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Brennpunkt Schule

 

Herausgegeben von

 

Fred Berger

Herbert Scheithauer

Wilfried Schubarth

Wilfried Schubarth, Christina Gruhne, Birgitta Zylla

Werte machen Schule

Lernen für eine offene Gesellschaft

Verlag W. Kohlhammer

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

 

 

 

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-028743-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-028744-0

epub:    ISBN 978-3-17-028745-7

mobi:    ISBN 978-3-17-028746-4

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Inhaltsverzeichnis

 

 

  1. Einleitung
  2. »Noch ein Buch über Werte?« Warum die Wertediskussion neue Impulse braucht
  3. 1 »Mehr Werte!« Wertedebatten und ihre Funktionen
  4. 1.1 Wertedebatten haben immer einmal wieder Konjunktur
  5. 1.2 Wertedebatten sind medienwirksam
  6. 1.3 Die Schule als Ort für Wertedebatten – Ein praktisches Fazit
  7. Exkurs: Sind »unsere Werte« bedroht?
  8. 2 Was sind Werte? Wertebegriff, Wertesysteme und Wertepluralismus
  9. 2.1 Der Wertebegriff ist vielschichtig
  10. 2.2 Menschen bauen individuelle und gesellschaftliche Wertesysteme auf
  11. 2.3 Wertesysteme im Zusammenspiel von Wertehierarchien, Normen und Tugenden
  12. Exkurs Wertetheorien – ein Überblick
  13. 3 Sind Werte lernbar? Wertebildung und Erziehung
  14. 3.1 Werteaneignung zwischen Wertebildung und Wertekompetenz
  15. 3.2 Wie kommen wir zu Werten?
  16. 3.2.1 Begriffsvielfalt zwischen Wertekommunikation und Moralerziehung
  17. 3.2.2 Der Wertebildungsprozess
  18. 3.3 Pädagogische Konzepte zur Förderung der Wertebildung
  19. Exkurs Wertebildung im Spiegel der deutschen Gesetzgebung
  20. 4 Was kann die Schule leisten? Der schulische Beitrag zur gesellschaftlichen Wertebildung
  21. 4.1 Die Schule als Teil gesellschaftlicher Wertebildung
  22. 4.2 Formen der schulischen Wertebildung
  23. 4.2.1 Indirekte Formen
  24. 4.2.2 Direkte Formen
  25. 4.3 Ausgewählte Beispiele für eine Förderung der Wertebildung aus der schulischen Praxis
  26. 4.3.1 Schulkultur und ihr Beitrag zur schulischen Werteförderung
  27. 4.3.2 Werteförderung durch Schulfächer
  28. 4.3.3 Fachübergreifende unterrichtliche Ansätze für Werteförderung – Praxisbeispiele
  29. 4.4 Interkulturelle Konfliktfelder in der Schule
  30. Exkurs Über Vorbilder sprechen und selbst Vorbild sein – ein Blick in eine Unterrichtsstunde
  31. 5 Verfallen Werte? Wertewandel und mögliche Folgerungen für die Schule
  32. 5.1 Wertewandel, Wertepluralismus, Werteverfall
  33. 5.2 Werte-Mix und Neo-Konventionalismus statt Werteverfall
  34. 5.3 Generation X, Y, Z?
  35. 5.4 Wertewandel und Folgerungen für die pädagogische Arbeit
  36. Exkurs Wertvorstellungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund
  37. 6 Plädoyer für einen konstruktiven Wertedialog in einer pluralistischen Gesellschaft – eine Schlussbetrachtung
  38. Literaturverzeichnis

 

Einleitung

 

»Noch ein Buch über Werte?« Warum die Wertediskussion neue Impulse braucht

 

Gemeinsam geteilte Werte sind die Grundlagen für den Zusammenhalt einer Gesellschaft. Gesellschaften sind jedoch nicht starr, sondern vielmehr Entwicklungen und in einer globalisierten Welt auch stetigen, z. T. grundlegenden Veränderungen unterworfen. Die bislang in der Gesellschaft geteilten Werte sind davon nicht ausgenommen. Ihre Gültigkeit wird deshalb immer wieder hinterfragt, sogar verworfen oder zumindest neu ausgehandelt, insbesondere dann, wenn gesellschaftliche Debatten um Wertewandel, Werteverlust oder die Bewahrung alter Werte entflammen.

Die gegenwärtige Wertediskussion braucht neue Impulse und zwar v. a. aus drei Gründen: Erstens ist die Wertedebatte oftmals durch Konjunkturen und hitzige Kontroversen geprägt, weshalb eine Versachlichung und Differenzierung notwendig erscheint. Zweitens verläuft die bisherige Debatte meist eher oberflächlich. Die in den letzten Jahren gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse und in der Praxis erprobten Ansätze der Wertebildung kommen zu kurz oder sie besitzen noch zu wenig Strahlkraft für die Praxis, weshalb deren ausführliche Darstellung und Diskussion erforderlich ist. Und drittens hat die Zuwanderung, insbesondere von Geflüchteten, zu einer Renaissance der Wertedebatte und zu neuen Herausforderungen für die Werteerziehung und Wertebildung geführt.

