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Mord im Pfahlbaudorf

Krimi


Martina Schäfer




Gewidmet FemArc,

dem Netzwerk archäologisch arbeitender Frauen e.V.

www.femarc.de




©Martina Schäfer 2017

Cover: Elena Münscher

Bildquelle: Irina Simkina /www. Shutterstock. com

Romrodphoto /www.shutterstock. com

Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck

Haselünne

2017

ISBN 978-3-95959-056-3

Über die Autorin Martina Schäfer

1952 wurde ich in Düsseldorf geboren, um dort auch zur Schule zu gehen und dann das Abitur mit Bestnoten in Deutsch, Biologie und Geschichte zu vollenden.

Zum Schrecken meiner Vormundstante studierte ich solch angeblich brotlose Künste wie Literatur- Musik- und Theaterwissenschaft in Düsseldorf, Frankfurt, München und Bremen.

Lies mich aber dann doch dazu erweichen, ein anständiges Staatsexamen in Heil- und Sonderpädagogik, sowie den Diplompädagogen in Frankfurt abzuschliessen um dann wacker im Jahre Tschernobyl in Bremen zu promovieren.

Hernach hatte ich das Gefühl, ich hätte wirklich noch nichts Richtiges gelernt, obwohl ich als selbstständige Trainerin und Coach für Kampfsport und Empowerment nicht am Hungertuch nagte und stürzte mich in das Studium der Ur- und Frühgeschichte in Köln, um als Magistra derselben wieder aufzutauchen, mit der Krone meines Bildungsganges, einem Master of Theology auf dem Haupt, in der Schweiz weiter zu schwimmen.

Entsprechend diesem Lebenslauf als poeta docta füllte ich viele Seiten mit belletristischen aber auch fachwissenschaftlichen Texten, die teilweise in unendlichen Ordnerreihen auf dem Dachboden dahin vegetieren, teilweise sich in unergründlichen Tiefen meines Computers aufhalten und nach dem Tageslicht der Veröffentlichung gieren, teilweise tatsächlich an die Oberfläche eines allgemeineren Bewusstseins gelangten teilweise als Fachliteratur zur Gewaltprävention und interreligiöser Kommunikation, teilweise als schillernde Fischlein aus Fantasy- und Kriminalroman.

Mehr dazu findet sich auch auf meiner Website

http://www.martinaschaefer.ch/

Zwei tote Männer

 

„Bei jeder anderen meiner Doktorandinnen wüsste ich, was zu tun wäre! Normalerweise würde ich den jungen Frauen ermutigend auf den Rücken klopfen und so etwas wie: `Na, das wird schon werden, Sie sind ausgezeichnet vorbereitet und sehr kompetent ...` murmeln. Aber bei Ihnen? Vermutlich trösten Sie eher ihren zitternden Doktorvater vor der Wut des Publikums! Wie konnte ich mir auch jemals eine Doktorandin mit sooo einem Thema zulegen?“

Professor Dr. Drahm seufzte theatralisch, warf dann einen Seitenblick auf seine Begleiterin und lachte, während sie die breiten, flachen Stufen vom Rasen zum Rokokoraum der Akademie hochschritten. Beider Füße waren nass, da sie bis vor eine Minute flache Kiesel über die ruhige, frühmorgendliche, bayrische Seenfläche hatten flitschen lassen. Ein Feizeitvergnügen, das nicht ihre einzige Gemeinsamkeit war. Beide besaßen einen schwarzen Gürtel in Jiu-Jitsu, beide waren Kapazitäten auf ihren Gebieten: Der Herr Professor Dr. Joachim Drahm bereits seit zehn Jahren und die junge Frau Dr. Johanna Schmidt seit der Fertigstellung ihrer Promotion auf dem Gebiet seiner Kapazität. Sie hätte sich auch keinen Geringeren als ihn zum Doktorvater auserkoren – wenn schon Vater! – und es gehörte mehr als Begabung dazu, um bei ihm nicht nur einfach irgendeine Arbeit zu verfassen, sondern eine gar auch noch feministisch angehauchte!

„Doppelt so gut wie andere Doktoranden beschreibt nicht im Entferntesten meine Anforderungen an Sie, wenn Sie dieses Thema wählen.“

„Das gilt ebenso für Sie, wie für mich“, antwortete die Magistra für Ur- und Frühgeschichte. „Ich will einen Betreuer für meine Dissertation, der mehr als doppelt so gut ist wie die anderen ... Da kamen leider nur Sie in Frage!“

'Leider' umfasste seine gedrungene, auf den überfüllten Institutsfluren grundsätzlich nie ausweichende Kämpferstatur, seinen runden Schädel, dessen Haltung sie schon im ersten Semester vom weitem angesehen hatte, dass er wohl irgendeinen härteren Kampf-sport machte. Johanna hatte seinerzeit auf Jiu-Jitsu getippt, da der Professor ihrem verehrten Trainer aus der Jugendgruppe ähnelte.

'Leider' umfasste auch seine chauvinistische Art, in den Seminaren die blonden, zarten Studentinnen in Verlegenheit zu bringen, sei-nen väterlichen Blick auf die jungen Männerkommilitonen, seine Mythos gewordenen, irrwitzigen Anforderungen an alle Studentinnen und Studenten, selbst in den klitzekleinsten Proseminarklausuren.

Johanna Schmidt hatte gleich zu Beginn ihres Studiums beschlossen, dass der sie nie verunsichern würde, dass sie eines Tages ebenfalls einen väterlichen Blick von ihm erhaschen wollte und dass sie sich von seiner Kompetenz, seiner genialen Art zu lehren, von seinen spannenden Vorlesungen und heiter geführten Seminaren so viel wie nur irgend möglich in der Zeit ihres Studiums hereinziehen wollte. Dabei war sie, wenn auch manchmal zähneknirschend, geblieben und hatte sich, über erfolgreiche Hauptseminararbeiten und die Magistraarbeit bis zum Rang einer Doktorandin unter seinen Fittichen empor gelernt.

„Nicht einmal gut gemeinte Ratschläge kann ich Ihnen bieten, kenne ich doch keine andere lebende Person, die mindestens ebenso gut vortragen oder sich selbst darstellen kann wie ich – außer Ihnen!“

„Sie könnten mich trotzdem ein bisschen auf das Gespräch gleich vorbereiten: Dieser Dr. Korlus, wie ist er? Was stellt er für Anforderungen? Wird er eine junge Frau neben sich im Institut dulden? Worauf muss ich im Gespräch achten?“

Dr. Joachim Drahm und Dr. Johanna Schmidt hielten auf den oberen Parkstufen an und drehten sich noch einmal der ruhigen Akademiewiese und dem stillen See zu. Drahm achtete genau darauf, nicht allzu hoch über seiner Doktorandin zu stehen – aber, weil er nun mal nicht sehr groß war, auch nicht darunter!

