Die wahre Geschichte von McDonald’s


Erzählt von Gründer Ray Kroc 


mit Robert Anderson

Die wahre Geschichte von McDonald’s


Erzählt von Gründer Ray Kroc



Mit Robert Anderson

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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3. Auflage 2020

© 2017 by FinanzBuch Verlag,

ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

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Fax: 089 652096

Die englische Originalausgabe erschien 1987 bei St. Martin’s Paperbacks edition unter dem Titel »Grinding it Out. The Making of McDonald’s«. © 1977 by Ray Kroc. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Almuth Braun

Redaktion: Werner Wahls

Korrektorat: Hella Neukötter

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Satz: Digital Design, Eka Rost

Druck: CPI books GmbH, Leck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-95972-057-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-094-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-095-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Nachwort: Ray A. Kroc

Nachwort: Robert Anderson

Die Geschichte von McDonald’s – erzählt von dem Mann, mit dem alles begann!

»In ausführlicher, pikanter Detailgenauigkeit erzählt er uns, wie er es geschafft hat!«

NASHVILLE TENNESSEAN

»Für alle, die viele persönliche Einzelheiten und unzählige großartige Unternehmensgeschichten wollen, ist dieses Buch eine gute Lektüre!«

HOUSTON POST

»Er erzählt seine Geschichte wie ein Trommelfeuer, das den wahren Kroc erstrahlen lässt.«

SAN DIEGO UNION TRIBUNE

»Auf jeder Seite dieser ehrlichen, witzigen Vom-Tellerwäscherzum-Millionär-Geschichte warten Überraschungen.«

BOSTON MORNING GLOBE

Meine Frau Joni teilt mit mir die Freude, dieses Buch allen unseren Freunden in der McDonald’s-Familie zu widmen, die auf so großartige Weise zum Erfolg dieses Unternehmens beigetragen haben.

Er durchsucht die Mülleimer seiner Wettbewerber, er staucht seine San Diego Padres öffentlich über die Lautsprecheranlage des Stadions zusammen; diejenigen, die ihn kennenlernen, sind entweder vollkommen begeistert oder total entnervt. Aber selbst seine Feinde stimmen zu, dass es drei Dinge gibt, die Ray Kroc verdammt gut kann: Hamburger verkaufen, Geld verdienen und Geschichten erzählen.

Vorwort

»Die Chancen in den USA sind tot!« »Das Steuersystem hat jeden Anreiz vernichtet!« Wie oft habe ich in den vergangenen 30 Jahren solche Klagen gehört, wo in derselben Zeit größere Vermögen geschaffen und ein höherer Lebensstandard erreicht wurde als je zuvor!

Diejenigen von uns, die an Business Schools Kurse mit Titeln wie »Unternehmertum« oder »Neues Unternehmensmanagement« unterrichten, wissen, dass eine derartige Untergangsstimmung unbegründet ist. Wir verwenden im Unterricht Fallstudien auf Basis realer Beispiele für individuellen Erfolg, die durch das Unternehmenswachstum bestätigt werden.

Bisweilen taucht eine einzigartige, energiegeladene Persönlichkeit wie Ray A. Kroc auf, die Verkörperung einer klassischen Figur, wie sie Horatio Alger, der Bestsellerautor von Groschenromanen über den Aufstieg armer, aber fleißiger Jungen, nicht besser hätte beschreiben können, der das, was wir unterrichten, durch praktische Umsetzung illustriert und die Lamentierer eines Besseren belehrt. McDonald’s, Ray Krocs Autobiografie, die zugleich die Geschichte des McDonald’s-Konzerns ist, ist eine dramatische Widerlegung all derjenigen, die glauben, dass wagemutige Menschen nicht mehr länger angemessen belohnt werden. Sie erinnert uns daran, dass überall Chancen warten, und dass es einzig und allein darauf ankommt, sie zu ergreifen und zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Natürlich hilft ein Quäntchen Glück, aber das zentrale Element, das viele Menschen in unserer Wohlstandsgesellschaft vergessen haben, ist immer noch die harte Arbeit.

Ray Kroc besuchte unseren Unterricht an der Amos Tuck School of Business Administration auf dem Campus des Dartmouth College im Jahr 1974 und kehrte zwei Jahre später, im Mai 1976, mit mehreren seiner wichtigsten Führungskräfte – darunter Fred Turner, President und CEO von McDonald’s – zurück. (Schon die Umstände dieses zweiten Besuchs demonstrierten die Qualität der Energie und Entschlossenheit, die Krocs Unternehmenskarriere stets gekennzeichnet hat: Als der örtliche Flughafen wegen eines schweren Schneesturms geschlossen werden musste, beorderte der unerschrockene Mr. Kroc einen Firmenbus von McDonald’s aus seiner Bostoner Unternehmenszentrale dorthin, der die gestrandeten Führungskräfte durch den Sturm chauffierte.)

