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Die Bibelstellen sind nach der im gleichen Verlag erschienenen
„Elberfelder Übersetzung“ (Edition CSV Hückeswagen) angeführt.

1. Auflage 2016

© by Christliche Schriftenverbreitung, Hückeswagen, 2016

Umschlaggestaltung: markom werbeagentur e.K.
Satz und Layout: Christliche Schriftenverbreitung
E-Book: Verbreitung christlichen Glaubens e.V., www.vvcg.de

ISBN E-Book: 978-3-89287-560-4
ISBN Printversion: 978-3-89287-215-3

www.csv-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Diese Erklärung des Evangeliums nach Markus verdankt ihren Ursprung den Pfingst-Konferenzen seit dem Jahr 1997, zunächst in Leer-Bingum und später in Moormerland-Warsingsfehn. Ziel dieser Betrachtungen ist es, den Konferenzteilnehmern die Person, den Dienst und das Erlösungswerk unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus wertvoller zu machen. Markus stellt Ihn uns ja als den vollkommenen Diener Gottes vor.

Obwohl diese Wortbetrachtungen im Allgemeinen auf die Praxis des Glaubenslebens ausgerichtet sind, kommen doch wesentliche Aspekte der Lehre des Christus nicht zu kurz. Dass während der Betrachtungen auch immer wieder die Parallelstellen in den anderen Evangelien zum Vergleich herangezogen werden, soll den Blick für die verschiedenen Charaktere der einzelnen Evangelien öffnen.

In der vorliegenden Erklärung des Markusevangeliums sind die Ergebnisse der persönlichen Beschäftigung mit diesem kürzesten aller Evangelien enthalten, angeregt und ergänzt durch die erwähnten Konferenzen. Sie stellt also keine „Konferenzniederschrift“ dar, enthält jedoch die wesentlichen Gedanken und darüber hinaus manches andere, was dem Leser hilfreich sein kann zum Verständnis dieses Evangeliums und zum Wachstum „in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus“ (2. Pet 3,18).

Zu diesem Zweck wird jedem Abschnitt der jeweilige Bibeltext nach der „Elberfelder Übersetzung Edition CSV Hückeswagen“ vorangestellt, und zwar mit allen Anmerkungen und den Erklärungen aus den „Worterklärungen“.

Außerdem sind jedem Abschnitt, so weit möglich, die Parallelstellenangaben für die anderen drei Evangelien beigefügt, um ein schnelles Auffinden der entsprechenden Passagen zum Vergleichen zu ermöglichen.

Jeder Vers wird in der anschließenden Betrachtung erklärt, im Zusammenhang mit dem Leben und Dienst unseres Herrn gedeutet und darüber hinaus im Rahmen des gesamten Wortes Gottes gesehen. Denn die Heilige Schrift, sowohl Altes wie Neues Testament, ist ein göttliches Ganzes, inspiriert vom Heiligen Geist.

Den Abschluss des Buches bildet ein Anhang mit verschiedenen Tabellen. Sie sollen einerseits die Zusammenschau („Synopsis“) der verschiedenen Evangelien erleichtern, andererseits Antworten auf Fragen bezüglich der Übereinstimmung der Evangelien geben (besonders im Blick auf die „Leidensgeschichte“ unseres Herrn).

Als Hilfe beim Vergleich der vier Evangelien sind in zwei Tabellen sämtliche Gleichnisse und Wundertaten des Herrn Jesus aufgeführt, außerdem gibt es Übersichten über die Chronologie des letzten Passahs und der Einsetzung des Gedächtnismahls, die Reihenfolge der Worte Christi am Kreuz, die Aufschrift am Kreuz und schließlich über die Ereignisse zwischen dem Begräbnis und der Auferstehung unseres Herrn.

Auf ausführlichere (historische und kulturelle) Informationen ist im Allgemeinen verzichtet worden, da diese vielfach keinerlei geistlichen Wert und Nutzen haben. „Quellen“ sind im Allgemeinen nicht angegeben, dafür aber häufig Bibelstellen, die auf jeden Fall nachgeschlagen werden sollten. Nicht die Meinung dieses oder jenes Auslegers ist letztendlich maßgebend, sondern die Haltung, die schon die „edlen“ Beröer uns vorgelebt haben, die „täglich die Schriften untersuchten, ob dies sich so verhielte“ (Apg 17,11). Was der Leser in dieser Bibelerklärung findet, basiert jedoch auf den Gedanken bewährter Ausleger wie J. N. Darby, W. Kelly, F. W. Grant und F. B. Hole, um nur die wichtigsten zu nennen.

Es sollte uns bei der Beschäftigung mit dem Wort Gottes nicht um Wissensanhäufung gehen, sondern um das geistliche Erkennen der Person Christi und Seines unermesslichen und unerforschlichen Reichtums (vgl. Eph 3,14–21). Dazu möchte dies Buch einen kleinen Beitrag leisten, den der Herr segnen möge.

Der Verfasser

Einleitung

Nur ein Mann im Neuen Testament trug – obwohl er Jude war – den lateinischen Beinamen Markus (er bedeutet wahrscheinlich „dem Mars zugehörig“). Ihm wird seit dem 2. Jahrhundert das gleichnamige Evangelium zugeschrieben. Dieser Markus, der eigentlich Johannes hieß, war der Sohn einer Frau mit Namen Maria, die ein Haus in Jerusalem besaß (Apg 12,12). Dorthin ging Petrus, als er von einem Engel aus dem Gefängnis befreit worden war.

Johannes-Markus war ein Neffe (oder Vetter) des Leviten Barnabas, des zeitweiligen Begleiters des Apostels Paulus (Kol 4,10). Von diesen beiden wurde er als Diener mit auf ihre erste Missionsreise genommen (um 46–49 n. Chr.; Apg 12,25; 13,5). Aber in Perge (einer Stadt in Kleinasien) verließ der wohl noch junge Mann die beiden Knechte des Herrn und kehrte nach Jerusalem zurück (Apg 13,13). Als Barnabas seinen Verwandten trotzdem ein zweites Mal mit auf die Reise nehmen wollte, verweigerte Paulus seine Zustimmung, was zur Trennung der beiden Diener des Herrn führte (um 51 n. Chr.; Apg 15,37–39).