„Sie sollten zum Beispiel, wenn Sie mich schon um einen ehrlichen Ratschlag bitten, nicht unbedingt gleich in den ersten Minuten von Ihrer Lebenspartnerin erzählen! So, wie sie das bei mir getan haben.“

„Habe ich das? Nee, so blöd bin ich doch damals sicher nicht gewesen!“

„Sie waren so blöd! Aber vermutlich war es mein ungebrochen ruhig in sich ruhendes, patriarchales Selbstverständnis, das unvoreingenommen darüber hinweg sehen konnte. Korlus ist da anders. Er ist älter, er gehört zur Generation meiner Lehrer. Das sind zum Teil immer noch jene, die sich unter den Nazis ihre ersten akademischen Sporen verdient haben! Na, was sage ich Ihnen? Sie haben ja selbst ein forschungsgeschichtliches Thema angefangen.“

„Jaja.‟

Dr. Johanna Schmidt gab sich das erste Mal die Ehre, auf dieser bedeutsamen Tagung zur mitteleuropäischen Archäologie über das Thema ‚germanischer Nationalismus, gallischer Chauvinismus, Panslawismus und andere Nationalströmungen in ihrem Verhältnis zu den Forschungsergebnissen früheisenzeitlicher Kulturen in Mittel- und Westeuropa‛ zu reden. Kurz gesagt, über Forschungsgeschichte und Faschismus.

„Und was raten Sie weiter?“

„Wenn Dr. Korlus Sie fragt, wie Sie bis dato Ihr Studium finanzierten, sollten Sie ihn weder darauf hinweisen, dass Sie seit fünfzehn Jahren alle Ihre Ausbildungen durch Ihre Tätigkeit als Selbstverteidigungstrainerin, noch dazu nur für Frauen! “ – Drahm betonte das „nur “, als spucke er einen Kiesel zwischen den Zähnen hervor – „finanzierten, noch, dass Ihnen im Endstadium Ihrer Dissertation eine ungenannt bleibende Mäzenin finanziell unter die Arme griff, weil zwar Ihr Grips nicht versagte, sondern zu ungeahnten Höhenflügen aufblühte, aber Ihre Karate gestählten Knie leider wegen Überforderung im Gips lagen!“

„Aber was sage ich denn, wenn er mich danach fragt?“

„Lügen Sie schamlos. Das tun Sie ja auch, wenn Sie Zeichnungen abliefern sollen! Machen Sie aus Ihrer Mäzenin – was weiß ich? Einen Erbonkel aus Amerika oder sonstwen. Diese Stadt bekannte Oberhexe! Ich hätte nie gedacht, dass die jemals so viel Geld locker machen würde, um pro Jahr drei hoffnungsfrohe Jungfeministinnen durchzufüttern! Inklusive der Förderung der Veröffentlichungen ihrer Magister-, Diplom- oder gar Doktorarbeiten mit so unsäglichen Titeln wie: `Lesbische Mütter und ihr Anteil am Erwerbsleben` oder `Feministische Pädagogik in ihrem Verhältnis zu den Ideen der Reformpädagogik` oder Ihr eigener schrecklicher Titel:

`Archäologinnen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts!‛‟

„Na – ich kann doch nichts dafür, dass so selten faschismuskritische Arbeiten in unserem Land gefördert werden!“

„Antifaschistische ...?“, Drahm verschluckte sich fast. „Das war doch nicht das Problem der Stipendiatensitzung! Also, mit einem Wort: Halten Sie sich im Gespräch zurück, vermeiden Sie Themen wie Ihr Privatleben, Ihre Forschungsinteressen, Ihre Berufsperspektiven, Ihr politisches Engagement ... Ach, verflixt! Ehe er Sie nicht eine Weile bei der Arbeit gesehen hat sprechen Sie am besten gar nicht! Schauen Sie ihn sich in Ruhe an. Er ist ein interessanter, alter Herr. Gewissermaßen die graue Eminenz fürs süddeutsche Neolithikum und die Seeuferrandsiedlungen. Bei ihm sind Sie eigentlich genau an der Quelle für Ihre dämlichen Busentöpfe und Weiberidole!“

Drahm lachte fröhlich, denn er wusste zwar um Johannas Radikalfeminismus, aber auch um ihre wissenschaftliche Lauterkeit, die niemals ein Matriarchat oder sonstige frauenzentrierte Gesellschaftsstrukturen her ideologisiert hätte, wenn es nicht durch Bodenquellen einwandfrei nachzuweisen gewesen wäre. Und das war es natürlich – für das Neolithikum – bis heute nicht, so sehr auch viele Funde aus der Bandkeramik oder der Trichterbecherkultur und verwandten Gruppierungen dafür sprachen.

Darüber war er heilfroh, denn als Metallkundler und Keltenspezialist hatte er sich gefreut, die junge Kollegin erst einmal von diesem Thema abzulenken. Er packte sie an ihrem anderen Interesse, dem für Forschungsgeschichte, das er selber – als Altlinker – besser nachvollziehen konnte, und so waren sie sich gewissermaßen im Aushecken des Promotionsthemas auf halbem Wege entgegen gekommen. Nun aber – freigesprochen, mit dem heutzutage nur noch imaginären Doktorhut versehen und auf Stellungssuche, war sie wieder zu ihrer alten Vorliebe – dem Neolithikum – zurückgekehrt und hoffte, an dem Institut des renommierten Pfahlbautenausgräbers eine Stelle zu erhalten.

Johanna nahm ihm seine frechen Äußerungen nicht allzu übel. Sie kannte die Gefahr der Ideologisierung, die die feministische Bewegung – und hier vor allen Dingen ihren matriarchatsforschenden und spirituellen Teil – inzwischen ergriffen hatte, wie alle politisch radikalen Bewegungen vor ihr auch. Spott und Lachen aber – das hatte der große Schriftsteller Ecco gelehrt – waren der Feind jeglicher Ideologisierung.

„Eine Stelle bei ihm, Johanna, und Ihre weitere Karriere im Wissenschaftsbetrieb der Spatenforschung ist geritzt.“

Drahm drehte sich der hohen Glastüre zu.

