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Gefährliche Lügen

Erbe der Sieben Wüsten IV


Helen B. Kraft




©Helen B. Kraft 2017

Cover: 

Sylvia Ludwig /www. Cover-fuer-dich.de

Bildquelle: kiuikson / Panic Attack /www. Shutterstock. com

Nejron Photo /www.shutterstock. com  

Machandel Verlag Charlotte Erpenbeck

Haselünne

2017

ISBN 978-3-95959-054-9

Weitere Bücher dieser Serie

Band 1: Aus Verrat geboren

AusVerratGeboren-Final

Mit harter Hand herrscht König Crothar über sein Reich. Hart genug, dass sein Sohn Cruth es vorzieht, in der Menschenwelt zu leben. Dort allerdings muss er die Bestie, seine zweite Natur, zügeln, denn die Menschen fürchten seinesgleichen. Zu Recht, wie Cruth sehr genau weiß. Dann trifft er auf Nerey. Die atemberaubend schöne junge Hexe, zu der er sich sofort hingezogen fühlt, könnte sich allerdings für ihn als Katastrophe herausstellen. Denn zum einen fürchtet Nerey die Bestien, zum anderen hütet sie ein Geheimnis, das nicht nur Cruths Welt zu erschüttern droht. Doch ausgerechnet diese Frau wünscht sich Cruths Bestie als Partnerin.


Band 2: Schwarzstein und Königin

Cover

Zeyndas Leben könnte so einfach sein, wäre da nicht das Gefühl, für den Tod der eigenen Mutter verantwortlich zu sein. Oder die Tatsache, dass sie sich ausgerechnet in den falschen Mann verliebt. Zudem droht ihrem Volk auch noch ein Krieg mit den Menschen, an dem besagter Mann nicht ganz unschuldig ist. Am liebsten würde Zeynda ihn in die Wüste schicken – bestünde nicht die Bestie, ihr zweites Ich, darauf, dass ausgerechnet Daeon den perfekten Duft besitzt und damit ihr wahrer Gefährte sein muss.


Band 3: Duft des Sturms

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Ausgerechnet jetzt, während Bestienkönigin Natayla alle Hände voll zu tun hat, den Frieden in Sela zu bewahren, beschließt ihr zweites Ich, dass es Zeit ist, einen Partner zu finden. Der char-mante Regenten Lucasz und dessen gut aussehende rechte Hand Daemyan scheinen beide gute Kandidaten zu sein. Doch nur der Mann mit dem perfekten Duft kann ihre Bestie überzeugen und ihr Gefährte werden, und Nataylas menschliches Herz und ihre Bestie sind sich da absolut nicht einig. Während Natayla noch um eine Entscheidung ringt, kommt ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit ans Licht.

Kann Natayla die vor ihr liegende Prüfung besatehen und den Mann, den sie liebt, halten, oder verliert sie am Ende nicht nur ihr Reich?


Kurzgeschichten Band 1: Zwischen Verrat und Hoffnung

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derzeit nur als Ebook

Enthält zwei Kurzgeschichten, die zwischen Band 1 und Band 2 spielen


Von den Kurzgeschichten ist noch ein zweiter Band geplant. Beide zusammen werden dann auch als gedrucktes Buch erscheinen.


www.machandel-verlag.de

Prolog

Wünsche sind es, die uns antreiben, die Welt zu verändern. Aber nicht jede Sehnsucht sollte befriedigt werden.

Aus: Cruths Tagebuch, Datum unbekannt.

 

307 n.Chr.

 

Tezza liebte den Fluss. Jeden Tag ging sie dorthin. Er war ihr kleiner Winkel heile Welt, seit ihr Vater gestorben war. Sie spielte oben an den Felsen, die steil nach unten zu dem breiten weißen Sandstreifen führten, und den Wald, hinter dem ihr Dorf verborgen lag, vom Wasser trennten. Dieser Ort bot ihr die Geborgenheit, die sie daheim nicht mehr fand, jetzt, da ihre Mutter die Familie alleine versorgen musste.

„Tezza, bleib stehen! Mutter hat gesagt, wir sollen die Hütte nicht verlassen!“ Lorin hatte sie fast eingeholt.

„Lass mich in Ruhe! Ich will spielen!“

Die schmale Hand ihres Bruders legte sich auf Tezzas Schulter und hielt sie fest. Es war so ungerecht, dass er schneller laufen konnte als sie! Bloß weil er doppelt so alt und um einiges größer war.

Wütend wirbelte Tezza herum und starrte Lorin an. „Lass mich los!“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin der Mann im Haus. Du tust, was ich sage!“

Angeber! Sie mochte ja erst sechs Jahre alt sein, aber dumm war sie deswegen noch lange nicht! Lorin war nur ein Kind. Ebenso wie sie. Der einzige Mann im Haus war der Vater. Und sobald der wiederkäme, würde …

Wie ein Messer schnitt die Erinnerung durch ihre Gedanken. Holte die Bilder hervor, die sie im Grunde nicht hätte sehen sollen und die inzwischen drei Wochen zurücklagen. Den Leichnam ihres Vaters verborgen unter einem dünnen Leinentuch. Die düsteren Blicke der Männer, die ihn in die Stube trugen. Sie hätte in ihrem Zimmer bleiben sollen, wie es die Mutter befohlen hatte. Doch dann war deren Schrei durchs Haus gegellt. Tezza war die Stufen ins Erdgeschoss hinuntergerannt und wie angewurzelt mitten im Raum stehengeblieben.

Ein Arm war unter der Decke hervor gerutscht. Überall war Blut, und trotzdem erkannte Tezza den Vater. An seinem Handgelenk baumelte das geflochtene Armband aus Wiesenblumen, das sie ihm am Morgen geschenkt hatte.

„Tezza?“

Verwirrt hob sie den Blick. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie Lorin seine Hände um ihr Gesicht gelegt hatte. Wann war er ihr so nahe gekommen? Sie blinzelte, als er mit einem Daumen über ihre Wange strich. Weinte sie?

„Scht. Alles wird gut, Tezza. Ich weiß, es tut weh. Aber wir haben immer noch Mama.“

Wie konnte er das sagen? Mutter hatte doch nie Zeit!

Gerade wollte Tezza das sagen, als sie jemanden schreien hörten: „Hilfe! Hilfe! So helft mir doch!“ Gefolgt von dem dunklen Brüllen eines Tieres.

„W-was war das?“ Ihre Stimme zitterte. Wie von selbst krallten sich ihre Finger in das Hemd ihres Bruders.

„Ich weiß nicht. Aber es klingt nicht gut. Wir sollten ins Dorf laufen und jemanden holen.“

Der Gedanke gefiel Tezza nicht. „Glaubst du, das war eine der Bestien von Fürst Cruth?“

Es war gerade einmal ein paar Stunden her, seit dessen Männer das Dorf auf den Kopf gestellt hatten. Weil böse Männer etwas mit schwarzen Steinen gemacht hatten, das Tezza nicht verstanden hatte. Sie erinnerte sich nur, dass Lorin dem Fürsten einen von diesen Steinen gegeben hatte. Danach hatte sie das Interesse verloren.