Angesichts einer Gegenwart, die durch zunehmenden Wertepluralismus – noch verstärkt durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen durch die Flüchtlingswanderungen – gekennzeichnet ist, steigen die Anforderungen an Werteerziehung und Wertebildung der heranwachsenden Generation. Dabei kommt der Institution Schule zentrale Bedeutung zu. Dem wachsenden Bedarf an Wertesensibilisierung und Wertebildung einerseits steht andererseits eine gewisse Verunsicherung bzw. Unkenntnis hinsichtlich pädagogisch angemessener Methoden und Wege der Wertebildung sowie der Förderung prosozialer Werte unter Lehrkräften und Elternschaft gegenüber.

Das Buch will dazu beitragen, diese Lücken zu schließen und neue Impulse zur Wertediskussion zu geben, indem es sowohl theoretische als auch praktische Aspekte der Wertebildung miteinander verbindet. So werden in den ersten Kapiteln ausgehend von der Wertedebatte begrifflich-theoretische und empirische Grundlagen dargestellt (vgl. Kap. 1 und 2). Darauf aufbauend werden in den nachfolgenden Kapiteln – auch anhand konkreter Fallbeispiele – bewährte Konzepte und good-practice-Beispiele mit Blick auf die Schule beschrieben und diskutiert (vgl. Kap. 3 und 4). Dabei wird auf die Rolle der Lehrkraft ebenso eingegangen wie auf die Wertorientierungen und den Wertewandel bei Jugendlichen, einschließlich bei Migrantenjugendlichen (vgl. Kap. 5). Einen besonderen Stellenwert nehmen im Band Wertekonflikte, z. B. aus kulturellen oder religiösen Gründen, und der Umgang mit ihnen ein. Damit wird einem aktuellen Bedürfnis vieler Lehrkräfte entsprochen. Der Band wird abgeschlossen mit einem Fazit und einem Plädoyer für einen konstruktiven Wertedialog in einer pluralistischen Gesellschaft (vgl. Kap. 6).

Das Buch richtet sich demnach an Lehrkräfte, (Sozial-)Pädagogen und Vertreter1 der Bildungsadministration, Studierende und Dozenten in der Lehrerbildung, aber auch an Eltern und eine interessierte Öffentlichkeit.

Abschließend möchten wir uns bei Dr. Klaus-Peter Burkarth für die umfassende Unterstützung von Seiten des Kohlhammer Verlags sowie bei Melanie Wippermann und Benjamin Apostolow für das abschließende Korrekturlesen bedanken. Besonderer Dank geht auch an Ulli Gröger, der den Exkurs zur Thematik »Wertvorstellungen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund« erarbeitet hat, sowie an Prof. Fred Berger für wertvolle Hinweise und Anmerkungen zum Manuskript.

Möge der Band der notwendigen Debatte um »Werte und Schule« neue Impulse verleihen.

Potsdam und Oranienburg, im Herbst 2016

Wilfried Schubarth, Christina Gruhne und Birgitta Zylla

1     Im Folgenden wird aus Gründen der Texteffizienz und des Leseflusses generell das generische Maskulinum genutzt. Selbstverständlich sind damit immer beide Geschlechter gemeint. Im Einzelfall kann durch explizite Nennung beider geschlechtsspezifischer Formen hiervon abgewichen werden.

 

 

1

»Mehr Werte!« Wertedebatten und ihre Funktionen

 

Am ersten Tag des neuen Schuljahres steht eine junge Lehrkraft etwas hilflos vor ihrer Klasse. Sie hatte ihre Schüler/-innen wie gewohnt nach den Ferien mit einer Ankommensrunde begrüßt. Die Viertklässler erzählen von ihren Erlebnissen aus den letzten Wochen. Doch die Dominanz eines Themas überrascht die Lehrkraft. Es sind die Bilder von Flüchtlingsbooten vor der griechischen Küste, von überfüllten Lagern und von Fliehenden, die hunderte Kilometer zu Fuß zurücklegen, wovon die Kinder durch die Medien erfuhren. Sie erzählen von ihren Eltern, die Kleider spendeten, von Nachbarn, die sich im Italienurlaub unwohl fühlten, wenn sie an der Küste die vielen Flüchtlingsboote sahen, oder von ihren Großeltern, die nun pure Angst hätten und im Dunkeln nicht mehr auf die Straße gehen würden. Die Lehrkraft fragt sich, wie ihr das passieren konnte. Hätte sie damit gerechnet, dass sich ihre Schüler/-innen an der aktuellen Situation so interessiert zeigen würden, wäre sie jetzt besser vorbereitet. Doch sie hatte es einfach nicht für möglich gehalten, dass Neunjährige die gesellschaftliche Debatte in ihren Unterricht tragen würden.

Der Schuljahresbeginn 2015 verläuft in Deutschland in gewohnten Bahnen – und doch ist alles auf eine besondere Art anders. Schüler/-innen aller Klassenstufen sowie Lehrkräfte bringen aus den Sommerferien nicht nur braungebrannte Gesichter mit, sondern auch eine hitzige Debatte – eine Debatte um Kriegs- und Armutsflüchtlinge, um offene und geschlossene Grenzen, eine Debatte um Asylrecht und Abschiebung, um Schulpflicht für Kinder ohne Sprachkenntnisse und um eine Willkommenskultur und Pegida-Demonstrationen. Es ist nicht verwunderlich, dass im Herbst 2015 in den deutschen Medien angesichts der Tausenden Flüchtlinge, die Tag für Tag ins Land wandern, der Ruf nach einer neuen Wertedebatte laut wird. Vor den Schultüren macht eine solche in der Gesellschaft intensiv geführte und in den Medien dominante Auseinandersetzung nicht Halt.