„Und lassen Sie mich Ihnen nur einmal im Leben die Türe aufhalten: Nehmen Sie das als symbolische Energiegabe, als Tor, das ich Ihnen nach Ihren glänzenden Arbeiten öffnen möchte, auch als Mutstups für Ihren Vortrag heute Nachmittag ... na ja ...!“

Er drückte die altmodisch verschnörkelte Klinke herab, schwang die Türe nach innen auf und bedeutete Johanna mit einem Lächeln und angedeuteter Verbeugung, in den Rokokoraum zu treten.

„Ich sitze dort im Sessel und harre Ihrer. Wenn Sie mit anderen Leuten im Gespräch sind, lohnt es sich für mich gar nicht, wegzugehen. Mit wem soll ich dann noch vernünftig palavern?“

„Seit ich bei Ihnen promoviert habe, werden Sie anzüglich, Herr Professor!“ Sie grinste fröhlich.

Während Dr. Drahm es sich in einem der scheinbar wahllos im Raum verstreuten Sesselchen bequem machte, ging die junge Frau quer durch den Raum auf eine der drei Türen zu, die nebeneinander in der gegenüberliegenden Wand zu sehen waren.

Dr. Johanna Schmidt – ein Titel frisch wie Holländer Käse an einem Eifeler Marktstand – stockte kurz vor dem linken Referentenappartement, drehte sich noch einmal zu ihrem Mentor herum, der aufmunternd nickte, und öffnete die Türe.

Alle Referentenappartements der Akademie am See waren so angelegt, dass sie zu ebener Erde an den Außenseiten des ehemaligen Lustschlösschens lagen. Zur Außenseite hin hatten sie Terrassen zum See, in die Parkanlagen oder direkt in die umliegenden Forsten. Die inneren Türen waren wie Haustüren verschließbar. Hinter ihnen befand sich ein kleiner Flur, von dem es ins Bad, ins Schlafzimmer und in den Arbeits-Wohnbereich des Appartements ging. Alles sehr klein, funktional, kaum mehr als vierzig Quadratmeter groß und von dem Bemühen getragen, den Kapazitäten und Referenten, die aus aller Welt Tagungen an dieser renommierten Akademie besuchten, den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten und ihnen während der Tagungen ein annehmbares Zuhause zu bieten, in das sie sich ungestört zurückziehen konnten, eventuell auch mal mit ein oder zwei Kollegen zu intensiverem Fachaustausch.

Professor Dr. Dr.hc. Sebastian Korlus, der Fachmann auf dem Gebiet der Pfahlbauforschung, insbesondere der neolithischen, war um diese Uhrzeit sicher bereits aufgestanden.

Johanna klopfte vorsichtig an die Türe des Arbeitszimmers, denn sie hatte ungehindert die kleine Diele betreten können. Sie hoffte sehr, ihn in guter Laune vorzufinden, die Arbeit ihrer nächsten Jahre mochte davon abhängen.

Johanna hatte sich relativ schnell nach bestandener Promotion um Stellen bemüht, beraten und angeleitet durch Dr. Joachim Drahm, der ganz egoistisch alle ihre Bewerbungen rückhaltlos unterstützte, solange sie nicht weiter als 200 Kilometer von seinem Institut entfernt lagen. Bewerbungen, die seine Assistentin weiter fort, gar bis in die süddeutschen Provinzen hinein führen konnten, förderte er nur halbherzig. Eigentlich hätte er sie gerne an seinem eigenen Institut weiter beschäftigt, was aber aus finanzpolitischen, hochschulinternen und anderen Gründen zur Zeit nicht möglich war. Außerdem wollte und sollte Johanna sich ja auch mal den Wind der Welt um die Nase wehen lassen.

Drahms Taktik hatte zu seinem Kummer das genaue Gegenteil bewirkt: Professor Korlus, sein alter Lehrer und heutiger Kontrahent, war genau auf diese halbherzige Unterstützung angesprungen und bot Johanna Schmidt eine frei werdende Dozentenstelle an seinem – selbstredend nicht in der Nachbarschaft liegenden – Institut an. Nicht ohne hämisches Vergnügen, Drahm noch einmal, kurz vor seiner eigenen Pensionierung, genauso jemanden abspenstig machen zu können, wie der ihm seinerzeit als junger, gerade erst fertiger Doktor abspenstig gemacht worden war!

Anlässlich der Tagung zu bronzezeitlichen und jungsteinzeitlichen Pfahlbausiedlungen Ost- und Mitteleuropas, welche in dieser Akademie, nicht weit von Korlus` derzeitiger, sehr bedeutender Ausgrabung einer Seeuferrandsiedlung stattfand, war Dr. Johanna Schmidt nun geladen, sich persönlich bei Korlus vorzustellen, damit er sich ein Bild von der jungen Frau Doktor machen konnte.

Johanna klopfte noch einmal, etwas nachdrücklicher, denn es gab immer noch keine Reaktion. Möglicherweise hatte der alte Herr nicht richtig gehört oder ein bedeutendes Problem nahm ihn so sehr in Anspruch, dass er die abgemachte Besprechung vergessen hatte.

Hinter der Türe rührte sich nichts.

Als Johanna noch einmal klopfte, dieses Mal aber etwas fester, und leise rief: „Herr Professor Korlus! Ich bin es – Dr. Johanna Schmidt!“, in der Hoffnung, ihn, falls er doch noch schliefe, aus dem Schlafzimmer zu locken, wo zu klopfen doch etwas peinlich gewesen wäre, bewegte sich die Türe plötzlich und schwang zurück. Offenbar war sie gar nicht richtig eingeklinkt gewesen.

Neugierig drückte Johanna sie weiter auf und schaute in sein Arbeitszimmer hinein.

Hinter der Fensterfront mit vorgezogenen, wolkenweißen Gardinen dämmerte dunkel und frisch der Tannenwald. Der Schreibtisch stand so vor dem Fenster, dass eine arbeitende Person hinaus schauen konnte, allerdings in einigem Abstand zur Fensterwand, ein wenig schräg im Raum, damit sich auch mal zwei Leute daran gegenüber sitzen konnten. Die Sitzecke rechts neben der Türe sowie Regale und kleine Schränkchen links davon würdigte Johanna keines zweiten Blickes. Professor Dr.Dr.hc. Korlus lag, die Arme breit ausgestreckt, mit dem Oberkörper über dem Schreibtisch zusammengesunken, leblos da und konnte dem ersten Eindruck nach tatsächlich nicht „Herein!“ rufen!