Erst ungefähr zehn Jahre später taucht der Name des inzwischen geistlich gereiften und brauchbar gewordenen Markus in den Briefen des Paulus an die Kolosser und an Philemon wieder auf (Kol 4,10; Phlm 24; um 61/62 n. Chr.). Markus befindet sich jetzt in Rom bei dem gefangenen Apostel. Andererseits wird Markus auch noch einmal in Verbindung mit Petrus und dessen Aufenthalt in Babylon, also im Osten des Reiches, erwähnt. Petrus nennt ihn seinen „Sohn“, um das innige geistliche Verhältnis zu Markus anzudeuten (1. Pet 5,13; um 60–64 n. Chr.). Später muss Markus wieder in Kleinasien gewesen sein. Denn kurz vor seinem Tod (um 67 n. Chr.) bittet Paulus in seinem zweiten Brief an Timotheus, diesen jetzt nützlichen Diener mit nach Rom zu bringen (2. Tim 4,11). Ob es dazu noch gekommen ist, wissen wir nicht.

Sowohl Paulus als auch Petrus standen demnach in enger Beziehung zu Markus. Nach Überlieferungen seit dem 2. Jahrhundert soll Markus das nach ihm benannte Evangelium auf der Grundlage von Predigten und persönlichen Mitteilungen von Petrus in Rom für die dortigen Gläubigen geschrieben haben. Fast alle Ausleger folgen dieser Tradition. Besonders die angebliche Häufung lateinischer Ausdrücke wird als Indiz angeführt, was jedoch nicht zu überzeugen vermag. Die so genannten „Latinismen“ kommen bei Markus zwar etwas häufiger vor als in anderen Evangelien, aber nicht in dem Maß, dass man von einem Charakteristikum sprechen könnte.

Nachstehend eine Aufstellung der im Neuen Testament vorkommenden Fremdwörter, die aus dem Lateinischen stammen:

  1. lat. census „Steuer“ (griech. kēnsos) in Mk 12,14, aber auch in Mt 17,25; 22,17.19
  2. lat. centurio „Hauptmann“ (griech. kentyriōn) in Mk 15,30.44.45
  3. lat. custodia „Wache“ (griech. koustōdia) in Mt 27,65; 28,11, aber nicht bei Markus
  4. lat. denarius „Denar“ (griech. dēnarion) in Mk 6,37; 12,15; 14,5, aber auch in Mt 18,28; 20,2.9.10.13; 22,19; Lk 7,41; 10,35; 20,24; Joh 6,7; 12,5; Apg 6,6
  5. lat. flagellare „geißeln“ (griech. phragelloun) in Mk 15,15, aber auch in Mt 27,28
  6. lat. flagellum „Geißel“ (griech. phragellion) in Joh 2,15, aber nicht bei Markus
  7. lat. grabatus „Bett“ (griech. krabattos) in Mk 2,4.9.10.11; 6,55, aber auch in Joh 5,8–11; Apg 5,15; 9,33
  8. lat. legio „Legion“ (griech. legiōn) in Mk 5,9.15, aber auch in Mt 26,53; Lk 8,30
  9. lat. linteum „Tuch“ (griech. lention) in Joh 13,4.5, aber nicht bei Markus
  10. lat. libra „Pfund“ (griech. litra) in Joh 12,3; 19,39, aber nicht bei Markus
  11. lat. milia (passuum) „Meile“ (griech. milion) in Mt 5,41, aber nicht bei Markus
  12. lat. modius „Scheffel“ (griech. modios) in Mk 4,21, aber auch in Mt 5,15; Lk 11,33
  13. lat. praetorium „Prätorium“ (griech. praitōrion) in Mk 15,16, aber auch in Mt 27,27; Joh 18,28.33; 19,9; Apg 23,35; Phil 1,13
  14. lat. quadrans „Cent“ (griech. kodrantēs) in Mk 12,42, aber auch in Mt 5,26
  15. lat. sextarius (?) „Krug“ (griech. xestēs) in Mk 7,4
  16. lat. speculator oder spiculator „Leibwächter, Scharfrichter“ (griech. spekoulatōr) in Mk 6,27
  17. lat. sudarium „Schweißtuch“ (griech. soudarion) in Lk 19,20; Joh 11,44; 20,7; Apg 19,12, aber nicht bei Markus
  18. lat. titulus „Aufschrift“ (griech. titlos) in Joh 19,19, aber nicht bei Markus.[1]

Von diesen insgesamt 18 „Latinismen“ der Evangelien und der Apostelgeschichte kommen also nur elf bei Markus vor, davon drei (centurio, sextarius [fraglich] und speculator) ausschließlich bei ihm. Das Matthäusevangelium weist kaum weniger, nämlich neun lateinische Ausdrücke auf, von denen zwei (custodia, milia) nur bei ihm vorkommen. Johannes verwendet insgesamt acht dieser Wörter; vier davon (flagellum, linteum, libra, titulus) werden von den anderen Evangelisten nicht benutzt. Insgesamt acht dieser„Fremdwörter“ (census, denarius, flagellare, legio, modius, praetorium, quadrans, sudarium) sind mehreren Evangelien und der Apostelgeschichte gemeinsam. Als Argument für eine Abfassung des Markusevangeliums in Rom und für römische Christen sind die „Latinismen“ also nicht besonders geeignet.

Andererseits verwendet Markus mehr aramäisch-hebräische Ausdrücke als alle übrigen Evangelisten. Dazu zählen mindestens fünf (also mehr als bei den „Latinismen“), die in den anderen Evangelien nicht zu finden sind: Boanerges („das ist Söhne des Donners“, Mk 3,17), Talitha kumi („das ist übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf!“, Mk 5,41), Ephata („das ist: Werde aufgetan!“, Mk 7,34), Abba („Vater“, Mk 14,36), Eloi, Eloi, lama sabachtani („was übersetzt ist: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, Mk 15,34). Sie werden jeweils wie andere jüdische Begriffe übersetzt oder erklärt (Mk 7,2.11; 15,42). Weitere aramäisch-hebräische Ausdrücke kommen auch an anderen Stellen des Neuen Testaments vor: Bar, Golgatha, Hosanna, Kananäer (?),Korban, Passah, Rabbi, Rabbuni, Raka, Sabbat, Satan.

Die Argumentation mit den so genannten „Latinismen“ soll nur dazu dienen, die Entstehung des Evangeliums in Rom zu untermauern bzw. eine Leserschaft in Rom zu suggerieren. Dazu ist sie aber nicht geeignet. An geistlicher Belehrung ist aus diesen Aufstellungen und Gegenüberstellungen wenig oder nichts zu entnehmen. Eine Gefahr bei intensiver Beschäftigung mit derartigen äußerlichen Besonderheiten ist, dadurch die Inspiration des Wortes Gottes und seine Botschaft aus dem Auge zu verlieren. Die obigen Ausführungen sollen deshalb auch nur dazu dienen, zu zeigen, auf welch schwachen Füßen die verbreitete Argumentation ruht, das Markusevangelium sei in Rom und für römische Leser geschrieben worden.