Im Zentrum dieses Kapitels stehen daher verschiedene Wertedebatten und ihre Funktionen. Eingangs wird auf die Konjunktur dieser Debatten (vgl. Abschnitt 1.1) und deren Medienwirksamkeit (vgl. Abschnitt 1.2) Bezug genommen. Nachfolgend wird die Schule als Ort für Wertedebatten betrachtet (vgl. Abschnitt 1.3). Abschließend erfolgt ein Exkurs zur Thematik »Sind ›unsere Werte‹ bedroht?«.

1.1       Wertedebatten haben immer einmal wieder Konjunktur

 

Brauchen wir eine Leitkultur? Muss die Europäische Union einheitliche Grundwerte gesetzlich verankern? Ist der Toleranzbegriff streitbar? Fragen dieser Art wurden in den letzten Jahren immer wieder auf das politische Parkett gebracht. In der gesellschaftlichen Debatte finden sich jedoch – nicht weniger hitzig diskutiert – auch Fragen wie diese: Hat unsere Jugend noch Werte? Brauchen wir Benimmunterricht als Schulfach? Ist die Verwahrlosung der Jugend noch aufzuhalten?

Wenn gesamtgesellschaftliche Diskussionen zu diesen Fragen geführt werden, wird schnell der Begriff Wertedebatte bemüht. Landläufig verbirgt sich dahinter der Wunsch nach einheitlichen Wertvorstellungen, auf die sich eine Gemeinschaft mit dem Ziel eines gelingenden Zusammenlebens einigen kann. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Wertedebatten immer gerade dann Konjunktur erfahren, wenn die eigene Gemeinschaft in besonderem Maße bedroht zu sein scheint. Was heißt das aber? Worin genau liegen die tieferen Ursachen für die konjunkturellen Wertedebatten? Als Antwortmöglichkeit lassen sich vier Funktionen gesellschaftlich geführter Wertdebatten wie folgt benennen (vgl. Schubarth 2010):

•  Die Wertedebatte ist erstens eine Symboldebatte, mittels derer (politische) Akteure versuchen, ihre Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Da die Ursachen für viele soziale Probleme und Missstände zumindest kurzfristig nicht zu beseitigen sind, bietet der Ruf nach Werten eine scheinbare Alternative. Zudem bedienen einfache Lösungen die Sehnsucht vieler Menschen nach Sicherheit.

•  Die Wertedebatte ist zweitens eine reaktive Debatte, d. h. eine Reaktion der Gesellschaft auf die Unsicherheit über den Wertewandel und den Wertepluralismus. Sie ist quasi ein Hilferuf nach Halt aufgrund des Unbehagens am Leben in einer sich beschleunigenden und komplexer werdenden Welt.

•  Sie ist drittens eine Abgrenzungsdebatte i. H. auf das Generationenverhältnis, indem die ältere Generation durch Abgrenzung von der jüngeren Generation sich ihrer eigenen identitätsbildenden Werte zu vergewissern sucht und damit ihre Eigengruppe auf Kosten einer Fremdgruppe aufwerten will.

•  Insofern ist die Wertedebatte viertens auch eine Tugenddebatte mit der Funktion, die jüngere Generation durch das Vorgaukeln scheinbarer Sicherheiten wie »alter« Werte (z. B. Gehorsam, Autorität, Disziplin) unter Druck zu setzen. Durch eine Art »Moralkeule« werden Verständigungs- und Dialogversuche unterdrückt.

Die ersten beiden benannten Funktionen zeigen sich am Beispiel der Debatte um Flüchtlinge. Als im Herbst 2015 mehr und mehr deutlich wird, wie schwierig sich bei den starken Flüchtlingswanderungen Einreise, Aufnahme, Bearbeitung von Asylanträgen, medizinische Versorgung, Schul- und Ausbildung usw. erweisen, schlägt die Debatte um »unsere Regeln«, um »unsere Sitten und Gebräuche« hoch (vgl. Exkurs, Kap. 1). Das Zusammenleben in der Gesellschaft wirkt nach Medienberichten plötzlich stark bedroht (Bock 2015):

»Mit den Flüchtlingen kommt die Angst der Deutschen: vor Parallelgesellschaften, vor Entfremdung im eigenen Land. Die Debatte um eine »Leitkultur«, der sich Flüchtlinge anpassen müssen, ist wieder voll entbrannt«.