Johanna ging näher heran. Das Gesicht des Professors lag nach links gewendet und schaute zu den Regalen hin, seine rechte Hand hielt noch den Kugelschreiber. Die Schläfe berührte leicht eine etwas zur Seite gerutschte Computertastatur. Hinter seinem Kopf flimmerte der eingeschaltete Bildschirm.

Johanna fasste nach der erreichbaren Hand mit dem Kugelschreiber, aber das Pulsfühlen erübrigte sich, denn diese Hand war kalt, leblos und hatte jene merkwürdige Schwere, die tote Körper annehmen, wenn sie bereits eine Weile so daliegen.

Unwillkürlich wischte sie sich ihre Hand an der Hose ab. Sie eilte aus dem Zimmer, durchmaß den kleinen Flur mit drei Schritten, riss die Türe zum Rokokoraum auf und rief aufgeregt:

„Drahm! Professor Drahm!“

Der schaute irritiert und belustigt auf, doch seine Belustigung verschwand schlagartig, als er Johannas Gesichtsausdruck wahrnahm.

„Was ist los? Hat er versucht, Sie zu vergewaltigen?“

Er lief durch den großen Raum auf sie zu.

„Quatsch!“ Johanna schüttelte irritiert den Kopf. „Er ist tot! Er liegt da über seinem Schreibtisch und ist tot!“

„Wirklich?“

Drahm schob die Türe etwas weiter auf, drängte sich an ihr vorbei in die kleine Diele hinein und betrat das Zimmer, Johanna folgte ihm.

„Tatsächlich!“ Drahm ließ Korlus` Arm fallen, der Kugelschreiber war dem Toten mittlerweile aus der Hand gerutscht. „Mausetot, mein guter alter Lehrer – mitten aus dem Leben!“ Er schüttelte ratlos den Kopf und starrte auf den Toten herunter. „Was tut man jetzt in solch einem Augenblick?“

„Sie beten und ich benachrichtige die Akademieverwaltung. Wahrscheinlich muss ein Arzt her, der Krankenwagen ... Nun, und irgendjemand muss dann seine Angehörigen und die Tagungsteilnehmer verständigen. Ich glaube, sein Referat war auf 11 Uhr angesetzt – danach die Führung über seine Ausgrabung drüben am anderen Ufer.“

Johanna wollte das Zimmer verlassen, während Drahm sich, den Toten weiter anstarrend, etwas hilflos in Jiu-Jitsu-Kämpfermanier über den Schädel strich.

„Moment mal!“ Er streckte den Arm nach ihr aus und hielt sie fest. „Das ist ja ungeheuerlich – Schmid, das war kein Herzanfall, was unseren über alles verehrten Lehrer aus dem Leben riss. Schauen Sie mal –”

Das zweimalige Anheben des Armes musste die Lage des Toten etwas verändert haben. Der Kugelschreiber war von der Computertastatur fort gerollt, der Kopf ganz herabgerutscht – und gab nun den Blick auf die untere, Blut verschmierte Tastenreihe frei. Professor Dahm beugte sich nach links und sah dem Toten nun ganz von vorne her in das Gesicht: „Das war kein Herzanfall! Der arme Kerl ist tatsächlich erschossen worden. Hier, direkt frontal in die Stirne hinein! Wer macht denn so etwas?“ Er richtete sich kopfschüttelnd wieder auf.

Johanna schaute ihn entsetzt an. „Aber warum?“

Drahm zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Der Raum sieht nicht so aus, wie wenn hier ein Raubüberfall statt gefunden hätte. Was hätte man auch stehlen sollen? Sein Minimalhonorar von dieser Tagung? Und geheime Forschungsergebnisse, die böswillige Agenten fremder Mächte oder Firmen anlocken könnten, gibt es ja nun, zum Glück, in unserem Fach nicht!“

Dr. Drahm schaute zur Terrassentüre hinüber. Kein Vorhang bauschte sich im Durchzug, sie war offensichtlich verschlossen.

„Johanna – bewegen Sie sich vorsichtig und rühren Sie nichts mehr an. Wir müssen die Polizei verständigen!“

 

 

Der Tote lag mit dem Gesicht im Wasser, halb versteckt unter einigen überhängenden Sträuchern, zwischen die Binsen eingeklemmt.

Wer immer ihn in den See geworfen hatte, hatte eine schlechte Stelle dafür gewählt. Die Kehrwasser der durchfließenden Bäche schwemmten vieles – nicht nur tote Händler – vom Grund hoch, an die Seeränder hin. Trotzdem er auf dem Bauch im flachen Wasser lag, erkannte ich an seiner Kleidung, dass es einer der großen Männer aus dem Lager der Händler sein musste. Ihre Gewebe leuchteten heller und waren feiner im Stoff als die unseren. Der Tote trug auch die lustigen, bauschigen Beinlinge, die die Händler um die Knöchel herum mit Riemen oder verzierten Stoffstreifen befestigten. Weiter im Osten trügen die Leute solche Beinlinge, um ungehindert auf ihren Pferden sitzen zu können, hatte ich gehört. Eine merkwürdige Idee, sich auf ein lebendiges Tier zu setzen, doch die Händler erklärten uns, dass sie dann schneller und weiter fortkommen könnten. Ohne die Pferde hätten sie gar nicht die Gelegenheit gehabt, in ihrem Leben so weit gegen den Sonnenuntergang, bis an unsere Seen, vorzustoßen.

Die Beinlinge des Toten waren nicht so gut zu erkennen, da seine Füße tief im Wasser herabhingen. Das Wasser umspielte und trug ihn. Fast war es, als ob er sich nur mal eben auf den Bauch zum Schlafen hingelegt habe ... doch dazu lag er nun wirklich zu lange mit dem Gesicht im Schlamm vor mir.

Vielleicht war er aus einem Boot gefallen? Die meisten Händler konnten nicht schwimmen. Ich kletterte neugierig näher an das Ufer herunter.

Warte!“ Maeve, die hinter mir hergekommen war, hielt mich am Arm zurück. Sie schüttelte den Kopf und ihr weißes Haar wehte wie Schneeflocken nach hinten.

Er ist nicht ertrunken, Jana. Das Dunkle um seinen Körper herum ist Blut.“

Meinst du, es gibt so spät im Frühjahr hier unten am See noch Wölfe? Es ist doch beinahe schon heiß und das Korn steht kniehoch.“

Maeve lächelte leise und strich mir über den Kopf. Ihr faltiges Gesicht zerfiel in ungezählte Muster und Striche. Sie stand etwas oberhalb, so dass sie größer wirkte. Sonst reichte die alte Maeve mir nur bis zum Brustbein.

