch mit Fleisch und Blut, um uns den wahren Weg zu Gott zu zeigen. Wir erwarten im Glauben das versprochene Kommen der himmlischen Stadt auf die Erde am Ende der Zeit. Dies wird die ewige Stadt sein, in der es kein Weinen und kein Leid mehr geben wird. Denn Gott, ihr Herrscher, wird wie eine Mutter alle Tränen seiner Töchter und Söhne, der ewigen Migranten, abwischen.

In dem folgenden Zeugnis macht der Migrant Carlos deutlich, dass in jedem von uns etwas von einem Migranten steckt.

Meine Geschichte gleicht denen vieler anderer Menschen. Vor 29 Jahren kam ich in Caracas an. Ich kam von Argentinien, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Meine Familie und ich leben nun seit 13 Jahren in Israel. Wir haben Zeiten von Freude, Traurigkeit, Misserfolg und Erfolg durchlebt. Ich fühle mich gut. Wenn ich zurückschaue, ist da Heimweh nach dem Land, in dem ich geboren wurde. Wenn ich nach vorn schaue, hoffe ich auf Erfolg mit unserem Geschäft. Ich bin davon überzeugt, dass das Bedürfnis, unseren Horizont zu erweitern, etwas ist, das zu unserer DNA gehört, es liegt uns im Blut, auch in unserer Zeit. Es gehört zur Evolution. So haben wir unseren schönen blauen Planeten bevölkert. Alles verändert sich, aber wir ziehen weiter über die Erde. Ich träume von dem Tag, an dem wir einst reisen können, wohin immer wir wollen.1

Die meisten Menschen machen sich die Entscheidung zum Auswandern nicht leicht. Andere Sitten und Bräuche, die Notwendigkeit, eine neue Sprache zu lernen, Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden, Fragen der Religion und vieles anderes stellen große Herausforderungen dar. Wenn Menschen auswandern, ohne an dem Ort, an dem sie leben wollen, Bekannte oder Unterstützer zu haben, haben sie es besonders schwer. Wenn sie die bürokratischen Prozeduren bei den Einwanderungsbehörden nicht kennen, wird das Erlangen der nötigen Papiere viel Arbeit, Kosten und manche Enttäuschungen mit sich bringen. Außerdem müssen sie etwas über das Leben in dem Zielland wissen. Sie müssen wissen, welche Gewohnheiten Anstoß erregen und welches Verhalten gut ankommt. Sie müssen ehrlich, klug und scharfsinnig handeln, um als Fremde akzeptiert zu werden. Natürlich garantiert das noch nicht, dass sie glücklich sein und Erfolg haben werden. Aber sie werden mehr gute als schlechte Erfahrungen machen.

Um die biblischen Geschichten mit den Augen heutiger Migranten sehen zu können, muss man etwas über ihre Lebenswirklichkeit wissen. Dann kann das Wort Gottes Bedeutung bekommen und Leben verändern. Der Welt­entwicklungsbericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) über Migration und mensch­liche Entwicklung2 zeigt uns, dass viele Vorstellungen, die die Menschen über Migranten haben, falsch sind, zum Beispiel: »sie nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg«, »sie klauen« oder »sie liegen uns Steuerzahlern auf der Tasche«.

Die Forschung zeigt jedoch, dass im Allgemeinen beide Seiten profitieren, die Zuwanderer und die Einheimischen. Beide erweitern ihren Horizont und lernen Neues hinzu. Die Begabungen und Fähigkeiten der Einwanderer ergänzen die Ressourcen des Landes, in das sie gekommen sind. Wenn sie erfolgreich sind, helfen sie nicht nur sich selbst und ihren Familien in der Ferne, sondern auch der Gesellschaft, in der sie als Einwanderer leben. Sicher, es kommt nicht jeder voran. Einsamkeit, Zurückweisungen, ein fehlender Arbeitsplatz, Krankheit, Probleme mit den Behörden etc. sind belastende Faktoren, die es ihnen schwer machen, sich ihre Träume zu erfüllen. Wenn Vertriebene oder Flüchtlinge aus Kriegsgebieten kommen oder aus Gegenden, in denen die Gewalt grassiert, werden sie sich besonders schwertun. Sie haben ihre Heimat ja nicht freiwillig verlassen. Aber in der überwiegenden Zahl der Fälle ziehen die Menschen aus eigenem Entschluss fort, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Wie Ban Ki-Moon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, es ausdrückt: »Migration ist ein idealer Weg, um Armut zu reduzieren und neue Möglichkeiten zu schaffen.«