Aus der Heiligen Schrift ist nicht zu entnehmen, dass Petrus und Markus je gemeinsam in Rom waren. Markus war zwar in Rom, aber beim Gefangenen Paulus (Kol 4,10; Phlm 24). Petrus befand sich zur Zeit der Abfassung seines ersten Briefes in Babylon, also am südöstlichen Ende des römischen Reiches (1. Pet 5,13). Babylon war seit der Zeit der Gefangenschaft der zwei Stämme (im 6. Jahrhundert v. Chr.) ein religiöses Zentrum des Judentums, das noch im 7. Jahrhundert n. Chr. den „Babylonischen Talmud“ hervorbrachte. Dass Petrus unter den dortigen Juden predigte, war also in voller Übereinstimmung mit seinem apostolischen Auftrag als „Apostel der Beschneidung“ (Gal 2,7–9). Wenn Petrus und Markus wirklich gemeinsam in Rom gewesen wären, ist es unverständlich, warum Paulus in seinen Briefen zwar mehrfach Markus, den bekannteren Petrus jedoch überhaupt nicht erwähnt.

Markus, der in seiner Jugend einmal ein untreuer Diener war, als er Paulus und Barnabas im Stich ließ, wurde später vom Heiligen Geist inspiriert, das Leben Christi, des vollkommenen und treuen Dieners, aufzuzeichnen. Da nur Markus in Kapitel 14,51.52 die Episode von einem jungen Mann berichtet, der dem Herrn Jesus bei dessen Gefangennahme folgte und, als man ihn auch ergreifen wollte, nackt entkam, will eine uralte christliche Überlieferung in diesem Jüngling Markus selbst sehen. Gewissheit besteht darüber jedoch nicht.

Über die Zeit der Abfassung des Markusevangeliums gehen die Auffassungen auseinander. Sie schwanken zwischen den Jahren 55 und 70 n. Chr. – Sollten sich unter den Schriftfunden von Qumran am Toten Meer auch Fragmente des Markusevangeliums befinden – was immer wieder heftig diskutiert wird, bisher jedoch ohne endgültiges Ergebnis –, dann wäre das nur eine Bestätigung der angegebenen Datierung.

Markus und die historisch-kritische Theologie

Die heute in der Theologie vorherrschende historisch-kritische Methode der Bibelauslegung erhebt den Anspruch, die Bibel wissenschaftlich zuverlässig zu interpretieren. Die Bibel wird zu diesem Zweck mit den gleichen Mitteln erforscht wie jedes andere Buch der Antike. Das geschieht unter anderem durch Vergleiche mit den Religionen der Welt und ihrer Geschichte, durch die Berücksichtigung der menschlichen Erfahrung und die Anwendung der Ergebnisse der naturwissenschaftlichen Forschung. Wunder und Weissagungen über zukünftige Ereignisse sind mit diesen Mitteln nicht zu beweisen und demzufolge auch unmöglich. Zwar wird diese Methode nicht von allen Anhängern mit gleicher Radikalität und Kompromisslosigkeit verfolgt und akzeptiert. Doch das Prinzip dieser Methode läuft auf die Leugnung der Autorität Gottes in Seinem Wort hinaus. Denn wenn es keine Wunder und keine Prophetie gibt, ist es nur ein winziger Schritt zur Leugnung der Existenz des allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen Gottes, der die Welt erschaffen hat und vor Dem einmal jeder Mensch Rechenschaft ablegen muss, der nicht an die Offenbarung Seiner Liebe und Gnade in Seinem Sohn Jesus Christus glaubt.

Für jeden, der die Bibel als einzige schriftliche Offenbarung Gottes betrachtet, kann dies wohl kaum etwas anderes bedeuten, als dass die historisch-kritische Methode das von Gottes Geist inspirierte Wort zu einem Produkt des menschlichen Geistes herabwürdigt.

Nach Ansicht historisch-kritischer Theologen soll das Markusevangelium das älteste der drei so genannten synoptischen Evangelien und um 70 n. Chr. entstanden sein. Auf diesem wie auf einer hypothetischen, angeblich verloren gegangenen „Logienquelle“ („Q“) sollen die Evangelien von Matthäus und Lukas[2] basieren, jeweils ergänzt durch „Sondergut“, das heißt Begebenheiten und Worte, die in den anderen Evangelien nicht vorhanden sind. Von der „Logienquelle“ ist außer einem mehrdeutigen Hinweis bei Papias (2. Jh. n. Chr.) jedoch nichts bekannt. Die sich bei der Beschreibung des Lebens und Wirkens einer Person durch drei Verfasser natürlicherweise ergebenden Parallelen werden als „Abhängigkeiten“ voneinander erklärt, die großenteils mit dem Vokabular gestützt werden. Davon, dass die Unterschiede durch den Heiligen Geist beabsichtigt sind, ist dabei keine Rede.

Ein Beispiel: Markus enthält insgesamt 661 Verse, von denen 600 = 90% bei Matthäus eine Parallele haben und bei Lukas 350 = 53%. Dadurch soll eine Abhängigkeit der beiden letzteren vom ersten erwiesen werden (A. Klijn: De Wordingsgeschiedenis van het NT, Utrecht/Antwerpen 1968, S. 22).

Nach einer anderen Berechnung weist der Text des Markusevangeliums insgesamt 11.260 Wörter auf. Davon fehlen bei Matthäus 6.498 = 58% und bei Lukas 7.625 = 68% (E. Linnemann: Gibt es ein synoptisches Problem? 1999, S. 72 und 91). Andererseits hat Markus einen Wortschatz von 1.345 verschiedenen Wörtern, von dem 184 Wörter weder bei Matthäus noch bei Lukas vorkommen (14%), 326 Wörter fehlen entweder bei Matthäus oder bei Lukas (26%); das heißt: 510 (38%) der Wörter von Markus sind nicht bei allen Synoptikern vertreten. Nur 835 Wörter von Markus sind auch bei Matthäus und Lukas vertreten. Das sind 62% (bezogen auf den Wortschatz von Markus). Demnach kann von einer Parallelität oder Abhängigkeit gar keine Rede sein (Linnemann S. 125–126).

