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Peter Szyszka

Beziehungskapital

Akzeptanz und Wertschöpfung

Verlag W. Kohlhammer

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032702-3

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pdf:      ISBN 978-3-17-032703-0

epub:   ISBN 978-3-17-032704-7

mobi:   ISBN 978-3-17-032705-4

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Inhalt

 

 

 

  1. Beziehungskapital: ein »anderer« Weg
  2. 1 Beziehungskapital und Wertschöpfung
  3. 1.1 Turbulenzen und Unsicherheit
  4. 1.2 Stakeholder-Beziehungen als ungenutzte Chancen
  5. 1.3 Beziehungskapital als immaterieller Vermögenswert
  6. 1.4 Aufbau des Bandes
  7. Teil 1 Grundlagen und Anwendung
  8. 2 Was ist Beziehungskapital?
  9. 2.1 Beziehungskapital als zentrale immaterielle Vermögensart
  10. 2.2 Beziehungskapital als »licence to operate«
  11. 2.3 Beziehungskapital und Kommunikation
  12. 2.4 Beziehungskapital und Beziehungsqualität
  13. 2.5 Beziehungskapital – mehr als Image oder Reputation
  14. 2.6 Beziehungskapital als Risikokapital
  15. 2.7 Beziehungskapital und Public Relations
  16. 2.8 Beziehungskapital und Stakeholder-Management – ein Paradigmenwechsel
  17. 3 Persönlichkeit und Authentizität
  18. 3.1 Unternehmen als Persönlichkeit und Marke
  19. 3.2 »Sandwich«-Modell der Unternehmenspersönlichkeit
  20. 3.3 Authentizität – Sinnbild und Nachhaltigkeit
  21. 3.4 Beobachterpositionen und die Vorstellung von Vorstellungen
  22. 4 Authentizitätsanalyse
  23. 4.1 Corporate Authenticity-Modell
  24. 4.2 Identität und Authentizität
  25. 4.3 Authentizitätsvorstellung und Beziehungsdefinition
  26. 4.4 Soziale Begegnung und soziale Bewährung
  27. 4.5 Kritische Akzeptanzfaktoren
  28. 5 Soziales Kommunikations-Controlling
  29. 5.1 Verfahrensansatz
  30. 5.2 Selbstbildanalyse als Identitätsanalyse
  31. 5.3 Stakeholder-Analyse als Wesentlichkeitsanalyse (Benennung)
  32. 5.4 Authentizitätsanalyse einzelner Stakeholder (Beschreibung)
  33. 5.5 Kontextanalyse situativer Bewährungsbedingungen (Bewährung)
  34. 5.6 Kreditanalyse: Status, Prognose und Dokumentation (Bewertung)
  35. 6 Kommunikationsmanagement
  36. 6.1 Wertschätzung als Voraussetzung von Wertschöpfung
  37. 6.2 Betriebsmodell Kommunikationsmanagement
  38. 6.3 Prozess und Ziele
  39. 6.4 Zusammenfassung: Funktionsbereiche des Stakeholder-Managements
  40. 7 Kommunikationspraxis: Volkswagen – ein Fallbeispiel wider Willen?
  41. 7.1 Unternehmen in kritischer Umwelt
  42. 7.2 Der »Fall Volkswagen«
  43. 7.3 Volkswagen Unternehmenskommunikation
  44. 7.4 Unternehmenskommunikation und Stakeholder-Management
  45. 7.5 Beziehungsstabilität als Planungsgrundlage
  46. Teil 2 Theorie und Fundierung
  47. 8 Wirkungsbeziehungen und das Modell sozialer Begegnung
  48. 8.1 Sozialwissenschaftliche Verankerung
  49. 8.2 Organisational-systemtheoretischer Zugang
  50. 8.3 Dynamisch-transaktionales Wirkungsdenken
  51. 8.4 Modell sozialer Begegnung
  52. 9 Stakeholder und Beziehungskapital
  53. 9.1 Freemans »Stakeholder Approach«
  54. 9.2 Kritik und Perspektive
  55. 9.3 Stakeholder-Beziehungen als Beziehungsnetzwerk
  56. 9.4 Beziehungsmodelle und Beziehungskapital
  57. 9.5 Unternehmensbeziehungen
  58. 10 Akzeptanz, Wertschätzung und Wertschöpfung
  59. 10.1 Wirkungsstufenmodell
  60. 10.2 Unternehmen zwischen Real- und Beziehungskapital
  61. 10.3 Stakeholder-Management und Wertschöpfung
  62. Literatur
  63. Stichwortverzeichnis

 

Beziehungskapital: ein »anderer« Weg

 

 

 

Beziehungskapital ist im Kontext von Fragen rund um die Wertschöpfung von Unternehmen und die Wertschöpfungsleistungen oder -beiträgen immaterieller Kapitalien ein neuer oder bislang zumindest selten gebrauchter Begriff. Vor allem Auseinandersetzungen mit Image und Reputation haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Diskussion bestimmt. Hier einen anderen Weg zu gehen, war in den Anfängen unserer eigenen Auseinandersetzung mit Thema und Problemen zunächst gar nicht intendiert. Vielmehr waren es fünf Themen, welche zunächst unabhängig voneinander und dann zeitlich versetzt die wissenschaftliche Neugier beflügelten und schließlich und letztlich zwangsläufig zu Bausteinen eines neuen Wertschöpfungsansatzes zusammenwuchsen.

Auslöser war die Wertschöpfungsfrage, zu der jeder, der sich in den 2000er-Jahren ernsthaft mit Public Relations und Organisationskommunikation beschäftigte, zumindest eine fachlich begründbare Meinung hatte. Im konkreten Fall war es die Unzufriedenheit mit dem Verlauf des ›offiziellen‹ Teils des PR-Wertschöpfungsdiskurses, der im Kontext von Verbänden geführt wurde und in einem Wirkungsstufenmodell (Pfannenberg & Zerfaß, 2004) mündete, das den Arbeits- und Wirkungsprozess zweifellos sinnvoll und hilfreich ordnete und strukturierte. Das eigentliche Problem des betriebswirtschaftlich akzeptablen Nachweises eines Return on Investment (ROI) einer »Wertschöpfung durch Kommunikation« konnte aber letztlich nicht befriedigend gelöst werden, schon, weil sich Sozial- und Realkapital immer nur bedingt miteinander in Beziehung setzen lassen. Dem Ringen um einen derartigen Nachweis haben treibende Kräfte dieser Diskussion inzwischen selbst eine Absage erteilt (Communication Insights, 2015, S. 14). Unsere Arbeit war demgegenüber von der Frage getrieben, wie sich Zusammenhänge zwischen Kommunikationsleistungen, Meinungen und Verhalten und damit auch deren Einfluss auf die Wertschöpfungsleistung eines Unternehmens auch abseits der Frage eines ROI problemgerecht und aussagekräftig beschreiben und bewerten lassen.

