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Thomas Brechenmacher/Michał Szulc

Neuere deutsch-jüdische Geschichte

Konzepte – Narrative – Methoden

Verlag W. Kohlhammer

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021417-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026219-5

epub:    ISBN 978-3-17-026220-1

mobi:    ISBN 978-3-17-026221-8

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Michael Wolffsohn,
dem Freund und Lehrer

 

            Inhalt

 

 

  1. Vorwort
  2. 1 Die Räume und Themen der deutsch-jüdischen Geschichte
  3. 2 Kategorien und Konzepte
  4. Migration
  5. Sepharden – Aschkenasen – »Ostjuden«
  6. Stadt – Land
  7. Inklusion – Exklusion
  8. Hofjuden – Schutzjuden – Privilegierungen
  9. Bürgerliche Verbesserung – Toleranz – Emanzipation
  10. Aufklärung (haskala) – säkulare (Wissenschaft des Judentums) und religiöse Reform (Konfessionalisierung)
  11. Verbürgerlichung – deutsch-jüdische Symbiose
  12. Assimilation, Akkulturation und Identität
  13. Jüdische Renaissance und Zionismus (Volk – Nation – Kultur)
  14. Antisemitismus
  15. 3 Theorien, Narrative und Interpretationen
  16. Historiographische Deutungen
  17. Theorien zu Judenfeindschaft und Antisemitismus
  18. 4 Methoden
  19. Klassisch-historistisch-hermeneutische Methoden
  20. Sozialgeschichtliche Zugriffe
  21. Kulturwissenschaftliche Methoden
  22. 5 Schluss: Wozu deutsch-jüdische Geschichte?
  23. 6 Bibliographischer Leitfaden zur neueren deutsch-jüdischen Geschichte
  24. Lexika, Handbücher, Nachschlagewerke
  25. Einführungen und Standardwerke
  26. Biographische Nachschlagewerke
  27. Bibliographien
  28. Quelleneditionen und -sammlungen
  29. Kategorien und Konzepte
  30. Migration, Demographie, Statistik
  31. Aschkenasen – Sepharden – »Ostjuden«
  32. Stadt – Land
  33. Hofjuden – Schutzjuden – Privilegierungen
  34. Bürgerliche Verbesserung – Toleranz – Emanzipation
  35. Aufklärung (haskala) – säkulare und religiöse Reform
  36. Verbürgerlichung – deutsch-jüdische Symbiose – Assimilation, Akkulturation und Identität
  37. Jüdische Renaissance und Zionismus (Volk – Nation – Kultur)
  38. Antisemitismus
  39. Historiographie (Narrative und Methoden)
  40. Periodika zur deutsch-jüdischen Geschichte
  41. Forschungsinstitutionen und -einrichtungen, Bibliotheken, Archive
  42. Anmerkungen
  43. Register
  44. Personenregister
  45. Sachregister

 

Vorwort

 

 

Das Thema der deutsch-jüdischen Geschichte ist das Leben der jüdischen Minderheit innerhalb der nichtjüdischen Mehrheitsumgebung in jenen Gebieten Europas, die – in unterschiedlichen staatlichen Formationen – als »Deutschland« gelten. Das vorliegende Buch will einen Einblick in die frühneuzeitlichen und neuzeitlichen Grundbedingungen und -strukturen dieses Lebens geben und in die Methoden und Möglichkeiten einführen, dieses Leben wissenschaftlich zu erforschen und zu beschreiben.

Die lange Tradition jüdischen Lebens in Deutschland und Europa, mit all ihren Höhen und Tiefen, mündete in der Mitte des 20. Jahrhunderts in eine von Deutschen ersonnene und ausgeführte Katastrophe (Shoah). Die Vernichtung von 6 Millionen deutscher und europäischer Juden hätte das Ende des »europäischen Zeitalters der Juden« (Friedrich Battenberg) bedeuten können. Die Jahrzehnte der Nachkriegszeit, als nur noch wenige Zehntausend Juden in den beiden Nachfolgestaaten des Deutschen Reiches lebten – viele von ihnen mit dem Gefühl, auf »gepackten Koffern« zu sitzen –, schienen diese Befürchtung zu bestätigen. Doch nach dem Ende der bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges und nach der deutschen Wiedervereinigung erwies sich, dass glücklicherweise das Gegenteil der Fall ist: In Europa und speziell in Deutschland entstand und entsteht noch weiterhin neues jüdisches Leben. Es knüpft mitunter an die durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und den Zweiten Weltkrieg abgerissenen Traditionen an, zeigt sich aber auch – beispielsweise durch die russisch-jüdischen »Kontingentflüchtlinge« oder eine Vielzahl junger Menschen aus Israel, die von Metropolen wie Berlin angezogen werden – in vielgestaltigen neuen Formen.

Trotz des durch sie markierten Zivilisationsbruchs war die Shoah nicht der Endpunkt europäisch-jüdischen und deutsch-jüdischen Lebens. Sie war auch nicht jener Punkt, auf den die Entwicklung zwangsläufig zusteuerte. Auch wenn »Geschichte« immer erst durch rückschauende Konstruktion entsteht, muss sich der Historiker davor hüten, allzu einfache Kausalitätslinien zu ziehen. Aber er hat doch die Aufgabe, durch reflektiertes und methodisches Vorgehen, Tendenzen und Strukturen aufzuzeigen, und das, »was war«, analytisch wie begrifflich zu fassen. Zweifellos muss der Historiker im Fall der deutsch-jüdischen und der europäisch-jüdischen Geschichte immer erklären, wie es kommen konnte, nicht jedoch, dass es hatte kommen müssen. Das ist freilich nur ein Teil seiner Aufgabe. Zu ihr gehört auch zu zeigen, dass es eine facettenreiche, vielfältige, deutsch-jüdische Vergangenheit gab, mit Scheitern, Gewalt und Verbrechen, aber genauso mit Gelingen, Erfolg und Höhepunkten. Dazwischen Grau in unendlichen Schattierungen (Thomas Nipperdey). Geschichte als wissenschaftlich geleitete Re-Konstruktion des Vergangenen darf nie Schwarzweiss-Malerei sein, sondern hat stets die Zwischentöne, das Kontingente, das Mögliche im Gewesenen, aufzuzeigen.