Gottes Wort sagt über sich selbst und seine einsichtigen Leser:

Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott ist, um die Dinge zu kennen, die uns von Gott geschenkt sind; die wir auch verkündigen, nicht in Worten, gelehrt durch menschliche Weisheit, sondern in Worten, gelehrt durch den Geist, mitteilend geistliche Dinge durch geistliche Mittel. Der natürliche Mensch aber nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird; der geistliche aber beurteilt alles, er selbst aber wird von niemand beurteilt; denn „wer hat den Sinn des Herrn erkannt, der ihn unterweise?“ Wir aber haben Christi Sinn.“ (1. Kor 2,12–16)

Charakter dieses Evangeliums

Von allen vier Evangelien ist das nach Markus benannte das kürzeste. Markus gibt weniger die Lehren als die Taten des Herrn Jesus wieder. Hauptthema dieses Evangeliums ist die Darstellung Christi als Diener Gottes. Er war nicht nur der verheißene König Israels, wie im Evangelium nach Matthäus, der Sohn des Menschen (Lukas) und der ewige Sohn Gottes (Johannes), sondern auch der wahre Diener des Herrn (vgl. Jes 42,1–9; 49,1–6; 52,13–15; Sach 3,8). Nach Seinen eigenen Worten ist Er nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern um zu dienen und Sein Leben zu geben als Lösegeld für viele (Mk 10,45).

Dieser Leitgedanke des Markusevangeliums wird durch verschiedene Besonderheiten bestätigt:

Weder die Geburt noch der Stammbaum Jesu Christi werden erwähnt.

Markus hält die Reihenfolge der Ereignisse genauer ein als Matthäus und Lukas.

Bereits im ersten Kapitel beginnt der Bericht über den Dienst des Herrn Jesus.

Oft gebraucht Markus in seinen Berichten das Präsens statt einer Vergangenheitsform, um das Aktuelle, Drängende der dargestellten Ereignisse zu unterstreichen.

Besonders auffällig ist das 44-mal vorkommende griechische Wort eutheos/euthys („sogleich“), das ebenfalls auf den fast pausenlosen Dienst des Herrn Jesus hinweist (Mk 1,10.12.18.20.21.23.28.29. 30.31.42.43; 2,2.8.12; 3,6; 4,5.15.16.17.29; 5,2.29.30. 42; 6,25.27.45.50.54; 7,25.35; 8,10.15; 9,15.20.24; 10,52; 11,2.3; 14,43.45.72; 15,1 und einmal in der Fußnote zu Kap. 5,42).

Kein einziges Mal nennen die Jünger Jesus „Herr“.

Häufiger als in den anderen Evangelien zieht der Herr Jesus sich in die Stille zurück (Mk 1,12.35; 3,7; 6,31.46; 7,17.24; 9,2; 11,19).

Oft erwähnt Markus, dass Jesus nicht wollte, dass Seine Taten bekannt wurden (Mk 1,34.44; 3,12; 5,43; 7,36; 8,26. 30; 9,9. 30).

Als Diener Gottes muss Christus auch leiden. Im Verhältnis zur Länge des Evangeliums nimmt der Bericht über das Leiden und Sterben des Herrn bei Markus einen größeren Raum ein als bei den anderen Evangelisten. Viermal kündigt Er den Jüngern Sein bevorstehendes Leiden an (Mk 8,31; 9,12. 31; 10,32–34).

Der Herr Jesus wird im Evangelium nach Markus jedoch auch als der wahre Prophet Gottes dargestellt (vgl. 5. Mo 18,15). Als solcher verkündigte Er die gute Botschaft Gottes, das Evangelium. Dieses Wort kommt bei Markus acht Mal vor (Mk 1,1.14.15; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9; 16,15), bei Matthäus dagegen nur viermal, bei Lukas (außer in dem griechischen Verb euangelizein „evangelisieren, verkündigen“) und Johannes gar nicht. Seinen eigenen Dienst als Prophet, der das Wort Gottes mit Autorität verkündigt, umschreibt der Herr Jesus in Markus 1,38 treffend mit den Worten: „Lasst uns woandershin gehen in die nächsten Ortschaften, damit ich auch dort predige; denn dazu bin ich ausgegangen“.

Obwohl das Markusevangelium das kürzeste der vier Evangelien ist, enthält es verschiedene Stücke, die in den anderen nicht vorkommen, insbesondere die Berichte über die Heilung des Taubstummen in Kapitel 7,31–37 und des Blinden in Kapitel 8,22–26 sowie die Gleichnisse von der von selbst wachsenden Saat (Kap. 4,26–29) und vom Aufruf zur Wachsamkeit (Kap. 13,34–37). Dazu kommen noch mehrere besondere Einzelheiten, die nur Markus erwähnt: z. B. der Name Boanerges („Söhne des Donners“) für Johannes und Jakobus (Kap. 3,17), die Erwähnung der Namen von Petrus, Jakobus, Johannes und Andreas in Kapitel 13,3 usw. Hierher gehört auch die Episode von einem Jüngling, der dem Herrn Jesus bei dessen Gefangennahme folgte und nackt vor den Männern floh, die ihn ergreifen wollten, angeblich und möglicherweise tatsächlich Markus selbst (Kap. 14,51–52).

Einteilung:


Fußnoten

[1] Außerdem sind noch weitere „Latinismen“ in Wortwahl und Satzbau entdeckt worden.

[2] Da Paulus in 1. Tim 5,18 einen Vers aus Lk 10,7 zitiert, muss das Lukasevangelium jedoch bereits um 63 n. Chr. existiert haben.

Kapitel 1

Der Herold: Johannes der Täufer (Mk 1,1–8)

(vgl. Mt 3,1–12; Lk 3,1–18; Joh 1,19–28) 

„Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes; wie geschrieben steht in Jesaja, dem Propheten: „Siehe, ich sende meinen Boten vor deinem Angesicht her, der deinen Weg bereiten wird.“ „Stimme eines Rufenden in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn, macht gerade seine Pfade!“

Johannes der Täufer trat in der Wüste auf und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden. Und das ganze jüdische Land ging zu ihm hinaus und alle Bewohner von Jerusalem; und sie wurden im Jordanfluss von ihm getauft, indem sie ihre Sünden bekannten. Und Johannes war bekleidet mit Kamelhaar und einem ledernen Gürtel um seine Lenden; und er aß Heuschrecken und wilden Honig. Und er predigte und sagte: Nach mir kommt einer, der stärker ist als ich, dem den Riemen seiner Sandalen gebückt zu lösen ich nicht wert bin. Ich habe euch mit Wasser getauft, er aber wird euch mit Heiligem Geist taufen“ (Markus 1,1–8).

