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KARIN HILDERBRANDT

Bis bald in

FRANKREICH!

ROMAN

© tao.de in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld

1. Auflage 2017

Autor: Karin Hildebrandt

Umschlaggestaltung, Illustration: Christiane Hibbe

Verlag: tao.de in J. Kamphausen Mediengruppe GmbH, Bielefeld,

www.tao.de, eMail: info@tao.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

ISBN Hardcover: 978-3-96051-668-2

ISBN Paperback: 978-3-96051-667-5

ISBN e-Book: 978-3-96051-669-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und sonstige Veröffentlichungen.

Vorbemerkung der Autorin:

Alles, was in diesem Roman geschieht, ist nie geschehen. Alle Personen, die in diesem Roman leben, haben nie gelebt. Alle Örtlichkeiten und Firmen, die real existieren, haben meine Freude und Faszination dermaßen beflügelt, dass ich sie kreativ in die Handlungsstränge einbaute.

Freunde

Jeder Schritt in diesem Leben ist von großem Glück umgeben, wenn du Freunde hast, die lachen, auch verrückte Sachen machen. Und dazu an dunklen Tagen, deine Nöte gern ertragen.

Kapitel 1

Auf der Straße hupte ein Auto. Zweimal kurz.

Typisch, dachte Carla, immer fünf Minuten vor der Zeit. Sie kannte die Hupe und brauchte gar nicht erst aus dem Fenster zu schauen, um zu wissen, wer gemeint war. Doch sie war so gut wie fertig. Ihr Gepäck stand bereits unten im Hausflur und die letzte Runde durch die Wohnung war auch schon gedreht. Schnell schlüpfte sie in ihre neuen dunkelgrünen Pumps. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, denn erstens waren die Schuhe ausnahmsweise einmal nicht schwarz und zweitens passten sie ausgezeichnet zu ihrem T-Shirt mit den grünblauen Streifen. Dazu die Jeans. Perfekt. Sie fühlte sich wohl. Und dass die farbliche Abstimmung ein reiner Zufall war, brauchte sie ihrer Freundin ja nicht zu offenbaren. Noch immer grinsend warf sie sich die alte Lederjacke über den Arm, schnappte sich ihre Handtasche und schloss die Wohnungstür. Leichtfüßig rannte sie die Stufen der beiden Stockwerke hinunter, als trüge sie ausgetretene Turnschuhe und nicht fünf Zentimeter hohe Hacken. Eine Bilanz ihres jahrelangen Trainings. Als sie die Haustür öffnete, stand Johanna schon vor ihr. Die beiden begrüßten sich herzlich und luden die Taschen in den Kofferraum, dessen Kapazität damit erschöpft war. Es war sieben Uhr in der Früh und um sieben Uhr wollten sie auch starten.

»Das nenne ich Timing«, strahlte Johanna, nachdem sich beide angeschnallt hatten. Sie liebte die Pünktlichkeit. Vielleicht lag es daran, dass sie sich jahrelang um die Terminführung in der Praxis ihres Mannes gekümmert hatte? Aber nein, winkte Carla gedanklich ab, so war sie schon als Kind. Mit einem routinierten Handgriff löste sie die Sitzbremse und fuhr ein Stück nach hinten, um sich für die bevorstehende Reise mehr Beinfreiheit zu gönnen. Dann öffnete sie ihre Handtasche und legte ihr Handy griffbereit in ein offenes Seitenfach. Sie konnte es einfach nicht ausstehen, hektisch nach dem Telefon kramen zu müssen, während es unentwegt klingelte oder rappelte oder sich sonst wie bemerkbar machte, je nachdem, welche Art der Lautgebung sie gerade ausgewählte hatte. Und auf dieser Fahrt würde das Gerät nicht schweigen, da war sie sich ganz sicher.

Carla registrierte, dass ihre Freundin jetzt die lange Reise einläutete. Dazu bedurfte es eines kleinen Rituals, das jedoch nur wenige Augenblicke andauerte. Sie schaute zum Innenspiegel des Autos, an dem ein kleiner Schutzengel baumelte, aus feinem Silber gearbeitet und mit weit ausgebreiteten kupfernen Flügeln. Sie schloss kurz die Augen und verharrte einige Augenblicke konzentriert und in sich gekehrt. Carla wusste, dass Johanna nun ihren Schutzengel Raphael um Fürsorge und Begleitung bat. Sie tat dieses vor jeder langen Reise, ohne viel Getue und mit einer Selbstverständlichkeit, die bewundernswert war. Insgeheim beneidete sie die Freundin um ihre festen Überzeugungen, besser ausgedrückt, sie beneidete Johanna um den Besitz einer tief verankerten und belastbaren Lebenseinstellung, weil ihr das eine Stärke und Sicherheit verlieh, die Carla selber gerne gehabt hätte. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, wäre Johannas Antwort gewesen, hätte sie Carlas Gedanken erraten können.

»So, los geht’s! Auf eine schöne Reise.«, sagte sie stattdessen und nahm ihre Freundin noch einmal in den Arm. Und schon fuhren sie los.

»Es ist die erste große Fahrt mit meinem neuen Schätzchen, sozusagen die Jungfernfahrt.«

Johanna sprach von ihrem Auto, einem Mini, den sie vor vier Wochen bekommen hatte.

»Weißt du eigentlich, dass es mein erstes eigenes nagelneues Auto ist?« Bedächtig hatte sie jedes einzelne Wort betont.

»Autos interessieren dich doch gar nicht. Am liebsten würdest du doch immer noch deine alte Ente fahren, wenn sie das bis heute durchgehalten hätte.«

»Das stimmt schon. Trotzdem ist es diesmal anders. Der Mini ist etwas Besonderes. Er hat Charakter, Charme, Ausstrahlung.« Johanna geriet ins Schwärmen »Oder etwa nicht?«

»Doch. Doch. Ausstrahlung kann ich nur bestätigen, wenn ich mir die Farbe so ansehe. Wahrscheinlich glaubt jeder Autofahrer, der uns begegnet, ein Bonbon hätte sich selbstständig gemacht.«

Johannas Mini, es war zum Erstaunen aller auch noch ein Cabrio geworden, erstrahlte in einem leuchtenden Violett. Sogar durch den Innenraum zogen sich entsprechende Zierstreifen, so dass man auch während der Fahrt der Farbe nicht entgehen konnte. Glücklicherweise hatte sie sich für neutrale schwarze Sitze entschieden. Eine Wohltat für die Augen aller Mitfahrer, wie nicht nur die Freundinnen, sondern auch Johannas Familie fand.