Man könnte meinen, dass die großen Migrationsbewegungen von den armen Ländern in die reichen führen. Nach dem UNDP-Bericht gibt es allerdings mehr Menschen, die innerhalb eines Landes auf der Flucht sind oder umziehen (740 Millionen), als Menschen, die von einem armen Land in ein reiches ziehen (70 Millionen). Und nicht nur das, die Wanderbewegungen von einem reichen Land in ein anderes reiches Land sind mit 200 Millionen ebenfalls zahlreicher als die von einem armen in ein reiches Land. Diese Zahlen vermitteln uns eine ausgewogenere Sicht auf das Phänomen der Migration.

Tauchen wir nun ein in die faszinierende Welt der Bibel und lassen uns anrühren von den spannenden und bewegenden Geschichten, die sie zu erzählen weiß.

1 So in einem Artikel auf www.bbc.com/mundo am 9. März 2004.

2 Human Development Report 2009. Overcoming barriers: Human mobility and development (Weltentwicklungsbericht 2009. Barrieren überwinden: Migration und menschliche Entwicklung). New York: UNDP, 2009: 2-5.

Die Nähe zur Familie als Auswanderungsgrund

Wenn Kinder erwachsen werden, ziehen sie oft weit weg von zu Hause. Die zurückgelassenen Familienmitglieder, insbesondere die Eltern, vermissen sie schmerzlich und können sie nicht vergessen. Manchmal wird ihre Sehnsucht so groß, dass sie sich sogar entschließen, ihnen hinterherzuziehen, um ihnen nahe zu sein. Sie haben Angst, sie könnten sie vor ihrem Tod nicht mehr wiedersehen. Und den Kindern, die weit weg wohnen, geht es genauso. Für sie kann es eine große Hilfe sein, in dem Land, in dem sie nun leben, enge Verwandte um sich zu haben.

Der Wunsch, nahe bei der Familie zu sein, hat aber noch einen anderen Aspekt: Selbst wenn sich Einwanderer in ihrer neuen Heimat gut schlagen und ihre Träume verwirklichen können, bleibt in ihnen doch häufig die Sehnsucht wach, in das Land ihrer Vorfahren zurückzukehren. Sie wollen nicht fern ihrer Heimat sterben, sondern dort beerdigt werden, wo auch ihre Eltern begraben sind. Genau so ging es auch Jakob, dem Stammvater des Volkes Israel.

Ein glückliches Wiedersehen nach langer Zeit
Jakob zieht zu Josef

Josef war einer der zwölf Söhne von Jakob. Als junger Mann war er von seiner Familie getrennt worden. Seine eifersüchtigen Brüder hatten ihn an Händler verkauft und Josef war in Ägypten gelandet. Sein Vater Jakob liebte ihn sehr. Aber die Brüder überzeugten ihn, dass ein wildes Tier Josef getötet habe. Als dann eine schreckliche Hungersnot in Kanaan herrschte und die Brüder nach Ägypten reisten, um dort Getreide zu kaufen, trafen sie Josef wieder. Er hatte es außerordentlich weit gebracht und war die rechte Hand des Pharaos geworden, des Königs von Ägypten. Josef war ein guter Mensch und verzieh seinen Brüdern. Diese kehrten nach Kanaan zurück und berichte­ten ihrem Vater, was sie erlebt hatten. Jakob war außer sich vor Freude, weil sein Traum, bei Josef zu sein und ihn in den Armen zu halten, plötzlich zum Greifen nah war.

In einer Vision versicherte Gott Jakob, dass es richtig sei, nach Ägypten zu ziehen. Und außerdem hatte er die Aussicht auf alle nötige Unterstützung für einen guten Neustart in Ägypten. Schließlich arbeitete sein Sohn für den Pharao! Nichtsdestotrotz bemühte er sich sehr, einige wichtige Dinge vor seiner Ankunft in Erfahrung zu bringen. Er schickte seinen Sohn Juda voraus, um seine Ankunft anzukündigen und ein Treffen zu vereinbaren.

