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Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik

Herausgegeben von Michael Ermann

 

A. Buchheim: Bindung und Exploration (2016)

U. T. Egle/B. Zentgraf: Psychosomatische Schmerztherapie (2014/2017)

M. Ermann: Herz und Seele (2005)

M. Ermann: Träume und Träumen (2005/2014)

M. Ermann: Freud und die Psychoanalyse (2008/2015)

M. Ermann: Psychoanalyse in den Jahren nach Freud (2009/2012)

M. Ermann: Psychoanalyse heute (2010/2017)

M. Ermann: Angst und Angststörungen (2012)

M. Ermann: Der Andere in der Psychoanalyse (2014/2017)

U. Gast/P. Wabnitz: Dissoziative Störungen erkennen und behandeln (2014)

R. Gross: Der Psychotherapeut im Film (2012)

O. F. Kernberg: Hass, Wut, Gewalt und Narzissmus (2012)

J. Körner: Abwehr und Persönlichkeit (2013)

J. Körner: Die Deutung in der Psychoanalyse (2015)

R. Kreische: Paarbeziehungen und Paartherapie (2012)

W. Machleidt: Migration, Kultur und psychische Gesundheit (2013)

L. Reddemann: Kontexte von Achtsamkeit in der Psychotherapie (2011)

A. Riehl-Emde: Wenn alte Liebe doch mal rostet (2014)

C. Stadler: Traum und Märchen (2015)

U. Streeck: Gestik und die therapeutische Beziehung (2009)

R. T. Vogel: Existenzielle Themen in der Psychotherapie (2013)

R. T. Vogel: Das Dunkle im Menschen (2015)

L. Wurmser: Scham und der böse Blick (2011/2014)

H. Znoj: Trauer und Trauerbewältigung (2012)

Michael Ermann

Psychoanalyse heute

Entwicklungen seit 1975 und aktuelle Bilanz

3. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses Buch stellt eine grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung der Vorlesungen dar, die der Autor zum gleichen Thema im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2009 gehalten hat. Unter www.auditoriumnetzwerk.de ist eine Übersicht aller Aufnahmen der Lindauer Psychotherapiewochen einzusehen, die unter info@auditorium-netzwerk.de angefordert werden kann.

 

 

 

3. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031204-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031205-0

epub:    ISBN 978-3-17-031206-7

mobi:    ISBN 978-3-17-031207-4

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Den Hörern meiner Lindauer Vorlesungen gewidmet,
denen ich wichtige Anregungen für die Publikation verdanke.

 

Inhalt

 

 