Jetzt war das etwas ganz anderes. Obwohl Tezza sich fürchtete, wollte sie gerne eine Bestie noch einmal von Nahem sehen. Auf dem Dorfplatz war sie viel zu verängstigt dafür gewesen. Tezza kannte ihren Bruder allerdings gut genug, um zu wissen, dass Lorin ihr niemals erlauben würde, den Hilfeschreien zu folgen.

Warum ihr das so viel bedeutete, konnte sie nicht sagen, außer, dass alles besser war, als daheim Kartoffeln zu schälen oder die Asche aus der Feuerstelle zu fegen. Oder weiter daran zu denken, dass der Vater tot war. Darauf konnten nur noch mehr Tränen folgen, und Tezza wollte nicht länger weinen. Früher hatte sie so oft gelacht. Heute nicht mehr. Ihr fehlte diese Zeit.

Lorin zuckte mit den Schultern. Doch er konnte Tezza nicht täuschen. Seine Reaktion war nur vorgespielt. Er brannte selbst darauf, zum Strand zu laufen und nachzusehen.

„Lass uns gucken!“

Anstatt sofort loszurennen, schüttelte Lorin den Kopf. „Zu gefährlich.“

Wieder hallte ein Brüllen zu ihnen herüber. Es verfing sich in den spitzen Felsen. Bei deren Anblick kam ihr eine Idee. „Wir könnten uns zwischen den Steinen verstecken.“

Erneut wirkte Lorin unschlüssig. Seine dunklen Augen zuckten immer wieder in Richtung der Schreie. Schließlich nahm Tezza ihm die Entscheidung ab und riss sich los. Noch ehe er reagieren konnte, hatte sie die Felsen erreicht und zwängte sich in einen schmalen Spalt. Hier hinein konnte ihr Bruder ihr nicht folgen. Er würde um einen der größeren Steine herumklettern müssen, um sie zu erreichen.

Vor Freude lachte Tezza leise auf. Das war wie früher, als sie noch Verstecken gespielt hatten. Als …

Sie schüttelte den Kopf. Nein. Nicht daran denken. Das hier war ein Abenteuer, ihr Abenteuer.

Ein schabendes Geräusch rechts von ihr verriet, dass Lorin anscheinend seinen Mut wiedergefunden hatte. Sie grinste ihm entgegen, als er an ihre Seite glitt. Er schob sich vor sie, sodass er selbst als Erster das Flussufer einsehen konnte, von dem ein Grunzen und Grollen zu ihnen nach oben drang.

Lorin beugte sich weiter vor und schimpfte gleichzeitig. „Du bist ganz schön närrisch, Tezza. Wenn ich das Mutter sa-“

Selbst von ihrer Position aus erkannte sie, dass ihr Bruder blasser als sein Hemd wurde. Er schluckte krampfhaft. Seine Lippen bewegten sich stumm, ohne dass ein Wort ihnen entschlüpfte.

„Was hast du denn?“ Sie zupfte an seiner Weste. Keine Reaktion. Langsam wurde es Tezza zu bunt. Niemand kannte diese Felsgruppe besser als sie. Sie schob sich zur Seite, glitt in den nächsten Spalt und blickte von dort auf die Szenerie unter sich.

Ihr Herz begann zu rasen. Sie fühlte, wie ihre Handflächen auf den Felsen feucht wurden. Tezza starrte auf das riesige behaarte Wesen hinunter, das sich grunzend und stöhnend über eine Frau hermachte. Die wehrte sich noch, zappelte und versuchte, die Kreatur wegzustoßen. Vergeblich.

Tezza konnte deutlich sehen, dass das Monster viel mehr Kraft besaß, bestand es doch fast ausschließlich aus Muskeln und Sehnen. Wie die Hunde, die von einigen Dorfleuten für den Kampf gezüchtet wurden.

Plötzlich schrie die Frau gellend. Sie warf den Kopf hin und her, bis sie schließlich die Augen verdrehte und erschlaffte. Sie hatte das Bewusstsein verloren. Die Kreatur auf ihr machte einfach weiter, bockte gegen den wehrlosen Frauenkörper, schnaufte, ächzte und bewegte den Unterleib in eindeutigen Bewegungen immer wieder vorwärts.

Trotz ihrer Jugend wusste auch Tezza, was die Bestie dort unten tat. Sie hatte es einmal gesehen, als ihre Eltern glaubten, sie schliefe schon. Doch damals hatten die beiden nicht den Eindruck erweckt, es ginge mit Schmerzen einher. Das jedoch …

Tezza bekam eine Gänsehaut. Ihre schmalen Schultern bebten. „Mama?“

Lorin packte Tezza an der Hüfte und zog sie durch den Felsspalt zu sich. Sofort drückte sie sich in seine Umarmung, schlang die Ärmchen um seinen Hals und weinte haltlos. „Mama! Er tut ihr weh!“

„Scht. Sei still! Das dort unten ist Cruth. Wenn du weiter redest, kann er uns vielleicht hören. Dann kommt er und tut uns auch weh. Bitte, Schwesterchen, du musst leise sein.“

Tezza hörte die Worte, doch sie drangen nicht in ihr Bewusstsein. Sie musste nur noch lauter Schluchzen. Der böse Bestienmann tat ihrer Mutter weh! Das hatte sie nicht verdient, egal wie oft sie schimpfte. Tezza fühlte, wie sich Lorins Hand auf ihren Hinterkopf legte und sie fest an sich presste. Vermutlich versuchte er, ihre Klagen im Stoff seines Hemdes einzufangen. Gerade, als es Tezza zu viel wurde und sie schon glaubte, ersticken zu müssen, ließ Lorin sie wieder los. Er zitterte wie ihr alter Kater bei Gewitter. Ihr großer, starker Bruder fürchtete sich ebenso.

In inniger Umarmung warteten Tezza und Lorin darauf, dass die Bestie zum Ende kam, damit sie zur Mutter rennen und ihr helfen konnten. Verstört begriff Tezza, dass es doch vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie Hilfe im Dorf geholt hätten. Es war ihre Schuld, dass niemand einschritt und die Bestie davon abhielt, ihre Mama zu quälen.

„Ruhig, ganz ruhig“, murmelte Lorin wieder und wieder. Eine monotone Litanei, die nicht nur sie beruhigen sollte.

Tezza spähte nach oben in sein Gesicht. Ihr Bruder starrte immer noch zum Fluss hinab. In seinen Augen schwammen Tränen, die im Schein der Sonne glitzerten. Tezza wollte gar nicht wissen, was er alles mit ansah. Die Schreie ihrer Mutter waren längst verstummt. Aber jetzt brüllte Cruth.

„Ihr Götter!“ Lorins entsetztes Flüstern machte Tezza nur noch mehr Angst.

„Was ist los, Lorin? Geht es Mama gut?“ Eine dumme Frage, wusste sie doch, dass ihre Mutter Schmerzen litt.

Bevor er antworten konnte, fühlte Tezza, wie sich der Luftdruck veränderte. Cruth brüllte erneut. Diesmal jedoch klang es nicht mehr selbstsicher, sondern ängstlich wie die panischen Geräusche, die Tiere von sich gaben, ehe sie gefangen oder geschlachtet wurden.