Ein zweites Thema lieferte eine nach 2005 an ganz anderer Stelle angestoßene Diskussion: Authentizitätsdiskussionen rund um Blogs und Foren im Social Web. Auslöser waren »lebende Trojaner«, Personen, die unter Vorgabe persönlicher Identität verdeckt Interessen von Unternehmen und Verbänden vertraten, deren »falsche«, weil nicht entsprechend den Erwartungen der Netz-Community von natürlicher Identität gedeckte Authentizität als hoch strategisches Handeln entlarvt und skandalisiert wurde. Dies führte zu der Frage, ob Unternehmen als Organisationspersonen, die immer nur von Repräsentanten und Mitgliedern vertreten entscheiden und handeln können, überhaupt natürlich auftreten oder sich verhalten können, weil das Verhalten ihrer Vertreter immer rollengebunden und koordiniert erfolgt und damit als strategisch und inszeniert eingestuft werden kann. Die Frage nach »Authentizität und Inszenierung in der Organisationskommunikation« war dann entsprechend Gegenstand einer kommunikationswissenschaftlichen Fachtagung im Herbst 2009, die in einem Themenband (Szyszka, 2012) mündete, der dies systematisch weiter- und zusammenführte. Ein zentraler Befund: Unter Authentizität müssen die als typisch eingestuften und entlang der Bewertungsmaßstäbe von Beobachtern bewerteten Persönlichkeitsvorstellungen und davon abgeleitete Erwartungen an diese Persönlichkeit verstanden werden, unabhängig davon, ob deren typisches Verhalten als natürlich oder strategisch eingestuft wird. Mit Persönlichkeit und darauf bezogenen Authentizitätsvorstellungen rückte damit ein ähnliches Thema in den Fokus, wie es schon in der Markendiskussion um Markenpersönlichkeiten geführt worden war. Deutlich wird dabei, dass es vordergründig nur wenige Merkmale und Werte sind, auf welche sich die Konstruktion von Authentizitätszuweisung als Persönlichkeitsvorstellung stützt und hintergründig zwar eine höhere Komplexität lauert, die Konstruktionsbedingungen aber gerade die Rekonstruktion, Intervention, Einflussnahme und Korrektur auf diese Wirklichkeitsvorstellungen erfolgversprechend erscheinen lassen. Und ganz nebenbei stellte die Hinwendung zu Authentizität auch die bis dahin strenge Fokussierung der Wertschöpfungsdiskussion rund um Kommunikation auf Image und Reputation infrage.

Ein zweieinhalbjähriger Aufenthalt des Verfassers an der Universität Wien bot etwa zeitgleich die Gelegenheit zur systematischen Auseinandersetzung mit einem dritten Thema, nämlich Wirkungsfragen und Wirkungsvorstellungen im Kontext von Organisationskommunikation. In den Mittelpunkt rückte dabei das aus der Massenkommunikationsforschung bekannte dynamisch-transaktionale Wirkungsdenken. Dieser Ansatz setzt – anders als die bekannten Stimulus-Response-Modelle, zu denen im betriebswirtschaftlichen Kommunikationskontext auch das bekannte AIDA-Modell zählt – immer beide Seiten einer Wirkungsbeziehung miteinander in Bezug (Früh & Schönbach, 1982), was sich wiederum bis in die Anfänge soziologischer Theoriebildung und die Reziprozität von Beziehungen und Kommunikation bei Simmel (1908) zurückverfolgen lässt: sozusagen eine Basisfigur des Wirkungsdenkens. Adaption und Modellbildung für Unternehmen und Organisationen zeigten dabei sehr schnell, dass sich hier nicht nur ein systemtheoretisch anschlussfähiges Modell fand, sondern auch sozialwissenschaftlich Ansätze anschließen und integrieren ließen, allen voran Goffmans »Modell sozialer Begegnung« (1959/1983) und Bourdieus Vorstellungen von Sozialkapital, Habitus und sozialem Feld (vgl. Schwingel, 2011). Mit dem aus dieser Basis entwickelten organisationalen »Modell sozialer Begegnung« entstand ein dynamisch-transaktionales Wirkungsmodell, das heute allen im Weiteren vorgestellten Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Wertschätzung und Wertschöpfung zugrunde liegt, die ein Unternehmen immer auch in den Augen von anderen betrachten.

Den vierten Baustein im Entwicklungsprozess des Ansatzes lieferte schließlich der gemeinhin auf Freeman (1984) zurückgeführte Stakeholder-Diskurs, auch wenn dieser selbst über eine mehr als dreißigjährige Geschichte verfügt. Der Grund dafür ist gleichermaßen einfach wie signifikant: Im kommunikationswissenschaftlichen Kontext wird hier i. d. R. in deutlich weniger ausgeprägten Diskursen von Bezugsgruppen oder Teilöffentlichkeiten gesprochen, womit – wie bei Stakeholder-Gruppen – ausdifferenzierbare Anspruchs- und Publikumsgruppen gemeint sind. Dieser Tradition wurde zunächst gefolgt, ehe schließlich nicht nur Teile des Stakeholder-Diskurses fruchtbar in den Ansatz integriert, sondern auch Teile der ursprünglichen sozialwissenschaftlich geprägten Terminologie aufgegeben wurden, um auf diesem Wege eine noch einfachere Anschlussfähigkeit zu ermöglichen. Gleichzeitig wurden dabei im Rahmen des Entwicklungsprozesses bekannte und in diesen Kontext gehörende Konzepte wie Corporate Identity und Corporate Social Responsibility integrierte oder mit kritischem Blick in Teilaspekten revidierte Elemente des Ansatzes.

Einen letzten zentralen Baustein lieferte schließlich die Frage der Bewertung. »Wertschöpfung durch Kommunikation« und »Return on Investment«, waren im Fachdiskurs mehr als Suggestion und Ausdruck des Wunsches betriebswirtschaftlicher Anschlussfähigkeit. Es war nicht zuletzt auch ein Denken in Quantitäten und Quantifizierbarkeit. Neben quantitativen Verfahren kennen allerdings nicht nur die Sozialwissenschaften auch qualitative Verfahren, wiewohl von ihrem Ruf her auch in den Sozialwissenschaften quantitative Forschung qualitativer Forschung gegenüber noch immer als bevorzugt eingestuft eingeschätzt werden kann. Im betriebswirtschaftlichen und Management-Kontext handelt es sich überall dort um qualitative Verfahren, wo mit Ratings als einer zusammenfassenden Bewertung quantitativer wie qualitativer Befunde über die Performance eines Unternehmens gearbeitet wird, die am Ende auf nichts Anderem als systematischer Beobachtung und Erfahrungswerten langjähriger Beobachtungspraxis beruhen. Wenn damit über die unterstellte Bonität und Liquidität von Unternehmen und ganzen Staaten entschieden wird, muss es auch legitim sein, die Qualität von Stakeholder-Beziehungen, dem darin verankerten Beziehungskapital und dessen Einfluss auf Handlungsfähigkeit und Handlungsmöglichkeiten eines Unternehmens zu bewerten und einzuschätzen.