Mit entwaffnender Offenheit gelang es Ray Kroc, sein Publikum aus bestausgebildeten MBA-Kandidaten zu begeistern und in beeindrucktes Staunen zu versetzen. Bei seinen beiden Besuchen bereicherte er die Studenten mit seiner Lebensgeschichte, die zugleich die Geschichte des McDonald’s-Konzerns ist, indem er in konzentrierter Form schilderte, was er später in größerer Ausführlichkeit in seiner Autobiografie beschrieb. Er beantwortete alle Fragen der Studenten, wobei er in seinen Vorlesungen und Diskussionen genau die Qualitäten an den Tag legte, die ihn zu einer modernen Unternehmenslegende gemacht haben: seine kompromisslose Geschäftsphilosophie, seine fast zwanghafte Treue zu den grundlegenden operativen Strategien, die auf den Familienmarkt ausgerichtet waren, seine Betonung solch grundlegender Qualitäten wie Höflichkeit, Sauberkeit und Service, und seine unerschütterliche Loyalität zu seinen Mitarbeitern, vor allem denjenigen, die von Beginn an dabei waren. Seine Vorträge machten seinen Humor, seine ausgeprägte Wettbewerbsorientierung, seine Bereitschaft zu harter Arbeit und seine feste Überzeugung deutlich, dass jeder in den USA jedes vernünftige Ziel erreichen oder sogar übertreffen kann. Mr. Kroc ist eine dieser seltenen Persönlichkeiten, die sowohl das Charisma eines außergewöhnlichen Führers und Verkäufers besitzen als auch die Leidenschaft für Details, wie sie ein fähiger Verwalter hat.

Man muss Ray Kroc nicht lange zuhören, um zu erkennen, dass McDonald’s – der Titel, den er für seine Autobiografie gewählt hat – keine humorvolle Anspielung auf die Zubereitung des berühmtesten McDonald’s-Produkts ist. Vielmehr ist der Titel Ausdruck der mehr als 30-jährigen Lehrzeit, in der Mr. Kroc als Verkäufer und Verkaufsmanager für andere und später in seinem eigenen kleinen Unternehmen arbeitete. Die große Chance seines Lebens tauchte erst 1954 auf, als er bereits 52 Jahre alt war – ein Alter, in dem viele Führungskräfte bereits beginnen, über die Annehmlichkeiten des Ruhestands nachzudenken. McDonald’s erinnert den Leser auch an die ungeheuren Investitionen an Zeit, Energie und Kapital, die notwendig waren, um McDonald’s zu seiner aktuellen Vormachtstellung in der Fast-Food- und Franchising-Industrie zu verhelfen.

Im historischen Jahr 1976 – im 22. Jahr seines Bestehens – überstiegen die Gesamtumsätze des McDonald’s-Konzerns erstmalig die Milliarden-Dollar-Grenze. Um diese Leistung angemessen zu würdigen, muss man sich vor Augen führen, dass IBM, das zur selben Zeit als ausgesprochen wachstumsstarkes Unternehmen galt, die Milliarden-Dollar-Schwelle erst im 47. Jahr seit Unternehmensgründung – genauer gesagt, im Jahr 1957 – erreichte. Und Xerox, ein weiterer Konzern, der damals für sein starkes Wachstum berühmt war, brauchte 63 Jahre, bis er 1969 in den Club der Milliarden-Dollar-Unternehmen aufrückte. Polaroid wurde zwar bereits 1937 gegründet, hatte diese Marke im Jahr 1976 aber noch nicht erreicht. Trotz der Veränderungen des Preisniveaus, die seit der Gründung der Xerox Corporation im Jahr 1906 stattgefunden haben, bieten die Absatz- beziehungsweise Umsatzstatistiken ein Gefühl für die Proportionen des beispiellosen Wachstums von McDonald’s und die Erfolgsgeschichte dieses Unternehmens.

Zwar ist diese Unternehmensgeschichte allein schon faszinierend, dennoch ist sie nur eine Facette dieses Buches. Die Methoden, die McDonald’s unter Ray Krocs Führung eingeführt oder perfektioniert hat, haben die gesamte Massengastronomie revolutioniert, die Essgewohnheiten auf der ganzen Welt verändert und die Kundenerwartungen gesteigert. Wer von uns hat heute noch Verständnis für einen langsamen Service, überteuerte Mahlzeiten, fetttriefende Pommes frites oder mangelnde Sauberkeit in Restaurants?

Krocs Buch liefert nicht nur faszinierende Memoiren, sondern auch eine begrüßenswerte Ergänzung der allgemeinen Unternehmensliteratur. McDonald’s wird für diejenigen, die ihr eigenes Unternehmen gründen wollen, von besonderem Wert sein – ob es sich dabei um junge Unternehmensgründer in den Zwanzigern oder reife Gründer in den Fünfzigern oder jeder Altersgruppe dazwischen handelt.