Dann wurde es plötzlich still. Tezza hörte nur noch das eigene Blut, das ihr in den Ohren rauschte. Selbst der hektische Atem Lorins war zu einem kaum wahrnehmbaren Hauchen verblasst. Schließlich ließ der Bruder sie los. Er taumelte einen halben Schritt zurück und drehte sich um. Er begann die Felsen entlangzuklettern. Jenen Weg, den er genommen hatte, um Tezza zu erreichen. Stumm folgte sie ihm. Langsamer, weil sie nicht so stark war wie er. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie den regungslosen Körper erreichten. Das Kleid, das Edwell am Morgen angezogen hatte, hing in Fetzen herab. Überall glänzte Blut in der Sonne. Wo es in den Sand gesickert war, hatte er eine hässliche braune Färbung angenommen. Ihre fahle Haut war mit zahlreichen Striemen und dunklen Flecken übersät.

Tezza warf sich auf die Knie. „Mama?“

Ihre Finger zitterten, als sie eine Hand an die bleiche Wange ihrer Mutter legte. Keine Reaktion. Tezza packte Edwells Schultern, schüttelte sie. Nichts. Schließlich stieß sie einen wilden Schrei aus und schlug ihre Mutter ins Gesicht. Fester als beabsichtigt, aber das würde sie schon verstehen, dessen war sich Tezza sicher. Wenn sie nur die Augen aufschlug. Was Edwell nicht tat. Ihre schlaffen Muskeln boten Tezzas Rasen keinerlei Widerstand.

Lorin stand hinter ihnen. Regungslos und stumm. Der Schatten, den sein Körper über Tezza und ihre Mutter warf, ballte immer wieder die Fäuste.

„Sie ist …“ Lorins Stimme brach. Er schluckte hart und so laut, dass Tezza das Geräusch deutlich wahrnahm. „Sie … sie ist tot, Tezza.“

Erschrocken wich sie zurück. Er irrte sich! Sie war nicht tot. Tot bedeutete, sie käme nicht wieder. So wie der Vater. Das war nicht möglich. Sie musste doch auf Tezza und Lorin achtgeben, damit sie keinen Unsinn anstellten, ihre Aufgaben erledigten und sich ordentlich hinter den Ohren wuschen. Aber tot? Nein. Lorin log! Die Mutter schlief nur. Man musste sie nur lange genug schütteln, dann …

Edwells Kopf rollte bei jeder Bewegung hin und her, als wäre ihr ganzer Leib knochenlos geworden. Auch fehlte jegliches Heben oder Senken des Brustkorbes. Tezza sah es, wollte es aber nicht wahrhaben.

„Nein, Mama, du musst zurückkommen. Bitte! Ich verspreche auch, immer brav zu sein! Wirklich. Ich laufe nicht mehr weg. Ich werde dein liebes kleines Mädchen sein, aber bitte, komm zurück.“ Tränen rannen ungehemmt aus Tezzas Augen. Sie konnte nichts mehr erkennen. Aus dem Körper vor ihr war ein unförmiger Klecks aus Weiß und Rot geworden. „Bitte! Lorin, mach etwas!“

Sie kreischte jetzt schon lauter als die Vögel am Himmel. Doch es kümmerte Tezza nicht. Sie wollte einfach nur aus diesem bösen Traum erwachen und sich in den Armen ihrer Mutter wiederfinden, die ihr sacht übers Haar strich und versprach, dass alles wieder gut werden würde.

Irgendwann kniete sich Lorin neben sie. Eine Hand legte er auf ihren unteren Rücken, die andere auf den Leichnam. Doch nicht flach, sondern so, als hielte er etwas darunter fest, das Tezza jedoch nicht erkennen konnte. Leise murmelte er ein paar Worte. Was für Tezza zunächst wie ein Abschiedsgruß klang, entpuppte sich jedoch einen einzigen Herzschlag später als ein Zauberspruch.

Sie riss die Augen auf, starrte ihren Bruder an, als wären ihm Hörner gewachsen. Aufregung ließ ihr Herz schneller klopfen. Sie biss sich auf die Lippe, um ja still zu sein, um Lorin nicht zu stören. In ihren Adern floss das Blut einer alten Hexenfamilie mit Kräften, die sich kein Sterblicher vorstellen konnte. Ihre Familie verfügte über unsagbare Macht. Womöglich war Lorin tatsächlich in der Lage, ihre Mutter ins Leben zurückzuholen.

Tezza klammerte sich an diesen Strohhalm. Sie blieb mucksmäuschenstill. Wartete einfach ab. Dann fühlte sie die eisige Kälte, die über ihre Haut strich. Der Wind spielte mit den Haaren der Toten und mit Tezzas. Irgendwo schrie ein Vogel. Das Meer rauschte unablässig, und Lorin murmelte weiter. Seine Augen blickten ins Leere. Sein Gesicht war fahl, und dicke Schweißtropfen rannen an seinen Schläfen herab. Wenn Tezza gekonnt hätte, würde sie ihm helfen, ihm ihre Kraft geben. Aber sie war zu jung. Ihre Ausbildung zur Hexe hatte noch nicht einmal begonnen.

Schließlich sanken Lorins Schultern nach unten. Er zitterte. Ein Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Da wusste Tezza, dass er es nicht geschafft hatte. Vielleicht, weil er zu spät angefangen hatte, vielleicht, weil er zu schwach war.

„Lorin?“

„E-es tut mir leid, Tezza, ich …“

Aufheulender Wind trug seine Worte davon, als ein gewaltiges Unwetter aus dem Nichts über sie hereinbrach. Innerhalb von Sekunden waren sie bis auf die Haut durchnässt. Ein Wetterleuchten zuckte am Himmel. Tezza warf sich in Lorins Arme. Angstvoll starrten sie nach oben, bis ein Blitz direkt vor ihnen einschlug. In den Leib der Toten. Edwells Körper verbrannte sofort zu Asche. Tezza wurde nach hinten geworfen. Sie schrie vor Angst.

„Lorin!“

Trotz des Lärms hörte sie ihn rufen: „Tezza!“

Blind tastete sie über den Sand. Sie stieß sich mehrfach an kleinen Felsen. Vollkommen orientierungslos wollte sie zu ihrem Bruder gelangen, ohne zu wissen, wohin ihn der Blitz geschleudert hatte. Alles tat ihr weh. Was auch immer Lorins Zauber bewirken sollte, er musste damit die Götter erzürnt haben.

Aber sie lebten. Nur das zählte. Sie hatten doch nur noch einander. Sie würden aufeinander aufpassen. Von jetzt an für den Rest ihres Daseins. Der Gedanke tröstete Tezza für einen Augenblick, während sie weiter gegen Wind und Regen ankämpfte, um Lorin zu finden.

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie erstarren. Tezza hielt den Atem an, wandte blind den Kopf. Eine Welle aus Hitze brandete über sie hinweg, fraß ihr die Haare vom Leib, vernichtete ihre Kleider. Tezza schrie und schrie. Ihr Körper verkrampfte sich, bis er sich wie eine Bogensehne spannte. Dann umfing sie Dunkelheit, und der Schmerz verlor sich im Vergessen.

 

 

 

1. Kapitel

 

 

2020 n.Chr.  

 

Was immer ich von dieser Verbindung halten soll, ich traue der Sache nicht. Die Königin trägt einen Erben, aber wird es auch der Retter Selas sein? Oder wächst in ihrem Leib nur ein weiteres Monster heran?

Aus: Barriques Aufzeichnungen des Zeitgeschehens, 2012.