Der damit eingeschlagene Weg führt über Akzeptanz, Wertschätzung und Beziehungskapital zur Wertschöpfung. Er geht von den Thesen aus, dass Wertschöpfung ohne ein bestimmtes Maß an Wertschätzung gar nicht möglich ist und die Bedingungen des Wirtschaftens rund um ein Unternehmen maßgeblichen Einfluss auf den Prozess und die Möglichkeiten des Wirtschaftens eben dieses Unternehmens nehmen. Damit liegt das Schicksal eines Unternehmens nicht nur in der eigenen, sondern immer in einem hohen Maße auch in der Hand seiner zentralen Stakeholder. Dies führt zu einem anderen Umgang mit Beziehungskapital als immateriellem Kapital und der Beurteilung und Bewertung davon ausgehender Wertschöpfungsbeiträge. Wir haben dies einen doppelten Perspektivwechsel genannt, weil wir zuerst nach den Erwartungen und Anforderungen zentraler Stakeholder und den davon ausgehenden Handlungsspielräumen fragen, in deren »Spiegel« Unternehmen eigene Interessen, Anforderungen und Ziele betrachten müssen, ehe sie erfolgversprechende und nachhaltige Handlungsentscheidungen treffen. Kritische Erfolgsfaktoren spielen dabei eine zentrale Rolle. Im Grunde ist es ein Paradigmenwechsel: weg von einer vorrangig quantitativen hin zu einer ausgeprägt qualitativen Betrachtungsweise, die Berichterstattungs-, Entscheidungs- und Steuerungsinformationen über den Zusammenhang von Wertschätzung und Wertschöpfung liefert – ein anderer Weg eben.

Dieser Paradigmenwechsel hat noch weitere Folgen: So löst er das Problem eines bis heute teilweise diffusen Verständnisses der Rolle von Unternehmenskommunikation. Kommunikationsmanagement bewirtschaftet diesem Verständnis nach Beziehungskapital des Unternehmens zu den verschiedenen Stakeholder-Gruppen, seien es Publikumsgruppen, wie in der klassischen Ausrichtung von Unternehmenskommunikation, oder eben auch Anspruchsgruppen. Ein derartiger Zuschnitt war und ist Kern jener Diskussionen, die unter Stichwörtern wie Gesamtkommunikation, integrierte Kommunikation oder Corporate Communication um die Rolle von Public Relations und Unternehmenskommunikation geführt wurden. Dem hier entwickelten Verständnis nach ist Kommunikationsmanagement integraler Bestandteil eines Stakeholder-Managements, das durch den Umgang mit den sozialen Risiken eines Unternehmens in Markt und Gesellschaft, der Minimierung von Risiken, Nutzung von Chancen und Optimierung von Prozessen einen wichtigen Beitrag zu dessen Führung leistet. Es geht um den Umgang mit Ressourcen: So wie Humankapital zentrale immaterielle Ressource im Personalmanagement bildet, nimmt Beziehungskapital eine gleiche Rolle im Stakeholder-Management ein. Es ist unternehmenspolitisch bedeutsam, weil Wertschöpfung ohne Wertschätzung nicht möglich ist.

Der vorliegende Ansatz war und ist gleichermaßen ein akademisches wie ein Praxisprojekt. Schon in einer frühen Phase der Entwicklung kam es 2010 zu einer inzwischen schicksalhaften Begegnung zwischen dem Verfasser und dem Inhaber der Berliner Unternehmensberatung für Kommunikation Johanssen+Kretschmer (J+K), Heiko Kretschmer, deren Initiator Sebastian Vesper, damals Chefredakteur des PR-Reports, war. In ungezählten Stunden wurde der theoretische Ansatz und dessen praktische Umsetzung in der Beratungspraxis diskutiert und schrittweise weiterentwickelt. Beide Seiten legten dabei stets Wert darauf, dass sich Theorie und Praxis in Denken und Entwicklungsarbeit gegenseitig befruchten konnten: ein spannender und nicht immer spannungsfreier Prozess. Den Praxistest hat »Beziehungskapital«, wie der Ansatz heute kurzgenannt heißt, zwischenzeitlich bestanden, wiewohl es ein permanenter Lernprozess geblieben ist und bleiben wird, denn jedes Unternehmen ist eine andere Persönlichkeit mit letztlich anderem Umfeld und anderen Wesentlichkeitsdispositionen und folglich andere, eigene Probleme in Teilen oder im holistischen Ganzen zu lösen. Seit 2014 ist Beziehungskapital Bestandteil der Beratungspraxis von J+K, bis 2016 wurde der größte Teil des Beratungsbetriebs auf Beziehungskapital als einen neuen Beratungsansatz in der Unternehmens- und Organisationskommunikation umgestellt und zu einem zentralen Persönlichkeitsmerkmal der Beratung im Markt.

Entscheidende Anregungen für die Integration sozialer Wertschätzung in die Prozesse ökonomischer Wertschöpfung konnte der Verfasser schließlich in der jüngeren Vergangenheit durch seine Mitarbeit im Fachkreis Kommunikations-Controlling des Internationalen Controller Vereins (ICV) gewinnen, wo ihm 2014 der Zugang zur Mitarbeit eröffnet wurde. Im Laufe der vergangenen zwei Jahre wurden Grundüberlegungen des Beziehungskapital-Ansatzes dort zunehmend in die Diskussion einbezogen, was sich durch die direkte Konfrontation mit dem schon genannten Wirkungsstufenmodell und dessen Weiterentwicklungen als besonders fruchtbar erwies, sodass der Verfasser heute festes Mitglieder dieses Facharbeitskreises des ICV ist. Die Zusammenarbeit hat insbesondere Spuren im Feinschliff des Ansatzes hinterlassen. Dennoch: In einer der ersten Veröffentlichungen zu diesem Ansatz habe ich von einem »Work in Progress« gesprochen (Szyszka, 2013; 2014), dies wird der Ansatz bleiben, da längst nicht alle Ideen und Implikationen ausgearbeitet werden konnten, die sich im Laufe der Zeit gerade auch aus dem Facharbeitskreis heraus ergeben haben.

Danken möchte ich besonders meiner Frau und meinen Kindern, welche die Folgen meiner Idee, unbedingt ein »bestimmtes Etwas anders zu machen als bislang« und darüber in mehreren Anläufen ein Buch zu schreiben, über die Jahre mitgetragen, meine körperliche und geistige Abwesenheit vom familiären Alltag ertragen und mich so in meinem Vorhaben, diesen Ansatz zu entwickeln und nun tatsächlich hier in erster Fassung vorlegen zu können, nach Kräften unterstützt haben.

Danken möchte ich schließlich dem Kohlhammer Verlag, der mir die Tür für den Sprung aus der sozialwirtschaftlich in die betriebswirtschaftlich geprägte Publikationswelt geöffnet und dann auch Verständnis dafür gezeigt hat, dass zwei ältere, halb fertige und dort bereits avisierte Buchprojekte zugunsten von »Beziehungskapital« hintanstellen durften.

