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Originalausgabe

1. Auflage 2017

© 2017 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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Redaktion: Claudia Fregiehn

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch

Umschlagabbildung: Thomas Trutschel/2016 Photothek/Getty Images

Satz: inpunkt[w]o, Haiger (www.inpunktwo.de)

 

 

ISBN Print 978-3-7423-0306-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-95971-792-2

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95971-793-9

 

 

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Inhalt

Vorwort

Eine erste Nahaufnahme

Durch die CDU-Mutter zur väterlichen SPD

Entscheidend ist, auf’m Platz zu sein

Ende nicht gut, nichts gut

Von ganz unten zurück ins Leben

Kleine große Erfolge

Ein Amt, die Würde und das Spaßbad

Aus der Provinz in das Herz Europas

Der Aufstieg

An der Spitze

Abschied und Neuanfang

Von ganz oben in ein neues Hoch

Schlusswort

Vorwort

Manchmal sind es unerwartete Sätze, mit denen eine ebenfalls unerwartete Erfolgsgeschichte beginnt. Im Falle des Kanzlerkandidaten Martin Schulz lauteten diese Worte: »Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD.« Dieser Satz wurde Ende Januar 2017 von fast allen Medien des Landes zitiert, und er markierte den Beginn der fast unglaublichen Erfolgsgeschichte des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Allerdings sagte nicht er selbst diesen Satz, sondern der ehemalige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, der zu dieser Zeit noch fast selbstverständlich als Kandidat der Sozialdemokraten für die Bundestagswahl im Herbst des Jahres galt.

Der Satz stammt aus einem Interview, das Gabriel der Zeitschrift »stern« gegeben hatte. Das Blatt ergänzte diese Aussage unter anderem mit dem Hinweis, Schulz hätte an seiner Stelle die deutlich größeren Chancen, tatsächlich gewählt zu werden. Das löste dann besagten Medienrummel aus und sorgte bei nicht wenigen für eine fragend gerunzelte Stirn. Denn so erfolgreich Schulz auch seit Jahren europäische Politik machte, so sehr war er gleichermaßen doch immer noch ein recht unbeschriebenes Blatt, wenn es um die Bundes- oder Innenpolitik ging. Doch den Aussagen Gabriels folgten bald schon tatsächliche Handlungen. Am 24. Januar nämlich traten Gabriel und Schulz gemeinsam vor die Presse und verkündeten, dem Interview sollten konkrete Maßnahmen folgen.1 Zunächst ergriff Gabriel das Wort: Es werde nicht bei Gerüchten bleiben, erklärte er. Vielmehr habe das Präsidium der SPD gerade beschlossen, dem Parteivorstand Martin Schulz als Kanzlerkandidaten vorzuschlagen. Mehr noch: Martin Schulz solle Gabriel zudem in der Funktion des Parteivorsitzenden beerben. Diesen Vorschlag habe Gabriel gemeinsam mit Hamburgs regierendem Bürgermeister Olaf Scholz und der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft eingebracht. Denn die Kanzlerkandidatur sei nur dann glaubwürdig, wenn damit zugleich eine einheitliche Parteiführung einhergehe. Rund sechs Minuten lang sprach Sigmar Gabriel über diese Vorhaben und deren Hintergründe, übergab das Wort dann schließlich an den designierten Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Der wiederum sagte nun, es handele sich für ihn um eine außergewöhnliche Ehre. Schulz lobte Gabriel als einen großen Parteivorsitzenden, der vieles geleistet habe. Zusammengefasst wurde während dieser Pressekonferenz das gesagt, was in einer solchen Situation zu erwarten ist. Nicht zu erwarten war jedoch, dass diese kaum zwanzig Minuten lange Pressekonferenz am 24. Januar der Anfang des inzwischen hinlänglich bekannten Hypes um die Person Martin Schulz sein sollte. Beziehungsweise, dass sie einen Hype nochmals verstärken sollte, der bereits zuvor eingesetzt hatte.

Denn obwohl Martin Schulz bis zu diesem Zeitpunkt bundes- und auch parteipolitisch noch gar nicht groß in Erscheinung getreten war, hatten ihn die Wähler bereits seit Monaten in ihr Herz geschlossen. Das mag sich rührselig anhören, ist aber letztlich die zu diesem Zeitpunkt einzig schlüssige Erklärung für die Zuneigung zu dem Politiker Martin Schulz.