Sie beugte ihr Gesicht nahe an mein Ohr herunter und funkelte mich unter ihren noch sehr schwarzen Augenbrauen listig an.

Diese Wölfe hier hatten zwei Beine! Siehst du nicht den Pfeilschaft, der unter seinem linken Arm herausragt?“

Maeve war eine der alten, wichtigen Frauen im Dorf. Man munkelte, die wichtigste überhaupt. Manche nannten sie „Die Vielsichtige“ oder auch „Himmelsäugige“. Nur wenige Leute bei uns hatten Augen in der Himmelsfarbe. Wir waren Töchter der Erde. Unsere Augen hatten die Farben der Erde, der schwarzen Felsen, baumfarben, vielleicht auch hell wie die fruchtbare Kornerde oder honigfarben. Maeves Augen dagegen waren wie der Sommerhimmel, wie ein springender Bach, hell wie die Augen der Händler im Lager uferabwärts, wenn die Weise Alte auch sonst aussah wie wir alle: Kleiner als die Händler, mit dunklen Haaren und dunklerer Haut.

Die Händler waren alle viel größer als wir, seltsam hellhäutig wie die blinden Molche in den Felsenhöhlen. Kamen sie in der heißen Zeit und verhandelten zu lange mit den Frauen auf der zentralen Plattform, mussten sie sich Tücher über die Köpfe ziehen. Wenn sie das nicht machten, wurden ihre Gesichter rot wie gekochte Krebse, ihre Laune sank, ihre Stimmen wurden lauter und höher, ihre Bereitschaft zu streiten und zu prügeln stieg an und die zu einem vernünftigen Handel sank.

Maeve war die Weiseste, sie wusste und sah mehr als die anderen Frauen der Sippe oder des Dorfes. Oft warnte sie uns vor den Weißnasen, wie sie die Händler nannte, den Milchtrinkern.

Er ist erschossen worden wie ein Tier.“

Sie deutete in die Richtung seines linken Armes und nun erkannte auch ich den Pfeilschaft im Zentrum eines dunklen Blutfleckes, der sich nach und nach im Wasser ausgebreitet hatte.

Ja – die Händler stritten und prügelten nicht nur. Auch wir hatten schon Schlimmes von ihnen erleiden müssen: Vor zwei Wintern hatten sie eine unserer Frauen gejagt und getötet. Solange eine von unseren alten Frauen zurückdenken konnte, war so etwas noch nie an den Seen passiert.

Unsere jungen Frauen und Männer umzingelten daraufhin das Lager der Weißnasen. Sie mussten der Bärensippe der Toten viele Armlängen feinen Stoffes abgeben, Krüge mit dem honigfarbenen Stein aus dem großen Nachtsee, mehr kupferne Armreifen als die gesamte Bärensippe Finger und Zehen hatte und feine Muschelperlen vom anderen Rand der Welt. Danach war ihr Lager fast leer und sie zogen still davon. Zwei Sommer lang kehrten sie nicht mehr zu unseren Dörfern zurück.

Nun aber – nach der Schneeschmelze waren sie wieder aufgetaucht.

Viele Frauen freuten sich darüber, da die Händler seltsame hübsche Dinge und gute Geschichten in das Land brachten. Aber Maeve und die anderen Alten beobachteten sie misstrauisch.

Die Händler tranken zwar Milch wie kleine Kinder oder Katzen, verhielten sich aber eher wie alte Bären: unberechenbar und angriffslustig.

Rühr ihn nicht an.“ Maeve kletterte neben mich und schaute auf den toten Händler im Wasser herunter. „Das ist ihre Angelegenheit, das sollen die Weißnasen untereinander ausmachen. Wir Frauen töten nicht. Jedenfalls keine Menschen. Wir können keine Menschen jagen, so wie kein Hund einem anderen die Kehle durchbeisst und keine Krähe die andere zu Tode hackt.“ Sie schüttelte versonnen den Kopf.

Ich schaute sie ehrfürchtig und in Liebe an. Maeve war so viele Sommer älter und weiser als ich, dennoch hatte sie im Verlauf der langen Nächte – gerade zu der Zeit, als Anka, die Frau aus der Bärensippe, von den Händlern gejagt worden war – mich als Bankpartnerin gewählt. Meine Lieder zur Schlafenden Sonne in den Monden davor hatten auch nur ihr gegolten und ich hatte ihr in den Sippenrunden und bei den gemeinsamen Mahlzeiten oft meine Augen strahlen lassen, meinen Thron gezeigt.

Natürlich, alle jungen Frauen strampeln sich ab, die Bank mit einer weisen Alten zu teilen, und manche hatte vor Maeve den Thron geschwenkt. Doch die Alten wählen nicht jede junge Frau, öffnen ihr das Herz und die Wunder der Welt. Ich wusste, wie bevorzugt ich war.

Laufe hinüber in das Händlerlager, Jana. Sprich nicht vor allen Händlern über diesen Fund. Geh in die Hütte des Mannes mit dem verkrüppelten Arm, der die Heilpasten anrührt und fremde Kräuter mit sich führt. Er soll mit dir gehen. Ich warte hier auf euch und bewache den Toten. Sage im Lager keinem, was wir gefunden haben, auch dem Pastenmann nicht. Er soll das später seinen Leuten selber sagen.“

Das Merkwürdigste an den Händlern war, dass sie ohne Frauen wanderten. Anfangs wussten unsere Frauen gar nicht, mit wem sie handeln sollten, denn es heißt doch, dass Männer ohne Frauen wie Kinder ohne Mütter sind: Sie haben nur Dummheiten im Kopf. Die Alten meinten, das sei auch der Grund für die Jagd auf eine unserer Frauen gewesen.

Ich verstand das nicht, doch Maeve und die anderen alten Frauen haben schon mehr gesehen und wussten wohl, was sie meinten. Meine Mutter, die jüngste Tochter von Maeves jüngster Schwester, weinte damals sehr, denn Anka war ihre Schlafpartnerin und teilte oft die Bank in unserer Hütte mit ihr, oder meine Mutter verließ unsere Plattform der Schildkrötensippe und schlief drüben bei den Frauen der Bärensippe auf Ankas Bank.