 

Offenburg/Hannover/Berlin, im Oktober 2016

Peter Szyszka

 

1          Beziehungskapital und Wertschöpfung

 

 

 

Veränderung als Kontinuum. »Nichts ist so beständig wie der Wandel« – dieser Satz ist mehr als eine vermeintliche Managementweisheit. Seine Urheberschaft, die gleichermaßen dem griechischen Philosophen Heraklit wie dem britischen Naturforscher und Evolutionstheoretiker Charles Darwin zugeschrieben wird, liegt vermutlich im Dunkeln, denn dieser Satz gilt universell. Dass er schon vor zweieinhalb Jahrtausenden im alten Griechenland als wesentliche Erkenntnis galt und sich bei Darwin wiederfindet, unterstreicht, dass nie Stabilität, sondern immer Veränderung das Kontinuum ist, mit dem sich Wissenschaft und Praxis zu allen Zeiten und in allen Bereichen auseinandersetzen mussten. Dass sich dieser Satz immer wieder im Managementkontext findet, hat eine einfache Ursache: Management strebt nach Stabilität und Sicherheit und muss doch permanent mit Wandel, Unsicherheit und Veränderung leben und umgehen. Dadurch entsteht Bedarf nach Konzepten und Beratung zu einem sicheren Umgang mit Veränderung. Genau an dieser Stelle setzt der hier vorgestellte Beziehungskapital-Ansatz. Er rückt das Beziehungsnetzwerk von Unternehmen und Organisationen1, die Ermittlung und das Verstehen der Beziehungs- und Einflussbedingungen und -strukturen mit deren Risiken und Chancen sowie deren Einfluss auf Unternehmenserfolg in den Blick. Im Mittelpunkt steht dabei die Bedeutung des Einflusses immaterieller Vermögenswerte eines Unternehmens auf dessen Wertschöpfungspotenziale.

1.1       Turbulenzen und Unsicherheit

Umgang mit Komplexität. Veränderung und Herausforderung dürften zu den meist gebrauchten Vokabeln gehören, um Interesse zu wecken und neue Ansätze zu begründen, mit deren Hilfe Managementprobleme gelöst werden sollen. Wir ersetzten das in seiner Allgemeinheit und verbindlichen Unverbindlichkeit abgegriffene Begriffspaar hier durch ein Trio: Turbulenz, Resilienz und Agilität. Auch diese Begriffe sind nicht neu, erscheinen uns heute aber treffender, präziser und aktueller. Schon am Beginn des Internetzeitalters Anfang der 1990er-Jahre sprach der bekannte Managementwissenschaftler und -berater Fredmund Malik von »Turbulenzen« (1993, S. 15): Er bezog sich damit auf den schon seinerzeit weltweit eingetretenen Wandel und die damit verbundenen Veränderungen der »Komplexität von Steuerungs-, Lenkungs- und Gestaltungsproblemen« des Managements von Organisationen, denen er eine bereits vorprogrammierte, weitere Komplexitätszunahme attestierte. Heute, knapp zweieinhalb Jahrzehnte später, ist dieser Wandel und sind mit ihm die angekündigten Turbulenzen längst Realität geworden. Malik (1993, S. 22-23) problematisierte schon damals die limitierte Fähigkeit der »Entscheidungsträger, Management-Systeme und Management-Strukturen, Komplexität zu beherrschen«, verwies aber auch auf einen bis heute wenig beachteten Lösungsansatz: Ashbys sogenanntes Gesetz der erforderlichen Varietät, wonach nur Varietät erfolgversprechend mit Varietät umgehen kann: Je größer die eigene Varietät ist, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, mit anderer Varietät umgehen zu können. Man könnte auch von Offenheit für Veränderung sprechen. Der Soziologe Dirk Baecker (1999, S. 14-26) griff wenig später das Problem mit der zugespitzten Frage auf, wie viel Organisation die Organisation eigentlich brauche. Malik schloss seinen Beitrag seinerzeit mit der Feststellung:

Entscheidend wird nicht mehr die ökonomische Gewinnmaximierung sein, sondern die Entwicklung der Lebensfähigkeit und Robustheit einer Unternehmung, nicht das Herausquetschen der letzten Renditeprozente, sondern die Fähigkeit, auch Umsatzeinbrüche und massiven Preisdruck durchzustehen. Nicht das Geschäfte-Machen wird im Vordergrund stehen, sondern die Kunst, im Geschäft zu bleiben, und es werden nicht so sehr Fragen des Führungsstils wesentlich sein, als vielmehr die Fähigkeit und Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und wenn notwendig auch einzulösen (Malik, 1993, S. 47).

Resilienz und Agilität. Der Begriff Turbulenzen stammt aus dem physikalischen Bereich und steht dort für Verwirbelungen der Luft zu einer ungeordneten, schwer vorhersehbaren Struktur: Im Motorrennsport ist die »dirty air«, verwirbelte Luft, die vom hinterherfahrenden Konkurrenten aerodynamisch schwer zu beherrschen ist. Auf Wirtschaft und Gesellschaft bezogen bedeutet dies, dass sich derart viele Prozesse gleichzeitig ereignen und für Verwirbelung sorgen, dass sich ihre wechselseitigen Einflüsse und Folgen vielfach nur schwer vorhersehen lassen und Management Möglichkeiten, Verfahren und ausreichende Sensibilität benötigt, um mit dieser Unberechenbarkeit umgehen zu können. Der aus der Psychologie stammende Begriff der Resilienz bezeichnet demgegenüber gerade jene Robustheit und Lebensfähigkeit, die Unternehmen Malik zufolge besitzen müssen, um zukunftsfähig zu sein und sich dazu immer wieder politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen anpassen zu können. Agilität schließlich meint diese Flexibilität und Fähigkeit eines Unternehmens, zur Selbsterhaltung und Entwicklung mit Unsicherheit, Wandel und Veränderung umzugehen.

Ganzheitlicher Ansatz. Auch agile Unternehmen können Zukunft nicht vorwegnehmen und Wandel und Veränderung nur in einem absehbaren Maß einschätzen. Sie sind von ihrer Managementstruktur her aber so aufgestellt, dass sie vermeintlich wesentliche einflussreiche Faktoren beobachten und so Wandel und Veränderung antizipieren können. Resiliente Unternehmen zeichnen sich durch »Wachsamkeit und Flexibilität« aus, können Veränderung und Rückschläge verkraften und ihre Strukturen und Prozesse anpassen, »ohne ihre organisatorische Einheit und kulturelle Identität zu verlieren« (Klappentext zu Buchholz & Knorre, 2012). Oder anders ausgedrückt: Ein resilientes und agiles Unternehmen muss zum Umgang mit Bedingungen und Rahmenbedingungen des eigenen Wirtschaftens nicht nur über ein finanzielles, sondern auch über ein soziales Risikomanagement verfügen. Und genau darum geht es im vorliegenden Band: Nämlich um die Frage, auf welche Managementinformationen und -verfahren sich Unternehmen stützen können, wenn sie Resilienz und Agilität als ganzheitliche Managementprobleme ernstnehmen.