Denn der stand schon seit Monaten bei den Wählern höher im Kurs als der etablierte Sozialdemokrat Sigmar Gabriel. Genau das bestätigte etwa im Oktober 2016 eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa. Könnte der Kanzler demnach direkt gewählt werden, würden sich von den Befragten 29 Prozent für den ehemaligen EU-Ratspräsidenten entscheiden. Für den in der Öffentlichkeit seinerzeit noch wesentlich präsenteren Sigmar Gabriel dagegen wollten nur 18 Prozent stimmen.2 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb deshalb, Schulz sei so etwas wie der »heimliche Held« der SPD. Mit ihm verbänden Parteimitglieder die Hoffnung, er könne die Sozialdemokraten aus dem Tal der niedrigen Umfragewerte führen.

Martin Schulz’ bislang geringe Präsenz auf der bundespolitischen Bühne wurde von manchem sogar als sein Erfolgsfaktor gewertet. So zitierte die FAZ Forsa-Chef Manfred Güllner mit der Aussage, Schulz würde von vielen Deutschen eben immer noch als eine Art unbeschriebenes Blatt wahrgenommen. Was in diesem Zusammenhang dann aber ein Vorteil wäre: Mit anderen Politikern würden die Wähler nämlich eben auch Negatives verbinden. Der »unbeschriebene« Schulz aber habe nun die Möglichkeit, das leere Blatt mit positiven Zeilen zu füllen und so möglicherweise die verlorenen Wähler wieder zur SPD zurückholen.

Dass daran etwas Wahres sein könnte, zeigte sich in den Tagen nach der Pressekonferenz von Gabriel und Schulz im Januar 2017. Die Talkshows auf nahezu jedem Fernsehsender beschäftigten sich nämlich nun mit dem Wechsel an der SPD-Spitze. Eine dieser Talkshows war die von Maybrit Illner, in der am 26. Januar unter anderem der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann zu Gast war. Und der hatte Erstaunliches mitzuteilen: In den seit der Pressekonferenz vergangenen drei Tagen seien fast 500 neue Mitglieder in die SPD eingetreten. Fast schien es inzwischen, als hätten die Wähler in Deutschland seit Jahren auf genau diesen Mann gewartet.

Bald schon wurden weitere Umfragewerte veröffentlicht, und die erschienen fast unglaublich: Die SPD war zwar immer noch dieselbe Partei, die sie seit Jahren schon war und von der sich große Teile der Wählerschaft abgewendet zu haben schienen. Doch nun entstand der Eindruck, als gehe es gar nicht mehr um die Sozialdemokratische Partei Deutschlands als solche, sondern einzig und allein um den Mann, der für sie bei der kommenden Bundestagswahl als Kandidat antreten sollte. In den ersten Tagen des Februar 2017 hatte er seiner Partei zu einem ungeahnten Höhenflug verholfen.

Und die Umfragewerte stiegen nach seiner Benennung weiter: Am 8. Februar nämlich hieß es unter Berufung auf die neuesten Forsa-Ergebnisse, die SPD habe erstmals seit dem Jahr 2012 wieder die Marke von 30 Prozent der Wählerstimmen geknackt. Mit den nun exakt 31 Prozent der Stimmen habe die SPD im Vergleich zur Vorwoche stolze fünf Prozent der potenziellen Wählerstimmen hinzugewinnen können.3 CDU und CSU hingegen hätten im gleichen Zeitraum einen Prozentpunkt verloren und lägen nun mit 34 Prozent nur noch wenig vor den Sozialdemokraten.