Als Einwanderer hatte Josef in Ägypten viele Höhen und Tiefen durchgemacht, er war sogar falsch beschuldigt und ins Gefängnis geworfen worden. Aber jetzt war er rehabilitiert. Vielleicht hatte er immer schon davon geträumt, ­eines Tages seinen Vater wiederzusehen. Jetzt war die Zeit gekommen: Der Traum, seinen Vater zu umarmen, würde wahr werden.

So ging für Jakob und seine Familie alles gut aus. Doch wie bei vielen Einwanderern, so wurde auch bei Jakob der Wunsch, an der Seite seiner Vorfahren begraben zu werden, im Alter immer mächtiger. Lesen Sie die Geschichte, wie die Bibel sie erzählt. (Auszüge aus 1Mose/Genesis 45–47)

Die Brüder kamen ins Land Kanaan zu ihrem Vater Jakob und berichteten ihm: »Josef lebt! Denk doch, er ist Herr über ganz Ägypten!«

Aber ihr Vater rührte sich nicht; er glaubte ihnen nicht. Sie erzählten ausführlich, wie es ihnen ergangen war und was Josef ihnen aufgetragen hatte. Sie zeigten ihm auch die ­Wagen, die er für ihn mitgeschickt hatte.

Da endlich kam Leben in Jakob. »Kein Wort mehr!«, rief er. »Josef lebt noch! Ich muss hin und ihn sehen, ehe ich sterbe!«

Jakob machte sich auf den Weg; seinen ganzen Besitz nahm er mit. Als er nach Beerscheba kam, opferte er dort dem Gott seines Vaters Isaak Tiere von seinen Herden und hielt ein Opfermahl.

In der Nacht erschien ihm Gott und sagte: »Jakob! Jakob!«

»Ja?«, antwortete er.

Gott sagte zu ihm: »Ich bin Gott, der Gott deines Vaters. Hab keine Angst, nach Ägypten zu ziehen! Ich will deine Nachkommen dort zu einem großen Volk machen. Ich selbst werde mit dir gehen, ich werde dich auch wieder zurückbringen; und wenn du stirbst, wird dir Josef die Augen zudrücken.«

Von Beerscheba aus ging die Reise weiter. Die Söhne Jakobs setzten ihren Vater, ihre Frauen und ihre kleinen Kinder in die Wagen, die der Pharao mitgeschickt hatte. Mit ­ihren Herden und ihrem ganzen Besitz, den sie im Land Kanaan erworben hatten, kamen sie nach Ägypten, Jakob und seine ganze Familie, die Söhne und Töchter, die Enkel und Enkelinnen. Seine ganze Nachkommenschaft brachte Jakob mit sich nach Ägypten.

Jakob hatte Juda vorausgeschickt, um Josef seine Ankunft anzukündigen und ihn zu sich nach Goschen zu rufen. Josef ließ seinen Wagen anspannen und fuhr seinem Vater entgegen.

Als Jakob ihn sah, schloss er ihn in die Arme und weinte lange. »Jetzt sterbe ich gern«, sagte Jakob. »Ich habe dich wiedergesehen und weiß, dass du noch am Leben bist.«

Dann sagte Josef zu seinen Brüdern und ihren Angehörigen: »Ich gehe jetzt zum Pharao und melde ihm, dass ihr aus Kanaan zu mir gekommen seid. Ich sage ihm, dass ihr Viehhirten seid und eure Schafe, Ziegen, Rinder und euren übrigen Besitz mitgebracht habt.

Wenn der Pharao euch zu sich rufen lässt und euch nach eurem Beruf fragt, dann antwortet ihm: ›Wir sind von Jugend an Viehhirten gewesen wie unsere Vorfahren.‹ Dann wird er euch erlauben, hier in der Provinz Goschen zu bleiben.«

Die Ägypter haben nämlich einen Abscheu vor Schaf- und Ziegenhirten; sie gelten bei ihnen als unrein.