Diesen Überlegungen folgend, verzichtet die vorliegende Einführung darauf, eine »Meistererzählung« der deutsch-jüdischen Geschichte der Neuzeit zu geben (zahlreiche solcher Erzählungen liegen vor); sie erhebt nicht den Anspruch, möglichst viele Ereignisse und Begebenheiten zu referieren oder unzählige Persönlichkeiten der deutsch-jüdischen Vergangenheit Revue passieren zu lassen. Sie arbeitet vielmehr mit Schlaglichtern auf aussagekräftige Zusammenhänge. Sie will Zugänge zur deutsch-jüdischen Geschichte öffnen, indem sie zunächst analytischen Schlüsselbegriffen und -konzepten diachron, quer durch die Epochen, folgt, sich anschließend zentralen Theorieansätzen und historiographischen Narrativen zuwendet und schließlich ein Spektrum von Methoden entfaltet, aus denen Erkenntnisse über die deutsch-jüdische Geschichte gewonnen werden können. Sie will zum Studium dieser Geschichte in ihrer europäisch-jüdischen Verflechtung anleiten und den wissenschaftsdisziplinären Charakter der deutsch-jüdischen Geschichte als eines Teils der Geschichtswissenschaft aber auch der Jüdischen Studien betonen. Sie will anregen zum vertieften Eigenstudium. Diesem Ziel dient nicht zuletzt die umfängliche Bibliographie im Schlussteil dieses Bandes.

Das Buch verarbeitet Erfahrungen aus der langjährigen Praxis in Lehre und Forschung an der Professur für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Potsdam. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wird deutsch-jüdische Geschichte in Potsdam im Kontext eines kulturwissenschaftlichen Konzepts der Jüdischen Studien betrieben. Geschichtswissenschaft, Philosophie, Literatur- und Religionswissenschaft wirken hierin interdisziplinär zusammen; seit 2012 ist den Jüdischen Studien mit dem Institut für Jüdische Theologie ein Pendant zur Seite getreten, das sich umfassend der Erforschung und Praxis jüdischer Religiosität widmet. Das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien sowie das Abraham-Geiger-Kolleg als Rabbiner- und Kantorenseminar ergänzen dieses Spektrum über die Universität hinaus. Nicht zuletzt wirkt das Zentrum jüdische Studien Berlin-Brandenburg mit seiner Graduiertenschule als Institution zur Bündelung möglichst vieler wissenschaftlicher Initiativen und Interessen im Großraum Berlin. So hat sich dieser Raum von Potsdam aus in den vergangenen Jahren zu einem Zentrum wissenschaftlicher Befassung mit Juden und Judentum in Deutschland und Europa entwickelt. Mit einem Gefühl der Dankbarkeit will der vorliegende Band auch auf dieses ideale und inspirierende Umfeld für Forschung und Lehre hinweisen.

Namentlich geht unser Dank an Ulrike Wendt, die sich der Revision des Anmerkungsapparates angenommen hat. Für Anregungen, Hinweise und Kritik danken wir Prof. Dr. Nathanael Riemer (Potsdam); außerdem Prof. Dr. Yfaat Weiss und dem Franz Rosenzweig Minerva Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem für das Michał Szulc gewährte Forschungsstipendium. Dr. Daniel Kuhn betreute den Band beim Verlag Kohlhammer mit nie endender Geduld und schließlich zupackendem Engagement in der abschließenden Produktionsphase. Dr. Philipp Salamon-Menger (Wiesbaden) gilt ein besonderer Gruss an dieser Stelle; er weiss, warum.

Vor allem aber danken wir unseren Potsdamer Studentinnen und Studenten für ihre wache Präsenz in unseren Lehrveranstaltungen, die eine akademische Atmosphäre auch unter »Bologna-Bedingungen« am Leben hält. Dieses Buch entsprang aus der akademischen Lehre, und sein Zweck wäre erreicht, könnte es ihr wiederum dienen.

 

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            Die Räume und Themen der deutsch-jüdischen Geschichte

 

 

Epochen und Grenzen

Forschung und Lehre zur deutsch-jüdischen Geschichte1 überschreiten die etablierten Disziplinengrenzen des historischen Fachs: Mittelalter, Frühe Neuzeit, Neuere Geschichte, Neueste Geschichte und Zeitgeschichte, Osteuropäische Geschichte. Diese Einteilung ist zweifellos sinnvoll unter Aspekten der Methoden und spezifischer Kompetenzen, etwa paläographischer oder sprachlicher Kenntnisse. Allerdings verstellt eine zu kleinteilige fachliche Segmentierung den Blick auf die langen Zeiträume, auf die größeren Zusammenhänge und tieferliegenden Strukturen. Auf keinen Fall kann deutsch-jüdische Geschichte in den engen Grenzen einer Nationalgeschichte abgehandelt werden, wenngleich das Kaiserreich von 1871 oder die Weimarer Republik ohne Zweifel Phasen eines verdichteten und besonders intensiven jüdischen Lebens in Deutschland definieren. Doch ebensosehr müssen (mindestens) die deutschsprachigen Teile des Habsburgerstaates miteinbezogen werden, aber auch böhmische, mährische und ungarische Länder und diejenigen Teile Polens, die 1772 und 1795 an Österreich fielen. Gleiches gilt für Preußen: einige jüdische Familien wurden 1671 durch Kurfürst Friedrich Wilhelm in der Mark Brandenburg zugelassen. Für den quantitativen Zuwachs der jüdischen Bevölkerung Preußens waren aber die Annexionen des 18. Jahrhunderts (Schlesien, polnische Teilungen) ungleich bedeutender; die größte jüdische Bevölkerungsdichte (6,4 %) wies Preußen im Großherzogtum Posen, der späteren Provinz Posen, auf. Im Westen hingegen markiert der Verlauf des Rheins alte jüdische Siedlungsgebiete, deren politische Zugehörigkeit oftmals wechselte; am Beispiel Elsass-Lothringens mit seinem signifikanten jüdischen Bevölkerungsanteil wird dies besonders deutlich.

Das Alte Reich, die Übergangsformen der »Franzosenzeit« mit dem Königreich Westphalen und dem Großherzogtum Berg, mit Rheinbund und Großherzogtum Warschau, der Deutsche und Norddeutsche Bund, die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie, das Deutsche Kaiserreich, deren Nachfolgestaaten nach 1918 sowie schließlich das nationalsozialistische »Dritte« und dann »Großdeutsche Reich« mit den ihm seit 1939 unterworfenen europäischen Gebieten markieren die politischen Räume, in denen sich deutsch-jüdische Geschichte abspielte. Nach dem Zweiten Weltkrieg kommen die Bundesrepublik Deutschland und die DDR als Staatenräume einer sich langsam erneuernden deutsch-jüdischen Geschichte hinzu. Diese steht in steter Verflechtung mit der europäisch-jüdischen Geschichte. Sie entfaltet sich in wechselnden Zentren und von den Peripherien her, in unterschiedlich akzentuiertem Austausch und variierenden Zuordnungen. Dieses Wechselspiel lässt sich abbilden unter dem Begriff der Migration, denn Wanderungsströme prägen die Geschichte der jüdischen Minderheit in Europa, und speziell über Mitteleuropa hinweg auf besondere Weise.