»Die Farbe Violett gefällt mir eben ausgesprochen gut und ist im Übrigen das Symbol für die Suche nach Ausgeglichenheit. Für mich zwei überzeugende Argumente.«

Ihr ernsthafter Gesichtsausdruck war gespielt, aber ihre Erklärung durchaus ernst gemeint. Vor zwei Jahren hatte Benedikt begonnen, seine Frau an den Gedanken eines neuen Autos zu gewöhnen. Immer wieder hatte er sie auf die Schwächen ihres 14 Jahre alten Polos aufmerksam gemacht, besonders, wenn dieser mal wieder nicht anspringen wollte oder im Winter die Heizung ausgefallen war. Große Hoffnungen hatte er auch auf den Sicherheitsaspekt gesetzt. So hatte er immer wieder dosiert einfließen lassen, dass er sie und die Kinder in diesem Auto nicht mehr sicher aufgehoben wisse. Steter Tropfen höhlt den Stein, hatte er wohl gehofft. Doch Johanna hatte sein Ansinnen von Anfang an durchschaut und ihm irgendwann Einhalt geboten.

»Gib dir keine Mühe, Benedikt«, hatte sie leichthin zu ihm gesagt, »die Zeit ist noch nicht gekommen.«

Es gab Entscheidungen in Johannas Leben, die ihr schwerfielen. Dabei handelte es sich immer um Bereiche, die sie nicht interessierten. Wie zum Beispiel ein Auto. Es hatte zuverlässig zu fahren, bequem zu sein und angemessen klein, damit das Einparken nicht zu mühselig wurde. Das war in diesem Zusammenhang auch schon alles. Natürlich wusste sie selber, dass damit noch längst nicht alle Aspekte eines guten Autos berücksichtigt wurden. Doch diese spielten für ihre Bedürfnisse keine Rolle und deren Auswertung hätte nur unnötig viel Zeit gekostet, denn eines war so sicher wie das Amen in der Kirche: Nicht nur ihr Mann, sondern auch ihre inzwischen halbwüchsigen Kinder hätten sich intensiv an der Diskussion beteiligt. Von ihren Freundinnen ganz zu schweigen. Nein, sie vertraute dem ausgereiften Standard der heutigen Autoindustrie und hatte lediglich ein ansprechendes Modell gebraucht. Doch diesen Prozess hatte sie nicht durch krampfhaftes Suchen beschleunigen können, denn sie verließ sich grundsätzlich auf die Fügung des Schicksals und ihre Intuition. Und so war es eines Tages auch geschehen, dass sie auf dem Parkplatz eines Supermarktes neben eine junge Frau gefahren war, die gerade ihre Einkäufe in den Kofferraum eines Minis eingeräumt hatte. Beim Anblick des Autos hatte Johannas Herz sogleich höhergeschlagen; der Mini hatte ihr Herz erobert. Die beiden Frauen waren sofort ins Gespräch und ins Schwärmen gekommen und so hatte Johanna aus erster Hand alles über das Auto erfahren können, was sie wissen wollte.

Als im letzten Winter dann die ersten Autoprospekte in der Familie aufgetaucht waren, hatte es niemand glauben wollen. Doch Johanna hatte nur gelächelt. Wie erwartet wurde zwei Wochen lang enthusiastisch über die technische Konfiguration des neuen Autos, über alle Details der Ausstattung und die beste Farbe diskutiert. Johanna hatte alle gewähren lassen und bei der Bestellung, die sie irgendwann stillschweigend in einer Mittagspause getätigt hatte, gerne die technischen Komponenten übernommen. Nur bezüglich der Farbe hatte sie ihre eigenen Vorstellungen umgesetzt. Als alle schon resigniert hatten und an keine Entscheidung mehr glauben mochten, besonders Benedikt nicht, hatte sie strahlend verkündet:

»Nächste Woche kann ich den Mini abholen.«

»Wen?«, echoten sie im Chor.

»Mein neues Auto natürlich.«

»Das glauben wir jetzt nicht!«

Alle hatten sie mit großen Augen angeschaut. Sie kannten Johanna und waren auch an ihre Eigenheiten gewöhnt. Alle wussten auch, dass es zwecklos war, sie zu irgendetwas zu drängen. Sie musste immer ihren eigenen Weg finden, mit den Dingen umzugehen. Doch wenn sie sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte, konnte sie sehr spontan und durchsetzungsstark sein. Dass sie jedoch hinter dem Rücken aller schon vor Monaten auf eigene Faust ihr Auto bestellt hatte, das hatte ihr keiner zugetraut. So hatte Johanna mit großer Freude beobachten können, wie alle ganz langsam aus ihrer Erstarrung erwacht waren.

»Und die Farbe?«

»Überraschung!« Johanna hatte über das ganze Gesicht gestrahlt. »Nur noch 13mal schlafen.«

AUSFAHRT VOR IHNEN! IN 100 METERN RECHTS ABBIEGEN AUF DIE AUTOBAHN!

Carla schreckte hoch.

»Mein Gott! Da bekommt man ja einen Herzinfarkt. Was ist denn das für eine Stimme? Und so laut!«

»Ich hatte bisher leider keine Zeit, mich um die Charlies Einstellungen zu kümmern. Tut mir leid. Aber ich habe unseren Zielort eingegeben. Und das ist doch wohl das Wichtigste, oder?«

»Hat Benedikt dir dabei geholfen?« Carla wurde misstrauisch.

»Nein. Gestern Abend wurde er noch zu einem Notfall gerufen und kam erst spät nach Hause. Dann haben wir es vergessen.«

»War Franz denn nicht da?«

»Nein.«

Carla nahm sich vor, möglichst rasch auf eine Kaffeepause zu drängen, um die Einstellungen des Navigationsgerätes zu kontrollieren. Sie kannte Johannas technisches Verständnis, es war schlichtweg nicht vorhanden. Warum musste sie auch alles bis auf die letzte Minute hinausschieben?