 

Der Schrei gellte durch die ganze Burg und weckte die beiden Hunde auf, die träge vor einem prasselnden Kaminfeuer in der Haupthalle gelegen hatten. Nicht einmal die dicken Steine des uralten Gemäuers konnten ihn aufhalten. Einige Diener hielten kurz inne, um zu lauschen, lächelten sich dann aber verstehend an und machten mit ihrer Arbeit weiter. 

Calliou und Daerog allerdings, die durch die Gänge schlichen, leise kicherten und Verstecken spielten, interessierten sich nicht dafür. Erst, als sich ein heiseres Brüllen zu dem Schreien gesellte, wurden sie hellhörig.

„Die Königin hat Schmerzen“, flüsterte Calliou seinem besten Freund zu, der sich vor mehr als einer Stunde in seine Bestiengestalt verwandelt hatte. Bislang hatte Daerog es noch nicht gewagt, wieder menschliche Form anzunehmen. Die Verwandlung würde ihn für längere Zeit außer Gefecht setzen und das wollte keiner der Jungs, jedenfalls ganz bestimmt nicht mitten im Spiel. „Und der Daemynator ist darüber nicht sehr begeistert!“

Daerog grollte tief unten in der Kehle. Seine nicht voll ausgewachsenen, aber bereits fingerlangen Fangzähne glitzerten beeindruckend im Schein einer Fackel. „Du sollst meinen Vater doch nicht so nennen!“

„Aber er ist dem Terminator so ähnlich! Hast du eine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn er dich ansieht, als wolle er dich gleich in sämtliche Einzelteile zerlegen?“ Bei der Erinnerung erschauerte Calliou und fühlte, wie sich eine Gänsehaut auf seinen Armen ausbreitete.

„Trotzdem, du weißt, dass ich es nicht leiden kann! Und Da auch nicht.“

Calliou zuckte mit den Schultern. „Wenn du es ihm nicht sagst, erfährt er es nicht, oder?“

Darüber schien Daerog einen Moment angestrengt nachdenken zu müssen. Schließlich verzog er sein Maul zu einer Schnute: „Das stimmt, aber …“

Daerog wurde unterbrochen, als ein weiterer Schrei durch die Flure hallte. Dieses Mal unterlegt mit vielerlei Flüchen, die beiden Jungen die Röte auf die Wangen trieb.

„Diese Frau benimmt sich unmöglich! Eine Königin sollte solche Ausdrücke nicht einmal kennen geschweige denn benutzen.“

Wie bei einem ertappten Sünder sanken Callious Schultern herab und er versuchte, sich in den Schatten einer Steinsäule zu verkriechen. Daerog dagegen warf sich in die Brust. Kein Wunder, denn bei dem Sprecher handelte es sich um keine geringere Person als Kanzler Barrique, Callious Vater. Durch seine Stellung bei Hofe stand Daerog als Sohn von Königin Natayla in der Hierarchie deutlich über dem Koboldkanzler, was er Barrique auch umgehend vermittelte, indem er die Lefzen hochzog und knurrte.

Dumme Bestie, dachte Calliou und versuchte, sich ganz klein zu machen. Oder vielmehr noch kleiner, als ein Kobold ohnehin schon war.

Zu spät. Sein Vater hatte ihn längst entdeckt. Anstatt ihn jedoch zur Rede zu stellen, verzog Barrique nur das Gesicht und schnaubte. Seine spitzen Ohren flatterten leicht, während er die Arme vor der Brust verschränkte und mit dem Kopf nickte, als wüsste er genau, was in seinem Sohn vorginge.

Calliou bezweifelte das nicht einen Moment lang, schließlich erwischte Barrique ihn immer dann, wenn er etwas anstellte. Also musste sein Vater über die Fähigkeit des Gedankenlesens verfügen. Was ihn allerdings störte, war die Tatsache, dass sein Vater sich eindeutig lieber mit dem Sohn der Königin beschäftigte als mit seinem eigenen. Dennoch würde er kein Wort darüber verlieren. Als neunundzwanzigster Nachkomme eines Kobolds war Calliou es gewohnt, übersehen zu werden. Egal, wie sehr es schmerzte.

„Sollte der Prinz sich nicht lieber in angemessener Form darstellen als so haarig und hässlich?“, fragte Barrique in diesem Augenblick Daerog, der leise knurrend nach ihm schnappte. „Also bitte, was soll das werden, junger Mann? Hast du vor, mich zu beißen? Dann komme ich wohl nicht umhin, der Königin Bericht zu erstatten. Sie freut sich bestimmt, wenn ich ihr in ihrer momentanen Lage erkläre, dass ihr Sohn …“

Ein Brüllen aus dem Wöchnerinnenzimmer ließ ihn kurz verstummen. Barrique legte den Kopf schräg, als erwarte er eine neuerliche Unterbrechung, ehe er weitersprach: „Nun ja, vielleicht doch nicht. Der Zeitpunkt erscheint mir ein wenig zu ungünstig. Du kannst dich glücklich schätzen, junger Prinz, dass ich ein so herzensguter Kobold bin und deine Mutter nicht noch mehr aufregen will.“

Auf den Gedanken, es stattdessen Daerogs Vater zu erzählen, käme Barrique schon deswegen nicht, weil der Bestienmann ihn hasste. Aber Calliou verkniff sich den bissigen Kommentar, der ihm über die Zunge rutschen wollte, und wartete stumm ab, bis Barrique mit einem ploppenden Geräusch verschwunden war.

„Ich weiß jetzt, warum Da ihn nicht mag“, grollte Daerog und blinzelte zu Calliou hinüber. „Du kannst übrigens rauskommen. Er ist weg.“

„Entschuldige, aber du weißt ja, wie er ist.“

„Er ist eben ein Kobold, mach dir nichts draus.“

Calliou erstarrte. Es war eine Sache, wenn Lord Daemyan über die Kobolde herzog und sie am liebsten allesamt auffressen wollte. Etwas anderes dagegen war es, sobald der beste und vor allem einzige echte Freund die gleichen sinnentleerten Parolen von sich gab.

Ehe Calliou jedoch eine scharfe Bemerkung dazu abgeben konnte, verzog sich Daerogs Gesicht, bis es an einen zerknautschten Teddybären erinnerte. „Entschuldige, Calliou. Das war nicht nett von mir. Manchmal vergesse ich, dass du nicht so bist wie der Kanzler.“

Obwohl die Worte gut und versöhnlich gemeint waren, zuckte Calliou zusammen. Es stimmte. Er glich seinem Vater in keinerlei Hinsicht. Gerade deshalb schien es auch so, als könne Barrique seinen jüngsten Sohn nicht genauso lieben wie die anderen achtundzwanzig Kinder.

Weil er merkte, dass diese Gedanken nur dazu führten, dass er sich – wieder einmal - schlecht fühlte, beschloss Calliou, das Thema zu wechseln. Daerog musste nichts von alledem wissen. Ihre Freundschaft ging tief, doch mit koboldinternen Familienproblemen würde er den Bestienwelpen nicht belasten.