Unsicherheit als Herausforderung. Wandel und Veränderung beschreiben die unternehmenspolitischen Herausforderungen nur unzureichend, denn erhöhte Komplexität, beschleunigte Dynamik und entsprechender Bearbeitungsbedarf sind nur Indikatoren. Tatsächlich geht es um die zentrale Folge dieser Entwicklung: Es geht um eine deutlich erhöhte Unsicherheit in Entscheidungs- und Bearbeitungsprozessen. Dies ist besonders prekär, weil sich mit Komplexität und Dynamik der für eine Bearbeitung notwendige Zeitbedarf erhöht, die real verfügbare Reaktionszeit aber verkürzt hat. Ob adäquate Bearbeitungsressourcen zur Verfügung stehen, ist ein drittes Problem. Damit kommen zu Unsicherheit noch Zeitdruck und Kapazitätsprobleme. Deshalb ist es richtig, wenn Lintemeier & Rademacher (2013, S. 6) attestieren: »Kaum etwas verändert sich so grundlegend wie die unternehmenspolitische Landkarte. Das Management in Unternehmen und Institutionen agiert in einem immer stärkeren Maße in einer vernetzten Welt von Interessen und Einflussmöglichkeiten«. Dabei geht es um nichts anderes als die Stakeholder eines Unternehmens, die als Publikums- und Anspruchsgruppen das Unternehmensumfeld bilden, Rahmenbedingungen setzen und verändern, sich artikulieren und Gehör finden können, oder kurz: die unternehmenspolitischen Handlungsspielräume bestimmen.

Abbau von Unsicherheit. Unsicherheit lässt sich deshalb nur auf einem Wege auffangen, eingrenzen und damit die Anpassungszeit verringern: Durch ein ausreichendes Vorwissen um die Befindlichkeit und Kooperationsbereitschaft derjenigen, die Einfluss auf unternehmenspolitische Handlungsspielräume nehmen: die jeweils relevanten Stakeholder-Gruppen. Konkret geht es dabei um deren Erwartungen und Beweggründe und deren erwartbares oder nicht-erwartbares Verhalten im Kontext getroffener, laufender oder zu treffender unternehmenspolitischer Entscheidungen und Ereignisse. Unter dem Strich geht es um ein Wissen über die Stabilität und Belastbarkeit von Stakeholder-Beziehungen, das es möglich macht, Chancen zu nutzen und Entscheidungsrisiken möglichst weitgehend einzugrenzen. Oder genauer: Es geht um die Qualität von Beziehungen und Beziehungskapital, das die betreffenden Stakeholder-Gruppen für das Unternehmen als Kredit zur Verfügung stellen, dessen Bedarfsgerechtigkeit und Verfügbarkeit. Kenntnisse um die Qualität von Beziehungskapital grenzen Unsicherheit ein und erhöhen damit Prognose- und Entscheidungssicherheit.

1.2       Stakeholder-Beziehungen als ungenutzte Chancen

System-Umwelt-Zusammenhang. Unternehmen und Umwelt – wir werden im Weiteren noch Umfeld als das Beziehungsnetzwerk eines Unternehmens von der Umwelt als dem gesellschaftlichen Rahmen unterscheiden – bilden einen untrennbaren und immerwährenden System-Umwelt-Zusammenhang. Dies ist nichts anderes als die systemtheoretische Grundfigur sozialer Systeme, die in diesem Fall aus einem Unternehmen als Organisationssystem und dessen Beziehungsnetzwerk als Umfeld bestehen (vgl. Luhmann, 1984, S. 22-29). Um dies im Managementkontext darzustellen, kann auf Maliks Basissystem des Managements zurückgegriffen werden:

Es besteht aus den drei konstitutiven Teilen Umwelt, Unternehmen und Unternehmensführung (Management). Die Pfeile stehen für die Beziehungen zwischen diesen Subsystemen. Die gestichelten Pfeile bedeuten, dass das Management die Umwelt nur indirekt beeinflusst – durch Gestaltung, Lenkung und Entwicklung des Unternehmens.2

Die Art und Weise, wie ein Unternehmen geführt wird, lässt eine Unternehmenspersönlichkeit entstehen, die als solche in ihrer Eigenheit in Umfeld und Umwelt wahrgenommen und bewertet wird. In klassischer Literatur wird hier von Identität auf der einen und Images als Deutungsschemata auf der anderen Seite gesprochen (vgl. Buss, 2007).

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Abb.1-1: Basissystem des Managements nach Malik3

Unternehmen und Stakeholder. Unternehmen sind nicht ohne ihr gesellschaftliches Umfeld zu denken. Die Medien- und Netzöffentlichkeit mit ihren vielfältigen Informations- und Partizipationsmöglichkeiten, die sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten herausgebildet hat, führt uns dies tagtäglich vor Augen. Deutlich werden dabei drei Sachverhalte:

•  Transparente Meinungsmärkte: Es geht i. d. R. nicht um die Öffentlichkeit, sondern um Menschen, die einem Unternehmen in verschiedenen Rollen, mit unterschiedlichen Interessen und unterschiedlicher Intensität begegnen und ihnen so als Teile von Öffentlichkeit gegenübertreten. Diese sogenannten Teilöffentlichkeiten sind Meinungsmärkte, in denen entlang meinungsmarktrelevanter Themen ein Austausch unter Gleichen oder Ähnlichen stattfindet, bei dem nicht nur Meinungen gebildet und ausgetauscht, sondern über Meinungen auch Positionen dieser Gruppen zu Sachverhalten sichtbar werden.

•  Unterschiedliche Zugänge: Teilöffentlichkeiten, das sind Stakeholder-Gruppen, die in unterschiedlicher Beziehung zum Unternehmen stehen und gemeinsam als Beziehungsnetzwerk dessen Umfeld bilden. Beziehungsinteressen und Beziehungsansprüche basieren auf den unterschiedlichen Geltungsansprüchen dieser Gruppen, können von unterschiedlichen Erfahrungen geprägt und mit unterschiedlichen Erwartungen verbunden sein und verfügen aus Unternehmensperspektive auf sachlicher, sozialer und zeitlicher Ebene über unterschiedliche Relevanz. Stakeholderseitig prägen Beziehungserfahrungen und Beziehungserwartungen Akzeptanz, Wertschätzung, Prestige und Kooperationsbereitschaft, mit denen die einzelnen Stakeholder-Gruppen einem Unternehmen begegnen.

•  Optimierungs- und Erfolgspotenziale: Der Einfluss, den Anspruchs- und Publikumsgruppen durch Realverhalten (Partner-/Anspruchsgruppen) oder Kommunikationsverhalten (Publikumsgruppen) auf den Prozess und die Bedingungen des Wirtschaftens nehmen, ist unterschiedlich, birgt aber aus Unternehmensperspektive bis heute große Optimierungs- und Erfolgspotenziale, weil mittelbare Einflüsse auf ökonomische Prozesse häufig kaum zur Kenntnis genommen werden und deshalb weitgehend ungenutzt bleiben.