»Nun bleib mal ganz locker, Carla«, sagte Johanna, als hätte sie die Gedanken ihrer Freundin erspürt. »Du weißt doch selber, wie die letzten Tage vor dem Urlaub ablaufen. Vertrau mir einfach. Wir werden schon gut ankommen.«

Wenn das mal so einfach wäre, dachte Carla, lehnte sich aber in ihrem Sitz zurück und versuchte, sich zu entspannen. Ihr Blick fiel auf den kleinen Schutzengel, der am Innenspiegel lustig zappelte. Sie lächelte. Mein Gott, wie lange war das nun schon her? Es muss Anfang der Achtziger gewesen sein. Johanna hatte sich gerade genug Geld zusammengespart, um sich die alte Ente zu kaufen. Und damit auch ein großartiges Lebensgefühl. Diese Mischung aus Erwachsensein, Freiheit und Selbstständigkeit hatte das Leben der Freundinnen für viele Monate beflügelt. In jeder freien Minute waren sie herumkutschiert und hatten jeden Winkel in Münster und Umgebung unsicher gemacht. Doch zuvor hatten sie dieses Ereignis gebührend gefeiert, und zwar im Schwarzen Schaf in Münsters Studentenviertel. Eine ausgezeichnete Wahl für einen fröhlichen und ausgelassenen Abend. Oder sollte sie Nacht sagen? Auf jeden Fall hatte sie irgendwann in einem ruhigen Augenblick kurz vor Mitternacht ihrer Freundin ein kleines Geschenk überreicht.

»Ich wünsche dir allzeit eine gute und sichere Fahrt.«

Ein wenig verlegen hatte Johanna das Päckchen geöffnet und den Engel in die Hand genommen.

»Ein Schutzengel! Das ist ja großartig!«

Sie hatte so laut gesprochen, dass andere Gäste von den Nachbartischen aufgeschaut und die beiden etwas seltsam angesehen hatten. Doch Johanna hatte gejubelt und ihre Freundin herzlich umarmt.

»Damit hast du mir eine riesige Freude gemacht.«

Sie hatte den Engel Raphael genannt und am nächsten Morgen liebevoll in ihr Auto gehängt. Seitdem begleitete er sie von einem Auto zum nächsten.

Kapitel 2

»Hast du dir neue bequeme Reiseschuhe gekauft?«

Carla hatte ihre Beine so übereinandergeschlagen, dass ihre dunkelgrünen Pumps keine Chance hatten, ignoriert zu werden.

»Wie gefallen sie dir? Ich habe sie im Internet bestellt. Ein echtes Schnäppchen. Den Tipp habe ich von einer Kundin erhalten. Ich hatte schon Angst, dass sie nicht rechtzeitig geliefert würden. Spannung bis zum letzten Tag, aber gestern sind sie dann endlich gekommen. Ich finde, sie sehen toll aus.«

Johanna warf noch einen schnellen Blick zur Seite. Es waren schlichte geschmackvolle Pumps ohne jegliche Verzierung, wie mindestens zwanzig weitere Paare, die sich in Carlas Schuhschrank verbargen, jedoch mit einer Besonderheit.

»War dein Schuhnotstand so groß, dass du nicht warten konntest, bis sie in Schwarz erhältlich sind?«

Carla tat ein wenig beleidigt. »Ihr liegt mir doch ständig in den Ohren, ich soll mal etwas Farbe in meinen Kleiderschrank bringen. Und wenn ich euren Rat dann befolge, muss ich mich auf den Arm nehmen lassen.«

Mit ihr waren natürlich Johanna und Isabelle, die Dritte im Bunde, gemeint.

»Ganz im Ernst,« räumte Johanna reumütig ein, »das Grün sieht klasse aus! Richtig sexy. Und es ist haargenau der Farbton wie im T-Shirt. Wie hast du das denn hingekriegt?«

Carla wusste, dass Johanna damit nicht zum Ausdruck bringen wollte, dass sie keinen guten Geschmack besäße. Es war nur so, dass Carla noch nie viel Zeit für ihre Garderobe aufwenden wollte und viele Jahre lang aus zeitlichen Gründen auch nicht konnte. Außerdem war ihre Dienstkleidung schwarz, eine Vereinbarung, die sie und ihre Kolleginnen irgendwann einmal getroffen hatten. Man sah immer klassisch elegant aus und drückte Einheitlichkeit und Harmonie aus. Ihre Kundschaft reagierte seinerzeit überwiegend positiv auf diese Umstellung und empfand es als angenehm, auf den ersten Blick die Kunden von den Friseurinnen unterscheiden zu können. Diese Neuerung war eine von vielen Ideen gewesen, die Carla in den Friseursalon eingebracht hatte, nachdem Catharina Melis, ihre Chefin, sie zur Teilhaberin gemacht hatte. Praktischerweise war Carla auch in ihrer Freizeit bei der schwarzen Kleidung geblieben, zumindest überwiegend. Ein paar weiße Blusen und T-Shirts gab es wohl noch, aber man konnte sie an einer Hand abzählen. So konnte sie wahllos in den Kleiderschrank greifen, alles passte irgendwie zusammen und sie brauchte sich über dieses Thema keine Gedanken mehr zu machen. Das gefiel ihr gut. Ganz im Gegensatz zu ihren Freundinnen, die sich ständig mit neuen farbigen Vorschlägen und Ideen für sie auseinandersetzten. Daher waren gemeinsame Einkaufsbummel für Carla lange Zeit eine Horrorvorstellung gewesen, bis sie sich irgendwann jegliche Einmischung verbeten und damit gedroht hatte, die Freundinnen ansonsten beim Shoppen nicht mehr zu begleiten. Seitdem war Ruhe an dieser Front.

»Was soll denn an solchen Schuhen sexy sein?«

Johanna verdrehte die Augen.

»Dann schau dir doch mal meine an, dann fällt vielleicht der Groschen.«

Johanna war nur 1,60 cm groß. Dennoch trug sie stets nur flache Schuhe. Sie war die sportlichste der drei Frauen, schlank, aber nicht dünn, und durchtrainiert. Nach der Wahl ihrer Schuhe zu urteilen, rechnete sie stets damit, einen potentiellen Straßenräuber verfolgen zu müssen. Außerdem hatte sie einen Tick für farbenfrohe Schuhe und verrückte Details. Heute trug sie lila Turnschuhe zu einer lila Sommerjeans. Ein für ihre Verhältnisse ganz normales Outfit. Und auf ihrer schlichten weißen Bluse prangte die Rückenaufschrift Freiheit den Fifties.

»Ich gebe zu, ich erkenne einen gewissen Unterschied«, antwortete Carla mit Blick auf Johannas Füße. Und sofort prusteten beide los vor Lachen, weil ihnen derselbe Gedanke durch den Kopf geschossen war. Es war vor ungefähr zehn Jahren in Travemünde gewesen. Johanna, Carla und Isabelle hatten ihre jährliche Ladiestour an der Ostsee verbracht, fernab von Job, Familie oder Partner. Diese Urlaubswoche war ein fester Bestandteil ihrer Freundschaft seit nunmehr 25 Jahren. An diesem heißen Sommertag waren die drei Frauen über die Strandpromenade spaziert, stets einen interessierten Blick über die Auslagen werfend.