Die Heilerinnen und Alten zogen jedenfalls nach all diesen Ereignissen einen Kreis um das neue Händlerlager. Es war ein sehr großer Kreis, den keine von uns alleine überschreiten durfte. Deshalb wunderte mich ihr Auftrag und ich schaute sie fragend an.

Sie werden es wohl nicht noch einmal wagen.“ Maeve zog ein Messer aus ihrem Gürtel. „Trage das offen vor dir her. Wenn ein Händler dich angreift, stich damit in seinen Bauch, als wäre er ein großer Fisch.“

Ich nickte, befeuchtete aufgeregt meine Lippen, nahm ihren Flintdolch und lief, so rasch ich konnte, am Ufer entlang in die Richtung des Händlerlagers.

Handwärts lagen die Häuser unseres Dorfes. Noch ruhten sie dunkel, wie schlafende Störche auf ihren Stelzen im Morgenlicht. Einzelne Hühner scharrten bereits zwischen den Pfählen am Boden herum und im Pferch hinter dem Dorf blökte leise, ungeduldig ein Kalb.

Herzwärts lag der See, an dem ich nun entlang lief. Aufgereiht am Ufer unterhalb des Dorfes warteten die Einbäume. Die Netze waren auf hohen Stangen zum Trocknen aufgespannt, der See schimmerte dunkel und die Sonne schob sich nun wie ein Stück brennender Bärenstein über die Waldkuppen hinter dem See.

 

 

7. Juli

Unsere studentischen Hilfskräfte haben das Pfahlbaufeld vermessen. Die chronologischen Zuordnungen der Pfostenreihen sind im vollen Gange.

Die Siedlung muss ursprünglich ca. 100 Meter vom damaligen Ufer entfernt, etwas erhöht, angelegt worden sein. Nur die seeseitigen Häuser waren auf Plattformen errichtet. Die mehr landeinwärts gelegenen Häuser, die vielleicht jüngeren Datums sind, waren nach Art linearbandkeramischer Langhäuser ebenerdig, wenn auch ihr Grundriss kürzer ist.

Warum die vorderen Häuser, also die zum See gewandten, vermutlich älteren Siedlungsteile auf Pfosten standen, muss noch abgeklärt werden. Möglicherweise gab es hier eine Art Bucht, so dass die Häuser im überflutungsgefährdeten Gebiet standen.

Eine genauere Prospektion an der ehemaligen Uferkante, Pollendiagrame, etc. werden in den nächsten Wochen darüber Aufschluss bringen.

Ach – ich alter Herr beneide die jungen Kollegen aus der Tauchfraktion!

 

9. Juli

Beim Freilegen der oberen Sedimentschicht in Abschnitt 7, Planum B stießen die jungen Leute auf eine Moorschicht, wie sie hier in dieser voralpinen, spätglazialen Seenlandschaft häufiger auftritt. Das lässt auf jeden Fall darauf schließen, dass der See an dieser Stelle doch weiter landeinwärts, in der Art einer verlandenden Bucht, reichte.

Unter der Moorschicht ist abermals eine schöne Sand-Kies-Lage.

An einer Stelle, eben im Abschnitt 7, ist die Moorschicht dicker, als wäre hier ein kleiner Hügel aufgeschüttet worden oder aus irgendwelchen Gründen mehr Erde angeschwemmt als woanders.

 

11. Juli

Der interessanteste Fund der gesamten Grabungskampagne ist sicherlich heute Morgen im Abschnitt 7 von B gemacht worden: Nachgrabungen im kleinen Moorhügel haben fast sofort eine Bestattung zu Tage gefördert!

Es muss sich, merkwürdig genug, um eine Art Seebestattung gehandelt haben. Etwas ganz Ungewöhnliches für prähistorische Epochen!

Vor lauter Aufregung bin ich über eine Harke gestolpert – das Blut lief mir aus der Nase wie aus einem Wasserhahn. Wie gut, eine liebevolle Freundin und ihre feinen Taschentücher an der Seite zu haben!

Der Tote wurde anscheinend durch die besonderen Strömungsverhältnisse sehr rasch gegen das Ufer und unter die verlandenden Sedimentschichten gedrückt.

Er ist komplett in eine Lederdecke eingewickelt.

Jetzt summt und brummt die ganze Landstation wie ein Bienenhaus! Die Leute wurden von den schwimmenden Basen herausgewunken. Alles starrt verzückt in die kleine Grube.

Ich bin froh, am Ende meiner Laufbahn als Grabungsleiter noch einmal solch einen spektakulären Fund gemacht zu haben. Auch wenn es mich eine dicke Nase kostet!

 

15. Juli

Es bestätigt sich, dass die Leiche aus dem See ziemlich rasch wieder an das Ufer geschwemmt wurde. Sie ruht, eingewickelt wie in einen Kokon, auf der rechten Seite. Aus der Lederdecke schaut nur ihr Haarschopf – wirklich erstaunlich gut erhalten – heraus.

Wir haben nun die gesamte Länge des Körpers freigelegt, um ihn, so rasch es geht und die Ausgrabungen es zulassen, in ein anthropologisches Institut mit Kühlkammer zu schaffen. Glücklicherweise war es die ganzen Tage hindurch noch recht kühl und feucht, so dass wir seine Temperatur durch Wasserschüttungen und feuchte Abdeckplanen konstant halten konnten.

Bisher sind wir auf keinerlei Beigaben gestoßen.

Das bestätigt unsere Annahme, dass es sich wirklich um irgendeine außergewöhnliche prähistorische Form von Seemannsbegräbnis gehandelt haben muss. Dass es kein über Bord gefallener Fischer war, der ertrunken ist, also um einen Unglücksfall, beweist ja das sorgfältige Einrollen in die Lederplane.

 

 

16. Juni

Wir haben erste Lederstückchen an zwei Institute zur C14-Analyse geschickt.

Natürlich haben die Journalisten schon den Braten gerochen! Man kann ja eine noch so diskrete und verschworene Ausgrabungsgemeinschaft sein – und ich nehme das eigentlich von meinem Team, das ich ja selber zusammengestellt habe, an – irgendetwas sickert halt doch immer durch.

Alle Welt hofft auf einen zweiten „Ötzi“!

Ich auch, wenn ich ehrlich sein soll“, gestand ich gestern Abend unserer Zeichnerin Anna Zwingli, als wir in einem kleinen Weinlokal das Ereignis feiern gingen.