Die unter drittens und viertens benannten Funktionen besitzen besondere Relevanz für die Schule. Mit Forderungen nach einer Wertebildung in der Schule i. S. einer Vermittlung »alter Werte« werden Pädagogen fortlaufend einmal mehr oder weniger intensiv konfrontiert. Das verwundert nicht, sind doch mit der jungen Generation immer auch Zukunftshoffnungen bzw. -ängste einer gesamten Gesellschaft verbunden. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass die konjunkturellen Klagen der älteren über die vermeintliche Verwahrlosung der Jugend alles andere als neu sind: Ob in der Antike oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Herausbildung von Jugend als gesellschaftliches Phänomen, ob in der deutschen Nachkriegsgeschichte (z. B. die sog. Halbstarken-Debatte, 1968er Debatte) oder in der jüngsten Geschichte (z. B. die Debatten zur Jugendgewalt) – es sind stets ganz ähnliche Reaktionsmuster. Dabei ertönt immer wieder der Ruf nach (alten) Werten, nach mehr »Wertevermittlung« oder nach mehr Autorität und Disziplin (vgl. dazu auch Kap. 5).

1.2       Wertedebatten sind medienwirksam

Im Zeitalter schneller und fast unbegrenzter Kommunikationsmöglichkeiten werden Wertedebatten längst nicht mehr nur von Fachleuten öffentlich geführt. Menschen aller Bevölkerungsschichten besitzen die Möglichkeit, sich zu Themen jeder Art schnell und unbegrenzt zu äußern. Verschärfend kommt hinzu, dass seit dem Einzug der elektronischen Massenmedien und der immensen ökonomischen Konkurrenz um Aufmerksamkeit eine Wertedebatte rasch zu einem »Medienereignis« wird. Die Medien verwerten – entsprechend ihrer Werte – extreme, polarisierende Ereignisse oder Positionen, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Da bietet ihnen die Wertedebatte mit ihrem breiten Spektrum an Emotionen, Ängsten, Konflikten, Kontroversen und Vorurteilen reichlich Gelegenheit. Das hat auch Bedeutung für die Schule.

Wie die Lehrkraft im oben genannten Beispiel erfahren musste, darf der Einfluss der Medien auf Schüler/-innen aller Altersstufen nicht unterschätzt werden. Sowohl durch schnelle Kommunikationsmöglichkeiten in sozialen Netzwerken als auch durch traditionelle Medien wie Rundfunk und Fernsehen informieren sie sich und nehmen passiv oder sogar aktiv an den gesellschaftlich geführten Debatten teil. Lernende kommen dann in den Unterricht mit Argumenten, für die sie aus den Medien Beweise anführen und sich daraus Werturteile bilden. Aus diesem Grund sehen sich Lehrkräfte nicht selten in Konkurrenz zum medialen Umfeld ihrer Schüler/-innen. So resümiert Renate Köcher, Leiterin des Instituts für Demoskopie in Allensbach, eine repräsentative Befragung unter Eltern und Lehrkräften wie folgt (Vodafone-Stiftung 2011: 6):

»Die Schulen haben aus Sicht der Bevölkerung einen umfassenden Bildungsauftrag. Erwartet wird nicht nur die erfolgreiche Vermittlung von Wissen, sondern genauso die Vermittlung von Werten und Persönlichkeitsbildung, wie die Erziehung zur Hilfsbereitschaft und Teamfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Höflichkeit, Selbstbewusstsein, Disziplin […]. Die Lehrer […] akzeptieren diesen Auftrag. 87 Prozent der Lehrer zählen die Vermittlung von Wertvorstellungen und Persönlichkeitsschulung zu ihren zentralen Aufgaben. Die Möglichkeiten, diesem Anspruch gerecht zu werden, beurteilen sie allerdings skeptisch. Die Schulen sind eine Sozialisationsinstanz unter mehreren. Viele Lehrer schätzen dementsprechend ihre eigenen Einflussmöglichkeiten im Vergleich zu dem Einfluss der Medien, der Gleichaltrigen und der Eltern eher gering ein«.

1.3       Die Schule als Ort für Wertedebatten – Ein praktisches Fazit

Gesellschaftlich geführte Wertedebatten lassen sich nicht vor die Schultür sperren. Jede Schülerpersönlichkeit betritt das Schulgelände mit einem »Rucksack« eigener Erfahrungen, Erlebnisse, Überzeugungen, Einstellungen und somit also auch Werten. Sie kommen aus unterschiedlichen Kulturen und sozialen Milieus oder gehören verschiedenen Religionen an. Sie erfahren unterschiedliche Erziehungsstile, lesen Märchenbücher oder lieber Horrorgeschichten, informieren sich über aktuelle Ereignisse im Online-Ticker oder greifen ab und zu einmal zu Opas Bildzeitung. Das alles bringen sie mit in die Schule und führen auf dem Pausenhof Gespräche mit ihren Mitschülern/-innen darüber. All das sollte auch Platz im Unterricht haben. Damit jedoch nicht einfach nur die verschiedenen Einstellungen aufeinanderprallen, Vorurteile dadurch vielleicht sogar verstärkt werden und fremdenfeindliche oder inhumane Auffassungen sich verhärten, werden im Folgenden Möglichkeiten aufgeführt, auf welche Weise Wertedebatten in unterrichtliches Handeln eingebunden werden können:

•   Ein Klima der Offenheit ermöglichen: Die Lehrkraft der vierten Klasse in der Beispielgeschichte ist einen pädagogisch wichtigen Schritt gegangen. Sie eröffnete den Schüler/-innen einen Gesprächsraum, in dem eine gesellschaftlich geführte Debatte einbezogen werden konnte, wenn die Lernenden dies wollten. Nun ist es der Lehrkraft eher unbeabsichtigt gelungen, dennoch handelt sie richtig, wenn sie die Diskussion zum Thema Flüchtlinge nicht abbricht.