Räume, Migration, Siedlungsformen

Die Frage nach den geographischen und politischen Räumen der deutsch-jüdischen Geschichte fordert geradezu eine überepochale Betrachtungsweise. Vor allem der deutsch-jüdische Soziologe Werner Jacob Cahnman(n) hat in seinen Studien die Augen für das geographisch-räumliche Bild der deutsch-jüdischen Geschichte geöffnet.2 Cahnman unterschied zwei sehr unterschiedlich geprägte geographische Räume, in denen sich zunächst eine ältere, »rheinisch-französisch« akzentuierte deutsch-jüdische Geschichte entfaltet habe, von der eine jüngere, um 1648 beginnende deutsch-polnische Phase zu unterscheiden sei. Vom Mittelalter zur Neuzeit hin habe sich das Gewicht, diesem Modell folgend, von West nach Ost verlagert. Zum 19. Jahrhundert hin bildete die »Ost-Schiene« dann ihrerseits je einen Nord-Ost- und einen Süd-Ost-Schwerpunkt aus. Als große Zentren jener Schwerpunkte können Frankfurt am Main stellvertretend für die Tradition des deutsch-jüdischen Westens, Hamburg und Berlin für einen hochdeutsch-jüdischen Nordosten sowie Wien und Prag für einen stärker jiddisch geprägten Südosten stehen.3

Dieser idealtypisch gezeichnete geographische Raum wird feingegliedert durch die jeweils bevorzugten Siedlungsformen deutscher Juden, die sich ihrerseits, wiederum bestimmten Entwicklungslinien der longue durée folgend, als epochenspezifisch prägend kennzeichnen lassen: groß- bzw. reichsstädtisch – kleinstädtisch – ländlich und wiederum ländlich/kleinstädtisch – groß- bzw. residenz- und handelsstädtisch, schließlich metropolitan. Migrationsströme und die damit verbundenen fundamentalen Veränderungen der Siedlungsschwerpunkte können als Indikatoren für epochale Umbrüche in der Geschichte der deutschen und europäischen Juden gelten.

Migrationsströme stehen auch am Beginn der Herausbildung der beiden Großgruppen des europäisch-mittelmeerischen Judentums seit der Spätantike: Sepharden und Aschkenasen. Beide Gruppen unterscheiden sich im religiösen und kulturellen Habitus, der wiederum abhängig ist von den Erfahrungen in den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften, mit allen Konsequenzen für Rechtsstellung, Sozial- und Berufsstruktur. Ökonomische, soziale und Fragen des rechtlichen Status der Minderheit entwickeln sich ihrerseits zu Push- und Pull-Faktoren für Migration. Das gilt für Mittelalter wie Neuzeit: in welchen sozialen und Rechtsräumen werden Juden geduldet, mit welchem Status? Welche Räume bieten sich zu welchem Zeitpunkt als Räume der Aufnahme an, zu welchen Bedingungen? Dies sind ins Räumliche gewendete Aspekte des schlechthin zentralen Themas der Inklusion und Exklusion.

Inklusion und Exklusion

Deutsch-jüdische (und cum grano salis europäisch-jüdische) Geschichte ist die Geschichte einer diskontinuierlichen Inklusion, die phasenweise und unter ständiger Gegenwirkung desintegrativer Kräfte zu gelingen schien, zuletzt jedoch auf gewalttätigste Weise negiert wurde. Sie steht in unablösbarem Zusammenhang mit der Gewaltgeschichte des Christentums einerseits und mit der alles andere als »unbefleckten« Geschichte der europäischen Modernisierung andererseits, ihren jeweiligen Rückschlägen und ihrem schließlichen, abyssischen Ausbruch absoluter Zivilisationsferne im 20. Jahrhundert als der dunklen, ins Nationalistische und schließlich Deterministisch-rassistische gekehrten Seite der rationalistischen Fortschrittsideologie der Epoche.

Die Variationen des großen Inklusionsthemas mit seinem steten Kontrapunkt der ausschließenden (exkludierenden) Bewegungen lassen sich für die deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit gleichfalls geographisch-räumlich und zeit-räumlich bestimmen. Das ältere kaiserliche Schutzjudentum wurde mediatisiert und zur Frühen Neuzeit hin neu definiert, so dass, zumal in den neuen höfisch-absolutistischen Herrschaftskomplexen seit dem 17. Jahrhundert, zahlreiche Formen von Privilegierungen entstanden (Hofjuden, Generalprivilegierte, etc.). Diese Rechte waren funktional, von den Herrschern ad personam zugeteilt, um nicht zu sagen, verkauft worden. Aber sie konnten in einen Modernisierungsdiskurs Eingang finden, der zunehmend nach dem »Wert« aller für das »gute« Staatswesen fragte und, von Einzelverhältnissen abstrahierend, an Homogenisierung interessiert war. Hier war der Weg vom »nützlichen Untertanen« zum Staatsbürger vorgezeichnet, und gerade für die Angehörigen der jüdischen Minderheit sollte definiert werden, unter welchen Voraussetzungen ihre »bürgerliche Verbesserung« erreicht und mit welchen Statusgewinnen dieser Schritt belohnt werden konnte. Überlegungen dieser Art gingen von den aufgeklärt-absolutistischen Staaten aus, das spät-friderizianische Preußen sowie das josephinische Reform-Österreich an ihrer Spitze. Quer dazu lief die in Europa durch die Französische Revolution von 1789 befeuerte Idee des allgemeinen Menschenrechts mit der Forderung nach gleichem, voraussetzungslosem und unverzüglich zu gewährenden Staatsbürgerrecht für alle. Diese Idee wurde, ausgehend von Frankreich, in die Zerfallsstaaten des Alten Reichs und in die Neugründungen exportiert sowie in unterschiedlichem Maße in Edikten gesetzgeberisch fixiert. Geleitet wurde diese »Sattelzeit« von etwa 1750 ab durch das Motiv der »Aufklärung«, das Paradigma der Vernunft, das auch den innerjüdischen Reformdiskurs (haskala) bestimmte. Den jüdischen Reformern ging es darum, den Anschluss an den wissenschaftlichen Geist der Zeit zu gewinnen, wiederum als Voraussetzung einer gelingenden Inklusion in die Mehrheitsgesellschaft. Auch die Religiosität blieb vom Reformgedanken keineswegs unberührt, mit der Konsequenz einer Konfessionalisierung des Judentums im Laufe des 19. Jahrhunderts, die sich am Grad der jeweiligen Historisierung des religiösen Gesetzes, der Verwissenschaftlichung des Nachdenkens über jüdische Religion im Sinne einer »Theologie« sowie der homogenisierenden Einordnung in staatlich vorgegebene Räume religöser Betätigung bemaß.