Paul D. Paganucci

Stellvertretender Dekan und Professor für Business Administration Amos Tuck School of Business Administration

Dartmouth College

Hanover, New Hampshire

29. Juni 1976

1

Der Strom der menschlichen Geschäfte wechselt;

Nimmt man die Flut wahr, führet sie zum Glück;

Versäumt man sie, so muss die ganze Reise

Des Lebens sich durch Not und Klippen winden.

Wir sind nun flott auf solcher hohen See

Und müssen, wenn der Strom uns hebt, ihn nutzen;

Wo nicht, geht unser schwimmend Gut verloren.1

SHAKESPEARE, JULIUS CAESAR, VIERTER AUFZUG, DRITTE SZENE

Ich glaube von jeher daran, dass jeder Mensch seines eigenen Glückes Schmied und für seine eigenen Probleme verantwortlich ist. Das ist eine ganz einfache Philosophie. Ich glaube, sie wurde mir über die bäuerlichen Knochen meiner böhmischen Vorfahren weitergegeben. Mir gefällt sie, weil sie funktioniert, und ich stelle fest, dass sie sich heute, da ich Multimillionär bin, für mich genauso bewährt wie zu der Zeit, als ich für 35 Dollar pro Woche Pappbecher verkaufte und nebenbei als Klavierspieler arbeitete, um Frau und Tochter zu ernähren, die damals – in den zwanziger Jahren – noch ein Baby war. Daraus folgt ganz offensichtlich, dass ein Mensch jede sich bietende Chance ergreifen muss, und das habe ich stets getan. Nach 17 Jahren Pappbecher verkaufen für die Lily Tulip Company und nachdem ich an die Spitze der Verkaufshierarchie des Unternehmens geklettert war, entdeckte ich meine Chance in Form eines hässlichen Milchmixgerätes mit sechs Rührquirlen namens Multimixer, und ich griff zu. Es war keine leichte Entscheidung, die Sicherheit und einen gut bezahlten Job aufzugeben, um mich als selbstständiger Unternehmer zu versuchen. Meine Frau reagierte schockiert und ungläubig. Mein Erfolg beruhigte aber schon bald ihre Ängste, und ich stürzte mich freudig erregt in meine Kampagne, den Multimixer an jeden Drugstore und jede Milchbar der Nation zu verkaufen. Es war ein äußerst lohnenswerter Kampf. Ich liebte ihn. Dabei blieb ich aber stets offen für andere Möglichkeiten. Ich habe ein Motto, das lautet: »Solange du grün bist, wächst du. Sobald du reif bist, fängst du an zu verfaulen.« Und ich war grün wie ein Shamrock Shake am St. Patrick’s Day, als ich von einer unglaublichen Sache hörte, die mit meinem Multimixer irgendwo in Kalifornien geschah.

Die Vibrationen kamen in Form von Anrufen potenzieller Käufer aus verschiedenen Teilen des Landes. An einem Tag war es ein Restaurantbesitzer in Portland, Oregon; am nächsten Tag war es der Betreiber einer Erfrischungshalle – einer sogenannten Soda Fountain – aus Yuma, Arizona; in der darauffolgenden Woche der Manager einer Milchbar in Washington, D.C. Im Wesentlichen war die Botschaft immer dieselbe: »Ich möchte einen Ihrer Mixer, wie ihn die McDonald-Brüder in San Bernardo, Kalifornien, haben.« Ich wurde immer neugieriger. Wer waren diese McDonald-Brüder, und warum verwiesen die interessierten Käufer immer auf deren Mixer, wo ich doch so viele ähnliche Geräte an den verschiedensten Orten verkaufte? (Zu dem Zeitpunkt hatte der Mixer fünf Rührquirle und nicht sechs.) Also stellte ich einige Nachforschungen an und stellte zu meiner Überraschung fest, dass die McDonald-Brüder nicht einen, zwei oder drei Mixer besaßen, sondern acht! Das geistige Bild von acht Multimixern, die gleichzeitig 40 Milchshakes zubereiten konnten, war einfach überwältigend. Jeder dieser Mixer kostete übrigens 150 Dollar, und das war im Jahr 1954 viel Geld. Der Umstand, dass das auch noch in San Bernardino geschah – damals eine verschlafene Kleinstadt praktisch in der Wüste –, machte das Ganze noch erstaunlicher.