„Also schön. Was machen wir jetzt?“

„Ich habe da so eine Idee.“ Daerog grinste verschlagen, und mit einem Mal war Calliou sich absolut sicher, dass er es bereuen würde, wenn er die Frage aussprach, die ihm bereits auf der Zunge lag. Dennoch ließ er zu, dass sie aus seinem Mund schlüpfte. „Und welche?“

Daerogs Zunge schnellte zwischen den aufgeworfenen Lippen heraus und betastete vorsichtig einen seiner Säbel. „Eine kleine Wette“, lispelte er. „Der Gewinner bekommt eine Extraportion von dem Erdbeersorbet, das es heute Abend als Nachtisch gibt.“

Misstrauisch wartete Calliou ab. Er liebte Daerog wirklich wie einen weiteren Bruder, aber die Einfälle des Prinzen waren verdammt oft grenzwertig. „Und worum genau geht es dabei?“

„Ich wette, ich bekomme heute Nacht einen Bruder.“

„Moment. Ich soll also dagegenhalten und sagen du bekommst eine Schwester. Was ist der Witz daran? In ein paar Stunden wissen wir es doch sowieso. Deine Eltern werden es überall in Sela bekanntgeben lassen.“

Jetzt trat ein äußerst verschlagener Ausdruck in Daerogs Augen, den Calliou nur von dessen Onkel Rogan kannte. Ihm schwante Übles.

„Es ist natürlich von größter Wichtigkeit, dass wir es vor allen anderen erfahren! Du wirst dich also in das Schlafgemach meiner Eltern schleichen und nachsehen, was es ist. Du kannst das, ohne dass es jemand mitbekommt.“

Das konnte nicht Daerogs Ernst sein! Sollte sich Calliou darauf einlassen, würde sein Vater … Cruth, nein! Viel schlimmer wäre, was der Daemynator mit ihm anstellen würde. Vor Callious geistigem Auge tauchte ein Silbertablett auf, auf dem er bäuchlings lag, einen Apfel im Mund und einen Strauß Petersilie im Hintern. Rasch schüttelte er sich, um dieses grauenhafte Bild wieder loszuwerden.

„Du erwartest, dass ich mein Leben riskiere für eine blöde Wette?“

Daerog hob einen Finger und zeigte mit der Klaue in die Luft. „Erstens ist sie nicht blöd. Zweitens will ich das Ergebnis nicht erst morgen erfahren, bloß weil Onkel Rogan mich ins Bett schickt, ehe mein Geschwisterchen geboren ist. Und drittens“, das Grinsen wurde selbstsicher, „stirbst du nicht, denn ich habe einen todsicheren Plan.“

Darauf wettete Calliou, dennoch sagte ihm sein Bauch, der ihn bis dato noch nie betrogen hatte, dass das eine ganz schlechte Idee war. Trotzdem siegte seine Neugier.

„Lass hören“, murmelte er.

 

*

 

Zwanzig Minuten später verfluchte Calliou seinen besten Freund im Stillen nach allen Regeln der Kunst, während er sich zwischen Spinnweben und alten Vorhangstoffen auf einem Kleiderschrank versteckte, der hoch genug war, dass man ihn als heimlichen Beobachter nicht sofort entdecken würde.

Glücklicherweise waren General Daemyan und die Königin so sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig anzubrüllen, dass sie nicht auf ihre Umgebung oder den neu dazu gekommenen Koboldduft achteten. Überhaupt fragte sich Calliou, ob sein eigener Geruch über dem Odeur von Schweiß und Blut von den Bestien wahrgenommen werden konnte.

Daemyan tigerte nervös auf und ab, seine Schultern dermaßen angespannt, dass Calliou das Vibrieren der Sehnen beinahe hören konnte. Dunkle Schatten unter den Augen zeugten von den Sorgen, die sich der Bestienmann um Natayla machte.

„Nie wieder, hörst du? Nie wieder werde ich dir ein Kind machen! Das ist ja schlimmer als letztes Mal!“ Während seines Gebrülls deutete Daemyan hektisch auf den geschwollenen Leib seiner Gefährtin, die sich in Krämpfen wand. Sein kurzes blondes Haar stand in alle Himmelsrichtungen ab, und er wirkte, als würde er jede Sekunde seine menschliche Hülle abstreifen, um in seiner wahren Gestalt einen Aufstand anzuzetteln. Dabei war Daemyan schon als Mensch furchteinflößend groß und breitschultrig. Soweit Calliou das beurteilen konnte, bestand der Kerl nur aus Muskeln, die er nur allzu gerne dazu nutzte, kleine Kobolde zu quälen. Sofort kam Calliou die Titelmelodie von „Der Terminator“ in den Sinn. Fehlten nur die rotglühenden Augen.

„Du könntest mich ruhig mehr unterstützen, Geliebter“, grollte Natayla, wobei sie das letzte Wort deutlich stärker betonte, um klar zu machen, dass sie ihm im Augenblick offenbar eine ganz andere Bedeutung zusprach. „Und wenn ich“, sie stöhnte vor Schmerzen, „ehrlich sein soll, steht mir aktuell auch nicht wirklich der Sinn nach Sex.“

Calliou grinste. Er mochte die Königin. Sie gehörte zu den wenigen Bestien, die sich nicht um diplomatische Konventionen scherten und kein Blatt vor den Mund nahmen. Sie war die Herrscherin Selas, wer sollte es also wagen, ihr zu widersprechen? Und falls doch, unterstrich die starke Wüstenbestie ihre Argumente mit den Klauen, was meist kein gutes Ende nahm.

Von seinem Beobachtungsposten aus sah Calliou, dass es der Königin richtig schlecht ging. Ihr sonst glänzend schwarzes Haar hing ihr in feuchten Strähnen ins Gesicht, das rot und verquollen war und ihre sonstige Schönheit nicht mehr widerspiegelte. Natayla hechelte wie die Hunde in der großen Halle. Ihre Säbelzähne hoben sich grotesk von ihrer blassen Haut ab, rot glänzend von frischem Blut.

Daemyan ging nicht auf die Worte seiner Gefährtin ein, sondern griff ihr stattdessen mit einer Hand in den Nacken, während seine andere ihr einen Becher an die Lippen hielt. Natayla trank so gierig, dass die Flüssigkeit aus ihren Mundwinkeln quoll und über die Haut lief. Tierblut. Das einzig wahre Heilmittel, um eine selanische Bestie vor dem Tode zu bewahren.

Calliou erschauerte. Er konnte sich nicht vorstellen, selbst jemals Blut zu trinken. Es roch widerlich metallisch und schmeckte nach Kupfer. Die Bestien allerdings brauchten es, um zu heilen oder ihre Kräfte zu regenerieren, wenn ihnen keine frischen Organe zur Verfügung standen.

„Ahem.“

Das Räuspern hinter ihm erschreckte Calliou derart, dass er sich unwillkürlich umdrehte. Noch in seiner Drehung verlor er das Gleichgewicht. Nur dem raschen Zugriff seines Vaters verdankte er es, nicht vom Schrank zu fallen. Barrique packte ihn am Kragen und hielt ihn fest. Die schwere Brokatstoffrolle, gegen die Calliou taumelte, rollte über den schmalen Rand an der Oberseite des Möbels und landete polternd direkt vor dem Bett.