Josef ging zum Pharao und berichtete ihm: »Mein Vater und meine Brüder sind aus dem Land Kanaan hierhergekommen. Ihre Herden und ihren ganzen Besitz haben sie mitgebracht. Sie sind in der Provinz Goschen.«

Josef hatte fünf von seinen Brüdern mitgebracht und stellte sie dem Pharao vor.

»Was ist euer Beruf?«, fragte der Pharao, und sie antworteten: »Wir sind Schafhirten, großer König, wie es schon unsere Vorfahren waren.«

Weiter sagten sie: »Wir möchten gern eine Zeit lang als Gäste in Ägypten leben. Im Land Kanaan finden unsere Herden wegen der Dürre keine Weide mehr. Erlaube uns, mächtiger Herr, dass wir in der Provinz Goschen bleiben.«

Der Pharao sagte zu Josef: »Dein Vater und deine Brüder sind also zu dir gekommen! Ganz Ägypten steht dir zur Verfügung. Lass sie im besten Teil des Landes wohnen; sie können in Goschen bleiben. Und wenn unter ihnen tüchtige Leute sind, dann vertraue ihnen die Verantwortung für meine eigenen Herden an.«

Josef brachte auch seinen Vater Jakob zum Pharao. Jakob begrüßte den Herrscher mit einem Segenswunsch.

Der Pharao fragte ihn nach seinem Alter und Jakob erwiderte: »Hundertunddreißig Jahre lebe ich jetzt als Fremder auf dieser Erde. Mein Leben ist kurz und leidvoll im Vergleich zu dem meiner Vorfahren, die heimatlos wie ich auf dieser Erde lebten.«

Jakob verabschiedete sich vom Pharao mit einem Segenswunsch.

Wie der Pharao befohlen hatte, ließ Josef seinen Vater und seine Brüder in der Gegend von Ramses, im besten Teil des Landes, wohnen und gab ihnen dort Grundbesitz. Er sorgte auch dafür, dass seine Angehörigen Brot zugeteilt bekamen, jede Familie nach ihrer Kopfzahl.

Nun war also das Israel-Volk nach Ägypten gekommen und lebte in der Provinz Goschen. Sie waren fruchtbar, vermehrten sich und wurden sehr zahlreich.

Jakob lebte noch siebzehn Jahre in Ägypten und erreichte ein Alter von 147 Jahren. Als er sein Ende nahen fühlte, ließ er seinen Sohn Josef rufen und sagte zu ihm: »Wenn du gut zu mir sein willst, dann leg deine Hand zum Schwur zwischen meine Beine. Erweise mir Güte und Treue und begrabe mich nicht in Ägypten! Lass mich im Tod mit meinen Vorfahren vereint sein: Bring mich von hier weg und begrabe mich dort, wo sie begraben sind.«

Josef versprach ihm: »Ich werde deinen Wunsch erfüllen.«

»Schwöre es mir!«, sagte Jakob, und Josef schwor es ihm. Darauf verneigte sich Jakob anbetend auf seinem Bett.

Flucht vor dem Hunger

Hunger und Armut gehören heutzutage zu den häufigs­ten Gründen, die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat bewegen. Nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) leiden 870 Mil­lionen Menschen an Hunger. Mit anderen Worten: Einer von acht Menschen geht jeden Abend mit leerem Magen schlafen. Die meisten von ihnen leben in armen Ländern, vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika. Viele Menschen ziehen auf der Flucht vor dem Hunger von einem Teil des Landes in einen anderen oder aus ländlichen Gebieten in die Städte. Andere kämpfen darum, in ein Nachbarland oder in ein noch weiter entferntes Land zu gelangen, wenn sich dort bessere Lebensbedingungen bieten.