»Das gibt es doch nicht. Solche habe ich immer schon gesucht!«

Carla war auf einen großen Ständer mit Sommerschuhen zugeschossen. Mit geübtem Griff hatte sie ein Paar Sandaletten herausgezogen, Absatzhöhe etwa sechs Zentimeter, mit einer breiten schwarzen Schnalle auf dem Fußrist und ohne Riemchen an der Ferse. Schnell waren sie übergestreift.

»Genial. Und so bequem. Die nehme ich. Wie findet ihr sie?«

Johanna, die an diesem Tag ihre alberne Phase hatte, hatte sich – welcher Eingebung auch immer folgend – zu einer leicht unüberlegten Antwort hinreißen lassen.

»Ich finde sie auch toll. Wenn es die in einer anderen Farbe gäbe, würde ich sie auch sofort nehmen.«

Diese Gelegenheit konnten sich die beiden anderen nicht entgehen lassen. In Windeseile hatte Carla ein paar gelbe und Isabelle ein paar orangefarbene Sandalen in der Hand.

»Hier! Größe 36. Bitte schön.«

Johanna hatte sich gewunden wie ein Aal. Die Schuhe waren chic gewesen, keine Frage, und die Farben auch okay. Aber sechs Zentimeter Absatz. Niemals!

»Anprobieren!« Die Freundinnen hatten nicht lockergelassen.

»Aus der Nummer kommst du jetzt nicht mehr heraus.«

Sie hatten die Sandaletten demonstrativ neben Johannas Füße gestellt, so dass ihr nichts Anderes übriggeblieben war, als sich von ihren Birkenstock-Strandlatschen zu lösen und in die hohen Hacken zu schlüpfen.

»Willst du hier etwa stehen bleiben? Schuhe sind zum Gehen da. Nun lauf schon und probiere sie aus.«

Die Freundinnen hatten nicht aufgehört zu drängen, bis Johanna ein paar Schritte über die gut besuchte Strandpromenade gewagt hatte. Isabelle hatte sich demonstrativ dicht hinter Johanna aufgebaut und ihre Arme weit ausgebreitet, allzeit zum Auffangen oder Stützen bereit, während Carla ein paar Schritte vorgegangen war, um alles besser begutachten und ein Foto schießen zu können. Um diesen unmöglichen und auffälligen Auftritt der beiden endlich zu beenden, hatte Johanna Isabelle abgeschüttelt und war losgestöckelt. Zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben auf so hohen Schuhen. Drei Schritte lang war es den beiden Freundinnen gelungen, sich zu bremsen. Danach war es aus ihnen nur so herausgebrochen. Sie hatten geprustet, gestikuliert und vergeblich versucht, ein paar verständliche Worte herauszubringen. Doch sobald sie sich angesehen hatten, mussten sie sich wieder vor Lachen krümmen.

»Ich finde … Ich finde«, hatte Carla gekrächzt, »das Bild eines Stelzengängers recht passend.«

»Und ich muss immer an ein Männerballett denken. Einfach göttlich.« Tränen liefen über Isabelles Gesicht.

Johanna hatte etwas Zeit gebraucht, um ebenfalls mitlachen zu können.

»Das war gemein von euch damals.«

Johanna tuckerte hinter einem LKW her und aus Angst vor einem neuen Lachanfall traute sie sich nicht, ihn zu überholen.

»Gemein würde ich nicht sagen. Wir waren vielleicht ein wenig ausgelassen an diesem Tag. Du übrigens auch bis zu dieser Episode«, erinnerte sich Carla und grinste weiter.

»Außerdem musst du doch zugeben, dass du uns förmlich dazu herausgefordert hast. Oder etwa nicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ergänzte sie: »Im Übrigen hatte die Geschichte doch auch ihre positiven Aspekte.«

»Ach nee. Und welche sollten das gewesen sein?«

»Durch deinen Auftritt hatten wir glücklicherweise im Urlaub immer etwas zu lachen, besonders an den folgenden drei Tagen, wo es nur noch regnete.«

»Das stimmt allerdings. Und was noch?«

»Außerdem«, flötete Carla, »von diesem Zeitpunkt an wusstest du mit Gewissheit, dass hohe Schuhe nichts für dich sind.«

»Dazu, meine Liebe, hätte ich euren grandiosen Auftritt allerdings nicht gebraucht.«

Kapitel 3

Die nächsten Kilometer fuhren sie schweigend durch das Münsterland, vorbei an Getreide- und Gemüsefeldern, die sich mit grünen Wiesen abwechselten und regelmäßig von kleinen Baumgruppen oder Wäldchen unterbrochen wurden. Immer wieder tauchten stattliche Gehöfte und Anwesen auf, eingefriedet von hohen Bäumen. In den meisten Fällen waren es Eichen oder Kastanien, aber auch Buche und Ahorn waren hier beheimatet. Das Münsterland war durchzogen von vielen kleineren Ortschaften oder Kleinstädten, von denen die meisten durch einen gemütlichen Ortskern mit der Kirche als Mittelpunkt ihr Gesicht erhielten. Oftmals bestand ein großer Teil dieser Häuser aus alter Bausubstanz, was die stimmungsvolle Atmosphäre der Dörfer noch erhöhte. Auch die roten Klinkersteine der Gebäude trugen dazu bei und erinnerten an das Nachbarland Holland.

Die Münsterländer steckten viel Mühe in die Gestaltung und Dekoration ihrer Häuser. An den Fenstern, neben den Treppen und in den Gärten standen farblich aufeinander abgestimmte und liebevoll bepflanzte Blumenkästen und Amphoren. In den Fenstern hingen angepasst an die Jahreszeiten bunte Fensterbilder und viele Haustüren schmückten getrocknete Blumengebinde. Dass die Gärten ebenso aufwendig gepflegt waren, verstand sich von selber. Es schien, als hätten alle Menschen hier einen grünen Daumen. Auch dies war eine Gemeinsamkeit mit den niederländischen Gemeinden, die sofort auffiel, sobald man die Grenze überschritt.

Und dann gab es ja noch das Fahrrad als leidenschaftlich genutztes Hauptverkehrsmittel dieser Gegend. Wie die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bevorzugten auch die Freundinnen das gute alte Hollandrad. Diese Drahtesel waren robust und unverwüstlich und überdauerten nicht nur eine Generation. In der heutigen Wegwerfgesellschaft eine schier unglaubliche Vorstellung! Allerdings gelang diese Nachhaltigkeit auch nur bei der besonderen Fahrweise von kraftvoll, stetig und gleichmäßig.