Einmal mehr bestätigte die Umfrage, dass es sich am Ende vor allem um ein Duell der Kandidaten handelte. Denn während die SPD gerade einmal einen Prozentpunkt verlor, ging es für Bundeskanzlerin Merkel nun fünf Punkte bergab. Martin Schulz hingegen gewann vier Prozentpunkte hinzu, sodass beide im direkten Duell nun mit 37 Prozent gleichauf lagen. Auch zu diesem Ergebnis meldete sich wieder der Forsa-Chef zu Wort. Und zwar mit der Aussage, die Entwicklung komme allerdings immer noch nicht an die ausgesprochen intensive Wechselstimmung des Jahres 1998 heran. Seinerzeit wurde das Duell um die Kanzlerschaft zwischen Gerhard Schröder von der SPD und Helmut Kohl von der CDU ausgetragen. Kohl war damals seit 16 Jahren an der Macht und die Wähler zeigten sich seiner zunehmend überdrüssig. Doch auch wenn die Stimmung noch nicht an diese Zeit heranreichte, war eine weitere Feststellung bemerkenswert: Dass die SPD nun nämlich Zulauf von Wählern unterschiedlichster Parteien erhielt – nicht zuletzt von Menschen, die zuvor offenbar zum Teil aus Protest ihre Stimme der AfD gegeben hatten.

Zu diesem Zeitpunkt ließ sich eines zweifelsfrei sagen: Die SPD beziehungsweise ihr langjähriger Vorsitzender Sigmar Gabriel hatten mit der Kür des Martin Schulz einen echten Volltreffer gelandet. Man hatte erstmals seit sehr, sehr langer Zeit wieder einen Kandidaten in das Rennen um die Kanzlerschaft geschickt, der bei diesem Vorhaben durchaus Erfolgschancen hat.

Das aber war bald nicht nur den Genossen selber klar. Der Erfolg des Kandidaten Schulz erregte auch an anderer Stelle Aufmerksamkeit. Anders nämlich lässt es sich kaum erklären, dass nach kürzester Zeit Versuche unternommen wurden, das unbeschriebene Blatt Schulz zu beschreiben – allerdings auf eine Art, die darauf hinauslief, dass das Blatt eher beschmiert statt ordentlich beschrieben wirkte.

So berichtete der Spiegel im Februar 2017 über vermeintliche Unregelmäßigkeiten. Genauer gesagt hieß es in dem Artikel, Schulz habe sich persönlich dafür eingesetzt, dass ein Vertrauter »vorteilhafte Vertragskonditionen« bekommen solle. Es ging um einen Fall aus dem Jahr 2012, der Vertraute sei inzwischen sogar Wahlkampfmanager von Schulz.4 Allerdings stieß der Bericht auf kein sonderlich großes Interesse, zudem hatten die vorgelegten Fakten oder vermuteten Versäumnisse anscheinend nicht das Zeug zu einem wirklich großen Skandal.

Denn die Menschen in Deutschland beschäftigte zu diesem Zeitpunkt und danach noch ein gänzlich anderes Thema. Bevor sie sich nämlich mit möglichen Verfehlungen des Kandidaten auseinandersetzten, wollten sie erst einmal wissen, wer dieser Mann denn nun wirklich ist. Diese Frage ist es dann auch, die in den folgenden Kapiteln dieses Buches geklärt werden soll: Wer ist der Mensch Martin Schulz, was zeichnet ihn aus, was treibt ihn an – und warum ist er für so viele Menschen ein politischer Hoffnungsträger?


1 https://www.youtube.com/watch?v=Ap7BGGu4mMg

2 http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/martin-schulz-ist-in-forsa-umfrage-beliebter-als-sigmar-gabriel-14477474.html

3 http://www.rp-online.de/politik/deutschland/wahltrend-martin-schulz-laut-forsa-gleichauf-mit-angela-merkel-aid-1.6592184

4 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/martin-schulz-verhalf-markus-engels-zu-dauerdienstreise-a-1135053.html

Eine erste Nahaufnahme

Marin Schulz war also sehr schnell sehr beliebt bei den Deutschen. Und das, obwohl er eigentlich weder etwas angekündigt noch wirklich getan hatte. In den Tagen nach seinem ersten gemeinsamen öffentlichen Auftritt an der Seite Sigmar Gabriels schwappte ihm eine riesige Woge der Sympathie entgegen, und man hätte im Grunde abwarten können, wie sich die Sache weiter entwickelte. Allerdings nur in der Theorie. In der Praxis der Politik ist es vielmehr so, dass sich ein Kandidat bald schon den Fragen der Medienöffentlichkeit stellen und beweisen muss, ob er den Vorschusslorbeeren überhaupt gerecht werden kann. Dieser Beweis wird dann in aller Regel in Form von öffentlichkeitswirksamen Auftritten in den Medien gefordert. Nun gibt es für solche Auftritte verschiedene Modelle: Man kann den Kandidaten einen regelrechten Interview-Marathon absolvieren lassen, ihn also in verschiedenste Sendungen setzen, in denen er eine möglichst gute Figur abgeben soll. So etwas hat den Vorteil, dass man damit ein sehr großes Publikum erreicht. Der Nachteil ist, auf diese Weise die Gefahr zu erhöhen, dass dann doch mal etwas nicht wie vorgesehen funktioniert, dass der Kandidat eventuell mal eine unpassende Antwort gibt. Außerdem bedeutet eine solche Vorgehensweise natürlich ebenfalls Stress und Aufwand und kann womöglich zu ersten Abnutzungserscheinungen führen. Eine andere Möglichkeit ist, den Kandidaten nur einige wenige große Interviews mit möglichst großer Wirkung geben zu lassen.