Im Unterschied zu den beiden anderen synoptischen Evangelien berichtet Markus nichts von der Geburt und Kindheit des Herrn Jesus. Man könnte sagen, dass diese Einzelheiten für die Kennzeichnung eines Dieners nicht wesentlich sind. Unvermittelt und ohne lange Einleitung beginnt der Evangelist Markus daher seinen Bericht über das Leben und das Sterben Jesu, des Dieners Gottes. Es ist die gute Botschaft, das Evangelium von Jesus Christus, dem von Gott verheißenen Messias, der zwar gekommen ist, um zu dienen, aber doch kein Geringerer ist als der ewige Sohn des ewigen Gottes[1]! Das einleitende Wort „Anfang“ bezieht sich auf den gesamten Inhalt der Schrift von Markus, der seine Fortsetzung in der Apostelgeschichte und den Briefen findet (siehe Heb 2,3b); andererseits bezeichnet „Evangelium“ hier nicht das „Evangelium nach Markus“, sondern den ganzen Umfang der guten Botschaft, die den verlorenen Menschen durch Jesus Christus gebracht worden ist.

Nicht nur Sein Kommen, sondern auch das Seines Wegbereiters oder Herolds war im Alten Testament bereits angekündigt worden, wie die beiden zitierten Stellen aus den Propheten Maleachi und Jesaja bekunden (V. 2 und 3). Johannes (= hebr. Jochanan „Der Herr ist gnädig“) der Täufer, dessen Geburt in Lukas 1 ausführlich beschrieben wird, sollte das irdische Volk Gottes auf das nahe Kommen des Herrn Jesus vorbereiten. Da die Juden sich durch den Messias in erster Linie Befreiung vom römischen Besatzerjoch und irdischen Segen erhofften, musste Johannes ihnen verkündigen, dass sie Buße tun und getauft werden mussten, um von Gott Vergebung ihrer Sünden zu empfangen. Nur so konnten sie ihren Messias in rechter Weise empfangen. In seinem natürlichen Zustand kann der in Sünde gefallene Mensch dem heiligen Gott nicht begegnen und vor Ihm bestehen. Das müssen auch die Juden erkennen, selbst wenn sie Sein auserwähltes Volk sind.

Die Juden zogen in großen Scharen aus Jerusalem („Gründung des Friedens“) und der Umgebung zu Johannes in die Wüste hinaus und wurden von ihm im Jordan („Der Hinabstürzende“) getauft, indem sie ihre Sünden bekannten. Doch konnte die Taufe der Buße allein ihnen keine Sündenvergebung schenken. Dazu war wahre Buße über die begangenen Sünden notwendig. Nur so konnten die Gläubigen, die vor dem Werk Christi am Kreuz lebten, Vergebung von Gott empfangen (V. 5; siehe Ps 32,5).

Die Taufe des Johannes war nicht identisch mit der christlichen Taufe im Namen Jesu Christi und auf Seinen Tod (Apg 2,38; Röm 6,3–6; vgl. Apg 19,3–5). Die Juden, die von Johannes getauft wurden, bekannten dadurch, dass sie Buße getan hatten im Blick auf den kommenden Messias Israels, während in der christlichen Taufe das Begraben des alten Menschen durch die gläubige Einsmachung mit dem für uns gestorbenen Christus zum Ausdruck kommt.

Johannes wirkte in der Wüste, worin ohne Zweifel ein Hinweis auf den moralischen Zustand des Volkes Gottes zu sehen ist (V. 4). Zugleich zeigte er dadurch seine Absonderung von dem geistlich verhärteten Volk der Juden. In der Kleidung eines alttestamentlichen Propheten und sich mit einfachster Nahrung begnügend, tat er den aufopferungsvollen und schwierigen Dienst des Bußpredigers und Vorläufers des Messias Israels (V. 6). In Demut wies er dabei auf den Mächtigen hin, der nach ihm kommen würde, im Vergleich zu dem er nur ein niedriger Sklave war, unwürdig, Ihm den Riemen Seiner Sandale zu lösen (V. 7)! Nur Markus fügt hier das Wort „gebückt“ ein – wahrlich ein Zeugnis für die wirkliche Größe und Erhabenheit des Knechtes Gottes!

Johannes taufte mit Wasser, aber der nach ihm Kommende würde mit Heiligem Geist taufen. Die Taufe der Buße mit Wasser war der erste, vorbereitende Schritt für alle, die in Aufrichtigkeit auf das Kommen des Messias Israels warteten. Die Taufe mit Heiligem Geist für alle, die durch den Glauben an das vollbrachte Sühnungs- und Versöhnungswerk Christi erlöst waren, bildete den krönenden Abschluss der Erscheinung der Gnade Gottes zur Errettung von Sündern (V. 8). Auch der Herr Jesus bereitete Seine Jünger darauf vor, dass Er nach Seiner Rückkehr zum Vater den Heiligen Geist zu ihnen senden würde. Dieser „andere Sachwalter“ ist nicht nur in Ewigkeit bei uns und leitet uns in die ganze Wahrheit, sondern Er hat auch bei Seinem Herabkommen am Pfingsttag die Gründung der einen Versammlung Gottes, die Entstehung des einen Leibes Christi, bewirkt (Joh 14,16; 16,13; Apg 2,1–4; 1. Kor 12,13). Das Wohnen des Heiligen Geistes in den einzelnen Gläubigen und in der Versammlung ist eines der herrlichsten Vorrechte und eine der größten Segnungen der gegenwärtigen Zeit!

Jesu Taufe und Versuchung (Mk 1,9–13)

(vgl. Mt 3,13–4,11; Lk 3,21–22; 4,1–13; Joh 1,29–34)

„Und es geschah in jenen Tagen: Jesus von Nazareth in Galiläa kam und wurde von Johannes im Jordan getauft. Und sogleich, als er aus dem Wasser heraufstieg, sah er die Himmel sich teilen und den Geist wie eine Taube auf ihn herniederfahren. Und eine Stimme erging aus den Himmeln: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.

Und sogleich treibt der Geist ihn hinaus in die Wüste. Und er war vierzig Tage in der Wüste und wurde von dem Satan versucht; und er war unter den wilden Tieren, und die Engel dienten ihm“ (Markus 1,9–13).