Die Menschen, die wegen Hunger auswandern, haben genauso wie diejenigen, die wegen Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Dürren oder vor Gewalt fliehen, mit Problemen und Widerständen zu kämpfen. Was können sie mitnehmen? Was sollen sie mit dem ­wenigen Besitz tun, den sie noch haben? Wer kann ihnen helfen, in dem neuen Land eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen? Wenn sie ohne gültige Pässe einreisen, laufen sie Gefahr, betrogen, misshandelt oder in ihr Herkunftsland zurückgeschickt zu werden. Außerdem erleben viele Migranten nach der Ankunft in einem fremden Land zunächst große Einsamkeit. Die Sitten und Bräuche sind ungewohnt und sie sprechen die Sprache nicht. Wenn sie Glück haben, treffen sie auf andere Menschen aus ihrem Herkunftsland. Häufig fühlen sich die Einheimischen – seien sie Staatsangehörige dieses Landes oder nicht – von den Neuankömmlingen bedroht. Doch nach einer Weile leben sich die Migranten meistens ein, finden Arbeit. Sie sind dann in der Lage, für ihren Unterhalt selbst aufzukommen und sogar der Familie, die sie zurückgelassen haben, Geld zu schicken. Die Jahre vergehen und manche entscheiden sich, für immer zu bleiben. ­Andere ziehen es vor, nach Hause zurückzukehren und mit dem zurückgelegten Geld dort eine Existenz aufzubauen.

Doch nicht alle Einwanderer erreichen ihre Ziele. Oder sie haben eine Zeit lang Erfolg, aber er ist nicht von Dauer. Das Land, in dem sie sich aufhalten, wird vielleicht von ­einer Wirtschaftskrise getroffen und sie müssen nach Hause zurückkehren. Sie kommen mit leeren Händen zurück und müssen wieder bei null anfangen.

In der Bibel gibt es zwei Beispiele hierfür, die ähnlich und doch unterschiedlich sind: das Buch Rut und die kurze Erzählung von der Frau aus Schunem (2Könige 8,1-6). Die Migranten im Buch Rut müssen wieder ganz von vorne anfangen, als sie zurückkehren, während es der Frau aus Schunem gelingt, nach ihrer Heimkehr ihren Besitz zurückzuerhalten.

Noch einmal von vorn anfangen
Rut und Noomi

Im Folgenden geht es um eine Frau, die zweimal ihre Heimat verließ und beide Male mit leeren Händen aufbrach. Ihr Name ist Noomi. Wegen einer Hungersnot wanderte sie mit ihrer Familie nach Moab aus. Eine Dürre hatte die Ernte zerstört. Doch Noomi erging es schlecht: Ihr Mann starb bald darauf, später starben auch ihre beiden Söhne. Sie fühlte sich völlig allein und verlassen. Und dazu waren auch ihre beiden Schwiegertöchter Witwen. Drei Witwen – eine furchtbare Tragödie!

Damals war der Tod des Ehemanns und der Söhne für eine Frau eine Katastrophe, denn Frauen zählten nicht viel. Es waren die Männer, die verantwortlich dafür waren, die Familie zu ernähren und sich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Nun fand sich Noomi also allein in einem fremden Land wieder. Glücklicherweise sprachen die Leute dort eine der semitischen Sprachen von Kanaan, die dem Hebräischen ähnlich war, sodass sie sie ohne große Schwierigkeiten lernen konnte. Zudem waren ihre Schwiegertöchter gute Menschen. Sie liebten Noomi wie ihre eigene Mutter. Aber wie so viele Einwanderer wollte Noomi nach Hause zurück. Als sie hörte, dass die Hungersnot vorbei war, beschloss sie daher, mit ihren Schwiegertöchtern heimzukehren. Ihr Volk wiederzusehen, sich zuhause zu fühlen, zu ihren alten Gewohnheiten zurückzukehren – das war für Noomi eine Wende zum Guten. Doch dann würden ihre Schwiegertöchter, die ebenfalls Witwen waren, Fremde sein! Noomi verstand ihre Situation sehr gut. Kurz nach ihrem Aufbruch bat sie daher die Schwiegertöchter, umzukehren und zu den eigenen Eltern zurückzugehen. Sie stellte sich vor, dass sie ihr Leben wieder ­aufbauen konnten, indem sie eine neue Familie in ihrer eigenen Kultur gründeten.

Vielleicht hatten die Schiegertöchter gehofft, einen von Noomis Verwandten heiraten zu können, denn das war in diesen Kulturen so üblich. Wenn ein Ehemann starb, sollte die Witwe einen seiner Brüder oder nahen Verwandten heiraten, um dem Verstorbenen Kinder zu verschaffen. Aber Noomi wusste, dass das Leben in Betlehem für sie als Fremde hart werden würde. Eine der Schwiegertöchter wollte Noomi jedoch nicht verlassen. Sie hieß Rut und war eine bemerkenswerte, kluge und fleißige Frau. Sie traf die mutige Entscheidung, in dem Land zu leben, das nicht ihr eigenes war.