Unausgeschöpfte Optimierungspotenziale. Die Ausgangssituation ist deshalb schwierig, weil Stakeholder-Beziehungen – wenn überhaupt – in erster Linie aus Unternehmens- und nicht aus Stakeholder-Perspektive betrachtet werden. Anstatt das Unternehmen im Lichte der Meinungen zentraler Stakeholder-Gruppen zu spiegeln, zu fragen, wie und warum die Geschäftspolitik des Unternehmens von bestimmten Stakeholdern betrachtet und eingeschätzt wird, und so Handlungsspielräume auszuloten, um Hindernisse abzubauen und Chancen zu nutzen, wird entlang eigener Interessen und Geltungsansprüche auf einzelnen Stakeholder-Gruppen und deren Nützlichkeit geblickt. Die Folge: Statt Unsicherheit und Risiken einschätzen und abbauen zu können, herrschen Wissensdefizite und Bewertungsunsicherheit im Umgang mit Stakeholder-Beziehungen und Beziehungskapital vor. Verschoben ist aber nicht aufgehoben: Weil Stakeholder-Beziehungen in der Vergangenheit unternehmenspolitisch einen vergleichsweise nachrangigen Stellenwert hatten, wurden im Umgang mit Wandel und Veränderung vor allem ökonomische Optimierungspotenziale im Prozess des Wirtschaftens ausgereizt. Jetzt, wo diese Potenziale weitgehend erschöpft sind, muss sich der Blick – ökonomischer Skepsis zum Trotz – zwangsläufig auch auf die Bedingungen des Wirtschaftens richten, selbst wenn sich Einflüsse und Optimierung hier im klassisch bilanztechnischen Sinne nur schwer in »harte Zahlen« fassen lassen.

Verantwortung für wirtschaftliches Handeln. Die Verfügbarkeit von Handlungsspielräumen ist immer eine Frage unterstellter Legitimität und zugestandener Akzeptanz. Auch diese Erkenntnis ist in der Unternehmenswelt nichts Neues. Ganz im Gegenteil: In »Social Responsibilities of the Businessman« etwa hat Bowen (1953) schon lange vor dem Einsetzen einer Stakeholder-Diskussion auf dessen Verantwortung für wirtschaftliches Handeln im Kontext gesellschaftlicher Beziehungen hingewiesen (vgl. Lintemeier & Rademacher, 2013, S. 9). Sozial- und Umweltbilanzen, die ein verantwortliches Handeln ausweisen sollen, haben in Deutschland eine bald 50 Jahre zurückreichende Tradition (Dierkes, 1974; Braunschweig & Müller-Wenk, 1993), die damit ähnlich alt ist wie die Diskussion um Corporate Social Responsibility (CSR) (Schultz, 2011) oder Freemans Stakeholder-Ansatz (1984). Gemeinsam ist ihnen aber auch, dass es an ökonomischer Akzeptanz gefehlt hat. Ihnen allen haftet der gleiche »Makel« an: Sie wurden meist nicht als unumgänglicher Grundnutzen, sondern als ein freiwillig zu erbringender Zusatznutzen dargestellt, verstanden und zuweilen belächelt, weil sich eine Bewertung dieses Nutzens den Systemen und Logiken ökonomischer Berechnungen und entsprechender Kennzahlen zumindest dann entzieht, wenn einfache, unmittelbar kausale Zugänge hergestellt werden sollen. Tatsächlich hat die Übernahme von Verantwortung wenig mit Freiwilligkeit zu tun: Sie ist existenziell, wenn es um die Existenz- und Zukunftsfähigkeit von Unternehmen geht, weil in ihr das Beziehungskapital verankert ist, das über die Akzeptanz eines Unternehmens, dessen Wertschätzung, das davon ausgehende Prestige und letztendlich über die Kooperationsbereitschaft der Stakeholder entscheidet, auf die ein Unternehmen angewiesen ist.

1.3       Beziehungskapital als immaterieller Vermögenswert

Beziehungskapital als immaterieller Vermögenswert. Genau an diesem Punkt setzt der vorliegende Band an. Er zeigt Wege auf, wie ökonomische und außerökonomische Faktoren, finanzielle und nicht-finanzielle Sachverhalte, materielles und immaterielles Kapital bzw. entsprechende Vermögenswerte zusammenwirken, miteinander in Beziehung zu setzen sind, miteinander behandelt und bilanziert werden können und entsprechend Bestandteil von Unternehmenspolitik, Unternehmensführung und Unternehmensbilanzierung werden. Weil sich Unternehmen heute weniger denn je ohne die Beziehungen zu ihren Stakeholdern und deren Einfluss auf eigene Handlungsspielräume und Existenzbedingungen denken lassen, verbirgt sich dahinter nichts anderes als der gemeinsame, unabdingbare Blick auf Shareholder und Stakeholder oder Markt und Gesellschaft. Letzten Endes geht es hier um das Zusammenwirken von quantitativen und qualitativen Größen und Einflussfaktoren – in der Sozialwissenschaft ein bekanntes, im Management aber gerne ausgeblendetes Phänomen. Wenn in der Managementpraxis nicht sein kann, was nicht sein darf, dann gilt es Scheuklappen abzulegen, denn es geht um nicht weniger als ein duales Risikomanagement, dass neben den finanziellen auch die sozialen Risiken betrachtet, denen ein Unternehmen als Bedingungen seines Wirtschaftens im Prozess des Wirtschaftens ausgesetzt ist.

Stellenwert immaterieller Vermögenswerte. Den Stellenwert, den außerökonomische Faktoren und immaterielle Vermögenswerte in der modernen Wirtschaftswelt besitzen, macht in diesem Zusammenhang ein Langzeitvergleich von Ocean Tomo deutlich, einem Finanzdienstleister, der sich auf die Vermarktung geistigen Eigentums und immaterieller Vermögenswerte spezialisiert hat. Dort wird die Entwicklung des Verhältnisses materieller und immaterieller Vermögenswerte der 500 größten, börsennotierten US-amerikanischen Unternehmen, die im Aktienindex der internationalen Rating-Agentur STANDARD & POOR’S gelisteten sind, zwischen 1975 und 2015 verglichen (image Abb. 1-2).

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Abb.1-2: Zusammensetzung des »S & P 500 Market Value« 1975-20154

Das Ergebnis ist eindeutig: Dominierten 1975 noch die materiellen Vermögenswerte (1975: 83 % zu 17 %), so hat sich das Verhältnis beider Seiten im Verlauf der vergangenen 40 Jahre zugunsten immaterieller Vermögenswerte quasi umgekehrt (2015: 16 zu 84 %). Auch wenn für die Zukunft »a slight rebalancing towards tangible assets in the coming decade« (vgl. auch: Möller & Piwinger, 2014, S. 957) erwartet wird und sich die Gegenüberstellung vorrangig auf intellektuelles Kapital als geistiges Vermögen eines Unternehmens vor allem im Bereich Forschung und Entwicklung bezieht (vgl. IIRC-Gliederung der Vermögenswerte bei Schmidt u. a., 2015, S. 34-35), lässt sich dies allgemein auf den unternehmerischen Umgang mit der komplexen und veränderlichen Wirklichkeit sowie auf außerökonomische Einflussfaktoren übertragen.