  1. Vorwort
  2. 1. Vorlesung
    Psychoanalyse nach 1975
  3. Anknüpfung
  4. Das Erbe Sigmund Freuds
  5. Psychoanalyse in den Jahren nach Freud (1940–75)
  6. Der Verlust des Common Ground im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts
  7. Vom Psychoanalyseboom zum Freud-Bashing
  8. Die Diversifizierung psychoanalytischer Theorien und Konzepte
  9. Die Sorge um den Verlust der verbindenden Basis
  10. Spezielle Entwicklungen in Deutschland
  11. Die Spuren der NS-Zeit
  12. Die 1968er Bewegung und ihre Folgen
  13. Die Normalisierung der psychoanalytischen Landschaft
  14. Wissenschaftliche Entwicklungen
  15. Blick auf die Gegenwart
  16. 2. Vorlesung
    Selbstpsychologie und Narzissmus
  17. Selbst und Selbstpsychologie
  18. Kohuts Beitrag zur Psychoanalyse
  19. Behandlung
  20. Bewertung von Kohuts Werk
  21. Integration von Ich- und Objektbeziehungs-Psychologie
  22. Kernbergs integratives Modell
  23. Kernbergs Narzissmuskonzept
  24. Behandlung
  25. Bewertung
  26. 3. Vorlesung
    Intersubjektivität – das neue Paradigma
  27. Was ist Intersubjektivität?
  28. Von der Selbstpsychologie zur Intersubjektivität
  29. Das intersubjektive Paradigma in der Behandlung
  30. Intersubjektivismus in der Psychoanalyse
  31. Kritik am Intersubjektivismus
  32. Einführung in die relationale Psychoanalyse
  33. Vorläufer in der interpersonellen Theorie
  34. Das relationale Modell von Steven A. Mitchell
  35. Behandlung
  36. Bewertung
  37. Intersubjektive Ansätze in Deutschland
  38. Übertragung als zirkulärer Prozess
  39. Szenisches Verstehen und Handlungsdialog
  40. Dialektisch-emanzipatorische Beziehungsanalyse
  41. 4. Vorlesung
    Neue Einsichten in die Frühentwicklung
  42. Die klassische Auffassung
  43. Säuglingsforschung
  44. René Spitz
  45. Margaret Mahler
  46. Daniel N. Stern
  47. Der kompetente Säugling
  48. Bindungstheorie
  49. Bowlby und Ainsworth, die „Eltern“ der Bindungstheorie
  50. Befunde zur Bindungstheorie
  51. Folgerungen für die Psychoanalyse
  52. Die Gestaltung der analytischen Situation
  53. Der Umgang mit der therapeutischen Beziehung
  54. 5. Vorlesung
    Am Beginn des dritten Jahrtausends
  55. Aktuelle Themen in der Psychoanalyse
  56. Ein Blick in die Gedächtnisforschung
  57. Ein kurzer Blick in Richtung Neurobiologie
  58. Mentalisierung und psychisches Funktionieren
  59. Sterns „Now Moments“
  60. Psychoanalyse am Beginn des 21. Jahrhunderts
  61. Die Attraktivität der Psychoanalyse im 21. Jahrhundert
  62. Anhang
  63. Abkürzungen
  64. Hinweise
  65. Literaturempfehlungen
  66. Bildnachweis
  67. Stichwortverzeichnis
  68. Personenverzeichnis

 

Vorwort

 

 

 

Dieses Buch schließt an die Bände „Freud und die Psychoanalyse“ und „Psychoanalyse in den Jahren nach Freud“ an, die aus meinen Vorlesungen bei den Lindauer Psychotherapiewochen entstanden sind. Alle Bände stellen psychoanalytische Entwicklungen und Konzepte vor dem Hintergrund der Wissenschaftsgeschichte und persönlicher Biografien dar. Sie richten sich an Psychotherapeuten in Ausbildung und Praxis, die eine Einführung in die Entwicklung der Psychoanalyse von den Anfängen bis heute suchen oder ihr Wissen auffrischen wollen.

Dieser Band schildert, wie die Psychoanalyse über die Ich- und Objektbeziehungs-Psychologie hinausgewachsen ist und jetzt mehr und mehr auf ein Denken in aktuellen Beziehungen Bezug nimmt. Damit entstand eine fundamentale Änderung der Behandlungspraxis. Viele Grundhaltungen und Überzeugungen wurden in Frage gestellt, modifiziert oder aufgegeben. Zuwendung, Authentizität und kontrollierte Offenheit bestimmen heute die Begegnung.

Das Buch erörtert Ursprung, Chancen und Gefahren dieser neuen Orientierung, speziell auch mit Blick auf die zeitgenössischen Störungen und Aufgaben, und endet mit einem Blick in die Nachbarwissenschaften und in die gegenwärtige Praxis der psychoanalytischen Behandlungen.

Ich bin meinen Hörern bei den Lindauer Psychotherapiewochen dankbar, die meine Vorlesungen in den Veranstaltungspausen und in anschließenden Seminaren diskutiert haben und mir wichtige Hinweise für die Bearbeitung gegeben haben. Ihnen widme ich diesen Band. Ebenso bedanke ich mich beim Kohlhammer-Verlag, insbesondere bei Dr. Ruprecht Poensgen und Ulrike Merkel, für die verlegerische Betreuung der Publikation sowie Katja Huber für die sorgfältigen Korrekturen.