Am Ende wurde die Stadt Betlehem durch die Einwanderin aus Moab gesegnet. Ja, Rut wurde schließlich sogar zur Urgroßmutter von König David und damit auch eine Urahnin von Jesus. (Rut 1–4)

Es war die Zeit, als das Volk Israel noch von Richtern geführt wurde. Weil im Land eine Hungersnot herrschte, verließ ein Mann aus Betlehem im Gebiet von Juda seine Heimatstadt und suchte mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen Zuflucht im Land Moab. Der Mann hieß Elimelech, die Frau Noomi; die Söhne waren Machlon und Kiljon. Die Familie gehörte zur Sippe Efrat, die in Betlehem in Juda lebte.

Während sie im Land Moab waren, starb Elimelech und Noomi blieb mit ihren beiden Söhnen allein zurück. Die Söhne heirateten zwei moabitische Frauen, Orpa und Rut. Aber zehn Jahre später starben auch Machlon und Kiljon, und ihre Mutter Noomi war nun ganz allein, ohne Mann und ohne Kinder.

Als sie erfuhr, dass der HERR seinem Volk geholfen hatte und es in Juda wieder zu essen gab, entschloss sie sich, das Land Moab zu verlassen und nach Juda zurückzukehren. Ihre Schwiegertöchter gingen mit.

Unterwegs sagte sie zu den beiden: »Kehrt wieder um! Geht zurück, jede ins Haus ihrer Mutter! Der HERR vergelte euch alles Gute, das ihr an den Verstorbenen und an mir getan habt. Er gebe euch wieder einen Mann und lasse euch ein neues Zuhause finden.«

Noomi küsste die beiden zum Abschied. Doch sie weinten und sagten zu ihr: »Wir verlassen dich nicht! Wir gehen mit dir zu deinem Volk.«

Noomi wehrte ab: »Kehrt doch um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Habe ich etwa noch Söhne zu erwarten, die eure Männer werden könnten? Geht, meine Töchter, kehrt um! Ich bin zu alt, um noch einmal zu hei­raten. Und selbst wenn es möglich wäre und ich es noch heute tun würde und dann Söhne zur Welt brächte – wolltet ihr etwa warten, bis sie groß geworden sind? Wolltet ihr so lange allein bleiben und auf einen Mann warten? Nein, meine Töchter! Ich kann euch nicht zumuten, dass ihr das bittere Schicksal teilt, das der HERR mir bereitet hat.«

Da weinten Rut und Orpa noch mehr. Orpa küsste ihre Schwiegermutter und nahm Abschied; aber Rut blieb bei ihr. Noomi redete ihr zu: »Du siehst, deine Schwägerin ist zu ihrem Volk und zu ihrem Gott zurückgegangen. Mach es wie sie, geh ihr nach!«

Aber Rut antwortete: »Dränge mich nicht, dich zu verlassen. Ich kehre nicht um, ich lasse dich nicht allein. Wohin du gehst, dorthin gehe ich auch; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da will auch ich sterben; dort will ich begraben werden. Der Zorn des HERRN soll mich treffen, wenn ich nicht Wort halte: Nur der Tod kann mich von dir trennen!«

Als Noomi sah, dass Rut so fest entschlossen war, gab sie es auf, sie zur Heimkehr zu überreden. So gingen die beiden miteinander bis nach Betlehem.

Als sie dort ankamen, sprach es sich sofort in der ganzen Stadt herum und die Frauen riefen: »Ist das nicht Noomi?«

»Nennt mich nicht mehr Noomi«, sagte sie, »nennt mich Mara; denn Gott, der Gewaltige, hat mir ein sehr bitteres Schicksal bereitet. Mit meinem Mann und mit zwei Söhnen bin ich von hier weggezogen; arm und ohne Beschützer lässt der HERR mich heimkehren. Warum nennt ihr mich noch Noomi? Der HERR , der Gewaltige, hat sich gegen mich gewandt und mich ins Elend gestürzt.«

So war Noomi mit ihrer moabitischen Schwiegertochter Rut wieder nach Betlehem zurückgekehrt. Dort hatte gerade die Gerstenernte begonnen.