Mit der Reorganisation und Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress brachte dieses Jahrhundert zunächst Rückschläge für die Bestrebungen nach Inklusion der Juden. Einheitliche Regelungen konnten für das Gebiet des neugegründeten Deutschen Bundes nicht erzielt werden, und so entstand in der Folgezeit eine höchst ausdifferenzierte »Integrationslandschaft« mit unterschiedlichsten Graden rechtlicher Gleichstellung sogar innerhalb einzelner Staaten des Bundes, wie beispielsweise in Preußen. Die Bürokratien verhielten sich zögernd, während die ideologische Gegenströmung, angefacht durch teils bereits rassistisch untersetzte Nationalismen die Möglichkeit einer gelingenden Inklusion der Juden in die Mehrheitsgesellschaft bestritt und erbittert bekämpfte. Soziale Krisen befeuerten ihrerseits eine sozioökonomisch motivierte Judenfeindschaft, die phasenweise, zumal in Verbindung mit den Revolutionen von 1830 und 1848/49 zu Ausbrüchen von Gewalt gegen Juden führte. Auf der anderen Seite versuchten jüdische wie nichtjüdische Vertreter eines liberal-bürgerlichen Freiheitsdenkens – etwa in den Debatten der Frankfurter Nationalversammlung – die emanzipatorische Idee einer bedingungslosen rechtlichen Gleichstellung der Juden zu verwirklichen. Als Preis dafür wurde – gleichfalls in unterschiedlichsten Dosierungen – eine Anpassung an den kulturellen Habitus der Mehrheitsgesellschaft angesehen oder gefordert, sowohl seitens jüdischer als auch nichtjüdischer Akteure. Die religiöse Reform stellte die theologische Variante dieses Prozesses der »Verbürgerlichung« dar; auf der säkularen Seite entsprachen ihm zahlreiche Spielarten der »Assimilation« (völlige Aufgabe der jüdischen Identifikation) und Akkulturation (Mischformen jüdischer und nichtjüdischer Identitätskonstruktionen). Sie reichen von Konversion, Gemeindeaustritt und Mischehe bis hin zu lediglich äußerlicher Angleichung an die Stile der Mehrheitsgesellschaft unter privater Beibehaltung des jüdisch-kulturellen und -religiösen Habitus. Die Vertreter einer »Wissenschaft des Judentums« versuchten demgegenüber einen innerjüdischen, nicht primär religiösen Modernitätsstandpunkt zu entwickeln, um das Ziel der Haskala weiterzuverfolgen, nämlich Juden als Juden auf geistige Augenhöhe mit den nichtjüdischen Repräsentanten der Wissenschaft als des Leitparadigmas der Zeit zu führen und derart ihre Inklusionsfähigkeit zu beweisen.

Die völlige und voraussetzungslose rechtliche Gleichstellung der Juden qua Gesetz wurde mit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 für den kleindeutschen Nationalstaat sowie mit der Verfassung von 1867 für die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie erreicht. Der durchschnittliche jüdische Bevölkerungsanteil betrug in jenen Jahren in Deutschland maximal 1,25 % (1871: 512 000), in Deutsch-Österreich um 1 % (1869: 59 500, davon die weitaus meisten in Wien). Keineswegs war für diese kleine, aber stark innovative und zu hohen Graden akkulturationsbereite Gruppe der Weg zur Inklusion damit abgeschlossen. Juden konnten vielfach überdurchschnittliche soziale Aufstiege vorweisen, zumal in Handel, Gewerbe, Industrie und den Freien Berufen. Die Chancen, die der ökonomische und technologische Wandel vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bot, hatten viele Juden genutzt – wiederum auch durch Migration, jetzt in die pulsierend expandierenden neuen Großstädte. Doch fast in gleichem Maße provozierte dieser Erfolg neue exklusorische Gegenströmungen. Die große Wirtschaftskrise der 1870er Jahre (»Gründerkrach«) begünstigte eine Reihe von judenfeindlichen Agitatoren, Initiativen, Gruppen, bald auch Parteien, denen es zwar nicht gelang, die gesetzlich gewährte rechtliche Gleichstellung der Juden zu revidieren, deren »Erfolg« auf die Dauer jedoch darin bestand, die Mehrheitsgesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen mit einer latenten Judenfeindlichkeit zu durchsetzen. Als besonders tückisch erwies sich dabei eine ideologische Melange aus sozioökonomischem Ressentiment gegen die vermeintlichen »Gewinner« der industriellen Modernisierung, pseudo-wissenschaftlich verkleidetem, sozialdarwinistische Modetheorien der Zeit nutzenden Rassenantisemitismus und nationalem Chauvinismus, in dem nationale Machtphantasien und rassistisch begründete Homogenitätsideen ineinander verschmolzen.

Die Integration der sich in ihrer Mehrheit »deutsch« fühlenden bürgerlichen Juden war durch diese exklusorischen Strömungen massiv gefährdet. Gerade Schlüsselmarkierungen der bürgerlich-nationalen Identifikation (»einjährig-freiwilliges« Reserveoffizierspatent, weitergehende Karrieren im Militär, in den höheren öffentlichen Ämtern, insbesondere als ordentliche Universitätsprofessoren, Mitgliedschaft in Studentenverbindungen und Standesorganisationen) wurden jüdischen Lebensläufen systematisch vorenthalten. Zusätzlichen Auftrieb erhielten die antisemitischen Agitatoren seit dem Beginn der 1880er Jahre, als eine erneute Migrationswelle – diesmal aus dem sogenannten »Ansiedlungsrayon« im Westen des Zarenreichs – die Struktur der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Österreich fundamental veränderte. Die nicht auf bloße Durchwanderung begrenzte Massenmigration sogenannter »Ostjuden« mit völlig anderem sozialen und kulturellen Hintergrund forderte auch die alteingesessenen deutschen Juden heraus, trieb vor allem jedoch die antisemitische Agitationsspirale weiter an; gegen die »Ostjuden« als »minderwertige Elemente« russischer und polnischer Herkunft ließ sich trefflich polemisieren.

Schließlich führte der Erste Weltkrieg zu einem neuen Tiefpunkt in der Auseinandersetzung um die Stellung der deutschen Juden. Galt für unzählige Juden der Dienst in den deutschen Armeen als letzter und endgültiger Nachweis ihres uneingeschränkten und unbedingt opferbereiten »Deutschtums«, so verstand es wiederum die antisemitische Agitation, die Stimmung zu drehen. Das vaterländische Engagement der Juden wurde diskreditiert und durch propagandistische Verdikte über vermeintliche »Kriegsgewinnlerei« und »Drückebergerei« konterkariert. Dass sich das Preußische Kriegsministerium 1916 dazu hinreissen ließ, eine »Judenzählung« im Heer zu veranlassen, ließ die Agitatoren triumphieren und erschütterte das Vertrauen der Juden nachhaltig. Bereits durch die zionistische Bewegung war seit dem späteren 19. Jahrhundert im innerjüdischen Diskurs die Möglichkeit des Gelingens einer Inklusion auf Basis der Akkulturation radikal bestritten worden. Diesem Modell stellten die Zionisten die Alternative einer nationalen und kulturellen Selbstbesinnung des Judentums entgegen, die – in einer letzten und endgültigen großen Migrationsbewegung – in die Gründung eines eigenen jüdischen Staates, vorzugsweise in Palästina, münden sollte. Unter den bürgerlichen deutschen Juden fand der zionistische Gedanke Sympathisanten, jedoch nur wenige aktive Anhänger. Zur Auswanderung und zur Übernahme eines neuen, stark agrar-sozialistisch-kollektivistisch akzentuierten, gegenbürgerlichen Lebensstils in einem zu kolonisierenden Palästina ließen sich vorwiegend Angehörige der jüngeren Generationen motivieren.