Blick auf Shareholder und Stakeholder. Diese Einschätzung wird auch vom bereits zitierten Wirtschaftswissenschaftler und Managementberater Fredmund Malik (2007, S. 133) geteilt, der allerdings den Stakeholder-Ansatz kritisch betrachtet und als »Scheinlösung« bezeichnet. Dennoch hält auch er heute den erweiterten Blick auf Shareholder und Stakeholder für unausweichlich, wobei er es als »logisch ausgeschlossen« betrachtet, dabei »eine richtige Strategie zu finden, wenn sie nicht explizit auf die Lösung von Kundenproblemen und die Nutzstiftung für den Kunden gerichtet ist« (Malik, 2011, S. 102-103), was vom Grundsatz her auch nicht zu bestreiten ist. Die von ihm benannten zentralen Performance-Faktoren Marktstellung, Profitabilität, Liquidität und Cash Flow, Attraktivität für gute Leute, Produktivität und Innovationsleistung (Malik, 2011, S. 113) weisen letztlich über den Kunden hinaus auf den Prozess und die Bedingungen des Wirtschaftens. Wir gehen deshalb hier noch einen Schritt weiter und sprechen auch bei Shareholdern von nichts anderem als einem bestimmten Typus von Stakeholdern. Dieser hat zweifellos die zentrale Stellung, zentral bedeutet aber eben nicht, dass er in jeder Hinsicht dominant ist, wenn es um unternehmenspolitische Entscheidungen geht: Kunden sind, wie Kapitalgeber auch, wesentlich für ein Unternehmen. Ohne diese beiden Gruppen braucht es keine Organisation der betreffenden Interessen, aber auch diese Orientierung hat dort ihre Grenzen, wo diese außerökonomisch sind und den Prozess und die Art und Weise des Wirtschaftens infrage stellen.

Bestandteil moderner Unternehmensberichterstattung. Dennoch galt soziales oder Beziehungsvermögen lange als ein »[…] bisher nicht in der externen Rechnungslegung ansatzfähige[r] Wert – der internen und externen Beziehungen des Unternehmens zu seinen Stakeholdern, zu der Gesellschaft (Rechtfertigung des Unternehmensmodells) inklusive des Marken- und Reputationswertes« (Schmidt, 2015, S. 32) – im engeren, ökonomischen Sinne nicht »ansatzfähig«, aber bedeutsam. Unter dem Begriff »social and relationship capital« war das, was im vorliegenden Ansatz als Beziehungskapital bezeichnet wird, Grundbestandteil eines Diskussionspapiers des International Integrated Reporting Framework (IIRF), eines globalen Zusammenschlusses von Aufsichtsbehörden, Investoren, Unternehmen, Standardisierungseinrichtungen, Bilanzexperten und Non Governmental Organizations (NGOs), der sich mit der Weiterentwicklung der Unternehmensberichterstattung von Kapitalgesellschaften beschäftigt. Dort heißt es (IR, 2013, S. 12):

The institutions and the relationships within and between communities, groups of stakeholders and other networks, and the ability to share information to enhance individual and collective well-being. Social and relationship capital includes:

•  shared norms, and common values and behaviours

•  key stakeholder relationships, and the trust and willingness to engage that an organization has developed and strives to build and protect with external stakeholders

•  has intangibles associated with the brand and reputation that an organization has developed

•  an organization’s social licence to operate.

EU-Richtlinie zur Berichterstattung. In dem seit 2012 gültigen Deutschen Rechnungslegungs Standard (DRS 20) sind heute schon bei der Analyse des Geschäftsverlaufs und der Lage des Konzerns auch die für deren Verständnis bedeutsamsten nicht-finanziellen Leistungsindikatoren anzugeben und quantitativ oder qualitativ zu beziffern bzw. zu beschreiben (DRS 20.107). Weiter geht allerdings die sogenannte »CSR-Richtlinie« des Europäischen Parlaments (2014/95/EU) vom Oktober 2014, die derzeit in deutsches Recht umgesetzt wird und das Bilanzrecht »um neue Vorgaben zur nichtfinanziellen Berichterstattung ergänzt« (Referentenentwurf, 2016).

Unternehmen werden heute zunehmend nicht mehr nur nach ihren Finanzdaten bewertet und befragt. Sogenannte nichtfinanzielle Informationen zu Themen wie die Achtung der Menschenrechte, Umweltbelange oder soziale Belange bilden einen immer wichtigeren Bereich der Unternehmenskommunikation. Investoren, große Unternehmen sowie Verbraucherinnen und Verbraucher verlangen insoweit vor allem mehr und bessere Informationen über die Geschäftstätigkeit von Unternehmen, um zu entscheiden, ob sie investieren, Lieferbeziehungen eingehen oder Produkte erwerben und nutzen. Dies ist auch auf die zunehmende Medienberichterstattung über Arbeits- und Lieferbedingungen in Drittstaaten zurückzuführen, die zu einer Sensibilisierung von Investoren, Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie Unternehmen in Hinblick auf nichtfinanzielle Belange geführt hat. Gleichzeitig sind nichtfinanzielle Faktoren schon heute wichtige unternehmensinterne Entscheidungsfaktoren, etwa wenn es um die Risikobetrachtung geht. […]

Zugleich besteht sowohl in der Zivilgesellschaft als auch auf Seiten der Wirtschaft ein großes Interesse daran, dass die Funktion der Rechnungslegung erhalten bleibt, die in erster Linie darin besteht, für die Unternehmenssteuerung und zugleich für externe Nutzer relevante Informationen bereitzustellen und so ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage eines Unternehmens sowie seiner Entwicklung mit Blick auf Chancen und Risiken zu vermitteln.

Quelle: Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung der nicht finanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernberichten (CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz) entsprechend EU-Richtlinie 2013/95/EU, S. 1.

Um »das Vertrauen von Investoren sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern in Unternehmen [zu] stärken«, soll die Berichterstattung den vielschichtigen Aspekten der Verantwortung der Unternehmen sowie der Vielfalt der von den Unternehmen umgesetzten Konzepte für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung durch Unternehmen (Corporate Social Responsibility – CSR) und CSR-Konzepte Rechnung tragen. Sie soll dabei einen hinreichenden Grad an Vergleichbarkeit der Berichterstattung gewährleisten und dem Bedürfnis entsprechen, den Verbraucherinnen und Verbrauchern leichten Zugang zu Informationen über die Auswirkungen der Tätigkeit von Unternehmen verschaffen (Referentenentwurf, 2016, S. 28).