•   Wertedebatten zum Unterrichtsgegenstand machen: Im benannten Fall ergibt sich für die Lehrkraft die Chance, die Diskussion zum Unterrichtsthema werden zu lassen, indem sie es didaktisch aufbereitet wieder aufgreift. Es könnte auch in Absprache mit den Fachkollegen an Fächer wie Deutsch, Gesellschaftskunde, Sachkunde, Geografie, Ethik, Religionsunterricht oder Politische Bildung weitergegeben werden und dort methodisch und inhaltlich aufbereitet Gegenstand des Unterrichts sein. Dazu lassen sich Materialien aus unterschiedlichen gesellschaftswissenschaftlichen Fächern nutzen. Themenkreise wie »Heimat und Fremde«, »Armut, Krieg, Hunger« oder aus den Bereichen des Interkulturellen/Transkulturellen Lernens sind hier gewinnbringend.

•   Schulung der Debattierfähigkeit: Die Vermittlung der Techniken des Argumentierens wird oft den Lehrkräften im Fach Deutsch überlassen. Doch eine klare Behauptung zu formulieren, diese mit überzeugenden Argumenten und stimmigen Beispielen zu belegen, ist eine fächerübergreifende Fähigkeit. Zum Führen guter Debatten gehört auch das Wissen um die Regeln des Miteinander-Sprechens. Vom aktiven Zuhören über das Einander-Aussprechen-Lassen bis hin zum Leiten von Diskussionsrunden2.

•   Fächerübergreifende Schulung in Medienkunde: Ein sicherer Umgang mit Medien bedeutet nicht nur, dass Schüler/-innen ein gutes technisches Verständnis für die vielfältige Nutzung besitzen. Um selbstbestimmt, kritisch und reflexiv mit Medien umgehen zu können, sollten Lernende in der Lage sein, die Mechanismen der Bildmanipulation, der Hyperbolik, der Rhetorik usw. zu durchschauen. Dabei geht es nicht nur um die neueren Medien. Auch Printmedien wie Werbemedien, Flyer usw. sollten wieder stärker in den Blick genommen werden.3

Exkurs: Sind » unsere Werte« bedroht?

Angesichts starker Flüchtlingswanderungen seit dem Sommer 2015 scheinen sich die Menschen in Deutschland des Eindrucks kaum erwehren zu können, dass unsere Gesellschaft vor einer Zeitenwende stünde. Die Atmosphäre ist emotional aufgeladen und hitzige Debatten werden auf allen gesellschaftlichen Ebenen laut. Dabei geht es um nichts weniger als um » unsere Werte«. Viele Menschen sehen diese bedroht und rufen zu deren Verteidigung auf. Eine Wertedebatte entflammt neu. In diesen Debatten, die mitunter hohe Wellen schlagen, scheint es jedoch angeraten, einen kühlen Kopf zu bewahren und sich die Frage zu stellen: Wer ruft eigentlich und warum nach welchen Werten? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

Wer ruft warum nach welchen Werten?

Der Ruf nach Werten wird durch die Flüchtlingswanderungen gleich in mehrerer Hinsicht laut: Da sind bspw. die »besorgten Bürger«, à la Pegida, die selbst ernannten »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«. Die Anhänger dieser Bewegung sehen durch die anhaltende Flüchtlingszuwanderung das christliche Abendland bedroht und wollen dessen Werte verteidigen. Welche Werte damit genau gemeint sind, bleibt unklar. Christliche Werte wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Mitgefühl können damit kaum gemeint sein, vielmehr zeigen sich in deren Auftreten Nationalismus, Fremdenhass und Intoleranz. Mit dieser Stimmungsmache wird zugleich der Boden bereitet, auf dem Gewalt gegen Asylbewerber und deren Heime sowie gegenüber Andersdenkenden gedeihen kann. Insofern stellen solche rechtspopulistischen Bewegungen eine ernste Gefährdung des friedlichen Zusammenlebens in Deutschland, wie in Europa generell, dar. Sie sind zugleich eine Herausforderung für die Demokratie, auch für die Wertebildung in der Schule (vgl. Abschnitt 3.3).

Mit der Flüchtlingszuwanderung ist noch eine weitere Wertedebatte verknüpft, die sich von der eben genannten unterscheidet. Dabei geht es um die Frage, wie vor dem Hintergrund unterschiedlicher religiöser und kultureller Werte die Integration der Zugewanderten in die deutsche Gesellschaft gelingen kann. Die damit verbundenen Ängste sind vielfältig: Angst vor patriarchalischen Frauenbildern, wachsendem Antisemitismus, religiösem Fanatismus oder vor Parallelgesellschaften. Die Frage, inwieweit Anpassung an »deutschen Werte« notwendig sei, wird kontrovers diskutiert. Fünfzehn Jahre nach der ersten Debatte um eine »deutsche Leitkultur« hat damit eine neue Leitkulturdebatte begonnen. Doch die alten Fragen bleiben: Was ist eine Leitkultur in einer kulturell vielfältigen Gesellschaft? Sind damit die angeblich deutschen Tugenden wie Ordnung, Sauberkeit oder Fleiß gemeint, die spätestens mit der 1968er Generation kritisch hinterfragt wurden? Oder die oft beschworene deutsche Wertarbeit, die nach den zahlreichen Skandalen zunehmend ins Wanken geraten ist? Oder sind christliche Werte gemeint, die in der heutigen, säkularisierten Gesellschaft zunehmend an Bedeutung verlieren.