Gleichwohl veränderte sich über die Schwelle des Weltkriegs hinweg auch das Gesicht des deutschen Judentums. Durch anhaltende Zuwanderung aus dem Osten hatten sich, zumal in großen Städten wie Wien und Berlin, neue Viertel mit starken russisch-polnisch-jüdischen Bevölkerungsanteilen herausgebildet. Auf der anderen Seite hatte der verstärkte Kontakt jüdischer Intellektueller mit ostjüdischer Kultur und Religiosität, etwa mit dem mystisch akzentuierten Chassidismus, das Interesse für ein »ursprünglicheres« Judentum geweckt, das sich nicht in Akkulturationsschüben der Selbstauflösung näherbringe, sondern vielmehr der eigenen kulturellen Identität besinne. Diese »jüdische Renaissance«, programmatisch vorangetrieben etwa von Denkern wie Martin Buber, blieb nicht frei von Versatzstücken des zeitgeistigen völkischen Denkens.

Die Jahre der Weimarer Republik zeigen sich als Jahre der Polarisierung. Kunst, Kultur, aber auch Wissenschaft der 1920er Jahre sind von den Leistungen jüdischer Intellektueller bedeutsam geprägt. Auf der anderen Seite tobte ein immer gewaltbereiterer Antisemitismus, dessen Publikum sich vor allem aus Anhängern politisch-ideologischer Fanatismen sowie Angehörigen sozialer Grenzschichten speiste: den durch den Weltkrieg Entwurzelten, den vom »Versailler Schanddiktat« bitter Enttäuschten, den von den ökonomischen Krisen dieser »ersten Nachkriegszeit« Radikalisierten. Juden zu Sündenböcken für all diese unerklärlich scheinenden Umbrüche zu stempeln, war vereinfachend genug, um agitatorische und terroristische Energien freizusetzen. Der Mord an dem als »Erfüllungspolitiker« denunzierten jüdischen Außenminister Walther Rathenau 1922 – um nur ein Beispiel zu nennen – wurde in deutschnationalen Kreisen vielfach mit unverhohlener Schadenfreude quittiert und als Symbolakt gegen das verhasste Weimarer »System« interpretiert.

Jüdische Renaissance und Antisemitismus

Die bürgerlichen deutschen Juden fanden sich zunehmend in eine doppelte Defensive gedrängt: gegen den anwachsenden völkischen Antisemitismus einerseits, gegen die Herausforderung durch den Zionismus andererseits. Dem korrespondierte ein wachsendes Bewusstsein auch unter den Bürgerlichen, dass der Weg der Akkulturation einen möglicherweise zu hohen Preis für die Inklusion – nämlich das Risiko der Selbstauflösung – gefordert haben könnte. Wenn der Antisemitismus schon nicht aus der Welt zu schaffen war, warum sollte dann nicht die eigene »Jüdischkeit« auch stärker gepflegt, betont und herausgestellt werden? Die Übersetzung der hebräischen Bibel durch Martin Buber und Franz Rosenzweig zählt ebenso in den Umkreis der kulturellen Leistungen und Initiativen dieser »jüdischen Renaissance« wie Franz Rosenzweigs Frankfurter Lehrhaus und daran anknüpfende Projekte jüdischer Erwachsenenbildung sowie die Leistungen einer erneuerten Wissenschaft des Judentums, unter ihnen die großen lexikalischen Unternehmungen Encyclopaedia Judaica (1928–1934) und Jüdisches Lexikon (1927–1930).

Im Übrigen blieb die rechtliche Gleichstellung auch während der Republik unangetastet. Im Vertrauen auf die Rechtssicherheit eines demokratischen Verfassungsstaates aber auch auf die eigenen erbrachten Nachweise vollgültigen Staatsbürgertums – dem Stil der Zeit entsprechend vor allem: des Frontkämpfertums im Weltkrieg – erschien den meisten deutschen Juden die völlige Negation des Erreichten kaum denkbar. Vorübergehende Eintrübungen aufgrund politisch tagesaktueller Erfordernisse waren vorstellbar, aber die radikale Aufkündigung jeglichen zivilisierten Zusammenlebens?

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten trat dieser Fall ein, brach das vermeintlich unumstürzbare Faktum der rechtlichen Gleichstellung weg, nicht sofort von einem Tag auf den anderen, aber doch mit erschreckender Konsequenz. Eine verblasene und aufs Äusserste gewaltaffine rassistisch-antisemitische Ideologie war Regierungsprogramm geworden. Ihre Vollstrecker entzogen den Juden sukzessive jede Lebensgrundlage in Deutschland und entfachten schließlich den Völkermord an den europäischen Juden, der 6 Millionen Todesopfer forderte.

Ideologeme und Narrative

Die Auseinandersetzung mit judenfeindlichen Ideologemen und deren politischen wie sozialen Formen, vom religiösen Antijudaismus zum sozioökonomisch und rassistisch motivierten Antisemitismus (sowie Formen des Antizionismus und Antiisraelismus), bildet eine fortwährende Aufgabe des Forschens und Nachdenkens über jüdische Geschichte insgesamt, deutsch-jüdische Geschichte im speziellen. Der in Deutschland erdachte und vornehmlich durch Deutsche ausgeführte Judenmord verpflichtet in besonderer Weise dazu. Abgesehen davon ist wissenschaftliche Aufklärung über alle Formen der Judenfeindlichkeit eine universelle Aufgabe von hoher Komplexität, zu der die verschiedenen geisteswissenschaftlichen Fächer ihren Beitrag leisten müssen. Judenfeindschaft zielt radikal auf Exklusion, im schlimmsten Fall auf Eliminierung ab und durchzieht die gesamte jüdische Geschichte als ständige Negation der Inklusionsthematik. Als eigene Disziplin hat sich die Antisemitismusforschung in den vergangenen Jahrzehnten differenziert entwickelt und etabliert. Im Rahmen einer um analytische Kategorien bemühten Hinführung zur deutsch-jüdischen Geschichte gewinnt das Thema »Antisemitismus« neben seiner realhistorischen Bedeutung auch unter systematisierenden Gesichtspunkten an Gewicht, spielen doch Diagnosen über das Phänomen der Judenfeindschaft in zahlreichen bedeutenden sozialwissenschaftlichen Theorieansätzen seit dem 19. Jahrhundert eine herausragende Rolle im Zusammenhang mit Erklärungsansätzen über die Pathologien von Gesellschaften. Von hier aus lässt sich auch eine Verbindung herstellen zu einer knappen Abhandlung über Theorien und Narrative zur (deutsch-)jüdischen Geschichte, die ihrerseits in eine abschließende Betrachtung über geschichtswissenschaftlich-methodische Zugriffe auf die Thematik führt.