Alle drei synoptischen Evangelien berichten von der Taufe des Herrn Jesus im Jordan, während im Johannesevangelium nur das Herabkommen des Heiligen Geistes auf den Sohn Gottes als Mensch erwähnt wird. „Jesus von Nazareth in Galiläa“ ist eine Bezeichnung für unseren geliebten Herrn, in der Seine freiwillige Erniedrigung als Mensch und Seine Verachtung und Verwerfung zum Ausdruck kommt. „Kann aus Nazareth etwas Gutes kommen?“, so fragte Nathanael einmal zweifelnd (Joh 1,46). Später gebraucht Markus den Zusatz „Nazarener“ (Kap 1,24; 10,47; 14,67; 16,6; vgl. Apg 24,5).[2]

Am Jordan nimmt der vollkommene Diener des Herrn zu Beginn Seines öffentlichen Dienstes einen Platz ein, der Seinem Kommen in Niedrigkeit völlig entspricht. Er erscheint nicht auf dem Ölberg (Sach 14,4) oder kommt plötzlich zu Seinem Tempel (Mal 3,1), sondern steht sozusagen vor dem Tor des Hofes Seiner Schafe, und der Türhüter[3] tut Ihm auf (Joh 10,3). Obwohl sündlos, macht Er sich am Jordan eins mit denen, die sich bei Johannes dem Täufer der „Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden“ unterzogen (V. 4).

„Sogleich“ nach der Taufe sieht der Herr (aber nicht nur Er, wie Joh 1,33 beweist), wie sich Ihm der Himmel zu einem zweifachen Zeugnis teilt. Der Heilige Geist kommt in sichtbarer Gestalt wie eine Taube auf Ihn herab, und die Stimme des Vaters ertönt aus dem Himmel, um Ihn als Seinen Sohn anzuerkennen. Durch das Herabkommen des Geistes wurde Jesus als Christus („Gesalbter“) und durch die Worte des Vaters als Sohn Gottes bestätigt, also genau entsprechend den Einleitungsworten: „Anfang des Evangeliums Jesu Christi, des Sohnes Gottes“ (V. 1). Der Herr Jesus empfing Siegel und Salbung des Geistes als Beweis und Anerkennung der Vollkommenheit Seiner Person und seines Wesens (Joh 6,27; Apg 10,38), für die Gläubigen sind sie das Ergebnis des Erlösungswerkes, wozu als Drittes noch das Unterpfand hinzukommt, das der Herr Jesus, der aus der Herrlichkeit herabgekommen war, nicht benötigte (2. Kor 1,21.22). Dies ist die erste Begebenheit, wo wir die Dreieinheit Gottes offenbart sehen: Der Vater spricht aus dem Himmel, und der Heilige Geist kommt sichtbar auf den Mensch gewordenen Sohn Gottes herab.

Wie bedeutungsvoll das Zeugnis des Vaters über Seinen geliebten Sohn ist, sehen wir daran, dass Er es zweimal gab – einmal am Anfang und einmal gegen Ende Seines Dienstes – und dass nicht nur Matthäus, Markus und Lukas davon berichten, sondern auch Petrus die Worte wiederholt. Damit besitzen wir ein siebenfaches, göttlich vollkommenes Zeugnis über die Beziehung des Vaters zu Seinem Sohn, dem Herrn Jesus (siehe Mt 3,17; 17,5; Mk 1,11; 9,7; Lk 3,22; 9,35; 2. Pet 1,17).[4]

Ohne Zwischenpause wechselt nun der Schauplatz. „Sogleich“ treibt der Heilige Geist den wahren Diener Gottes in die Wüste hinaus, wo Er vierzig Tage bleibt. Matthäus und Lukas sprechen von „hinaufführen“ und „umherführen“, Markus aber von „treiben“. Zeigt uns das nicht einerseits die vollkommene Abhängigkeit des Dieners, andererseits aber auch Seinen Abscheu vor dem „Fürsten dieser Welt“, dem Er in der Wüste begegnen sollte? Vierzig ist in der Heiligen Schrift die Zahl der vollkommenen Prüfung und Bewährung, wie der vierzigtägige Aufenthalt Moses auf dem Berg Gottes und die vierzigjährige Wüstenwanderung Israels zeigen (2. Mo 24,18; 4. Mo 14,33ff.). Als einziger Evangelist erwähnt Markus nur die Tatsache der Versuchungen vonseiten Satans, nicht jedoch ihren Charakter und die Reaktion des Herrn.

Kann es ein eindringlicheres Bild von der Welt geben als die Umstände, denen der Herr Jesus in diesen Tagen begegnete? Er war in der Wüste, unter den wilden Tieren und wurde von Satan versucht.

Die drei besonderen Versuchungen des Teufels, von denen Matthäus und Lukas berichten, waren Angriffe auf den Menschen Jesus Christus, um Ihn zum Ungehorsam gegenüber Gott zu verführen und Ihn dadurch als Diener Gottes unschädlich zu machen. Hier kam Satan mit der Vorspiegelung der angenehmen Seiten des Lebens, später in Gethsemane jedoch mit den Schrecken der Leiden und des Todes. Matthäus schildert die Versuchungen in chronologischer, Lukas in moralischer Reihenfolge. Die erste Versuchung, Steine zu Brot zu machen, nahm die leiblichen Bedürfnisse des Menschen, das heißt die Schwachheit des Fleisches, zum Anlass, die zweite, sich von der Zinne des Tempels zu stürzen, richtete sich an den menschlichen Hochmut im Blick auf die Welt, und die dritte, den Teufel anzubeten, war der Aufruf zum Abfall von Gott. Lukas ändert die Reihenfolge der letzten beiden Versuchungen. Alle drei Versuchungen besteht der Herr Jesus als gehorsamer Mensch mit Hinweisen auf das Wort Gottes, das „Schwert des Geistes“, mit dem auch wir den geistlichen Kampf bestehen können (Eph 6,17).

Bemerkenswert ist jedoch der Schlusssatz des knappen Berichts bei Markus: „Und die Engel dienten ihm.“ Nicht nur bei Seinem zweiten Erscheinen in Herrlichkeit werden alle heiligen Engel Ihn begleiten und Ihn anbeten (Mt 25,31; Heb 1,6), sondern auch bei Seiner ersten Erscheinung in Niedrigkeit sahen die Hirten bei Bethlehem nicht nur einen Engel, sondern „eine Menge des himmlischen Heeres“ (Lk 2,9.13–15). Als Er seinen entsagungsvollen Dienst begann, bekundeten Engel, dass der Diener in Wirklichkeit der Sohn Gottes war!