Im Falle von Martin Schulz entschied man sich für diese zweite Möglichkeit. Denn gerade für diese Variante gibt es in Deutschland eine passende Bühne beziehungsweise einen Namen: Anne Will. Die Talkshow der namensgebenden Moderatorin kommt am Sonntagabend direkt nach dem Tatort, und was hier gesagt wird, das kommentieren am Montag die übrigen Medien des Landes auf breiter Front. Bei Anne Will diskutieren in der Regel verschiedene Personen miteinander. Nur in Ausnahmefällen beschränkt man sich auf einen einzigen Gast, der dann während der rund einstündigen Sendezeit allein im Mittelpunkt steht. Setzen die Planer auf eine solche Ein-Personen-Show, dann sitzt meist ein Gast im Studio, dem die Öffentlichkeit ein besonders großes Interesse entgegenbringt.

Ende Januar 2017 galt Martin Schulz bereits als eine solche Persönlichkeit und so widmete sich Anne Will am 29. Januar ausschließlich ihm. Das Fernsehpublikum konnte so ausführlich und intensiv erleben, wer dieser Herr Schulz wirklich ist, von dem inzwischen das ganze Land sprach.

Nun darf natürlich niemand erwarten, dass ein hochrangiger Politiker sich in diese Talkshow setzen und frei von der Leber weg erzählen würde. Für solche Anlässe gibt es ganze Stäbe von Mitarbeitern, die den Politiker auf seinen Auftritt vorbereiten, wobei sie auch beratschlagen, welche Frage wie am besten beantwortet werden sollte. Was letztlich häufig dazu führt, dass der Gast als unnatürlich wahrgenommen wird und häufig nicht mehr sehr sympathisch wirkt. Das kann vor allem dann zu einem Problem werden, wenn es sich bei dem Gast um einen Menschen wie Martin Schulz handelt, dessen großer Erfolg bei den Wählern sicher entscheidend darauf zurückzuführen ist, dass er als natürlich und authentisch wahrgenommen wird.

An jenem Abend schienen die Erwartungen an den Gast besonders hoch zu sein. Wie nicht zuletzt der intensive Applaus und das Johlen zu Beginn der Sendung zeigten. Was Moderatorin Will gleich aufgriff: Sie freue sich über den Gast – und das Publikum freue sich offensichtlich ebenso.5

Nach wenigen Sekunden schon war noch etwas klar: Niemand musste befürchten, Martin Schulz wäre durch ein Übermaß an Vorbereitung aus der Spur des Hoffnungsträgers geraten. Vielmehr konnte er im Grunde schon mit seiner ersten Äußerung punkten und die Sympathien für sich gewinnen.

Die Sendung lief noch keine Minute, als es um das Thema der Kanzlerkandidatur ging. Schulz sagte, er kenne da eine Journalistin, die schon vor einem Jahr gefragt habe, zwischen wem denn das nächste »Kanzlerkandidaten-Duell« stattfinden werde: Also zwischen Angela Merkel auf der einen und wem auf der anderen Seite? Die Journalistin habe gefragt, ob diese andere Person womöglich den Namen Martin Schulz trage. Der ergänzte nun, dass der Name besagter Journalistin Anne Will gewesen sei. Worauf die entgegnete, ihr Gast mache es ihr mit dieser Anmerkung schwer, denn sie habe ja eigentlich doch ein sehr kritisches Interview führen wollen.