Eisblaue Augen starrten zu Calliou hinauf, und ein Knurren wie von einem Hund erfüllte den Raum. Verraten vom eigenen Vater! Barrique hatte sich offenbar rasch aus der Gefahrenzone teleportiert. Während Callious Gehirn noch die Erkenntnis verarbeitete, dass er besser umgehend verschwinden sollte, fühlte er einen stechenden Schmerzblitz bis in seine Ohrwurzel fahren, als eine grobe Bestienhand ihn vom Schrank zerrte und dazu brachte, leise zu stöhnen. Gleichzeitig lästerte seine innere Stimme die abgewandelte Version des Monopoly-Spruchs: Ziehe kein Geld ein, gehe nicht über Los, sondern wandere direkt in den Magen einer Bestie.

Mit rasendem Herzschlag und weit aufgerissenen Augen starrte Calliou in das vor Wut verzerrte Gesicht General Daemyans. Dessen Säbelzähne waren ausgefahren und in seinen blauen Iriden stand Mordlust. Oder war es Hunger? So ganz eindeutig ließ sich das bei Bestien nicht auseinanderhalten. Und wenn man sich daran erinnerte, dass Kobolde nach Erbsenpüree schmeckten …

Calliou schluckte hart. „Mylord …“

„Wage es ja nicht, ein Wort zu sagen, Erbse.“ Die Stimme des Generals bebte. Er war seiner zweiten Seele näher als seiner Menschlichkeit. Calliou besaß kein Recht, hier zu sein, und konnte es ihm nicht verdenken. Da machte es auch nichts, dass er nur aufgeflogen war, weil sein Vater ihn erwischt hatte. Dies waren die Privatgemächer der Königin und normalerweise der am besten bewachte Ort Selas. Wenn Calliou eines wusste, dann, dass er in richtig großen Schwierigkeiten steckte.

„Ich sollte dich zerquetschen, aber irgendetwas sagt mir, dass meine Gefährtin das nicht gerne sähe“, zischte Daemyan, das Gesicht mit den Säbeln direkt vor Callious Nase, sodass er den heißen Atem spüren konnte. „Also verschwinde und komm mir ja nicht noch einmal unter die Augen!“

Für einen Moment glaubte Calliou, ein leises Schmunzeln aus den Worten herauszuhören, doch er musste sich geirrt haben. Daemyan war kein Mann mit Humor. Gerade wollte er eine Entschuldigung murmeln und verschwinden, als die Königin einen weiteren spitzen Schrei ausstieß.

Calliou landete mit dem Hintern voran auf dem Boden, weil Daemyan ihn sofort fallenließ und quer durch den Raum hetzte, um wieder an der Seite seiner Gefährtin zu sein. Für einen Herzschlag war Calliou zu perplex, um sich zu rühren. Der Deamynator hatte ihn nicht getötet. Das konnte er eindeutig auf der Habenseite verbuchen. Andererseits wusste Barrique nun von dem kleinen Ausflug hierher, was absolut einen Minuspunkt darstellte.

So leise wie möglich erhob sich Calliou und klopfte den imaginären Staub von der Hose. Er wollte sich gerade endgültig abwenden und verschwinden, als der Anblick, der sich ihm bot, ihn wie festgefroren stehenbleiben ließ. Den Blick unverwandt auf den Unterleib der Königin gerichtet, die sich immer noch durch die Wehen hechelte, sah er als Erster den schwarzen Haarschopf mit den hellroten Strähnen darin. Seidig-fein, obwohl sie wie eine Haube auf dem winzigen Bestienkopf klebten. Das Kind wand sich aus dem Leib seiner Mutter, die sich aufbäumte und dabei auf alle Männer der Welt und einen im Speziellen fluchte.

Calliou verfolgte, wie sich kleine Hände aus dem Mutterleib drückten. Silber und schwarz-rot marmorierte Klauen zeigten deutlich, wer die Eltern dieses Wesens waren. Er vermochte nicht in Worte zu fassen, welche Gefühle ihn ergriffen, als er zusah, was sich vor ihm abspielte. Wie das Kind seine Klauen in die Schenkel seiner Mutter trieb, bis Blut floss. Wie das winzige Ding sich hochzog und dann, als sei es auf der Suche nach einer Futterquelle, drehte und zur Mutterbrust hinaufarbeitete.

Die gequälten Schreie Nataylas verstummten, während sie zitternd die Hände nach ihrem Baby ausstreckte. Selbst Daemyan schwieg gerührt. Wo vorher Angst und überbordende Beschützerinstinkte den General rasend gemacht hatten, sah er nun fast friedlich aus. Tränen schimmerten in dem mittlerweile wieder tiefen Grünblau seiner Augen. Der Krieger, dessen Ruf ihm vorauseilte und jeden, der ihn vernahm, zittern machte, weinte.

„Naya“, hauchte Daemyan und drückte dem Säugling einen Kuss auf die Stirn, ehe er seine Gefährtin an sich zog.

„Ein wunderschöner Name für ein wunderschönes Mädchen“, seufzte die Königin und lächelte schwach. Selbst für eine Bestie war eine solche Geburt kein Spaziergang.

Calliou wusste, dass er gehen sollte. Dieser intime Augenblick, der nur für die königliche Familie gedacht war, konnte sein Ende bedeuten, wenn Daemyan sah, dass er noch immer anwesend war. Bloß, dass Calliou sich nicht rühren konnte. Wie vor den Kopf geschlagen starrte er das winzige Bestienmädchen an, das an der Mutterbrust hing, und sein Herzschlag stolperte wie der eines alten Mannes. Es bedurfte nicht einmal der Gänsehaut, die Callious ganzen Körper überzog, um zu begreifen, dass er Teil von etwas Besonderem geworden und sein Schicksal besiegelt war. Diesem Mädchen gehörte seine Seele. Für immer. Ob sie es wollte oder nicht.

Dann hörte er das unheilvolle Knurren eines Tieres, das seine Familie bedroht fühlte. Er hob den Blick. Seine Augen trafen auf Seen aus Eis, in denen Mordlust glitzerte. Unter hochgezogenen Lefzen rann Geifer aus dem Maul einer Kreatur, die alles Menschliche abgelegt hatte. Scharlachrote Haut umspannte stark hervortretende Muskeln unter schwarz-roten Haarbüscheln. Auf den Handrücken gewaltiger Fäuste stachen verhornte Höcker hervor, die ihre Wiederholung um den Hals der Bestie fanden. Wo zuvor Ohren saßen, gab es nur noch Hörlöcher, auch die Nase hatte sich abgeflacht und scharfe Säbelzähne schoben sich aus dem Oberkiefer. Die letzten Zweifel, dass General Daemyans Bestie hervorbrach, wurden zunichte, als aus dem Schädel des Mannes die doppelte Hornung in den Farben der Sturmbestien hervorspross.

Ein Donnergrollen zerriss die Stille. Der wütende Schrei Daemyans, der vorwärts stürzte, um den Eindringling zu zerfleischen.

Diesmal zögerte Calliou keine Sekunde und verschwand.

 

 

2. Kapitel

 

 

Entscheidungen, die aus dem Bauch heraus getroffen werden, müssen nicht von vornherein schlecht sein. Aber wir wissen alle, dass es mehr bringt, sich kurz sämtliche Fakten vor Augen zu führen, ehe man losstürmt und dann feststellt, dass man einen Fehler gemacht hat.

Aus: Natayla, Rede zur offiziellen Begnadigung
des Schlangenclans im Jahre 2012.

 

2045 n. Chr.