 

2

            Kategorien und Konzepte

 

 

Migration4

 

Deutsch-jüdisches, in europäisch-jüdische Existenz eingebettetes Leben lässt sich unter dem Paradigma der Wanderung (Migration) begreifen. Diese Feststellung erfolgt ausdrücklich nicht unter dem Vorzeichen wertgeleiteter Narrationen, wie etwa derjenigen vom jüdischen als dem »ewig wandernden« und damit »ewig fremden« Volk, dessen vorzugsweise durch Gott zugemessenes »Schicksal« in Zyklen des Exils, der Wanderschaft und des neuen Exils bestehe.5 Ahasverus, die bis ins 13. Jahrhundert zurückzuverfolgende Legendenfigur des »wandernden Juden«, steht als Chiffre für derartige Interpretamente,6 und die populären Folgerungen, ob aus jüdischer Binnensicht oder aus nichtjüdischer Außenperspektive mit entweder anti- oder philosemitischer Konnotation, sind hinlänglich bekannt.7

Analytischer Zugriff

Die Wissenschaft ist vielmehr an einem analytischen Zugriff interessiert, der Migration in der europäisch-jüdischen Geschichte des späten Mittelalters und der Neuzeit empirisch beobachtet, ihr Ausmaß beschreibt und die Frage nach den Gründen und den Folgen der Wanderungsbewegungen stellt. In der Fachliteratur wurde die Bedeutung von Migrationsbewegungen für die jüdische Geschichte unterschiedlich eingeschätzt.8 Die sich seit den 1980er Jahren etablierende, sozialwissenschaftlich und seit einiger Zeit auch kulturwissenschaftlich geleitete Disziplin der Migrationsforschung hat gelehrt zu differenzieren und von Großtheorien und monokausalen Ansätzen abzusehen;9 im Fokus der Fragestellungen, Methoden und Erklärungsansätze dieser Disziplin, mitbedingt auch durch den »transnationalen Turn« unserer Wissenschaft, schärft sich der Blick für die Migrationsgeschichte des europäischen Judentums.10

Wer Migration, der allgemeinen Migrationsforschung folgend, als »räumliche Bevölkerungsbewegung«, als »die auf einen längerfristigen Aufenthalt angelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien, Gruppen oder auch ganzen Bevölkerungen« versteht,11 wird nicht umhin kommen, solche Wanderungsbewegungen als schlichtweg konstitutiv für die Entfaltung europäisch-jüdischen Lebens zu bezeichnen.12 Dabei ist es unerheblich, ob von Migration als Aus- und Einwanderung (staatliche Grenzen überschreitend) oder Ab- und Zuwanderung (Wanderung innerhalb der Grenzen eines Staates) die Rede ist. Beides kennzeichnet in charakteristischem Maße die europäisch-jüdische Geschichte des hier betrachteten Zeitraums. Hinzu kommen Formen der »Mobilität« als eher kleinräumige Bewegungsmuster von temporärer, mitunter zirkulärer und mehr individueller Natur.13 Mobilität, ebenfalls eine hoch charakteristische Entwicklungskonstante jüdischen Lebens, weist in ihren unterschiedlichen Ausprägungen Überschneidungen und fließende Übergänge zur Migration auf;14 davon wird im Zusammenhang mit den Land-Stadt-Bewegungen, aber auch mit den sozialen Mobilitätsaspekten der Verbürgerlichung die Rede sein. Zunächst geht es um die großen, transterritorialen migratorischen Bewegungen.

Push- und Pull-Faktoren

Die allgemeine Migrationsforschung unterscheidet Push- und Pull-Faktoren – Flieh- und Anziehungskräfte. Beide spielen stets zusammen. Als wesentlicher Push-Faktor, der mehr als einzelne Juden zur Wanderschaft veranlasste, wirkte im Spätmittelalter, in der Frühen Neuzeit, aber auch (und wieder) im späten 19. und im 20. Jahrhundert die Vertreibung, so dass vertreibungsbedingte Zwangsmigration die häufigste in diesem Zusammenhang zu beobachtende Form der Migration ist. Freilich aber nicht die einzige: Siedlungs- und Arbeitswanderungen, als sog. subsistence- oder betterment migrations, mit dem Ziel, die materielle Existenz zu sichern, vielleicht auch zu verbessern, korrespondieren oftmals mit den Zwangswanderungen; die zusätzlich zur räumlichen auch eine Verlagerung des sozialen Ortes bezweckenden Typen der Bildungs-, Ausbildungs- und Wohlstandsmigration treten zum 19. Jahrhundert hin mehr und mehr an die Stelle der Zwangsmigrationen, die ihrerseits jedoch nicht verschwinden. In diese Migrationsmuster verwoben sind Motive der Kulturwanderung, die auch die Frage nach der Entfaltung bzw. überhaupt der Erhaltung eigener jüdischer Kultur und Religiosität umfassen. Religiöse Motive können zu Vertreibung führen und damit Zwangsmigrationen auslösen. Sie können Teil eines Motivbündels sein; sie können aber auch nur vorgeschützt sein, um andere Motive zu kaschieren.

Vertreibung der Sepharden von der iberischen Halbinsel

Vertreibung löste die große Migrationswelle der sephardischen Juden aus Spanien (1492) und Portugal (1496/97) aus.15 Deren Wanderungsbewegungen führten südwärts in Richtung Nordafrika und ostwärts ins Osmanische Reich, nach Saloniki, Konstantinopel und an die Küsten des östlichen Mittelmeers. Eine kleinere Strömung führte spanische und portugiesische Juden in jener Zeit nach Italien. Im Laufe des 16. Jahrhunderts mussten infolge inquisitorischer Verfolgung schließlich auch die getauften Juden – sogenannte conversos (spanisch) oder marranos (portugiesisch) die iberische Halbinsel verlassen. Sie migrierten in Richtung nordwestlicher Zentren Europas und legten den Grund für ökonomisch wie geistig aufblühende sephardisch-jüdische Gemeinden des 17. Jahrhunderts, allen voran Amsterdam, Hamburg-Altona, und später London.16 Mit Heinz Schilling ließe sich hier von einer »Konfessionsmigration« sprechen,17 da das dominante auslösende Moment (Push-Faktor) im Ziel einer konfessionell homogenen Gesellschaft lag. Freilich mischen sich, worauf Imanuel Geiss aus dem Blickwinkel einer Geschichte des Rassismus hingewiesen hat, bereits proto-rassistische Elemente bei,18 richteten sich Misstrauen und Verdacht doch schon seit dem späten 15. Jahrhundert stets auch gegen die conversos, also diejenigen Juden, die sich, durch Zwang oder freiwillig, dem konfessionellen Homogenisierungsbestreben unterworfen hatten. Getrieben von der Ideologie der limpieza de sangre trafen Gewalt und Vertreibung schließlich massiv eben gerade auch die »Neu-Christen«, weil sie nicht »rein« genug erschienen, um als Teil einer homogenen sozialen Oberschicht akzeptiert zu werden. Die geforderte »Blutsreinheit« diente dazu, eine ökonomisch überaus erfolgreiche Bevölkerungsgruppe zu eliminieren, die ihrerseits den Willen zu konfessioneller Akkulturation bewiesen hatte, freilich dadurch nur umso mehr störte. Demgegenüber bestimmte ein konfessioneller Faktor die Aufnahmebedingungen (Pull-Faktoren) für die iberischen Sepharden im nördlichen Europa mit. In den Niederlanden und in Hamburg fanden sie Akzeptanz gerade als »Neu-Christen«, nicht als Juden.19 Erst ab dem zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts war es hier wie dort wieder möglich, sich offen zum Judentum zu bekennen.