Eines Tages flog ich nach Los Angeles und tätigte dort einige Routinetelefonate mit meinem örtlichen Vertreter. Am nächsten Tag fuhr ich frühmorgens die 60 Meilen nach Osten Richtung San Bernardino. Ungefähr um 10 Uhr morgens kam ich am McDonald’s-Restaurant vorbei, war aber nicht übermäßig beeindruckt. Ich sah ein kleines achteckiges Gebäude – ein äußerst bescheidener Bau auf einem Eckgrundstück. Es war einfach ein ganz gewöhnliches, typisches Drive-in-Restaurant. Kurz vor Geschäftsöffnung um 11 Uhr parkte ich mein Auto und beobachtete, wie die Mitarbeiter allmählich eintrudelten – ausschließlich Männer in gestärkten weißen Hemden und Hosen und weißen Papiermützen. Das gefiel mir. Sie holten Warenvorräte aus einem langen Flachdachbau auf der Rückseite des Grundstücks und brachten sie in das achteckige Gebäude, sie schoben Rollwagen mit Kartoffelsäcken, Kartons voller Fleisch, Milchpackungen, Erfrischungsgetränken und Brötchen. Ich sagte mir, hier passiert etwas. Ihr Arbeitstempo steigerte sich stetig, bis sie einer Armee von Ameisen glichen, die sich über ein Picknick hermachen. Dann füllte sich der Parkplatz und es bildeten sich Schlangen. Schon bald war der Parkplatz rappelvoll und die Leute begaben sich zum Verkaufsfenster und kehrten mit Tüten voller Hamburger zu ihrem Auto zurück. Im Licht dieser unaufhörlichen Prozession an Kunden, die zum Verkaufsfenster pilgerten, schien die Vorstellung von acht gleichzeitig arbeitenden Multimixern weitaus weniger abwegig als zuvor. Leicht verblüfft, aber immer noch etwas ungläubig, stieg ich aus meinem Auto aus und reihte mich in die Schlange der Wartenden ein.

»Sagen Sie, worin besteht hier die große Attraktion?«, fragte ich einen dunkelhäutigen Mann in einem Seersucker-Anzug, der vor mir in der Schlange stand.

»Haben Sie noch nie hier gegessen?«, fragte er.

»Nein.«

»Nun, dann werden Sie es erleben«, versprach er. »Hier bekommen Sie für 15 Cent den besten Hamburger, den Sie je gegessen haben, und Sie müssen nicht warten, bis Sie bedient werden, und irgendwelchen Kellnerinnen Trinkgeld geben.«

Ich verließ die Schlange und ging zum hinteren Teil des Gebäudes, wo mehrere Männer in Baseball-Catcher-Stellung im Schatten hockten, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, und Hamburger verspeisten. Einer trug eine Schreinerschürze. Er musste von einer nahegelegenen Baustelle gekommen sein. Er sah mit einem offenen, freundlichen Blick zu mir auf. Also fragte ich ihn, wie oft er hier zum Mittagessen kam.

»Jeden verdammten Tag«, antwortete er, während er weiterkaute. »Die Hamburger sind auf jeden Fall besser als die kalten Hackbraten-Sandwiches meiner Frau.«

Es war ein heißer Tag, aber mir fiel auf, dass nirgendwo Fliegen herumschwirrten. Die Männer in den weißen Anzügen achteten bei ihrer Arbeit stets darauf, dass alles blitzsauber blieb. Davon war ich schwer beeindruckt, weil ich Unordnung und mangelnde Sauberkeit überhaupt nicht ausstehen kann, vor allem nicht in Restaurants. Nicht einmal auf dem Parkplatz lag Abfall herum.

In einem leuchtend gelben Kabrio saß eine erdbeerblonde junge Frau, die aussah, als habe sie sich auf ihrem Weg zu dem berühmten Restaurant Hollywood Brown Derby oder der Cafeteria der Paramount Pictures hierher verirrt. Sie verschlang einen Hamburger und eine Tüte Pommes, und zwar mit einer ernsten Präzision, die einfach faszinierend war. Meine Neugier verlieh mir den Mut, auf sie zuzugehen und ihr zu sagen, ich führe eine Verkehrsumfrage durch.

»Würden Sie mir verraten, wie oft Sie hierherkommen?«, fragte ich.

»Immer wenn ich hier in der Gegend bin«, lächelte sie. »Und das tue ich sooft wie möglich, weil mein Freund hier lebt.«

Ob sie flirtete, aufrichtig war oder einfach ihren Freund erwähnte, um einen neugierigen Mann im mittleren Alter abzuschrecken, der vielleicht ein Anmacher war, konnte ich nicht sagen und es war mir auch völlig egal. Was meinen Pulsschlag beschleunigte, war nicht ihr Sex-Appeal, sondern der offensichtliche Genuss, mit dem sie ihren Hamburger verschlang. Für mich wurde ihr Appetit von der Menge der Menschen potenziert, die auf dem Parkplatz in ihren Autos saßen und Hamburger verzehrten. Ich hatte es mit der wohl beeindruckendsten Verkaufsaktivität zu tun, die ich je gesehen hatte!

Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich an jenem Tag einen Hamburger gegessen habe. Auf jeden Fall kehrte ich zu meinem Auto zurück und wartete bis ungefähr 14.30 Uhr, als die Zahl der Wartenden auf einen einzigen Kunden geschrumpft war. Dann ging ich hinein und stellte mich den Brüdern Mac und Dick McDonald vor. Sie freuten sich sehr, mich zu sehen (sie nannten mich »Mr. Multimixer«), und ich wurde sofort mit ihnen warm. Wir verabredeten uns für denselben Abend zum Essen, damit sie mir über ihr Geschäft berichten konnten.

Ich war fasziniert von der Einfachheit und Effektivität des Systems, das sie mir an jenem Abend beschrieben. Jeder Schritt in der Zubereitung des begrenzten Menüs wurde auf das Wesentliche reduziert und mit einem Minimum an Aufwand ausgeführt. Die Brüder verkauften ausschließlich Hamburger und Cheeseburger. Die Burger enthielten knapp 50 Gramm Fleisch, das immer auf die gleiche Weise gegrillt wurde, und kosteten 15 Cent. Für vier weitere Cent bekam der Kunde eine Scheibe Käse dazu. Die Erfrischungsgetränke kosteten zehn Cent, Michshakes in der Größe von einem knappen halben Liter kosteten 20 Cent und Kaffee einen Nickel (fünf Cent).

Nach dem Abendessen fuhren die Brüder mit mir zu ihrem Architekten, der gerade dabei war, einen Entwurf für ein neues Drive-in-Gebäude fertigzustellen. Es war ansprechend. Das Gebäude war rot und weiß mit ergänzenden gelben Elementen und hatte riesige moderne Fenster. Es enthielt einige Verbesserungen im Ausgabebereich und Toilettenräume am Ende des Gastraumes. Im bestehenden Restaurant mussten die Kunden ganz bis zum Ende des Grundstücks zu einem lang gestreckten Flachdachbau gehen, einer Kombination aus Warenlager, Büro und Toilettenräumen. Was den neuen Entwurf so einzigartig machte, waren zwei Bögen, die aus dem Dach ragten. Es handelte sich um ein riesiges Zeichen, das von unten von Neonlicht angestrahlt wurde. Ich sah sofort eine Reihe von Problemen. Die Bögen wirkten, als könnten sie bei starkem Wind umkippen, und das Neonlicht würde ständiger Wartung bedürfen, damit es nicht verblasste und billig wirkte. Die grundlegende Idee der Bögen gefiel mir jedoch und die meisten anderen Merkmale des Designs ebenfalls.

In jener Nacht verbrachte ich die Zeit in meinem Motel damit, intensiv über das, was ich tagsüber gesehen hatte, nachzudenken. Vor meinem geistigen Auge zogen Bilder von McDonald’s-Restaurants an allen Straßenkreuzungen des Landes vorbei. In jedem Restaurant brummten selbstverständlich acht Multimixer vor sich hin und schaufelten einen konstanten Geldstrom in meine Taschen.

Als ich am nächsten Tag aufstand, hatte ich einen Aktionsplan im Kopf. Als McDonald’s öffnete, war ich bereits dort. Was sich anschließend ereignete, war praktisch eine Wiederholung des Szenarios vom Vortag, aber ich verfolgte es dennoch mit ungeminderter Faszination. Nur dass ich dank meiner Unterhaltung mit den McDonald-Brüdern dieses Mal wesentlich genauer und bewusster hinsah. Ich beobachtete, wie der Mitarbeiter an der Grillstation seine Arbeit verrichtete; wie er das Burger-Patty beim Wenden auf den Grill warf und wie er die Platte des heißen Grills stets sauber kratzte. Meine besondere Aufmerksamkeit galt jedoch der Pommes-Station. Die beiden Brüder hatten mir gesagt, die Pommes frites seien eines der Schlüsselelemente ihres Verkaufserfolgs, und hatten mir den Zubereitungsprozess beschrieben. Ich musste das aber mit meinen eigenen Augen sehen. Es musste ein Geheimnis geben, dass sie so gut schmeckten.