Zwar bin ich Neolithiker, aber auch, wenn es sich um eine der bronze – oder eisenzeitlichen Moorleichen handeln sollte, wie wir sie ja mittlerweile zuhauf und aus den verschiedensten Epochen Nordeuropas kennen, ist doch diese seltsame Art Seebestattung außergewöhnlich und hebt den Fund in den Rang eines besonderen wissenschaftlichen Ereignisses.

Meines Wissens ist so etwas noch nie irgendwo dokumentiert worden!

Anna hat mir, zur Feier des Ganzen, zwei ihrer wunderbar fein bestickten „Tüchli“ überreicht.

 

 

19. Juni

Noch keine weiteren Grabbeigaben.

Die gesiebte Moorerde um den Toten herum ist jungfräulich im wahrsten Sinne des Wortes und unterscheidet sich in ihrer Zusammensetzung durch Nichts von den andernorts entnommenen Bodenproben aus dieser stratigraphischen Schicht.

Der Tote liegt nun ganz frei da. Man wird ihn heute, en block, mitsamt den darunter liegenden Schichten herausholen.

Und dann die Anrufe der Kollegen aus den Physikalischen Instituten, noch informell, aber immerhin: Erste Schätzungen sprechen von einem Alter von über 5000 Jahren!

Die erste, vollständig erhaltene Moorleiche des Jungneolithikums.

Das ist ein weiterer „Ötzi„!

Klar – die studentischen Hilfskräfte sind außer Rand und Band. Da wird wohl heute Nacht eine fröhliche Party in den Landbaracken steigen. Glücklicherweise läuft aber sonst doch alles im Wesentlichen professionell und ungestört. Es ist uns gelungen, die Journalisten fernzuhalten.

Ich staune immer wieder über Anna! Sie liebt es, bei den jungen Leuten mitzumischen und tanzt wie eine Zwanzigjährige. In ihrer feinen, schweizerisch-höflichen Art spielt sie den ganzen Fund gegenüber neugierigen Außenstehenden herunter und nebelt sie mit Fachausdrücken leise, aber sehr konsequent ein. Das hat die Journaille schnell vertrieben!

 

 

 

Die Teams

Als Dr. Johanna Schmid wieder den Raum betrat, in dem Professor Korlus wie ein verlorener Nachtfalter über seinem Schreibtisch lag, hatte sich Drahm zur Zimmertüre zurückgezogen, lehnte in der Türfassung und betrachtete nachdenklich den Raum.

„Warten Sie!“ – Er fasste ihren Arm und bedeutete Johanna, ebenfalls unter dem Türrahmen stehen zu bleiben. Der aufgeregte Akademieverwalter, den sie in den Büroräumen ausfindig gemacht hatte und welcher ihr auf dem Fuße folgte, prallte beinahe gegen sie.

„Es wäre gut, wenn keiner von uns mehr diesen Raum betritt.“

Drahm wandte sich um und schaute den Verwalter an, einen älteren Sozialarbeiter mit hochfliegenden, akademischen Plänen, die leider von seiner vielköpfigen Familie behindert wurden, mit der er im Dachgeschoß des Akademieschlösschens eine „Schöner-Wohnen-Wohnung“ belebte.

„Wenn Sie sich einem Fundort nähern – wie verhalten Sie sich?“

Drahms Blick wanderte von dem Verwalter zu Johanna. Die schüttelte verwundert den Kopf.

„Spielen wir hier Zwischenprüfung? Nun, ich prüfe die Fundumstände und schaue mir erst einmal alles von einem Punkt außerhalb der Fundstelle an, latsche oder buddele nicht gleich los, mache eventuell einen ersten Lageplan oder eine Skizze des Fundstückes in situ.“

„Richtig. Der Unterschied zu dieser misslichen Situation hier ist gar nicht so groß.“ Professor Drahm nickte energisch. „Die Skizzen können wir uns sparen. Hier geht gleich ein Gewitter an Blitzlichtern der Polizeifotografen herunter. Was sehen Sie noch?“

„Bei einem Befund würde mich natürlich die vorläufige Stratigrafie interessieren, die bodenkundlichen Schichten, was lag über dem Fund, was unmittelbar darunter, wurde die ursprüngliche Lage beim Auffinden gestört ... usw. Fragen Sie mich bitte nicht aus wie eine Erstsemesterin!“

„Und – wie sieht`s hier aus?“ Er zupfte sie ungeduldig am Arm, Johanna zog ihn hastig beiseite.

„Ganz sicher befand sich die Tastatur des Computers ursprünglich vollständig unter seinem Kopf. Er ist gewissermaßen auf sie gefallen. Wir haben, durch das Hocheben seines linken Armes, die Lage des Toten verändert. Der Computer war eingeschaltet – allerdings sehen wir jetzt nur noch das Leerbild. Vielleicht hat sein Vorne-Über-Fallen die Dateien ausgestellt? Was sein Körper sonst noch verdeckt, können wir im Augenblick nicht sehen.“

„Die Umgebung, der Raum ...?“

Johanna sah sich suchend um.

„Das Zimmer zeichnet sich eigentlich ansonsten durch eine bemerkenswert ungestörte Fundsituation aus. Seltsam, Dr. Drahm, wenn frau bedenkt, dass ja hier eine grässliche Gewalttat stattfand.“

„Das heißt aber: Eigentlich wäre Ihr ursprünglicher Befund heute Morgen ein liebenswürdiger, aufrecht sitzender Professor vor laufendem Gerät gewesen, bei irgendeiner Arbeit. Na ja – vielleicht auch beim heimlichen Computerspielen!“ Drahm grinste, aber auf Johannas ernsten Blick hin riss er sich doch zusammen. „Irgendjemand hat ihn gestört, und das ohne allzuviel Aufwand.“

„Wenn der ursprüngliche Befund der war, dass Korlus saß und am Computer arbeitete, dann hat ihn der Schuss genau von vorne getroffen – vielleicht eher von ihm aus gesehen von rechts vorne . Ungefähr da, von der Terrassentüre her.“

„Die ist abgeschlossen, wie wir sehen.“

„Vielleicht hat der Mörder durch das Fenster geschossen?“ Der in den Hintergrund gedrängte Verwalter wagte sich mit einer Bemerkung zwischen die beiden Archäologiekapazitäten.

Dr. Joachim Drahm wendete sich streng herum und blinzelte den fürwitzigen Sozialarbeiter kritisch an.