Dessen ungeachtet: Am ehesten wird »deutsche Leitkultur« wohl mit der Orientierung am Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschlands in Verbindung gebracht. Doch auch hier wäre zu klären: Welche Werte sind genau gemeint und was bedeutet dies in konkreten Situationen? Die vielen Integrationsbemühungen in dieser Hinsicht, z. B. die Verbreitung einer arabischsprachigen Fassung des Grundgesetzes, werden nicht ausreichen, um demokratische Bürger zu erziehen. Allein ein ungetrübter Blick auf Jahrzehnte lange Bildung und Erziehung zu mündigen, gemeinschaftsfähigen Bürgern in Deutschland zeigt die Grenzen politischer Bildung und Erziehung angesichts von Extremismus und Gewalt.

Und auch eine mögliche Erweiterung einer »deutschen Leitkultur« auf eine europäische Ebene hilft nicht weiter. So zeigt sich die Flüchtlingsthematik eher als eine europäische Krisensituation, die offenbart, dass bei aller sonstigen Beschwörung der Europäischen Gemeinschaft als Wertegemeinschaft die »europäischen Werte« letztlich auch nationalen, wirtschaftlichen Interessen der einzelnen Länder unterworfen scheinen. Bis zu einer tatsächlichen europäischen Wertegemeinschaft, die mehr ist als eine ökonomische (Werte-)Zugewinngemeinschaft, ist es offenbar noch ein längerer Weg.

Mit dem Ruf nach Bewahrung »europäischer Werte« ist schließlich noch eine weitere Debatte verbunden. Seit den islamistischen Terrorakten in Paris und anderen Orten sehen viele die »europäischen Werte«, die Freiheitswerte oder die westliche Lebensweise bedroht. In den Terroranschlägen wird ein Angriff auf »unsere europäischen Werte« gesehen und zur Verteidigung dieser Werte aufgerufen. Glaubt man Politikern, befinden wir uns seitdem im Krieg. Das Problem dabei ist, dass auch hier nicht klar wird, was mit »europäischen Werten« gemeint ist und diese zudem an eine Region bzw. Kultur geknüpft werden, als seien Freiheitswerte ein Privileg (West-)Europas. Die Konstruktion von Wertebindung an Regionen oder Kultur erinnert an die Kontroverse um den »Kampf der Kulturen« (Huntington). Es ist offenkundig, dass eine Debatte, die die Werte mit kultureller oder religiöser Herkunft verknüpft, potenzielle Bündnispartner ausschließt, was den Kampf gegen den Terror erschwert.

Was lässt sich aus dem Genannten ableiten?

Wenn in Zeiten großer Zuwanderung Debatten um »Leitkultur« und »unsere Werte« wieder aufflammen, so zeigen sich die Merkmale, denen Wertedebatten folgen (vgl. Abschnitt 1.2): auch eine Leitkultur-Debatte ist zunächst Ausdruck einer Verunsicherung über den Wertewandel und den zunehmenden Wertepluralismus (vgl. Kap. 2), sie ist ein Hilferuf nach Halt in einer Welt, die durch fremde kulturelle Einflüsse aufgrund von Einwanderung in der eigenen Kultur bedroht zu sein scheint. Daneben wird auch eine solche Wertedebatte häufig symbolisch geführt, wenn gesellschaftliche Akteure den Diskussionsraum nutzen, um sich zu profilieren und ins Gespräch zu bringen. Und schließlich verweist auch die Rhetorik (» unsere Werte«) einer solchen Leitkultur-Debatte auf die Absicht der Abgrenzung. Andere Gruppen werden auf diese Weise aus dem eigenen Wertekreis ausgeschlossen. Die »Wertegegner« sind dabei austauschbar: Fremde, Muslime, Andersdenkende u. a. Ein solches dualistisches Weltbild, das ein »wir« und die »anderen« konstruiert, erschwert den Wertedialog.

Stellt sich eine Gesellschaft in Krisenzeiten einer Werte-Debatte, so kann dies einerseits wie eine Welle hochschlagen, die Gemüter erhitzen und nach einer Weile wieder wirkungslos abebben. Eine gesellschaftlich geführte Werte-Debatte besitzt andererseits auch Potential, die Problemlage in eine echte Auseinandersetzung zu überführen, die eine gemeinsame, dem gemeinschaftlichen Wohl dienende Lösung im Blick hat. Für einen solchen möglichen Weg sei abschließend auf drei Punkte verwiesen:

•   Erstens, reicht es bei Konflikten nicht aus, nach »unseren Werten« zu rufen. Unter »unsere Werte« versteht offenbar nicht jeder das Gleiche. Menschen haben unterschiedliche Werte und auch unter ein und demselben Wert, z. B. Toleranz, kann ganz Unterschiedliches verstanden werden. Deshalb ist die konkrete Verständigung über den jeweiligen Wert oder den Wertekonflikt notwendig.