Für die meisten Menschen sind Pommes frites eine ziemlich uninspirierende Angelegenheit. Sie sind nichts weiter als eine Sättigungsbeilage, die man zwischen einem Stück Hamburger und einem Schluck Milchshake in sich hineinstopft. Das gilt für die gewöhnlichen Pommes. Die Pommes frites von McDonald’s waren allerdings eine ganz andere Liga. Die Brüder schenkten ihnen größte Aufmerksamkeit. Damals wusste ich das nicht, aber später sollte es mir genauso gehen. Pommes frites wurden für mich beinahe zu einem Heiligtum und ihre Zubereitung zu einem Ritual, das peinlichst genau befolgt werden musste. Die McDonald-Brüder bewahrten ihre Kartoffeln – Spitzenqualität aus Idaho mit einem Gewicht von rund 220 Gramm pro Knolle – in Verschlägen im hinteren Warenlager auf. Da Ratten, Mäuse und andere Nagetiere gerne Kartoffeln fressen, waren die Wände der Verschläge mit zwei Schichten kleinmaschigem Hühnerdraht beschlagen. Das hielt Nagetiere fern und ermöglichte eine freie Luftzirkulation zwischen den Kartoffeln. Ich beobachtete, wie die Kartoffeln in Säcke gefüllt und in Rollwagen in das Restaurantgebäude gebracht wurden. Dort wurden sie sorgfältig geschält, wobei eine ganz dünne Schicht der Schale auf den Kartoffeln blieb. Anschließend wurden sie in lange Streifen geschnitten und in große Becken mit kaltem Wasser geworfen. Der verantwortliche Mitarbeiter tauchte seine Arme mit den bis zur Schulter aufgerollten Ärmeln in das Becken und bewegte die Kartoffelschnitze hin und her. Ich konnte sehen, wie sich das Wasser von der Kartoffelstärke weiß und milchig färbte. Anschließend wurden die glänzenden Kartoffelschnitze abgespült und die verbleibende Stärke mit einer flexiblen Wasserpistole entfernt. Anschließend wurden sie in Drahtkörbe geworfen, die wie an einem Montageband in einer Linie neben den Frittiermaschinen aufgehängt waren. Ein weit verbreitetes Problem ist, dass Pommes frites oft in demselben Öl frittiert werden, in dem Hühnerfleisch oder andere Lebensmittel frittiert wurden. Jedes Restaurant würde das abstreiten, aber fast alle machen es. Das ist vielleicht nur kein großer Skandal, aber es bleibt ein Skandal und ist nur eines der kleinen Verbrechen, die Pommes frites ihren schlechten Ruf eingetragen und unzähligen Amerikanern den Appetit verdorben haben. Das Frittieröl der McDonald-Brüder wurde niemals für etwas anderes verwendet als Pommes frites. Allerdings gerieten sie auch nie in Versuchung, weil sie keine anderen frittierten Speisen anboten. Eine Tüte Pommes mit 85 Gramm kostete zehn Cent, und lassen Sie mich Ihnen sagen, dass das ein selten gutes Angebot war. Das wussten auch die Kunden. Neben dem Ausgabefenster für die Pommes hing ein großer Salzstreuer aus Aluminium an einer Kette, der so unaufhörlich geschüttelt wurde wie das Tamburin der Heilsarmee.

Die Methode, mit der die McDonald-Brüder die Pommes frites zubereiteten, war für mich ein interessanter Prozess, und – wie ich zufrieden feststellte – genauso einfach, wie es mir die Brüder beschrieben hatten. Ich war davon überzeugt, dass ich ihn mir fest eingeprägt hatte und dass jeder ihn nachmachen konnte, wenn er jeden einzelnen Schritt peinlich genau befolgte. Das war nur einer der vielen Fehler, die ich in meinem Umgang mit den McDonald-Brüdern machte.

Nachdem das Mittagsgeschäft abgeflaut war, setzte ich mich erneut mit den Brüdern zusammen. Meine Begeisterung für ihr Geschäft war echt, und ich hoffte, sie würde ansteckend sein und sie für den Plan erwärmen, den ich ausgeheckt hatte.

»Ich habe auf meinen Verkaufsreisen für meine Multimixer viele Restaurantküchen von innen gesehen«, sagte ich, »aber noch nie habe ich ein Restaurant mit einem derartigen Potenzial gesehen wie Ihres. Warum eröffnen Sie nicht eine ganze Kette an Drive-ins? Es wäre eine Goldmine für Sie und für mich, weil jede Filiale den Verkauf meiner Multimixer fördern würde. Was sagen Sie dazu?«

Schweigen.

Ich fühlte mich, als würde meine Krawatte in der Suppe hängen oder irgendetwas Ähnliches. Die beiden Brüder saßen nur da und sahen mich an. Dann verzog Mac leicht den Mund, eine Grimasse, die in Neuengland gelegentlich als Lächeln durchgeht, und wandte sich auf seinem Stuhl, um auf den Hügel zu deuten, der sich hinter den Fenstern auftat.

»Sehen Sie das große weiße Haus mit der breiten Veranda?«, fragte er. »Das ist unser Zuhause, und wir lieben es. Da sitzen wir abends, beobachten den Sonnenuntergang und blicken hinunter auf unser Restaurant. Es ist friedlich. Wir brauchen keine neuen Probleme. Wir befinden uns in der glücklichen Lage, unser Leben zu genießen, und das ist alles, was wir wollen.«

Seine Sichtweise war mir vollkommen fremd, daher dauerte es eine Weile, bis ich meine Argumente neu geordnet hatte. Aber schon bald wurde klar, dass eine weitere Diskussion über dieses Thema vergeblich sein würde, daher sagte ich, sie könnten ihr Leben auch so weiterführen, wie es ihnen gefalle, wenn sie es jemand anderem überlassen würden, in ihrem Namen neue Restaurants zu eröffnen. Ich konnte meine Multimixer nebenher verticken.