 

München, im Dezember 2009

Michael Ermann

 

1.         Vorlesung
Psychoanalyse nach 1975

 

 

Anknüpfung

Das Erbe Sigmund Freuds

Sigmund Freud starb im September 1939, wenige Tage nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, im Alter von 83 Jahren im Exil in London. Bis zu seinem Tod war er die unbestrittene Leitfigur und Autorität der Psychoanalyse, unermüdlich in seinem Wirken und Schaffen. Noch in den letzten Lebenstagen arbeitete er an der Vollendung seines Werkes. Dieses umfasste bei seinem Tod einen Corpus von grundlegenden Konzepten, welche vor allem die psychische Tiefendimension des menschlichen Seelenlebens erklärte, d. h. die Motivationen im Hintergrund des Erlebens und Verhaltens. In ihrem Zentrum steht das Konzept des Unbewussten. Es ist das fundamental Neue des Freud’schen Denkens und der Kern der Psychoanalyse.1

Freud hat das Konzept des Unbewussten, dem er in verschiedenen psychischen Bereichen nachgespürt hat, auf verschiedene Bereiche angewandt:

•  auf die Normalpsychologie, d. h. auf die normale Entwicklung und die Funktionen der gesunden Seele,

•  auf die Psychopathologie, d. h. auf krankhaft veränderte seelische Vorgänge und die Entstehung von seelisch begründeten Erkrankungen,

•  auf die Psychotherapie, d. h. auf die Behandlung seelischer Erkrankungen durch Aufklärung der verborgenen Krankheitsprozesse in Gesprächen und

•  auf die Sozial- und Kulturtheorie, d. h. auf die Erklärung gesellschaftlicher Prozesse und auf die der Kulturentwicklung.

Freud entwickelte die Psychoanalyse zwischen 1890 und 1925 in verschiedenen Stufen. Dabei gab er seinen Konzepten, vor allem dem Konzept des Unbewussten, verschiedene Fassungen. So stellt das Werk, das er nach seinem Tode hinterließ, kein in sich völlig geschlossenes und widerspruchsfreies Gesamtsystem dar. Es vermittelt aber bedeutende Einsichten und Erkenntnisse in wesentliche Phänomene des Erlebens und Verhaltens in Gesundheit und Krankheit, im Individuellen und im Zwischenmenschlichen, die bis heute gültig sind. Damit hat er wie kaum ein anderer am kulturellen Fortschritt des 20. Jahrhunderts mitgewirkt.

Indem Freuds Autorität zu seinen Lebzeiten die Psychoanalyse völlig beherrschte und er auch wenig Widerspruch duldete, stellte sie bei seinem Tode ein relativ einheitliches Theoriegebäude dar, das von einer ganz auf ihn ausgerichteten Anhängerschaft getragen wurde. Abweichende Auffassungen verstummten, wobei die Einheit der psychoanalytischen Lehre und ihrer Anhängerschaft, der „psychoanalytischen Bewegung“, durch Ausgrenzungen, Abspaltungen und Dissidenz bewahrt wurde. Carl Gustav Jung und Alfred Adler sind die bekanntesten frühen „Dissidenten“, an denen diese Tendenz sich zeigte.

Psychoanalyse in den Jahren nach Freud (1940–75)2

Das änderte sich, als Freuds Autorität nach seinem Tod und mit der Ächtung seiner Lehre im bisherigen Kerngebiet in Mitteleuropa in der Zeit des Nationalsozialismus verblasste. Der größte Teil der Psychoanalytiker, die meisten unter ihnen jüdischer Abstammung, emigrierte. Die Emigranten gründeten vor allem in den USA und in London neue Zentren, die sich nun an den dortigen Gegebenheiten orientierten und sich zunehmend unabhängig von der Wiener Lehre, aber auch unabhängig voneinander entwickelten. So entstanden in den USA die Neopsychoanalyse und die amerikanische Ich-Psychologie und in London die Objektbeziehungstheorie. Beide waren später für die weiteren Entwicklungen hin zu einem psychoanalytischen „Mainstream“ maßgeblich. Frankreich blieb von diesen Entwicklungen lange unberührt und entwickelte mit der Strukturalen Psychoanalyse eine ganz eigene Richtung. In Deutschland und Österreich kam es im „Dritten Reich“ zu einem weitgehenden Verstummen, während in der politisch neutralen Schweiz starke eigenständige Strömungen bestanden, vor allem die Analytische Psychologie von C. G. Jung und die Daseinsanalyse, die auf Ludwig Binswanger zurückging.