•   Zweitens braucht es in einer pluralistischen Gesellschaft eine angemessene Streitkultur, um über Werte und Wertekonflikte zu streiten. Eine solche konstruktive Streitkultur ist erst in Ansätzen erkennbar, mitunter wird sie gar als unerwünscht wahrgenommen.

•   Drittens geht es darum, Konstruktionen wie »unsere Werte« oder »deutsche Leitkultur« zu vermeiden, weil damit andere Gruppen ausgeschlossen werden. Vielmehr geht es darum, das gemeinsam Verbindende, z. B. die Menschenwürde, die Gewaltfreiheit, ins Zentrum zu rücken. Insofern sind Wertedebatten sinnvoll, wenn sie Zusammenhänge und Hintergründe aufklären und gegenüber jeglichen Formen von Menschenverachtung, Extremismus und Gewalt sensibilisieren. Humanistische Werte gilt es dabei nicht nur zu proklamieren, sondern im Alltag zu leben.

2     Weitere Hinweise und Anregungen sind bei Hielscher, Kemmann und Wagner (2014) zu finden.

3     Weitere Hinweise und Anregungen, insbesondere Materialtipps, sind bei Planet Schule (2016) zu finden.

 

 

2

Was sind Werte? Wertebegriff, Wertesysteme und Wertepluralismus

 

Als ein neuer, bereits preisgekrönter Film in die Kinos kommt, wendet sich die Kinobetreiberin einer Kleinstadt an alle weiterführenden Schulen des Ortes und der näheren Umgebung. Sie möchte den oberen Klassen für nur einen Euro pro Schüler/-in an einem Vormittag einen Kinobesuch ermöglichen, um diesen von ihr hoch geschätzten Film sehen zu können. Lehrkräfte erhalten sogar freien Eintritt. Sie selbst, Mutter eines 15-jährigen Neuntklässlers, ist sich sicher, dass die jungen Leute gern einmal einen Vormittag im Kino gegen die Schulstunden nach Plan tauschen. Ganz nebenbei ist die Aktion natürlich auch eine gute Werbung für ihr Kino. Sie entwirft einen Flyer, lässt 100 Exemplare drucken und gibt die Briefpacken zur Post. Doch nichts geschieht. Niemand meldet sich für den Schulkinotag an.

Verwundert nimmt sie sich nach einer Woche Wartezeit das Telefon und ruft in den Schulen an. Sie habe einfach einen ungünstigen Termin gewählt, heißt es dort. Es sei Prüfungszeit. Sportfeste und Klassenreisen stünden ebenfalls an. Nach einigen Telefonaten mit verschiedenen Schulen stellt sich heraus, dass ein guter Zeitpunkt für ihr Vorhaben in der letzten Schulwoche liegen würde. Am besten nach dem Notenschluss. Die Kinochefin freut sich sehr. Nun ist ihr Engagement doch noch erfolgreich. In der letzten Unterrichtswoche, drei Tage vor den Schuljahreszeugnissen herrscht morgens um acht Uhr Hochbetrieb im Kino. Bis auf wenige noch freie Plätze ist der Saal gefüllt. Sogar Popcorn und Cola verkauften sich zu so früher Stunde schon bestens. Zwei Stunden später traut die Kinobetreiberin ihren Augen nicht. Fassungslos steht sie vor einem verwüsteten Kinosaal. Verstreutes Popcorn, vergossene Getränke, Papier und leere Flaschen, wohin man schaut. Einige aufgeschlitzte Kinosessel, mit Stiften beschmierte Sitzlehnen. Sie schluckt sprachlos. Was ist das für eine Jugend, denkt sie. Ohne Respekt vor dem Eigentum anderer, ohne Anstand, ohne Werte! Und was sind das für Lehrkräfte, die so etwas zulassen!

Eine Kinobesitzerin stellt jungen Menschen etwas zur Verfügung, das für sie einen sehr hohen Wert hat – ihr Kino. Das Verhalten der Schüler/-innen sieht sie als Angriff. Ihre Gedanken richten sich jedoch nicht nur gegen das konkrete Handeln der Jugendlichen, sondern sie stellt eine ganze Generation und deren Werte in Frage. Gleichzeitig zweifelt sie am Bildungsauftrag zur (Werte-)Erziehung durch die Lehrkräfte. Für sie steht fest: Dem für sie Wertvollen wird durch »wertelose« Jugendliche keine Wertschätzung entgegengebracht!

In diesem Kapitel wird dem Wertebegriff besondere Beachtung geschenkt. Eingangs wird die Vielschichtigkeit und Komplexität des Begriffs dargelegt (vgl. Abschnitt 2.1 und 2.2). Nachfolgend werden das Zusammenspiel von Wertehierarchien, Normen und Tugenden (vgl. Abschnitt 2.3) sowie die zunehmende Kennzeichnung der Gesellschaft von Pluralismus (vgl. Abschnitt 2.4) erläutert. Abschließend erfolgt ein Exkurs zur Thematik »Wertetheorien«.