Johanna und Carla liebten diese Gegend. Beide waren in Münster aufgewachsen und fühlten sich dort zu Hause. Und bis heute war es ihre Heimat geblieben, was sie beide als großes Glück empfanden. Sie hatten sich vor vier Jahrzehnten kennengelernt, als sie von der Grundschule zur Mädchen-Realschule gewechselt waren. Der Zufall hatte es wohl so gewollt, dass sie in derselben Klasse landeten und plötzlich nebeneinandersaßen. Vom ersten Schultag an hatten sich die beiden Mädchen gut verstanden, die temperamentvolle, zupackende und kommunikative Carla und die ruhige, zurückhaltende, aber äußerst eigenständige Johanna. Schnell war aus ihrer Sitznachbarschaft eine innige Freundschaft gewachsen. Bei den Lehrern waren beide sehr beliebt gewesen, weil sie ein unauffälliges Team bildeten, das viele gute Ideen in den Unterricht einbrachte. Obwohl sie mit allen anderen Klassenkameradinnen gut ausgekommen waren, hatten sich keine weiteren Freundschaften entwickelt. Die beiden hatten sich selber genügt.

So hatte es sich ganz selbstverständlich ergeben, dass sie immer mehr Freizeit miteinander verbrachten. Carlas Vater hatte sich mit einer kleinen Schusterwerkstatt in Münster selbstständig gemacht. Im hinteren Raum hatte der Vater gearbeitet, während in dem vorderen Verkaufsraum die reparierten Schuhe sowie Kleinigkeiten wie Schuhsenkel, Sohlen, Schuhspanner und Schuhcremes aufbewahrt und verkauft worden waren. Herr Gerber hatte sich als sorgfältiger und zuverlässiger Handwerker bald einen Namen gemacht, so dass seine Frau immer häufiger im Geschäft aushelfen musste, bis sie schließlich, als Carla zur Realschule gewechselt war, den ganzen Tag dort gearbeitet hatte. So war es Frau Gerber mehr als recht gewesen, dass sich die beiden Mädchen so rasch angefreundet und einen Teil der Freizeit entweder in der Werkstatt oder in ihrer Wohnung auf der ersten Etage verbracht hatten. Die Mädchen selber hatten die Werkstatt geliebt und Carlas Eltern gerne bei der Arbeit zugeschaut, manchmal auch geholfen. Besonders Carla war mit großer Freude auf die Kunden zugegangen. Vielleicht hatte sie damals schon geahnt, wie wertvoll diese Erfahrungen für ihr späteres berufliches Leben sein würden?

Allerdings hatten Carlas Eltern phasenweise recht wenig Zeit für die Kinder gehabt, so dass sie es stets begrüßt hatten, wenn ihre Tochter nach dem Unterricht mit Johanna nach Handorf gefahren war, wo Familie Lindemann einen großen Bauernhof bewohnte. Dort hatte Carla einen gänzlich anderen Lebensrhythmus kennengelernt, als sie es aus der Stadt gewohnt war. Natur und Tiere hatten dort den Ton angegeben und den Tagesablauf bestimmt. Neben dem Wetter natürlich. Und dann waren da noch Johannas Brüder gewesen, zwei ältere und ein jüngerer. Alle hatten sich ständig geneckt, woran sich Carla als Einzelkind erst gewöhnen musste. Doch sie hatte sich schnell eingefunden und erfahren, dass sich die Geschwister sehr gut verstanden und immer zusammenhielten, bis heute. Carla war rasch integriert worden, denn sie hatte gerne mit angepackt und die Freiheiten, die das Leben auf einem Hof so mitbrachte, genossen. Sie hatten eine herrliche Kindheit gehabt.

Und nun waren sie unterwegs nach Südfrankreich. Mit einem gleichbleibenden Tempo von 120 Stundenkilometern tuckerten sie dahin. Johanna fuhr nie schneller. Sie war der festen Überzeugung, dass Raserei, und alles über Tempo 120 war für sie Raserei, überhaupt nichts einbrachte. Die eventuell eingesparte Zeit würde durch aufgeriebene Nerven nicht aufgewogen. Sowieso sei es nicht möglich, Zeit zu gewinnen. Zeit könne man nicht aufholen, so ihre Devise, Zeit müsse jeden Augenblick gelebt werden.

»Ich glaube, ich habe heute Morgen zu viel getrunken.« Carla nahm ihre Handtasche und kramte eine Tüte Pfefferminzbonbons heraus.

»Soll ich dir eines auspacken?« Sie hielt Johanna die Tüte vor die Nase.

»Ja, gern. Vielleicht findest du ja noch mehr Aufgaben, die dich ein wenig ablenken. Wir machen nämlich frühestens in zwei Stunden Rast, eher in drei.«

»Warum denn das?«

»Erstens, weil wir das immer so gehandhabt haben. Und zweitens, weil du nur nach einer Gelegenheit suchst, Charly zu checken.«

»Aber das stimmt doch gar nicht!«

»Natürlich stimmt das. Ich kenne dich doch. Entspann dich, wir haben schließlich Urlaub, und vertrau mir einfach mal.«

»Du weißt, dass ich dir blind vertraue, halt nur nicht bei den technischen Dingen.«

»Du solltest mal darüber nachdenken, ob es dir guttut, wenn du so nachtragend bist.«

»Ich bin überhaupt nicht nachtragend, sondern ein gebranntes Kind. Und ich sage nur: Cochem an der Mosel.«

Johanna versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken und sowohl sich als auch ihre Freundin durch mehrmaliges Schauen in den Seiten- und Rückspiegel abzulenken.

»Du kannst dich doch noch daran erinnern, oder?«, stichelte Carla.

»Aber sicher. Es war eine wunderbare Ladiestour. Wir haben herrliche Wanderungen durch die Weinberge und eine Fahrradtour entlang der Mosel gemacht. Die Pension war eine Zumutung, aber der Blick vom Frühstückszimmer auf den Fluss phantastisch.«

»Ja, ja, aber …«

»Und wenn ich mich recht erinnere, hattest du dir für unsere Wanderungen neue Stöckelschuhe aus schwarzem Lackleder gekauft, die die erste Route durch die Weinberge, auf der uns leider der Regen erwischte, nicht überlebten.«

»Ich habe noch nie Wanderschuhe getragen und werde es auch in Zukunft nicht tun. Und ich habe mich nicht beklagt.«

»Das stimmt. Aber du hast dir die ersten Blasen deines Lebens gelaufen. Und wenn ich mir vorstelle …«

»Hör auf!«

Beide fingen an zu kichern.