Noomi hatte von ihrem Mann her einen Verwandten namens Boas. Er gehörte zur Sippe Elimelechs und war ein tüchtiger Mann und wohlhabender Grundbesitzer. Eines Tages sagte die Moabiterin Rut zu ihrer Schwiegermutter: »Ich will hinausgehen und Ähren sammeln, die auf dem Feld liegen geblieben sind. Ich finde schon jemand, der freundlich zu mir ist und es mir erlaubt.«

»Geh nur, meine Tochter!«, sagte Noomi.

Rut kam zu einem Feld und sammelte Ähren hinter den Männern und Frauen her, die dort das Getreide schnitten und die Garben banden und wegtrugen. Es traf sich, dass das Feld zum Besitz von Boas gehörte.

Im Lauf des Tages kam Boas selbst aus der Stadt zu seinen Leuten heraus. »Gott sei mit euch!«, begrüßte er sie und sie erwiderten: »Der HERR segne dich!«

Boas fragte den Mann, der die Aufsicht über die anderen führte: »Wohin gehört diese junge Frau?«

Er antwortete: »Es ist eine Moabiterin, die mit Noomi gekommen ist. Sie hat gefragt, ob sie die Ähren auflesen darf, die unsere Leute liegen lassen. Seit dem frühen Morgen ist sie auf den Beinen, jetzt hat sie zum ersten Mal eine Pause gemacht und sich in den Schatten gesetzt.«

Da wandte sich Boas an Rut und sagte: »Hör auf meinen Rat! Geh nicht auf ein anderes Feld, um dort Ähren zu sammeln. Bleib hier und halte dich zu meinen Knechten und Mägden. Geh hier auf dem Feld hinter ihnen her. Ich habe meinen Leuten befohlen, dich nicht zu hindern. Und wenn du Durst hast, geh zu den Krügen und trink von dem Wasser, das meine Leute sich dort schöpfen.«

Rut warf sich vor ihm zu Boden und fragte: »Wie kommt es, dass du so freundlich zu mir bist? Ich bin doch eine Fremde.«

Boas antwortete: »Ich weiß, was du seit dem Tod deines Mannes für deine Schwiegermutter getan hast; es wurde mir alles erzählt. Du hast deinen Vater und deine Mutter und deine Heimat verlassen und bist mit ihr zu einem Volk gegangen, das du vorher nicht kanntest. Der HERR vergelte dir, was du getan hast, und belohne dich reich dafür – der Gott Israels, zu dem du gekommen bist, um Schutz zu finden unter seinen Flügeln!«

»Du bist so freundlich zu mir!«, erwiderte Rut. »Du hast mich getröstet und mir Mut gemacht, obwohl ich noch viel geringer bin als eine deiner Mägde.«

Zur Essenszeit sagte Boas zu Rut: »Komm zu uns, iss von dem Brot und tunke es in den Most!« So setzte sie sich zu den Knechten und Mägden, und Boas gab ihr so reichlich geröstete Getreidekörner, dass sie sogar noch davon übrig behielt.

Als sie aufstand, um wieder Ähren zu sammeln, wies er seine Leute an: »Lasst sie auch zwischen den Garben sammeln und treibt sie nicht weg! Lasst absichtlich Ähren aus den Garben fallen, damit sie sie auflesen kann, und sagt ihr kein unfreundliches Wort!«

So sammelte Rut bis zum Abend und klopfte dann ihre Ähren aus. Sie hatte etwa 17 Kilo Gerste zusammengebracht. Sie trug alles in die Stadt und brachte es ihrer Schwiegermutter, und sie gab ihr auch, was von den gerösteten Körnern übrig geblieben war.

Noomi fragte sie: »Wo hast du heute Ähren gesammelt? Auf wessen Feld bist du gewesen? Gott segne den, der dir das erlaubt hat!«

»Der Mann, auf dessen Feld ich heute war«, antwortete Rut, »hieß Boas.«

Da sagte Noomi zu ihr: »Der HERR segne ihn! Jetzt sehe ich, dass der HERR