2.1       Der Wertebegriff ist vielschichtig

In unserer Alltagssprache sind Werte unmittelbar präsent. Das Wort Wert findet sich in zahlreichen Wortverbindungen. Etwas als wertvoll oder wertlos zu bezeichnen, geht dem Sprecher schnell über die Lippen. Gegenstände werden besonders wertgeschätzt und auch Personen bringen wir Wertschätzung als Form besonderer Anerkennung entgegen. Neben dieser alltäglichen Nutzung begegnen wir dem Begriff auch in politischen Zusammenhängen, z. B. ist die Rede von gesellschaftlichen Grundwerten, von Verfassungswerten oder Elementarwerten. Im Bereich der Wirtschaft, insbesondere in der Finanzsprache treffen wir auf Begriffe wie Geldwert, Güterwert, Aktienwert oder Wertpapiere. Im zuletzt genannten Bereich liegt der sprachliche Ursprung des Begriffs. Etymologisch leitet sich das Wort aus dem althochdeutschen »werd« ab, womit der Wert i. S. des Kaufpreises eines Gegenstandes bezeichnet wurde.

In diesem ursprünglichen Sinne besitzt das Kino im oben genannten Beispiel einen Wert, der klar in einem Geldwert benannt werden kann. Dieser finanzielle Wert ist für die Kinobesitzerin von hoher Bedeutung. Sie wird möglicherweise noch lange an einem Kredit zahlen. Der Verlust des Kinos kann Verlust ihrer Existenzgrundlage bedeuten. Das gilt auch für die Einrichtung. Zerstörte Sitze mindern den materiellen Wert des Kinos. Für die Kinobesitzerin bedeutet es, dass sie den Saal säubern lassen muss, dass die Sitze erneuert werden müssen. Dieser materielle Wert des Gebäudes und der Einrichtung lässt sich in klaren Zahlen bemessen. Doch der ideelle Wert ist ebenfalls nicht zu unterschätzen. Vermutlich ist dieses Kino für sie viel mehr als ein Arbeitsplatz. Vielleicht ein Ort, an dem sie gestalten kann, durch den sie sich einen Traum von einer beruflichen Selbständigkeit erfüllen konnte. Sie bringt also den Einrichtungsgegenständen und dem gesamten Gebäude eine sehr hohe Wertschätzung entgegen, weil diese für sie nicht nur eine materielle Bedeutung besitzen, sondern darüber hinaus eine ideelle – eine für ihre Existenz grundlegende Bedeutung. Das Kinogebäude ist für sie etwas Wichtiges. Besitzerin dieser Einrichtung zu sein, ist ihr sehr wichtig und auch das Kino zu leiten ist eine erfüllende Lebensaufgabe für sie und deshalb von großer Bedeutung. Das heißt, der ursprüngliche Wertebegriff (materieller Wert) hat eine Erweiterung erfahren. Er bezieht sich auch auf die persönliche Bedeutsamkeit, die das als wertvoll Bezeichnete für den einzelnen besitzt.

Verallgemeinernd lässt sich daraus ableiten:

Werte sagen etwas über die Bedeutsamkeit aus, die Menschen einem Gegenstand, einem Zustand oder einer Handlung zuschreiben. Oder anders gesagt: Sie sind Ideen, Vorstellungen, Dinge und Handlungen, die Menschen für wichtig halten.

Die Vielschichtigkeit des Wertebegriffs zeigt sich am oben genannten Beispiel auch durch die Erwartungen, die die Kinobesitzerin an die Schüler/-innen und auch an die Lehrkräfte stellt. Sie geht ganz selbstverständlich davon aus, dass das Verhalten der jungen Besucher sich nach den in der Gesellschaft als angemessen angesehenen Verhaltensweisen ausrichtet. In diesem Falle heißt es: Die Jugendlichen halten Ordnung und beschädigen die Einrichtung nicht. Es heißt für sie auch, die Lehrkräfte achten auf das Einhalten dieser erwarteten Verhaltensweisen. Einen respektvollen Umgang mit dem Mobiliar, vielleicht auch Dankbarkeit für den preiswerten Kinobesuch und den »leichten« Schultag für die Lehrkräfte sieht die Kinobesitzerin demnach persönlich als wünschenswert an. Ebenso können Achtung vor dem Eigentum anderer und Dankbarkeit als gesamtgesellschaftlich wünschenswert bezeichnet werden, weil sie in unserer Gesellschaft als Beispiele für ein gutes Zusammenleben anerkannt sind.

Daraus lässt sich feststellen:

Werte sind Vorstellungen von persönlich wie gesellschaftlich Wünschenswertem (vgl. Kluckhohn 1951).

Nach dem beschriebenen Vorfall übt die enttäuschte Kinobesitzerin auch Kritik an den Lehrkräften, die scheinbar ihrer Verantwortung nicht nachkamen, weil sie das Einhalten selbstverständlicher Verhaltensweisen nicht sicherten. Ihr Argument ist gut zu verstehen. Sie sieht die Pädagogen als Unterstützer in der Werteerziehung in der Pflicht. Ein Eingreifen der Lehrkräfte im beschriebenen Fall, vorausgesetzt sie haben die Zerstörung überhaupt bemerkt, ist nicht nur eine berufliche Pflicht, sondern für die Jugendlichen und den Aufbau ihres eigenen Wertesystems hilfreich. Dieses zu entwickeln und sich bewusst zu machen, ist für jeden Einzelnen und für die Gesellschaft insgesamt eine hohe Anforderung.