»Dieses Bild werde ich nie vergessen.«

»Hör auf!«

Carla erinnerte sich sehr gut an die beiden riesigen Blasen, die einzigen, die sie sich in ihrem Leben bisher gelaufen hatte. An jeder Ferse blühte eine. Natürlich hatte sie sich nicht beschwert! Wie sollte sie auch. Schließlich war die Wahl ihrer Schuhe auf ihren Ladiestouren häufig genug Anlass für endlose Diskussionen gewesen, da die anderen beiden ihr immer wieder zu erklären versuchten, dass es einen berechtigten Unterschied gäbe zwischen Dienst- und Freizeitschuhen. Aber es hatte ihr noch nie Probleme bereitet, ausschließlich Pumps zu tragen, während der vielen Stunden im Friseursalon nicht und bei anderen Gelegenheiten erst recht nicht. Auch nicht bei stundenlangen Wanderungen. Nur in ihrer Wohnung trug sie Filzpantoffeln, um das Parkett zu schonen. So hatte sie sich auch in Cochem trotzig verteidigt.

»Wozu soll ich meine Gewohnheiten ändern? Um euch einen Gefallen zu tun?«

Bis zum Abend waren es lediglich die Schuhe gewesen, die den Ausflug nicht überlebt und daher für ausreichend Gesprächsstoff gesorgt hatten. Am nächsten Morgen jedoch hatte sich das Ausmaß leicht verschärft. Johanna und Isabelle waren die ersten beim Frühstück gewesen und hatten die Aussicht auf die Mosel genossen, als Carla den Raum betrat. Sofort war den beiden das angestrengte Lächeln ihrer Freundin aufgefallen. Und noch etwas war anders gewesen: Carlas Gang.

»Guten Morgen, ihr zwei. Ist was?«

Im Zeitlupentempo und fast synchron hatten Johanna und Isabelle ihre Köpfe gesenkt, um Carlas Füße zu begutachten. Es hatte sie nicht wirklich verwundert, dass ihr Blick auf schwarze Schuhe gefallen war. Dass diese vorne breit wie Moortreter gewesen waren, hatte schon eine ungewöhnlichere Nuance. Aber dass sie flach wie Badelatschen waren, hatte die beiden vollends sprachlos gemacht.

»Nein, nichts«, säuselten sie im Chor. »Gar nichts. Schau dir mal den blauen Himmel an. Es wird ein fantastischer Tag heute.«

»Ja, das sieht ganz danach aus. Aber ich brauche erstmal einen starken Kaffee.«

Unbeeindruckt und ein wenig unbeholfen war sie zum Büffet geschlurft, verfolgt von den Blicken der Freundinnen, die dabei das ganze Ausmaß der Leidensgeschichte entdeckt hatten. Carla hatte ihre Fersen dick eingepflastert. Die untere Schicht des Verbandes hatte aus einem dicken Mullpolster bestanden, das mit mehreren Schichten eines weißen Pflasters am Fuß befestigt worden war, so dass es wie ein überdimensioniertes Furunkel gewirkt hatte. Die schneeweiße Farbe hatte nicht gerade zur optischen Zurückhaltung dieses Gebildes beigetragen. Geradezu filigran und anmutig war ihnen das dünne schwarze Riemchen erschienen, das sich darüber spannte und mit dem letztmöglichen Loch in einer goldenen Schließe mündete. Johanna und Isabelle hatten sofort die Schwachstelle dieser Konstruktion erkannt. Es war eine höchst wackelige Angelegenheit gewesen, und das nicht nur in der Theorie. Als Carla sich mit der vollen Tasse vom Kaffeeautomaten abwenden wollte, war das Riemchen am rechten Fuß schon verrutscht und aus der Sandale war ein Schlappen geworden. Unbestritten hatte Carlas Gang weiter an Eleganz verloren. Nur mit größter Anstrengung hatten die beiden ihre Fassung bewahren können. Dann war es Isabelle mit fester Stimme gelungen, Carla einen konstruktiven Vorschlag zu unterbreiten:

»Vielleicht solltest du auch über die Riemchen einen Streifen Pflaster kleben. Das gäbe ihnen mehr Halt.«

Carla, noch immer um Contenance bemüht, hatte gerade angesetzt, um ihrer Entrüstung Ausdruck zu verleihen, als es aus den beiden anderen herausgebrochen war. Mindestens zehn Minuten lang hatten sie sich nicht mehr halten können vor Lachen, unterbrochen von immer abstruseren Vorschlägen. An diesem Tag hatten sie sich für eine Schiffstour entschieden.

»Wie geschickt du von Charly abgelenkt hast! Mein Kompliment.« Carla schaute ihre Freundin grinsend an.

Auch auf der Fahrt nach Cochem hatte Johanna am Steuer gesessen. Die Freundinnen wechselten sich immer ab, doch gab es keine feste Reihenfolge. Und Johanna fuhr gerne Auto, weil sie dann die Fahrweise und Geschwindigkeit beeinflussen konnte. Im Grunde genommen ließ sich Carla auch gerne von ihr chauffieren, obwohl sie selber wesentlich rasanter unterwegs war. Da an diesem Tag Isabelle wegen ihrer langen Beine das Privileg auf den Beifahrersitz genießen durfte, hatte Carla vom Rücksitz aus beruhigt registriert, dass ihre Freundin das Navigationsgerät, das sie von Anfang an Charly nannten, fest im Blick hatte. So war die Fahrt völlig reibungslos und fröhlich verlaufen. An einer Raststätte hatten sie sie kurz Halt gemacht, damit Carla und Isabelle zur Toilette gehen konnten, während Johanna im Auto auf sie gewartet hatte. Als Charly ihnen dann am folgenden Autobahnkreuz die nächste Ausfahrt angekündigt hatte, waren Isabelle und Carla sofort hellhörig geworden.

»Das kann nicht sein«, hatte Isabelle gesagt. Sie besaß von allen den besten Orientierungssinn und war die einzige, die sich auf alle Reisen gut vorbereitete.

»Auch du kannst dich mal täuschen.« In aller Ruhe hatte Johanna den Blinker gesetzt.