Der Verlust des Common Ground im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts

Die Kriegs- und Nachkriegsjahre waren über Jahre und Jahrzehnte durch einen geistig-kulturellen Nachholbedarf geprägt, an dem auch die Psychoanalyse partizipierte und der ihr zugleich einen bedeutenden Platz in Forschung und Gesellschaft eröffnete. Psychoanalytiker beteiligten sich an der Bearbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit. Sie halfen bei der Neuordnung des Bildungs- und Sozialsystems. Mit der dynamischen Psychiatrie wurde die analytisch orientierte Behandlung von Psychosen zu einem festen Bestandteil der Gesundheitssysteme. Die Psychosomatik analytischer Provenienz bereicherte das Verständnis der „neuen“ Erkrankungen, die seit dem Zweiten Weltkrieg im Zunehmen begriffen waren. Durch systematische Erfolgsuntersuchungen gelang es, der analytischen Psychotherapie öffentliche Anerkennung zu verschaffen. In Deutschland wurde sie 1967 als Pflichtleistung im öffentlichen Gesundheitssystem verankert.

Vom Psychoanalyseboom zum Freud-Bashing

Der Aufwärtstrend gipfelte schließlich in einer überraschenden Resonanz für die „Botschaften“ der Psychoanalyse im Zusammenhang mit den Revolten und Umbrüchen der sog. 1968er Jahre. Sie wurde plötzlich zu einem der Referenzpunkte für die kritische Generation der Studenten und Intellektuellen. In der Folge gelangte die Psychoanalyse zu einer beachtlichen Blüte. In den kulturellen Zentren boomte das Interesse an psychoanalytischer Literatur. Freud und Wilhelm Reich3 hatten Konjunktur. In Paris wurde Jaques Lacan zu einem Idol der 68er Bewegung.4 Psychoanalytisches Gedankengut fand in den öffentlichen Diskursen Niederschlag und befruchtete fast alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Ein anerkennendes Klima bestimmte die Gesundheits-, Hochschul- und Wissenschaftspolitik und bewirkte, dass die Psychoanalyse sich in Gesellschaft und Institutionen fest etablierte.

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Abb. 1: Freud-Bashing. In den 1980er und 1990er Jahren erschienen regelmäßig kritische und z. T. unsachlich abwertende Artikel gegen die Psychoanalyse, die sich allerdings überwiegend auf damals bereits überholte Teile der Freud’schen Lehre bezogen und die modernen Entwicklungen nicht hinreichend berücksichtigten. Hier: „Zweifel an Freud“ im Spiegel 52/1984. http://www.spiegel.de/spiegel/

Diese Blüte währte etwa zwei Jahrzehnte, erfasste mit unterschiedlichen Schwerpunkten die meisten westlichen Länder und führte zu einer erheblichen Vermehrung der Psychotherapeuten, die eine Ausbildung absolvierten, und zu einer deutlichen Verbesserung der Versorgungslage. Dann stellte sich eine Wende ein, mit der sich der Wind gegen die Psychoanalyse wendete. Plötzlich galt sie als ineffektiv und in intellektuellen Kreisen als veraltet und rückständig. Wissenschaftstheoretiker wie Karl Popper, Thomas S. Kuhn und Adolf Grünbaum bezweifelten sogar ihren Status als Wissenschaft.5 Es entstand ein regelrechtes Freud-Bashing, das sich in regelmäßigen Auslassungen in den Journalen und Magazinen wie dem Spiegel, der Zeit oder Newsweek Ausdruck verschaffte.