Die Richtlinie bezieht sich zwar nur auf »große Unternehmen von öffentlichem Interesse mit mehr als 500 Beschäftigten«; wie bei den bekannten Formen von Pflichtberichterstattung ist aber davon auszugehen, dass auch nicht-berichtspflichtige Unternehmen von dieser Möglichkeit, ein Unternehmen bei Stakeholdern und Gesellschaft in regelmäßigen Abständen auf diese Weise vorzustellen, Gebrauch machen werden.

Nichtfinanzielle Berichterstattung. Der künftige Stellenwert immaterieller Vermögenswerte wird durch das Inkrafttreten des entsprechenden »Gesetzes zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernberichten« zum Beginn des Jahres 2017 unterstrichen, das die »CSR-Richtlinie« in deutsches Recht umsetzt. Diese Regelungen sollen also das »Vertrauen von Investoren sowie Verbraucherinnen und Verbrauchern in Unternehmen stärken« und das »Handeln der Unternehmen« beeinflussen, indem »nichtfinanziellen Belangen und damit verbundenen Risiken, Konzepten und Prozessen stärkeres Gewicht in der Unternehmensführung beizumessen« ist. Vorgelegt werden soll künftig »ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild ihrer Konzepte, Ergebnisse und Risiken mit Bezug auf nichtfinanzielle Aspekte« (Referentenentwurf, 2016, S. 28).

Schließen einer »Bilanzlücke«. Mit Umsetzung der EU-Richtlinie sind immaterielle Vermögenswerte und mit ihnen Beziehungskapital zu einem festen Bestandteil der Bilanzierung des Unternehmenswertes geworden: Damit ist der Weg eingeschlagen, um mit entsprechenden Risikoinformationen eben jene »Bilanzlücke« zu schließen, die schon länger in einschlägigen Publikationen beklagt worden ist (Möller & Piwinger, 2014). »Eingeschlagen« bedeutet in diesem Kontext, dass abzuwarten bleibt, in welcher Weise und mit welcher Akzeptanz die Umsetzung der Bestimmungen tatsächlich erfolgt. Wesentlich wird dabei sein, dass Lösungen für jene Probleme gefunden werden, die Möller & Piwinger (2014, S. 965) wie folgt zusammengefasst haben:

Obwohl der Berichtsumfang nicht bilanzierter Vermögenswerte zugenommen hat, ist der Aussagewert im Allgemeinen gering. […] Die vielen daraus zu gewinnenden Detailinformationen versperren freilich den Blick auf das Wesentliche. Aus der Berichterstattung ist nicht zu erkennen, welche immateriellen Faktoren zu dem gewünschten Wertbeitrag führen. In diesem Zusammenhang wird von Seiten der Standardsetzer immer wieder auf den Grundsatz der Wesentlichkeit hingewiesen. Dieser besagt, dass erst durch die Beschränkung auf das Wesentliche ein klares Bild vermittelt werden kann und es nicht darauf ankommt, alle Einzelheiten und Details zu erläutern.

Stakeholder-Bilanz/- Berichterstattung. Problematisch an der Richtlinie erscheint, dass sie »einen hinreichenden Grad an Vergleichbarkeit der Berichterstattung« einfordert, gleichzeitig aber nicht vorgibt, »dass die Unternehmen bei der Berichterstattung ein bestimmtes Rahmenwerk oder einen bestimmten Standard befolgen müssen« (Referentenentwurf, 2016, S. 28-29). Damit wird das Eingeständnis umgangen, dass derartige Standards oder Rahmenwerke, die dieses auch praktisch in einem überschaubaren Rahmen leisten könnten, bekannt oder weit verbreitet wären und vermutlich durch klassische, hierfür eigentlich ungeeignete Berichterstattungsstandards aufgefangen werden sollen. Die eingeforderte Berichterstattung ist jedoch keine finanzielle, sondern eine nichtfinanzielle Stakeholder-Berichterstattung. Anders als bei Sozial-, Umwelt- bzw. Ökobilanzen, in denen Unternehmen ihre Leistungen in eben diesen Bereichen ausweisen, geht es bei Stakeholder-Bilanzen nicht um die Leistungen des Unternehmens an sich, sondern um die stakeholderseitige Bewertung von Verhalten und Leistungen im Sinne von Nachhaltigkeit und wahrgenommenem Verantwortungsbewusstsein. Der Beziehungskapital-Ansatz macht hierzu ein adäquates Angebot für Analyse und Dokumentation.

Bilanzwert mit Folgen. Die Folgen des Gesetzes sind bei näherer Betrachtung aber noch weiterreichender. Eine Bilanz ist bekanntermaßen eine Aufstellung von Vermögenswerten, die als (Jahres-)Abschluss bei Kapitalgesellschaften im Anhang von einem Lagebericht begleitet wird, der neben den Angaben zur Finanz-, Vermögens- und Ertragslage auch Angaben zu den wesentlichen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, der Geschäftsentwicklung und der Geschäftsprognose sowie den damit verbundenen wesentlichen Chancen und Risiken macht (vgl. HGB, § 264). Bilanz und Bericht liefern eine Momentaufnahme zwischen Herkunft und Zukunft. Für den wertschöpfungsbezogenen Umgang mit Beziehungskapital bedeutet dies, dass in Bilanz und Bericht immer nur das abgebildet werden kann, was sich ereignet hat. Dahinter verbirgt sich die Frage, wie weitreichend der Umgang mit Beziehungskapital zuvor Gegenstand geschäftspolitischer Entscheidungsprozesse gewesen ist, wie weit also Bilanz und Bericht Ergebnisse mehr oder weniger ausgeprägte Bewirtschaftungsprozesse immaterieller Vermögenswerte ausweisen. Oder anders ausgedrückt: Der neue Bilanzwert hat weiterreichende Folgen, denn die Umsetzung der EU-Richtlinie nimmt nicht nur Einfluss auf die Berichterstattung, sondern zwingt die Geschäftsführungen auch, sich mit den immateriellen Vermögenswerten des Unternehmens und deren wertschöpfenden Einfluss auf den Geschäftsbetrieb auseinanderzusetzen.

Nachhaltigkeitskodex keine Lösung. Die als Lösung hierfür bislang vorgeschlagene und von der Bundesregierung unterstützte Nachhaltigkeitsanalyse mithilfe von Leistungsindikatoren des Deutschen Nachhaltigkeitskodex‘ kann bei näherer Betrachtung schon deswegen keinen befriedigenden Lösungsansatz bereitstellen, weil hier in die Nachhaltigkeitsberichterstattung nur das einfließt, was Unternehmen nach eigenem Bekunden an nachhaltigkeitsorientierten Maßnahmen ergreifen. Dabei bestehen gerade für die Kriterien des maßgeblichen strategischen Teils (strategische Analyse, Wesentlichkeit, Ziele, Tiefe der Wertschöpfungskette) keine Leistungsindikatoren5, was den