 

Wenn Metall jammerte wie ein gescholtenes Kind, musste man nicht Maschinenbau studiert haben, um zu wissen, dass es nichts Gutes bedeuten konnte. Naya hob ein Lid, um zu sehen, was vor sich ging. Eben noch hatte sie tief und fest geschlafen und sich von den Strapazen der Reise erholt, jetzt befand sie sich inmitten von Chaos und taumelnder Bewegung.

Sofort war Naya hellwach. Ihre Hand glitt zur Schließe des Sicherheitsgurtes, um ihn zu öffnen, da fingen ihre Ohren die verzweifelte Stimme des Piloten ein.

„Mayday, Mayday, hier spricht Alpha Bravo Echo Nine. Wir müssen notlanden. Unsere Koordinaten sind …“

„Verdammt!“, knurrte Crokk, Regent der Flussbestien, der Naya offiziell als Diplomat begleitete. Er war ihr momentaner Liebhaber, wovon sie hoffte, dass es vorerst niemand erfuhr. Doch das war im Moment unwichtig. Was immer mit dem Flugzeug los war, eine Notlandung, die bereits über Funk angekündigt wurde, entsprach nicht unbedingt Nayas Sinn von Humor.

„Beeil dich und schnall dich an, Crokk. Wenn wir aufschlagen, überlebst du das sonst nicht!“ Naya blieb vollkommen ruhig. Sie hoffte, dass der Regent ihr nicht ausgerechnet jetzt widersprach.

Dessen Antwort bestand aus einem heiseren Knurren. Er wankte mit ausgefahrenen Klauen zu seinem Platz an der gegenüberliegenden Seite. Die Maschine schlingerte und torkelte wie ein Betrunkener zur Happy Hour. Dennoch schaffte es Crokk, seinen hochgewachsenen Körper auf seinen Sitz zu wuchten und den Sicherheitsgurt anzulegen.

Naya sah, wie Crokk den Kiefer vorschob und seine Hände um die Sitzlehnen klammerte. Seine Klauen gruben sich hinein, als könnten sie ihm in dem Leder mehr Halt bieten als seine Finger. Bestien waren eben nicht dafür geschaffen zu fliegen.

„Oh, verdammt noch mal“, knurrte Crokk. Seine Flugangst hielt ihn ihm Klammergriff. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass sie jeden Moment aus den Höhlen zu treten drohten. Die Spannung in seinem Körper machte einer Bogensehne Ehre.

Naya wollte zu ihm gehen, um ihn zu beruhigen, aber das war zu gefährlich. Wenn das Flugzeug sich auf den Kopf drehte …

Wieder hörten sie das metallene Kreischen. Ein Ruck ging durch den Rumpf. Es gab keine Atemmasken, die von der Decke fielen. Dafür war die Maschine viel zu alt und vor allem auch zu schlecht gewartet. So konnten sie beide bereits an ihrer Atmung spüren, dass der Druck abfiel.

Naya setzte sich aufrecht hin und überprüfte, ob sich etwas in ihrer Nähe befand, das ihr gefährlich werden konnte. Sie sah nichts Auffälliges. Das Gepäck war in den Spannnetzen am Ende des Passagierraumes fest verzurrt. Ein paar Sitze allerdings wackelten verdächtig, weil die Schrauben, mit denen sie am Boden befestigt waren, schon ziemlich locker saßen.

Na toll, von den Dingern erschlagen zu werden, ist doch etwas, worauf man sich freuen kann, dachte Naya sarkastisch. Sie blickte sich weiter um, bis ihre Augen wieder auf Crokk lagen, der mittlerweile panisch hechelte. Sämtliches Blut hatte seine Wangen verlassen, Schweiß bedeckte seine fahle Haut. Eine Welle aus Mitgefühl überkam Naya und sie wünschte sich, dem sonst so unerschütterlich selbstbewussten Krieger beistehen zu können.

„Es wird alles gutgehen, Crokk.“

„Ja, und ich scheiße Goldmünzen.“ Das Knirschen seiner Zähne und der ohrenbetäubende Lärm ringsum verhinderten beinahe, dass Naya ihn verstand.

Ihre Bestie befand sich bereits in Aufruhr. Wollte sich verwandeln, um den Absturz auf jeden Fall zu überleben, doch das konnte sie nicht riskieren. Es waren Menschen an Bord, die dann möglicherweise mehr sehen würden, als gut für sie war, und ihre Beobachtungen über den noch aktiven Funk durchgeben konnten. Sollten sie sich nach der Landung verwandeln, sah Naya allerdings keine andere Möglichkeit, als die Piloten zu töten, sofern sie den quasi-Absturz überlebten. Das Geheimnis um die Bestien musste gewahrt werden - unter allen Umständen. Sogar, wenn dies bedeutete, selbst zu sterben. Ein nicht sehr ermutigender Gedanke.

Etwas Großes flog außen am Fenster vorbei. Crokk sah es und wurde noch bleicher als die Bezüge seines Sitzes.

„Naya, das war …“

„Ich hab es gesehen! Halt dich gut fe-“

Die Nase des Flugzeugs neigte sich scharf nach unten. Der verbliebene Propeller gab hässliche Geräusche von sich. Naya und Crokk wurden in ihre Sitze gepresst, der Atem entwich ihren Lungen. Weil dies keine Linienmaschine war, wurde das Cockpit nicht durch eine Tür vom Passagierraum getrennt, und so sahen sie durch die Frontscheiben den Boden unaufhaltsam näher kommen.

Crokk schrie vor Angst auf, während Naya ein Stoßgebet zu Cruth schickte. Sie wollte nicht sterben. Noch nicht. Sie hatte ja nicht einmal das offizielle Erwachsenenalter erreicht!

„Leute, steckt eure Köpfe zwischen die Beine, das wird ein wilder Ritt. Ich versuche, uns so sanft wie möglich zu landen. Aber mein Co-Pilot ist ohnmächtig!“

Die Lautsprecher schafften es nicht, die Botschaft zu transportieren. Sie knackten nur erbärmlich. Naya hörte die Worte ihres Kapitäns trotzdem und nahm die gewünschte Haltung ein. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Crokk es ihr nachtat.

Seine Säbel traten bereits hervor. In seiner Panik war er kurz davor, sich zu verwandeln.

„Crokk, reiß dich zusammen! Uns wird nichts geschehen. So leicht sterben wir nicht. Das weißt du!“

In seinen Augen stand purer Horror, während er versuchte, zu begreifen, was Naya ihm zurief. Sie sah es an dem heftigen Hüpfen seines Adamsapfels und dem Zittern seiner Schultern.

Links von Naya gab es einen lauten Knall. Sie sah durch das winzige Fenster, wie eine Tragfläche einriss. Die Maschine bockte. Im Cockpit fluchte der Pilot. Naya hörte Crokks Wimmern.

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, ihre Kehle war trocken und rau. Schweiß sammelte sich zwischen ihren Schulterblättern und sorgte dafür, dass die helle Bluse, die sie trug, wie eine zweite Haut an ihr klebte.