„Spüren Sie irgendetwas von einem Luftzug, der entstehen müsste, wenn die Fensterscheiben zerschossen sind oder ein Fenster aufgebrochen wurde?“

„Mich nimmt Wunder, was unter dem Professor liegt.“ Johanna starrte nachdenklich auf den breiten Rücken des Toten. „Außerdem, wenn diese mörderische Störung ohne viel Aufwand geschah, aber nicht durch geschlossene Fenster und Türen erfolgte, heißt das dann, dass die schießende Person hier, ohne anzuklopfen, durch diese Türe in das Zimmer kam, dann entweder sehr schnell um Korlus herumlief, ihm – sagen wir, gehässig ins Gesicht sah, und dann schoss? Oder – ?“

„Oder dass sie bereits eine ganze Weile ihm gegenüber saß, mit ihm in Ruhe redete, irgendwann aufstand und ihn gemütlich umlegte.“

„Beim Aufstehen, Dr. Drahm? Ich denke, wenn die beiden sich in Ruhe unterhielten, hätte Korlus doch nicht am Bildschirm gearbeitet und sie hätten vielleicht eher gemeinsam in der Sitzecke gesessen. Wer steht denn schon wie ein Schüler vor dem Schreibtisch seines Herrn?“

„Abgesehen davon, dass ich auch keinen Stuhl, auf dem eventuell der Mörder hätte sitzen können, zwischen Schreibtisch und Fenster sehe.“ Drahm nickte zustimmend zu ihren Beobachtungen. „Der Kerl kam also herein, Korlus schrieb eifrig –‟

„Vielleicht hörte er das Klopfen nicht, oder nicht, dass die Türe aufging?“

„Ja – der Täter kommt herein, geht um Korlus herum, der schaut jetzt erst vielleicht überrascht auf – päng! Und der Mörder geht ruhig davon, zur Türe hinaus. Scheußlich!“

„Durch den Rokokoraum, über die Wiese, Herr Professor?“

„Nein – da sind ja wir beide gelustwandelt. Er muss sofort wieder um die Ecke gebogen und vom Rokokoraum auf den Gang hinausgelaufen sein.“

„Das vielleicht auch noch, während wir am Seeufer Steine flitschten und überhaupt nicht wahrnahmen, was hinter uns ablief?“

„Möglicherweise, Johanna. Den genauen Zeitpunkt des Todes erfahren wir hoffentlich durch die Polizei.“

„Und vom Gang aus hatte er dann natürlich ungezählte Möglichkeiten, sich über die Treppen im Labyrinth dieses alten Schlösschens zu verlieren.“

„Genau!“ Drahm nickte energisch und zog am Revers seiner schweren Wolljacke, die er immer noch trug. „Korlus kannte den Kerl, er hatte keine Angst vor ihm, deshalb konnte der kommen und gehen... Aber um Himmels Willen, mein liebes Fräulein Doktorandin. Was hatte denn mein alter Lehrer bloß an sich oder bei sich gehabt, dass irgendein Schuft ihn so mir nichts dir nichts umlegt?“

„Wieso Schuft, Dr. Drahm? Könnte doch auch eine Frau gewesen sein!“

„Also, meine Liebe – „

„Ich bin nicht Ihre Liebe!“

„Ja – ein Glück! Ich hätte schon dreihundert Nervenzusammenbrüche pro Jahr produziert. Und meine Frau findet Sie auch noch kinderlieb. Wenn Sie doch endlich mal professorenlieb würden! Und lassen Sie unseren alten Konflikt endlich ruhen. Diese Art Mord spricht eindeutig für einen Mann! Das weibliche Geschlecht gebraucht Gift, Heimtücke und Hinterlist. Darf ich Sie nur an unsere spätkeltischen Gräberfunde erinnern? Wer hat letztlich, statistisch gesehen, die Schwerter in der Hand und die Hosen an?“

„Statistisch gesehen –“

„Wenn Sie endlich lernen, mit Fundtabellen richtig umzugehen, werden Sie von diesem verbohrten Waffenfeminismus lassen!“

Hinter ihnen wurden nun Stimmen laut, und die typische nachmörderische Unruhe brach in den Raum mit dem stillen Toten ein: Energische Herren in hellen Mänteln, ein paar Uniformierte, ein auffallend geschäftiger Arzt mit seinem Köfferchen, der sowieso zu spät kam und einige junge Männer in Zivil mit Halogenlampen, Kameras und anderem technischen Zubehör tauchten am Eingang des kleinen Appartements auf.

„Gehen Sie bitte zur Seite! Danke für Ihre Mühe. Sie sind der Akademieverwalter?“

Ein Drahm an Statur und Ausstrahlung nicht ganz unähnlicher Herr drängte sich in den Gang und zog den verwirrten Sozialarbeiter in den Rokokoraum hinaus. Drahm selber stieß sich vom Türrahmen ab und nickte Johanna zu.

Sie quetschten sich an den eifrigen Technikern und Spurensicherern vorbei ebenfalls in den Rokokoraum hinaus.

„Nun, wer von Ihnen hat den Toten gefunden?“ Der dem Professor Dr. Joachim Drahm so ähnliche Kommissar sah ungeduldig zwischen den drei Personen hin und her. Der Verwalter schaute Johanna anklagend an: „Frau Dr. Schmid kam...“

Johanna bemerkte mit sarkastischem Vergnügen, dass der Kommissar sie erst jetzt wirklich anzusehen geruhte. Offenbar zählte er zu jenen Leuten, die Frauen grundsätzlich erst als vollwertige Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft anerkennen, wenn diese sich mindestens einen Titel vor ihre Schürze gebunden haben.

„Aha – Sie also haben uns angerufen!“ Er schaute sie stirnrunzelnd an, dann wandte er sich Professor Drahm zu. Die Antipathie zwischen diesen beiden Herren war mit Händen zu greifen. Johanna schmunzelte innerlich.

„Was haben Sie denn hier zu suchen?“

Drahm strich sich in seiner typischen Weise mit der Handfläche über den Mund. Das machte er immer, wenn Kommilitonen langweilige Referate hielten oder sich, durch seine fiesen Fragen verwirrt, immer tiefer in ihre naiven Irrtümer hineinritten.

„Gestatten? Professor Dr. Drahm, Institutsleiter am Fachbereich für Ur- und Frühgeschichte. Frau Dr. Schmid, meine Assistentin, und ich nehmen hier an einer internationalen Tagung zum Thema neolithische und bronzezeitliche Pfahlbauten Mittel- und Osteuropas teil! Und wer sind Sie?“

„Trettenhuber, Alois Trettenhuber! Ich bin der Leiter der hiesigen Kriminalpolizei!“