Die große Ostmigration des »langen 15. Jahrhunderts«

Prägender als die Sephardenmigration seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, speziell für die Gestalt deutsch-jüdischer aber auch osteuropäisch-jüdischer Existenz, ist jedoch jene andere Migrationsbewegung, die zwischen dem späten 14. und dem frühen 16. Jahrhundert durch die Vertreibung der Juden vor allem aus den Reichsstädten ihr Plateau erreichte. Die Anfänge dieser großen Wanderungsbewegung in östlicher Richtung reichen ihrerseits zurück bis in das Zeitalter der Kreuzzüge und in die Phase der »deutschen Ostsiedlung« während des Hochmittelalters. Auch die Pestepidemie der Jahre 1348/49 löste Wellen der Judenvertreibung aus, wurde doch dem angeblich religiös bedingten »Hass« der Juden gegen die Christen oftmals die Schuld an dem unerklärlichen Geschehen zugeschrieben (»Brunnenvergiftung«). Doch erst das »lange 15. Jahrhundert« führte zu anhaltender und systematischer Vertreibung der Juden aus den Städten. Die vielfach angeführten, religiös begründeten Vorurteile gegen Juden – Ritualmord, Hostienfrevel oder »jüdischer Wucher« – reichen aber nicht hin, diese sehr lang anhaltende Phase der Vertreibung zu erklären. Vielmehr scheinen die Gründe in einer Transformation des spätmittelalterlichen Reiches zu liegen. Weil aus den Funktionen der Juden innerhalb des sozialen und ökonomischen Gefüges keine Vorteile mehr zu ziehen waren, wurden sie ihnen immer weniger zugebilligt. Diese Transformation spiegelt sich in dem zeitgenössischen geflügelten Wort: »Man bedarf keiner Juden mehr, es sind andere, die wuchern können.«20 Hier schlägt sich die Erfahrung des wirtschaftlichen Aufstiegs zahlreicher Reichsstädte während des 15. Jahrhunderts nieder, dem der ökonomische Abstieg der jüdischen Gemeinden als Ergebnis steuerlicher Auspressung seitens ihrer traditionellen »Schutzherrn«, der Kaiser bzw. Könige, korrespondierte. Je weniger sich der Schutzherrnstatus für den König »lohnte«, um so mehr schwand sein Interesse an den Judengemeinden, so dass sich schließlich der politische Spielraum für die städtischen Obrigkeiten öffnete, den königlichen Judenschutz abzulösen, sich der jüdischen Güter zu bemächtigen und sich der Juden zu entledigen.21 Religiöse Verdikte verbrämen hier die eigentlichen Motive – ein Phänomen, das sich im Laufe der europäisch-jüdischen Geschichte vielfach beobachten lässt.

Auch wenn gegen Ende des 15. Jahrhunderts verstärkt Vertreibungen aus einzelnen Territorien des Reiches hinzutraten,22 liegt die historische Zäsur jener Epoche doch im Ende der jahrhundertealten reichsstädtischen Tradition jüdischen Lebens.23 Siedlungsgeographisch wirkten sich die Vertreibungen des »langen« 15. Jahrhunderts für die im Heiligen Römischen Reich verbleibende jüdische Bevölkerung fragmentierend aus. An die Stelle der großen Stadt traten Kleinstädte, in sehr vielen Fällen jedoch ländliche Gemeinden. Das Dorf wurde zum bevorzugten Siedlungsraum der Juden. Kennzeichnend für das 16., 17. und große Teile des 18. Jahrhunderts ist im Reich die häufig wechselnde jüdische Streusiedlung in Abhängigkeit von den jeweiligen landesherrlichen Gegebenheiten und Herrschaftsverhältnissen;24 hinzu tritt das Phänomen der Ansiedlung von Juden in Dörfern an den Peripherien der Reichsstädte, mit dem Ziel, weiterhin die ökonomischen Möglichkeiten dieser Zentren (Märkte) zu nutzen.25

Der große Migrationsstrom entwickelte sich freilich anders: Die Vertreibungen aus dem Reich zwischen etwa 1390 und 1520 wirkten als Motor einer starken jüdischen Ostmigration in Richtung des polnisch-litauischen Königreichs. Diese Migration hielt weit über das 16. Jahrhundert hinweg noch an. Neue Zentren jüdischen Lebens bildeten sich hier langsam heraus, im Großherzogtum Litauen, in der westlichen Ukraine (Podolien und Wolhynien), aber auch bereits in west- und südpolnischen Städten wie Krakau, Lublin und Posen. Bevölkerungsziffern aus jener Zeit sind grundsätzlich unsicher. Grobe Schätzungen rechnen mit ca. 12 000 Juden im ganzen polnisch-litauischen Staat um 1500; 150 Jahre später war deren Zahl bereits auf ca. 150 000 angewachsen. Von deutlich weniger als 1 Million europäischer Juden lebten in der Mitte des 18. Jahrhunderts mehr als die Hälfte, wahrscheinlich eher drei Viertel (ca. 500 000), in jenem polnisch-litauisch-ukrainischen Raum.26