Einen flüchtigen Moment wanderten Nayas Gedanken zu ihren Eltern. Es waren jetzt knapp fünf Jahre, seit sie Sela verlassen hatte, um am Regentschaftssitz ihrer Patin, Lady Mossa, in der Ukraine den diplomatischen Dienst anzutreten. Naya vermisste ihre Familie, die Wüste, ja sogar die Kobolde, die ständig umherliefen, Schabernack trieben und die Selaner bis aufs Blut reizten. Falls sie heute stürbe …

Bestien sterben nicht so schnell. Alles wird gut, rief sich Naya selbst in Erinnerung. Dennoch spürte sie, wie ihre Handflächen feucht wurden und sich ihr Magen verknotete.

Ein Schrei aus dem Cockpit. Funken sprühten. Die Lampen flackerten, um dann auszugehen. Die Notbeleuchtung sprang an und hüllte alles in bedrohlich wirkendes rotes Licht. Ein Warnsignal ertönte. Schrill übertönte es jeden Laut. Schmerzhaft für die empfindsamen Bestienohren.

Im Heck des Flugzeuges rissen die Sicherheitsbänder mit einem Knall. Gepäck flog durch die Luft. Es grenzte an ein Wunder, dass nichts davon Naya am Kopf traf. Crokk dagegen musste wohl den Schrankkoffer abbekommen haben, der jetzt neben ihm auf dem Boden hin und her rutschte, denn er lag plötzlich seitlich im Sitz, der bedenklich wackelte.

Diese verfluchten losen Schrauben! Sollten sie das überleben, so schwor sich Naya, würde sie nie wieder eine Maschine betreten, die dermaßen marode war.

„Crokk!“

Er hörte sie nicht. Blut strömte aus einer Wunde an seiner Schläfe. Sein linker Arm wedelte kraftlos hin und her. Die Klauen zischten scharf und gefährlich durch die Luft. Der Bestienmann war ohnmächtig und hatte keinerlei Kontrolle mehr über seine Reaktionen.

Nicht sicher, ob sie darüber erleichtert oder entsetzt sein sollte, hörte Naya unvermittelt ein schrilles Pfeifen. Der Rumpf der Maschine verzog sich unter lautem Röhren. Die Fenster zersprangen, als sich der Rahmen verbog, einige Scherben flogen in den Innenraum. Nayas Magen machte einen Satz Richtung Hals. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie Furcht.

Jetzt war es ihr auch egal, ob die Menschen sie sehen konnten. Sie wechselte in ihre Bestiengestalt. Ihre Säbel formten sich aus, ihre Ohren verschwanden und wurden zu Hörlöchern. Haare sprossen aus ledriger Haut und die Finger veränderten sich zu Klauen. Noch während die Doppelhornung aus Nayas Schädeldecke glitt und die Verwandlung damit vollständig abschloss, bäumte sich das Flugzeug ein letztes Mal auf und fiel wie ein Stein nach unten. Der Boden raste näher. Naya sah mit morbider Faszination über den Kopf des bewusstlosen Piloten hinweg den sich nähernden Felsen.

Das Krachen riss an ihren Trommelfellen, als die Nase der Maschine auf den harten Stein traf. Die Glasscheiben im Cockpit zersplitterten, der Co-Pilot wurde mitsamt seinem Sitz aus der Maschine geschleudert. Der Pilot hing halb in, halb außerhalb des Cockpits. Die Koffer polterten nach vorn, landeten auf dem Bewusstlosen. Dann kreischte das Metall erneut.

Tageslicht schien auf Nayas Haupt. Sie hob den Kopf, kniff die Lider gegen den hellen Schein zusammen. Über ihr hatte sich ein Riss in der Außenhaut gebildet. Ein Ruck. Ein Zittern. Das Flugzeug barst vollends auseinander. Das Heck wurde in die Tiefe gerissen, mit ihm Naya und Crokk.

Sie schrie während des Falls und verstummte erst wieder, als sie mit voller Wucht kopfüber auf dem harten Fels aufschlugen. Die übrigen Sitze rissen sich aus ihren Verankerungen und wurden zu todbringenden Geschossen. Metallstreben verbogen sich. Irgendwo brannte etwas. Naya konnte den Qualm bereits riechen und fühlte die Hitze an ihrer Haut lecken. Sie hatte Glück, ihr eigener Platz hatte sich verkeilt, sodass sie nach wie vor eine feste Position hatte, damit endete aber auch jeder Vorteil.

Als Naya sicher sein konnte, dass die Überreste des Flugzeugs unbeweglich liegen blieben, holte sie tief Luft. Eine Lanze aus Feuer raste durch ihren Brustkorb. Verwirrt blickte sie an sich entlang und entdeckte eine Metallstange, die sich direkt neben ihrem Schlüsselbein in ihren Körper, und so fest wie sie steckte, zugleich durch ihren Sitz gebohrt hatte.

Naya keuchte. Oder zumindest versuchte sie es. Mehr als ein Röcheln brachte sie nicht zustande. Schon nach wenigen Sekunden drängte das Blut in ihren Schädel, sodass er sich anfühlte, als müsse er gleich bersten. Sie wollte nach Crokk rufen, ehe sie das Bewusstsein verlor. Sie brauchte Blut. Ein Herz. Von den beiden toten Menschen. Doch der Sitz ihres Geliebten war leer. Von dem Bestienmann fehlte jede Spur.

 

*

 

Allein. Nie zuvor hatte Naya die Bedeutung dieses Wortes so deutlich vor Augen gestanden wie in dem Moment, da sie kopfüber in ihrem Sitz hing und sich bemühte, nicht in Ohnmacht zu fallen. Ihr Kopf schien zu kochen, während in ihre Gliedmaße Kälte kroch. Das Denken fiel schwer und der Herzschlag kämpfte darum, nicht zu stocken.

Sie musste aus diesem Sitz heraus, doch wenn sie jetzt den Gurt um ihre Hüften löste, würde ihr gesamtes Körpergewicht auf der Metallstange in ihrer Brust lasten. Das konnte nicht gut ausgehen.

Mit einem Stöhnen griff Naya nach dem Polster unter ihrem Hintern. Die Anstrengung ließ ihre Muskeln beben. Kalter Schweiß tropfte von ihrer Stirn. Trotzdem musste sie versuchen, die Belastung auf die Wunde zu minimieren. Wenn ihr das gelang, konnte sie die Stange vielleicht herausziehen und sich selbst befreien.

Der Geruch von Blut, das mittlerweile stetig aus der Verletzung sickerte, setzte Naya zu. Er suggerierte ihr, dass sie die Sache überleben würde, weil Blut Heilung bedeutete. Doch ihr eigenes war dazu nicht geeignet, davon hatte sie bereits jetzt gefährlich wenig. Und Crokk durfte ihr auf keinen Fall von seinem geben, falls er denn irgendwie überlebt hatte. Für Wüstenbestien war das Blut anderer Bestien hochgradig giftig. Ihre einzige Chance bestand in den Menschen, von denen mindestens einer davon gerissen worden war.

Nayas Arme zitterten nach wenigen Sekunden so sehr, dass sie loslassen musste. Der Gurt spannte sich und schnitt ihr in die Hüften, das Ding in ihrer Brust bog sich leicht nach oben. Naya brüllte. Ihre Bestie röhrte die Qualen hinaus, als ob es helfen würde, sich einfach nur Luft zu machen. Stattdessen raubte es ihr wichtige Ressourcen. Der Sauerstoff, der nicht mehr vollständig in die Lunge gesogen werden konnte, wurde knapp, der Druck auf das Gehirn stieg an. Es rauschte in Nayas Ohren.