Jesu Dienst in Galiläa und erste Jünger (Mk 1,14–20)

(vgl. Mt 4,12–22; Lk 4,14f.; 5,1–11)

„Nachdem aber Johannes überliefert worden war, kam Jesus nach Galiläa, predigte das Evangelium des Reiches Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe gekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.

Und als er am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder Simons, die in dem See Netze auswarfen, denn sie waren Fischer. Und Jesus sprach zu ihnen: Kommt, folgt mir nach, und ich werde euch zu Menschenfischern machen; und sogleich verließen sie die Netze und folgten ihm nach. Und als er ein wenig weitergegangen war, sah er Jakobus, den Sohn des Zebedäus, und Johannes, seinen Bruder, auch sie in dem Schiff, wie sie die Netze ausbesserten; und sogleich rief er sie. Und sie ließen ihren Vater Zebedäus mit den Tagelöhnern in dem Schiff und gingen weg, ihm nach“ (Markus 1,14–20).

Das anfängliche Wirken des Herrn Jesus in Judäa und Samaria wird hier übergangen (vgl. Joh 3,24). Erst nachdem der vorbereitende Dienst Johannes' des Täufers, Seines Herolds, durch die Gefangennahme beendet war, wird der Weg für das Werk des wahren Dieners Gottes frei (V. 14). Seine Predigt beginnt Er in Galiläa, der von den Juden verachteten Gegend im Norden des damaligen Palästinas (vgl. Jes 8,23; Mt 4,15f.). Der Gegenstand Seiner Verkündigung ist noch nicht das Evangelium der Gnade, sondern das „Evangelium des Reiches Gottes[5]“. Die in den Propheten, besonders im Buch Daniel (siehe Dan 2,44; 7,23; 9,25), angekündigte Zeit für dieses Reich war gekommen. Aber der König kam nicht in Herrlichkeit, sondern in Niedrigkeit, und bevor Er herrschen konnte, musste Sein Volk innerlich zubereitet werden und zu Ihm umkehren. Nun war es an den Juden, Buße zu tun und an das Evangelium zu glauben (V. 15).

Es ist nicht das „Evangelium der Gnade“, das erst seit dem Erlösungswerk am Kreuz verkündigt werden kann, sondern eine Botschaft, die das irdische Volk Gottes zur Umkehr und Annahme seines Messias bewegen soll. Aber der Messias wird von Seinem Volk verworfen, und deshalb wird nach dem Ende der Gnadenzeit erneut das „Evangelium des Reiches“ verkündigt werden, nun aber nicht nur für Israel, sondern „auf dem ganzen Erdkreis“ (Mt 24,14).

Auf Seinem Weg längs des Sees Genezareth sieht Er die beiden Fischer Petrus (griech. für „Stein“), der damals noch Simon hieß, (hebr. für „Erhörung“) und dessen Bruder Andreas („Mannhaft“), die gerade ihre Netze ins Wasser warfen. Er kannte sie bereits seit den Tagen Johannes' des Täufers, als dieser am Jordan taufte (V. 16; vgl. Joh 1,40–42). Als Er sie jetzt in Seine Nachfolge beruft, um sie zu Menschenfischern zu machen, verlassen sie „sogleich“ ihren Arbeitsplatz und folgen Ihm nach (V. 17 und 18). Ähnlich ist es kurz danach bei Jakobus und Johannes, den Söhnen des Zebedäus (V. 19 und 20). Diese ließen ihren Vater nicht ganz allein zurück, sondern mit den Tagelöhnern, die dieser beschäftigte.

In unübertrefflicher Schlichtheit wird in diesen Versen die bedeutsame Tatsache der Berufung der ersten Apostel berichtet, deren Namen mit denen der übrigen acht in Ewigkeit die Grundlagen des neuen Jerusalems schmücken werden (Off 21,14). Er geht am See entlang, sieht die Fischer bei ihrer täglichen Arbeit und beruft sie ohne irgendwelche Versprechungen bezüglich Lohn oder Ehre. Und die Männer folgen Ihm „sogleich“! Alle vier waren fleißig bei ihrer Arbeit, als der Herr sie zu Seinen Jüngern machte – ein wichtiger praktischer Hinweis auch für uns! Was für eine Selbstverleugnung, aber auch was für ein Glaube! Mit Recht konnte Petrus später sagen: „Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt“, aber ebenso: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens; und wir haben geglaubt und erkannt, dass du der Heilige Gottes bist“ (Mk 10,28; Joh 6,68.69). Hat der Herr Jesus, der demütige Diener Gottes diese Anziehungskraft auch für uns?

Der unreine Geist (Mk 1,21–28)

(vgl. Lk 4,31–37)

„Und sie gehen nach Kapernaum hinein. Und sogleich am Sabbat ging er in die Synagoge und lehrte. Und sie erstaunten sehr über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten.

Und sogleich war in ihrer Synagoge ein Mensch mit einem unreinen Geist; und er schrie auf und sprach: Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus, Nazarener? Bist du gekommen, um uns zu verderben? Ich kenne dich, wer du bist: der Heilige Gottes. Und Jesus gebot ihm ernstlich und sprach: Verstumme und fahre von ihm aus! Und der unreine Geist zerrte ihn hin und her und rief mit lauter Stimme und fuhr von ihm aus. Und sie entsetzten sich alle, so dass sie sich untereinander befragten und sprachen: Was ist dies? Was ist dies für eine neue Lehre? Denn mit Vollmacht gebietet er sogar den unreinen Geistern, und sie gehorchen ihm. Und die Kunde von ihm ging sogleich aus in das ganze Gebiet von Galiläa“ (Markus 1,21–28).

Der Diener ist jetzt nicht mehr allein in Seinem Dienst, sondern wird von Seinen Jüngern begleitet. Sein erster Aufenthaltsort ist die Stadt Kapernaum („Dorf Nahums“) am nordwestlichen Ufer des Sees von Genezareth (siehe Mt 4,13; 9,1). Kapernaum lag in der Nähe der Grenze von Galiläa (V. 13). Hier stießen die Herrschaftsgebiete von Herodes Antipas und Philippus aneinander. Die Stadt besaß durch ihre Zollstelle und eine römische Garnison eine gewisse Zentralstellung in diesem Gebiet (Mk 2,14; Lk 7,1.2). Außerdem tat der Herr Jesus dort viele Wunder. Trotzdem musste Er diese Stadt, die „bis zum Himmel erhöht“ war, wegen ihres Unglaubens verurteilen (Mt 11,23). Vielleicht wählte Er Kapernaum deshalb als Aufenthaltsort, um deutlich zu machen, dass weder die gesellschaftlichen Verhältnisse noch die Erfahrung der Gnade Gottes den geringsten Vorteil bieten, wenn der einzelne Mensch nicht in Buße und Glauben zu Gott umkehrt.