Dort entfaltete sich ein vielstimmiges jüdisches Leben in unzähligen, vor allem kleinstädtisch-dörflichen Siedlungsformen, bei hoher Entwicklung jüdisch-religiöser Bildung und Eigenkultur und unter Beibehaltung kultureller Überbleibsel, die an die Herkunft aus dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation dauerhaft erinnerten (v. a. des Jiddischen), und ausgeprägter autonomer Gemeindeorganisation.27 Die von den örtlichen Magnaten gewährte rechtliche und kulturelle Autonomie ist zusammen mit den königlichen Privilegien, die das wenig besiedelte, agrarisch strukturierte polnisch-litauische Großreich den jüdischen Migranten überhaupt erst öffneten, zu den Pull-Faktoren zu zählen, die Juden in Richtung Osten ziehen ließen. Dies allein genügte aber nicht; entscheidend war eine soziale Funktion. Juden konnten in die von den adeligen Großgrundbesitzern dringend benötigten Zwischenpositionen einrücken, als Händler und Handwerker zwischen Stadt und Land, und, sozial noch darüber angesiedelt, als Gutsverwalter und Pächter zwischen Adeligen und Bauern. Ohne eigene Machtansprüche stellten sie für die Magnaten keine Konkurrenz dar. Andererseits brachten sie Fähigkeiten mit, die den Magnaten vielfach abgingen: Lese- und Schreibkenntnisse, Erfahrungen im Umgang mit Geld und dessen Verwaltung, Fähigkeiten in Fragen des Handels und Gewerbes. Der loyale Einsatz ihrer ökonomischen und sozialen Kompetenz wurde durch Autonomierechte belohnt. Solange die Juden ihre Aufgaben erfüllten, konnten sie weitgehend ungestört ihr eigenes religiöses und kulturelles Leben führen.28 Entsprach dies dem idealtypischen Modell einer »Integration«?29

Re-Migration seit 1648

Das Zusammenleben zum gegenseitigen Nutzen ging jedenfalls so weit, dass für das 17. Jahrhundert gar von einer »Allianz zwischen Adel und Judentum« im polnisch-litauischen Großreich gesprochen wird.30 Daraus ging eine anhaltende Blüte jüdisch-religiöser, rabbinisch-talmudischer Kultur mit wichtigen Zentren, wie etwa Vilnius, hervor. Der »religiöse Faktor« wirkte weder als entscheidender Push- noch Pull-Faktor; allerdings gewann er als Pull-Faktor im Laufe der Zeit offensichtlich an Bedeutung, je deutlicher für die migrierenden Juden wurde, dass ihnen im polnisch-litauischen Reich religiös-kulturelle Autonomie als eine Art Belohnung dafür gewährt wurde, dass sie bestimmte ökonomische und soziale Funktionen im Sinne der maßgeblichen Kräfte der Mehrheitsgesellschaft zufriedenstellend erfüllten.31

Dieses sozioökonomische Gefüge brach zusammen, als die politische Expansion überzogen wurde. Überdehnungskrisen mehrten sich gegen Mitte des 17. Jahrhunderts; das polnisch-litauische Großreich begann von den Peripherien her zu bröckeln. Der Aufstand der ukrainischen Kosaken 1648 gegen die polnische Adelsherrschaft war mit blutigen Ausschreitungen gegen die jüdischen Gemeinden in der westlichen Ukraine verbunden, denn die dortigen Bauern hassten die Juden, die sie als die Handlanger der adeligen Unterdrücker aus Polen sahen. Von Norden her fielen die Schweden ins polnisch-litauische Großreich ein und verwandelten die Region bis 1660 in den Schauplatz eines Krieges von europäischem Ausmaß.32

Kosakenaufstand und Nordischer Krieg dezimierten die jüdische Bevölkerung Polen-Litauens um ein Viertel und setzten eine neuerliche Migrationsbewegung in Gang, diesmal in Richtung Westen. Jetzt waren Pull- und Push-Faktoren vertauscht: infolge der Ereignisse des 30-jährigen Kriegs hatte sich die Situation im Reich dramatisch verändert; Entvölkerung und Verwüstung bestimmte das Bild. Politisch war ein Machtvakuum entstanden, in das aufstrebende Territorialherrschaften vorstießen. Die kaiserliche Macht war zurückgedrängt. Das Reich war offen für Erneuerung, das Machtvakuum zog an. Wiederum spielten Push- und Pull-Faktoren zusammen.

Zwar war auch die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Kerngebieten des Reiches noch von vielfältigen Mikrowanderungen, wechselnden Ansiedlungen und vorübergehenden Vertreibungen der Juden geprägt (z. B. Worms zwischen 1689 und 1699),33 aber es ergaben sich doch vielfältige neue Chancen für Juden, v. a. dort, wo sich langsam die Höfe konsolidierten und sich der fürstliche Absolutismus mit seinen neuen, materiellen und militärischen Bedarfen etablierte, desgleichen in den aufstrebenden Handelsmetropolen wie Hamburg, Frankfurt/M. und Amsterdam sowie in London, wo Juden seit 1656 wieder zugelassen wurden.34 Neue Funktionen entstanden, und Juden konnten sie erfüllen, etwa durch die händlerisch-unternehmerische Vernetzung von Hof und Handelsstadt. Hieran ließen sich Karrieren knüpfen als Hoffaktoren oder Hofjuden, die den steigenden Finanz- und Ressourcenbedarf, sei es für die Repräsentation, sei es für das Militär der absolutistischen Fürsten befriedigen konnten.35 Wiederum: Juden fanden Akzeptanz, weil sie sich in der Lage zeigten, in soziale und ökonomische Leerstellen einzurücken.

Kosakenaufstand und Nordischer Krieg stießen zwar die jüdische Migrationswelle in Richtung Westen an, konnten aber das jüdische Leben auf polnisch-litauischem Gebiet keineswegs auslöschen. Das polnische Judentum blieb fortan ein eigener bedeutender Faktor jüdischen Lebens in Europa. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts wuchs es auf über 500 000 meist in dörflich-kleinstädtischen Strukturen lebende polnische Juden an. Unter den städtischen Gemeinden sind besonders hervorzuheben im Westen Polens Krakau/Kazimierz (1764/65: 19 300 Juden), weiter östlich Lublin (1764/65: 20 100); nochmals weiter östlich Lemberg (westl. Ukraine, 1764/65 6200).36 Diese große Zahl der polnischen Juden geriet in den Strudel der territorialen Veränderungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, insbesondere der polnischen Teilungen zwischen Russland, Preußen und Österreich.

Doch auch die alte »rheinische Schiene« der deutsch-jüdischen Geschichte erhielt durch die Westmigration nach 1650 neue Impulse. Beispielhaft zu nennen wäre die bereits erwähnte neue Residenzstadt Mannheim mit der Erstansiedlung von Juden 1652. Straßburg, Frankfurt und Worms konnten ihre relativ ungebrochenen, wenngleich freilich nicht immer sehr erfreulichen Traditionen (in Frankfurt etwa die enge »Judengasse«, die durch die höchst restriktive städtische Judenordnung bis hin zur Französischen Revolution aufrecht erhalten wurde)37 fortführen; in Lothringen wuchs eine bedeutende jüdische Gemeinde in Metz heran. Alles in allem konnte die Rheinschiene aber nie mehr zu jener Blüte jüdischen Lebens zurückfinden, wie sie vor den großen Vertreibungen des »langen 15. Jahrhunderts« für diesen Raum kennzeichnend war.38

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