Tatsächlich kamen in dem Gespräch durchaus kritische Themen zur Sprache, obwohl Anne Will immer auch eine gewisse Hochachtung und wohl ebenfalls eine Spur Sympathie spüren ließ. Es ging in dem Gespräch bald darum, wie der Plan der SPD entstanden war, bei der nächsten Wahl mit dem Kandidaten Schulz anzutreten, und es ging immer wieder um die bisherige Arbeit des Kandidaten auf europäischer Ebene. Das dürfte alles durchaus interessant für das Publikum gewesen sein und sicherlich auch erhellend zu der Frage, was für eine Person dieser Martin Schulz denn eigentlich ist.

Neben allem anderen, was an diesem Abend gesagt wurde, war es aber ein Begriff, der erst nach etwa 48 Sendeminuten fiel und mit dem Martin Schulz sich von anderen Politikern abhob: Dieser Begriff lautete Empathie. Manche Wähler, führte Schulz aus, seien womöglich auf Distanz zu seiner Partei gegangen, weil sie das Gefühl hatten, dort werde von Seiten der Politik nicht mehr das empfunden, was die Menschen selbst im Land täglich empfänden. Ein glaubwürdiger Politiker aber müsse vermitteln, »die Sorge, die Furcht, die schlaflose Nacht, die Angst vor der Zukunft«6 sei ihm nichts Fremdes, sondern etwas, das dieser Politiker selbst nachempfinden könne. Nur dann sei ein Politiker tatsächlich in der Lage, so zu handeln, dass die Menschen das bekämen, was sie bräuchten. Es reiche einfach nicht, die Probleme immer nur im Kopf zu lösen – man müsse sie als Politiker auch selber im Bauch spüren können. Ein Politiker müsse nachempfinden können, was es bedeute, wenn Menschen Angst um ihren Job oder um ihre Sicherheit hätten. Genau das käme ihm zu kurz in der Politik.

Egal, ob es sich bei diesen Aussagen um Kalkül oder wirklich eigenes Empfinden handelte: Genau mit diesen Worten brachte Schulz schließlich auf den Punkt, was die Menschen von ihm hören wollten. Und er positionierte sich selbst als eine Art Gegenentwurf zu Kanzlerin Angela Merkel, die als Regierungschefin aus der Sicht manch eines Wählers zu viel auf der Agenda hat, um die Ängste und Sorgen des Normalbürgers wirklich anhören und nachvollziehen zu können.

Es folgten noch ein paar Worte über Trump und Putin, und dann war die Sendung beendet. Was allerdings nicht das Ende des Themas Martin Schulz bei Anne Will bedeutete. Denn auf den Sonntagabend folgt der Montag, an dem sich die Medien eben der Analyse der Sendung widmen. Und diese Analysen fielen vielfach einmal mehr äußerst positiv aus. Es schien, als habe man sich noch lange nicht sattgesehen an diesem Kandidaten, und in den Kommentaren konnte man förmlich die Erleichterung darüber spüren, nach der Teflon-Kanzlerin Merkel, die alles an sich abgleiten ließ, nun einmal wieder einem Politiker zuhören zu können, der recht glaubhaft vermitteln konnte, er sei genau das, was jeder andere auch ist – nämlich ein Mensch.

»Da saß einer, der mit jedem Wort und betont aufrichtig um Vertrauen warb, aber gleichzeitig nicht vergaß, dass man auch mal einen Scherz machen muss«7, fasste etwa Spiegel Online zusammen.Schulz sei an diesem Abend ein Politiker gewesen, der einerseits Ehrgeiz verströmte, der aber am Ende sogar nachdenklich zugab, er habe Angst vor einer Niederlage. Es habe von seiner Seite in dem Gespräch mit Anne Will keinen Misston oder Fehlgriff gegeben, alles sei »astrein menschlich« gewesen. Das wiederum lasse nur zwei mögliche Erklärungen zu: Entweder habe man es tatsächlich mit einem äußerst schlagfertigen Mann zu tun, oder Schulz habe doch schon lange als Kandidat festgestanden, der nur noch etwas Coaching gebraucht habe, bevor man ihn von der Leine ließ.

Die Huffington Post wiederum verglich den Auftritt von Schulz mit einem früheren von Angela Merkel an gleicher Stelle. »Der Unterschied zwischen der Kanzlerin und ihrem Herausforderer könnte nicht größer sein«89