In dieser Stadt geht der Herr „sogleich“ am Sabbat in die Synagoge und lehrt[6] (V. 21). Seit der babylonischen Gefangenschaft ist die Synagoge bis zum heutigen Tag eins der charakteristischen Kennzeichen des Judentums. Hier wird an jedem Sabbat das Gesetz verlesen und gelehrt. Am Anfang Seines öffentlichen Dienstes trifft der wahre Diener hier auf zwei Besonderheiten: die kraftlosen Lehren der Schriftgelehrten, und den Einfluss Satans in Form unreiner Geister.

Die Schriftgelehrten waren seit der babylonischen Gefangenschaft diejenigen, die das Volk über das Gesetz unterrichteten. Sie stammten wie Esra, der erste Schriftgelehrte, wohl zumeist aus der Priesterklasse (vgl. Esra 7,1–6). Sie beschäftigten sich mit dem Studium des Alten Testaments und der „Überlieferung der Ältesten“. Wegen ihrer großen Kenntnis waren sie sehr geachtet und geehrt. Aber da sie diese Erkenntnisse selbst oft nicht beachteten (vgl. Kap. 7,3.5), besaßen sie keine Vollmacht. Im Gegensatz zu ihnen spricht der Herr Jesus in Seiner Lehre „wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten“. Das Wort Vollmacht bezeichnet nicht nur die Fähigkeit, sondern auch das Recht zu handeln oder zu reden. Obwohl Er sich als Diener so tief erniedrigte, war Er doch mit Vollmacht bekleidet. Dieser scheinbare Gegensatz erklärt sich nur dadurch, dass Er Gottes Sohn war und blieb. Seinen Zuhörern wurde deutlich, dass Er den Auftrag hatte, als der Diener Gottes die gute Botschaft zu verkündigen. Später stellen die Schriftgelehrten und Ältesten des Volkes dieses Recht zwar infrage (Kap. 11,27–33), aber hier erkennen heilsbegierige Menschen Seine Autorität gern an (V. 22).

Doch die von Gott gegebene Vollmacht des Dieners beschränkt sich nicht auf Seine Worte. Die zweite von Markus berichtete Tatsache ist die Austreibung eines unreinen Geistes. Dieser wirkte mitten unter dem versammelten Volk Gottes in einem Menschen, und Markus drückt durch die Präposition „mit“ (griech. en) aus, dass er sich völlig in der Macht des unreinen Geistes befand. Dann wird anschaulich beschrieben, wie dieser auf die Anwesenheit des Herrn reagierte. Mochten viele Juden auch unwissend sein über das wahre Wesen des Herrn Jesus, dieser Dämon wusste, dass Er nicht nur der verachtete Nazarener war, sondern kein Geringerer als der „Heilige Gottes“ (V. 24). Als Dieser ihm gebot, zu verstummen und von dem Menschen auszufahren, zerrte er ihn zwar noch einmal hin und her und schrie voller Wut, aber angesichts der Gegenwart des vollkommenen Dieners Gottes wurde die ganze Machtlosigkeit Satans offenbar (V. 25 und 26). Ein Stärkerer war jetzt in das Haus des Starken eingedrungen, um ihn zu binden (siehe Kap. 3,27)!

Es ist auffallend, dass der Herr Jesus im Markusevangelium des Öfteren „Nazarener“ genannt wird (vgl. Kap. 10,47; 14,67; 16,6). Nur einmal (in V. 9) heißt Er „Jesus von Nazareth“, danach immer „Nazarener“. Beide Namen hängen ohne Zweifel zusammen. „Nazarener“ (oder „Nazaräer“) war jedoch schon während des Lebens unseres Herrn kein Ehrentitel, wie wir an der Aufschrift an Seinem Kreuz sehen können. Später wurden auch die Christen von den Juden als „Sekte der Nazaräer“ bezeichnet (Apg 24,5).

Wir wissen nicht sehr viel über die Welt der Engel und bösen Geister. Ein Teil von ihnen hat sich selbst verdorben und ist bereits jetzt mit ewigen Ketten gebunden (vgl. 1. Mo 6,1–4; 2. Pet 2,4; Jud 6). Ein anderer Teil dagegen ist Satan in seinem Fall gefolgt, befindet sich aber noch in einer gewissen „Freiheit“ (Off 12,7–9). Diese Geister sind seine Vasallen, die das über ihnen schwebende gerechte Urteil Gottes kennen (Mt 25,41; Off 20,10). Sie glauben, dass Gott existiert, und sie zittern vor Ihm (Jak 2,19). So wissen sie auch um die Göttlichkeit des Sohnes des Menschen und fürchten sich vor Ihm. Aber niemals erkennen sie Ihn als „Herrn“ an.

Die gewaltigen Auswirkungen Seines Dienstes erfüllen die Menschen mit Entsetzen. Ihre Frage: „Was ist dies für eine neue Lehre?“ (V. 27) bezieht sich auf Vers 22, wo die Vollmacht Seiner Worte beschrieben wird. Diese Vollmacht offenbart sich gleich zu Anfang Seines Dienstes in dreierlei Weise: in der Berufung Seiner Jünger, in Seinem öffentlichen Lehrdienst und in der Austreibung von Dämonen. So verbreitet sich in Windeseile die Kunde von diesem außergewöhnlichen Diener. Die Menschen sind zwar erstaunt über alles, was Er sagt und tut, fragen sich jedoch nicht, wer Er ist (V. 28).

Die Schwiegermutter des Petrus und andere Heilungen (Mk 1,29–34)

(vgl. Mt 8,14–17; Lk 4,38–41)

„Und sogleich gingen sie aus der Synagoge hinaus und kamen in das Haus von Simon und Andreas, mit Jakobus und Johannes. Die Schwiegermutter Simons aber lag fieberkrank danieder; und sogleich sagen sie ihm von ihr. Und er trat hinzu und richtete sie auf, indem er sie bei der Hand ergriff; und das Fieber verließ sie sogleich, und sie diente ihnen.

Als es aber Abend geworden und die Sonne untergegangen war, brachten sie alle Leidenden und Besessenen zu ihm; und die ganze Stadt war an der Tür versammelt. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten; und er trieb viele Dämonen aus und erlaubte den Dämonen nicht zu reden, weil sie ihn kannten“ (Markus 1,29–34).