»Du fährst auf jeden Fall weiter geradeaus! Bei der nächsten Möglichkeit können wir anhalten und in Ruhe nachschauen. Aber hier fahren wir nicht raus.«

Nur äußerst selten bediente sich Isabelle ihres Lehrerinnen-Befehlstons, aber er hatte bewirkt, dass Johanna den Blinker wieder zurücksetzte und erstaunlich widerspruchslos weitergefahren war. Das allein hätte die beiden anderen schon ein wenig stutzig machen sollen, aber sie waren in zu guter Urlaubsstimmung gewesen. Zehn Minuten später hatten sie angehalten. Isabelle und Carla hatten sich sofort über Charly gebeugt, während Johanna vorgetäuscht hatte, etwas aus dem Kofferraum holen zu müssen in der Hoffnung, die Explosion dadurch ein wenig abmildern zu können. Die beiden merkten es natürlich sofort: Jemand hatte die Einstellungen verändert. Ein falscher Zielort war eingegeben worden.

»Johanna!!!«

»Was ist denn?« flötete Johanna. »Ich habe doch nur ein wenig lernen wollen.«

Kapitel 4

Sie hörten eine Melodie von Chopin.

»Kannst du mal bitte drangehen?«

Carla nahm Johannas Handy von der Ablage und sah im Display, dass es Franz war.

»Hallo Franz. Hier ist Carla. Alles klar zu Hause?«

Franziska, Johannas Älteste, wurde von allen nur Franz genannt. Die einzige Ausnahme war ihre Mutter, die nichts von Abkürzungen hielt. Franziska war ein Technikfreak und hatte es schon als kleines Kind abgelehnt, mit Puppen zu spielen. Stattdessen hatte sie sich all das zusammengesucht, was sich bauen, zusammenstecken oder besser noch zusammenschrauben ließ. Und heute, als 16jährige, interessierte sie sich immer noch nicht für die Interessensgebiete ihrer Mitschülerinnen wie neue Modetrends oder Frisuren. Ihre Freunde waren Jungen, die wie sie Spaß an Computertechnologie hatten.

»Gut, dass du dran bist, Carla. Lass dir jetzt bitte nichts anmerken. Wo seid ihr?«

»Wir sind gleich auf dem Kölner Ring.«

»Ging bisher alles gut?«

»Ja, wir sind gut durchgekommen. Hatten keinen Stau und der Verkehr hält sich auch in Grenzen. Ich habe es mir voller vorgestellt.«

»Das ist gut. Mama wollte nicht, dass ich Charly programmiere, was ich mir überhaupt nicht erklären kann. Aber sie hat sich strikt geweigert, tat so komisch, als würde ihr niemand was zutrauen und so. Du musst auf jeden Fall mit auf den Weg achten! In Köln nehmt ihr die A 4 Richtung Aachen. Die Strecke ist wesentlich ruhiger, weil ihr durch Belgien fahrt und dort nur 130 gefahren werden darf. Hinter Aachen dann Richtung Lüttich. Auf Französisch heißt das Liège. LIÈGE. Dann Bastogne und an Luxemburg vorbei nach Metz.«

»Seit wann redet Franziska denn so lange an einem Stück?« Johanna wurde hellhörig.

»Hör zu, Franz.« Carla musste improvisieren. »Wenn Max sich vor seinem Auftritt am Samstag unbedingt noch die Haare stylen lassen will, soll er sich an Catharina wenden und ihr schöne Grüße von mir bestellen. Sie wird sicher eine Lösung finden, ihn terminlich dazwischen zu kriegen. Schließlich sind Ferien und Max ist flexibel.«

Max war Johannas Zweitgeborener, ein zurückhaltender, höflicher, 14jähriger Teenager. Er war der musikalischste der Familie und spielte schon recht gut Schlagzeug. Seinen Eltern wäre zwar Klavier, Geige oder Posaune lieber gewesen, doch hatten sie nie versucht, ihren Sohn umzustimmen. Inzwischen gehörte er einer Jugendband an und am Samstag hatten sie einen ihrer regelmäßigen Auftritte im Jugendclub.

»Möchtest du noch deine Mutter sprechen?«

»Wenn sie sich das zutraut?« Franziska lachte. Sie wusste, dass Johanna während des Fahrens normalerweise nicht telefonierte. Carla stellte das Handy auf Laut und schwenkte ihren Arm zu Johannas Ohr.

»Guten Morgen, Franziska. Was habe ich da von Max gehört?«

Max sah seiner Mutter sehr ähnlich. Er hatte die gleichen strahlend blauen Augen und die dicke blonde lockige Haarmähne, die ohne Hilfsmittel so schwer zu bändigen war. Er trug seine Haare schulterlang und zu einem Zopf zusammengebunden. Die am wenigsten aufwendige Lösung, wie er fand. Schon oft hatte Carla ihm einen ebenso pflegeleichten, jedoch kurzen und in ihren Augen flotteren Haarschnitt vorgeschlagen, bisher jedoch ohne Erfolg. Er war auch derjenige, den sie aus der Familie Schulte-Loh am seltensten in ihrem Geschäft sah. Sein jüngerer Bruder und Franziska ähnelten typmäßig beide dem Vater mit ihren glatten braunen Haaren. Franziska trug ihre lang und kam ab und zu zum Nachschneiden in den Salon, Timo regelmäßig, meistens zusammen mit seinem Vater. Mit allen drei Kindern ihrer Freundin verband Carla ein sehr enges Verhältnis, besonders aber mit Franziska, die mit ihrer eigenen Tochter Corinna befreundet war. So gab es Zeiten, wo Carla Franziska häufiger sah als Johanna.

»Ach so ist das. Er wird schon wissen, was er tut. Grüß auch alle von mir, Franziska. Dank dir für deinen Anruf und einen schönen Tag noch, Liebes.«

AUSFAHRT VOR IHNEN! IN 500 METERN NEHMEN SIE DIE AUSFAHRT!

Franz‘ Anruf hatte Carla noch mehr verunsichert. Mussten sie jetzt wirklich die nächste Ausfahrt nehmen? Warum hatte sie nicht besser auf die Beschilderung geachtet? Krampfhaft suchte sie nach Worten, die ihre Bedenken verbergen sollten. Und das unter Zeitdruck, was noch nie ihre Stärke gewesen war.

AUSFAHRT VOR IHNEN! IN 300 METERN NEHMEN SIE DIE AUSFAHRT!

Noch 300 Meter. Ihre Gedanken rasten.

»Auf welche Autobahn müssen wir denn jetzt wechseln?«

Ihre Stimme klang viel zu ölig, aber sie konnte es nicht ändern.

»Wir fahren jetzt auf die A 4 Richtung Aachen«, antwortete Johanna souverän. »Die Strecke über Belgien ist weniger befahren und daher gemütlicher. Und bei dem Tempolimit vom 130, das ich nicht vorhabe auszukosten, fühlst du dich sicherlich auch weniger als Bremsklotz.«

Carla blieb der Mund offenstehen.