Erst eine gewisse Anerkennung durch die Neurowissenschaften in den 1990er Jahren, zu der der US-amerikanische Nobelpreisträger Eric Kandel beitrug,6 und eine regelrechte Medienkampagne anläßlich von Freuds 150. Geburtstag bewirkten wieder eine Neubesinnung auf Freuds Verdienste und ließen sein Erbe und die Weiterentwicklungen in einem freundlichen Licht erscheinen.

Die Diversifizierung psychoanalytischer Theorien und Konzepte

Die Popularisierung durch die 1968er Bewegung erschien für die Psychoanalyse zunächst förderlich, auch wenn hier und da eine gewisse Entfremdung von ihren Zielen und Methoden zu erkennen war. Sie ging allerdings weniger auf das Konto der Psychoanalytiker selbst. Sie war vielmehr einer unzureichenden Durchdringung ihrer Ideen durch die „Laien“ geschuldet, die sich ihrer vermehrt bedienten.

Andererseits zeigt sich seit etwa 1975 ein zunehmender Pluralismus der Konzepte, Methoden und Therapieverfahren, die ihr Profil nachhaltig veränderten. Beide Phänomene bestanden nach meiner Auffassung unabhängig voneinander. Die zunehmende Vervielfältigung und Auflösung eines einheitlichen Profils als Wissenschaft und Praxis hängt vor allem mit den folgenden Faktoren zusammen:

•  Freuds leitende Konzepte, vor allem die Triebtheorie, die zu seinen Lebzeiten die Grundlage psychoanalytischen Denkens darstellte, vermochte die zunehmende Breite von Indikationen und klinischen Erfahrungen auf Dauer nicht mehr ausreichend abzudecken. Mit der Hinwendung zu neuen Indikationsgebieten, insbesondere mit der Erschließung der frühen und schweren Pathologien, der strukturellen und Persönlichkeitsstörungen, wurde das Gebäude der psychoanalytischen Theorie brüchig.

•  Diese Entwicklung wurde durch das Verblassen der Präsenz von Freud, der die Einheit der Psychoanalyse als politisches Ziel mit all seiner Autorität verfolgt hatte, eingeläutet. Zudem hatte die Entwicklung in den USA mit ihrer eigenwilligen kulturoptimistischen Interpretation Freuds nicht nur die Neopsychoanalyse hervorgebracht, sondern von Anfang an eine gewisse Distanz zu Freuds genuinem Denken, seiner Libidotheorie und anthropologischen Schriften bewahrt.

•  Ein weiterer Grund für die wachsende Pluralität waren die eigenständigen Entwicklungen regionaler Strömungen und autonomer Schulrichtungen in den verschiedenen neuen Zentren der Psychoanalyse, die wegen des Zweiten Weltkrieges lange kaum in Kontakt miteinander standen.

•  Es fehlte zudem eine überragende einigende Persönlichkeit. So entwickelten sich die britische Objektbeziehungstheorie und die amerikanische Ich-Psychologie weitgehend unabhängig voneinander, und selbst innerhalb der USA entstanden keine tragfähigen Verbindungen zwischen neueren Richtungen wie der interpersonalen Neopsychoanalyse Sullivans und dem Mainstream der dortigen Entwicklung.

So entstand ein zunehmender Pluralismus. Der gemeinsame Grund zwischen Freudianern und Neopsychoanalytikern, Objektbeziehungspsychologen, Ich-Psychologen und Selbstpsychologen schien sich immer stärker aufzulösen. Das geschah erkennbar ab etwa 1950, als die Psychoanalyse sich vom intrapsychischen zum objektbeziehungstheoretischen Paradigma oder – wie der ungarisch-englische Psychoanalytiker Michael Balint7 es nannte – von der Ein- zur „Zwei-Personen-Psychologie“ wandelte. Diese Wende war mit der Erkenntnis verbunden, dass es neben Triebwünschen weitere Grundbedürfnisse des Menschen gibt, sie sich als Beziehungswünsche zusammenfassen lassen: Wünsche nach Bezogenheit, Sicherheit, Anerkennung und andere objektbezogene Bedürfnisse.