»Das bedeutet viel Aufwand«, wandte Dick McDonald ein. »Wen könnten wir engagieren, damit er das für uns macht?«

Mich überkam ein Gefühl der Gewissheit. Dann beugte ich mich vor und sagte: »Nun, wie wäre es mit mir?«

2

Als ich an jenem Schicksalstag im Jahr 1954 nach Chicago zurückflog, hatte ich einen frisch unterschriebenen Vertrag mit den McDonald-Brüdern in meinem Aktenkoffer. Ich war auf dem geschäftlichen Schlachtfeld ein Veteran mit Schmissen und Narben, aber ich war immer noch versessen auf den nächsten Kampf. Ich war 52 Jahre alt, hatte Diabetes und eine beginnende Arthritis. Ich hatte eine Gallen- und eine Schilddrüsenoperation hinter mir. Aber ich war immer noch davon überzeugt, dass das Beste noch vor mir lag. Ich war immer noch grün und auf Wachstum gepolt und flog innerlich auf einer Höhe, die leicht über der Reisehöhe des Flugzeugs lag. Über den Wolken war der Himmel klar und sonnig. Man konnte nichts anderes sehen als den endlosen Horizont und die ebenso endlose wellige Hügellandschaft vom Colorado River bis zum Michigan-See. Als wir den Landeanflug auf Chicago begannen, wurde jedoch alles grau und bedrohlich. Vielleicht hätte ich das als Omen nehmen sollen.

Während wir durch die schwarzen Wolkenmassen flogen, waren meine Gedanken jedoch bei den verwinkelten Straßen und Gassen der Stadt, in der ich aufgewachsen war und die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts miterlebt hatte.

Ich wurde 1902 in Oak Park, gleich hinter der Stadtgrenze im Westen von Chicago, geboren. Mein Vater, Louis Kroc, arbeitete bei Western Union. Er war mit zwölf Jahren in das Unternehmen eingetreten und hatte sich langsam, aber beharrlich nach oben gearbeitet. In der achten Klasse hatte er die Schule verlassen, war aber fest entschlossen, dass ich sie beenden sollte. Ich war allerdings völlig ungeeignet für diese Pläne. Mein fünf Jahre jüngerer Bruder Bob und meine zwei Jahre jüngere Schwester Lorraine waren viel fleißigere Schüler als ich. Bob wurde Professor in der Medizinforschung; wir hatten fast nichts gemeinsam. Über viele Jahre fanden wir es sogar schwierig, überhaupt miteinander zu reden.

Meine Mutter Rose war der Inbegriff der mütterlichen Liebe. Sie führte ein ordentliches, gut organisiertes Zuhause, trieb die Sauberkeit aber nicht zu dem Extrem, wie es ihre Mutter getan hatte. Ich werde nie die Küche meiner Großmutter vergessen. Die ganze Woche war der Boden mit Zeitungen bedeckt. Am Samstag wurden die Zeitungen entfernt und der Boden, der bereits blitzblank war, wurde energisch mit kochend heißem Seifenwasser geschrubbt. Danach wurde er mit klarem Wasser abgespült, trocken gewischt und mit frischem Zeitungspapier ausgelegt, sodass er die folgende Woche über gut geschützt war. Das war die Methode, die Großmutter aus Böhmen mitgebracht hatte, und sie würde sich nicht davon trennen. Meine Mutter erteilte Klavierunterricht, um das Haushaltseinkommen aufzubessern, und erwartete von mir, dass ich ihr bei der Hausarbeit half. Das machte mir nichts aus. Ich war sogar stolz darauf, wischen, putzen und Betten machen zu können wie jede gute Hausfrau.

Kinder durften damals in Gegenwart Erwachsener zwar gesehen, aber nicht gehört werden. Ich fühlte mich aber nie alleine. Mein Vater war zum Beispiel Mitglied in einem Chor, der sich oft bei uns zu Hause traf. Mein Bruder und ich mussten dann oben bleiben und uns selber amüsieren, während meine Mutter Klavier spielte und die Männer sangen. Sobald die Musik unten verstummte, ließen Bob und ich alles stehen und liegen und rannten ins Nähzimmer, das gleich über der Küche lag. Ich entfernte das Heißluftgitter aus dem Boden (damit wurde geheizt, bevor es Zentralheizung gab. Dazu wurden im Boden eingelassene Luftgitter verwendet, mit deren Hilfe die erwärmte Luft in die Räume im ersten Stockwerk aufstieg.) Meine Mutter stellte einen Teller mit Häppchen auf ein Tablett, das mein Vater an einem alten Besenstiel befestigt hatte, und reichte es uns durch den Schacht nach oben. Das verlieh uns ein wunderbares Gefühl von Abenteuer, weil meine Mutter so tat, als stibitze sie das Essen heimlich und ohne Wissen der anderen Erwachsenen.