»In Höhe Düren muss es eine Raststätte geben. Dort können wir kurz anhalten, wenn du möchtest. Ich finde es allerdings noch zu früh. Von mir aus fahren wir weiter bis Aachen, überqueren erst einmal die Grenze nach Belgien und nehmen dann die erste Raststätte. Was meinst du?«

Carla hatte keine Meinung mehr. Sie nickte stumm. Aus ihren Augenwinkeln heraus glaubte sie, ein leichtes Schmunzeln in Johannas Gesicht zu erkennen.

Kapitel 5

»Stau! Der hat ja lange auf sich warten lassen.«

»Das stimmt. Aber das ist die Großbaustelle vom Tagebau. Da ist immer Stau, weil sich die Fahrbahn verengt.«

So langsam wurde es Carla unheimlich. »Nun mal heraus mit der Sprache. Woher weißt du das alles, Johanna? Du hast dich doch noch nie um solche Sachen gekümmert.« Carla schaute ihre Freundin auffordernd an.

»Erstens bin ich heute die Fahrerin und zweitens ist das die längste Strecke, die wir bisher zusammen mit dem Auto zurückgelegt haben. Da muss man sich doch ein wenig vorbereiten, finde ich.«

»Findest du!«

»Ja, finde ich.«

Sie standen auf der Überholspur. Langsam, aber stetig zogen PKWs und LKWs rechts an ihnen vorüber. Es waren viele Campingwagen und Caravans darunter, oft beladen mit Fahrrädern. Die Ferienzeit hatte begonnen. Das merkten sie auch an den Gesichtern der Menschen. Die Kinder winkten aus den Autos heraus, die Erwachsenen unterhielten sich fröhlich oder sangen zur Radiomusik und ließen andere Autos großzügig vorbeifahren, damit sie sich einfädeln konnten. Es gefiel Johanna, ihre Freundin ein wenig auf die Folter zu spannen. Diese hatte inzwischen ihre Pumps ausgezogen, die Füße auf das Armaturenbrett gelegt und das Seitenfenster heruntergekurbelt.

»Wie in alten Zeiten. Dreh doch mal die Musik etwas lauter.«

Im Radio wurde ein Lied der Beatles gespielt und die beiden sangen mit, so gut sie konnten. Als es zu schräg wurde, ging ihre Melodie in Lachen über.

»Wirklich, wie in alten Zeiten, als wir an jedem Wochenende mit der Ente unterwegs waren. Weißt du noch?«

»Ja, klar. Wie könnte ich das jemals vergessen! Es war eine tolle Zeit.«

Johanna nutzte eine große Lücke, um sich rechts einzuordnen, was in 50 Metern ohnehin erforderlich war. Sie schaute nach links.

»Es sieht so aus, als würde nicht jeder in einer ausgelassenen Stimmung sein. Schau mal nach links.«

Carla drehte sich herum und sah ein gut aussehendes Pärchen in ihrem Alter. Die Frau saß am Steuer des roten BMW und redete wütend auf ihren Mann ein, der nur den Kopf schüttelte und ratlos mit den Händen wedelte. Es war kein harmonisches Bild, doch für Johanna und Carla nur ein flüchtiger Eindruck, denn im nächsten Moment waren die beiden schon weitergerollt.

»Glaubst du, dass Max ein Mädchen kennengelernt hat? Franziska hat so etwas angedeutet, weil er so kurzfristig einen Termin bei euch wollte.«

»Das ist doch gut möglich, schließlich ist er schon 14.«

»Wie, schon 14?!«

»Mit 14 ist es doch wohl an der Zeit, dass man sich mit dem anderen Geschlecht beschäftigt.«

»Ich finde, das ist viel zu früh! Franziska ist zwei Jahre älter und hat auch noch keinen Freund.«

»Du weißt selber, dass Franz kein Maßstab ist. Sie lebt in anderen Sphären. Außerdem musst du dich wohl daran gewöhnen, dass deine Kinder in ein Alter kommen, wo sie dir nicht mehr alles erzählen.«

»Was soll das denn heißen! Hat Franziska dir irgendetwas erzählt? Weißt du etwas, das ich wissen sollte?«

Carla wand sich innerlich wie ein Aal. Wie kam sie aus dieser Nummer nur wieder heraus? Man sollte sich wirklich jede Notlüge gut überlegen.

»Ich weiß nicht mehr als du, Johanna. Ich finde nur, dass 14 ein normales Alter ist, um sich mal umzuschauen. Das ist alles. Vielleicht sucht Max ja auch nur eine Sommerfrisur, weil ihm seine dicke Matte zu warm geworden ist?«

»Ja, das wäre natürlich auch möglich. Trotzdem, wir hatten damals mit 14 doch noch ganz andere Interessen.« Johanna zog ihre Stirn kraus.

»Es war aber auch eine andere Zeit, das darfst du nicht vergessen. Wir hatten lange nicht so viele Freiheiten wie die Kinder heute. Außerdem waren wir auf einer Mädchenschule und tagsüber ziemlich sicher aufgehoben.«

»Das ist gut ausgedrückt.«

Inzwischen waren wieder beide Fahrspuren geöffnet und der Verkehr entspannte sich. Johanna scherte nach links aus, um einige LKWs zu überholen. Jetzt oder nie, dachte sie in dem Bewusstsein, dass solche Manöver bei ihrem Fahrstil grundsätzlich etwas mehr Zeit in Anspruch nahmen. Doch schon nach wenigen Augenblicken hatte ein roter BWM aufgeholt und fuhr aufdringlich dicht an sie heran. Carla registrierte ihn sogar in ihrem Außenspiegel.

»Der hat’s aber eilig. Junge, Junge. Das grenzt ja schon an Nötigung.«

»Reisende soll man eigentlich nicht aufhalten. Aber wenn ich die LKWs jetzt nicht überhole, komme ich gar nicht mehr an ihnen vorbei. Noch zwei, dann ist es geschafft.« Johanna schaute in den Rückspiegel.

»Lichthupe! Das gibt es doch nicht. Ach, sieh mal einer an. Ist das nicht das Stresspärchen vom Stau?«

Carla drehte sich um und schaute nach hinten.

»Stimmt. Die Frau hat aber ganz schön Feuer unterm Hintern.«

Kurzentschlossen setzte Carla ihr breitestes Lächeln auf und winkte ihnen fröhlich zu. Sofort wurde der Abstand zwischen den beiden Autos größer.

»Hat sie jetzt Angst vor zu viel Nähe oder Fröhlichkeit?«, überlegte Carla. »Vielleicht mag sie aber auch die Farbe Violett nicht.«