Seit den 1970er Jahren wurde der gemeinsame Bezug der Psychoanalytiker auf Freuds Metapsychologie immer stärker in Frage gestellt. Es entstanden völlig neue Denkmodelle, die heute unter dem Begriff der intersubjektiven Ansätze zusammengefasst werden. Sie lösten sich mehr und mehr von Freuds naturwissenschaftlich-positivistischer Grundposition. Sie suchten den Sinn des menschlichen Verhaltens in unbewussten Bedeutungen unabhängig von jeder biologischen Grundlage. Diese Richtungen verstanden die Psychoanalyse als eine rein psychologische, hermeneutische Wissenschaft.8 Sie betrachteten die Intersubjektivität, d. h. die zwischenmenschliche Beziehung und Bezogenheit als die Matrix der subjektiven Psyche. Das Selbst wurde nun zunehmend als eine Konstruktion aus der Beziehung heraus verstanden. Damit entstanden auch die ersten rein interpersonellen bzw. intersubjektivistischen Modelle des psychoanalytischen Prozesses.

Tab. 1: Paradigmen in der Psychoanalyse

 

•     Bis 1950: Einpersonales intrapsychisches Modell, Dominanz der Triebpsychologie: Psychische Prozesse als Reaktion auf den biologisch determinierten Trieb

•     Um 1950: Wende von der Ein- zur Zwei-Personen-Psychologie: Entdeckung der Beziehung als Entwicklungsrahmen

•     Ab 1970: Interpersonale Wende: Intersubjektivität als Matrix der subjektiven Psyche

 

Veränderungen so grundsätzlicher Art sind im Allgemeinen schmerzhaft. Sie sind mit untergründigen Loyalitätskonflikten behaftet, bedeuten sie doch Verlust und Abschied von der Führungspersönlichkeit und im Unbewussten vielleicht sogar Vatermord. Hier sei an Freuds frühe kulturtheoretische Schrift Totem und Tabu9 von 1912 erinnert, in der er den Vatermord als zentrales Motiv des Kulturprozesses beschrieben hat. In Deutschland und Österreich war der Abschied von Freud als Vater der Psychoanalyse zudem durch die reale Schuld belastet, die die deutschen Psychoanalytiker durch die Vertreibung der Juden, für die auch Freud stand, aus dem deutschen Kulturbereich durch das NS-Terrorsystem auf sich geladen hatten.

Die Sorge um den Verlust der verbindenden Basis

Solch grundsätzliche Veränderungen wie die Relativierung der Triebpsychologie und der Paradigmenwechsel von der Ein- zur Zwei-Personen-Psychologie und schließlich hin zu den interpersonellen Ansätzen stellen das Integrations- und Orientierungsvermögen der Beteiligten auf eine harte Probe. Folgerichtig verbreitete sich in der Psychoanalyse, die sich über Jahrzehnte in besonderer Treue zu Freud befunden hatte, eine zunehmende Krisenstimmung. Die Theoriekrise weitete sich aus zu einer Krise der psychoanalytischen Identität. Was war, was ist Psychoanalyse?

Um 1980 entstand eine ernsthafte Sorge um den Verlust der gemeinsamen Basis. Auf der Höhe dieser Krise stellte Robert Wallerstein in seiner berühmten Eröffnungsrede zum Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Montreal 1987 besorgt die Frage, was die Psychoanalytiker denn noch zusammenhält. Wallersteins Antwort war der Bezug auf das, was er (mit George Klein) die „klinische Theorie“ nannte: Trotz aller Vielfalt der Konzepte vereint die Psychoanalytiker danach die Konzentration auf die klinischen Interaktionen im Behandlungszimmer, also die Gegenwart des Unbewussten im Hier und Jetzt.10 Wenn man diese Basis mit dem ursprünglichen Anspruch vergleicht, mit dem Freud seine Anhänger zusammengehalten hatte, dann war das ein wahrlich bescheidener Common ground.

Doch jede lebendige Wissenschaft muss sich früher oder später von ihren Gründungspersönlichkeiten lösen und über das Gedankengut ihres Stifters hinauswachsen. Wenn das nicht geschieht, droht Verarmung. Das ließe die Entwicklung auf Dauer ersterben.

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