Als Junge konnte ich mich nicht für Lektüre begeistern. Bücher langweilten mich. Ich wollte Action. Aber ich verbrachte viel Zeit damit, über alles Mögliche nachzudenken. Ich stellte mir alle erdenklichen Situationen vor und malte mir aus, was ich tun würde.

»Was machst du, Raymond?«, fragte meine Mutter dann immer.

»Nichts. Ich denke nur nach.«

»Du meinst, du gehst Tagträumen nach. Danny Dreamer träumt schon wieder vor sich hin.«

Sie nannte mich oft Danny Dreamer, selbst später, als ich zur Highschool ging und aufgeregt nach Hause kam, weil ich mir irgendetwas ausgedacht hatte. Ich betrachtete meine Träume nie als verschwendete Energie; sie waren immer mit irgendeiner Form von Handlung verknüpft. Wenn ich davon träumte, einen Limonadenstand zu betreiben, dauerte es im Allgemeinen nicht lange, bis ich einen baute. Ich arbeitete hart und verkaufte viel Limonade. Während eines Sommers, als ich noch zur Grundschule ging, arbeitete ich in einem Lebensmittelgeschäft. Ich arbeitete im Drugstore meines Onkels. Ich arbeitete in einem winzigen Musikgeschäft, das ich mit zwei Freunden gegründet hatte. Wenn irgend möglich, arbeitete ich an irgendetwas. Arbeit ist das Fleisch im Hamburger des Lebens. Es gibt ein altes Sprichwort: »Arbeit allein macht nicht glücklich.« Ich habe nie daran geglaubt, weil Arbeit für mich Spiel war. Sie bereitete mir so viel Freude wie Baseball.

Baseball war damals ein echtes nationales Hobby und unsere Nachbarschaftsspiele in den Gassen hinter dem Haus waren große Wettkämpfe. Mein Vater war ein großer Baseballfan und nahm mich mit sieben bereits mit zu den Spielen der Chicago Cubs im alten Stadion West Side Park. Ich sah zahlreiche Double Plays, ausgeführt von der legendären Spielerkombination Joe Tinker, Johnny Evers und Frank Chance, die unter dem Begriff »Tinker to Evers to Chance« berühmt wurden. Die Cubs waren damals eine aufstrebende Mannschaft und ich kannte sämtliche Statistiken über jeden Spieler bis hin zu seiner Schuhgröße. Mein Vater gehörte derselben Loge an wie Tinker, und das verschaffte mir einen Vorteil gegenüber allen anderen Kindern in unseren häufigen Streitgesprächen über Baseballspieler, insbesondere wenn es um die Cubs ging. Ich musste natürlich mehr darüber wissen, weil mein Vater Joe Tinker persönlich kannte. Welch wunderbarer Wettstreit waren diese nachbarschaftlichen »Fachgespräche«. Und wie erbittert und ernsthaft wir spielten – mit einem Mülleimerdeckel, der uns als Home-Base diente, einem abgenutzten Schläger (der mit zahlreichen Kerben gespickt war, weil wir zur Übung Steine schlugen) und einem Ball, der in schwarzes Isolierband eingehüllt war. Wie entnervend war es jedoch, wenn meine Mutter auf der Veranda im Hinterhof erschien und rief: »Raymond! Es ist Zeit zum Üben!« Die anderen Jungen machten dann höhnisch ihre Stimme nach, während der eingebildete Cubs-Experte mürrisch antwortete: »Ich komme!« und davontrottete, um sich dem Klavierunterricht seiner Mutter zu unterziehen.

Mir fiel das Klavierspiel leicht. Die Leichthändigkeit, mit der ich die Tasten bearbeitete, bereitete meiner Mutter Freude, und ich bin ihr noch heute dankbar für jene Stunden des disziplinierten Übens, auch wenn ich ihre Erwartungen damals oft überzogen fand. Ich wurde gut genug, um mir einen bescheidenen Ruf in unserem Viertel zu erspielen und den Chorleiter der Harvard Congregational Church dazu veranlassen, mich als Orgelspieler für seine Chorproben zu engagieren – ein leichtes Fehlurteil seinerseits. Ich war willig und in der Lage, aber die getragenen Akkorde der Hymnen hatten eine niederdrückende Wirkung auf mich. Während der gesamten zweiten Hälfte des Abends rutschte ich auf der Bank der alten Pumporgel hin und her. Ich konnte nicht verstehen, wie diese Leute all die Unterbrechungen, die Belehrungen des Chorleiters und die vielen Wiederholungen der immer gleichen Passagen aushielten. Zudem war die Musik selbst so süßlich und schleppend, dass ich oben auf dem Orgelbalkon fast erstickte. Als der Chorleiter die letzte Hymne dieses schier endlosen Übungsabends beendet hatte und sagte: »Das war’s für heute, meine Damen und Herren. Gute Nacht«, reagierte ich spontan, indem ich das alte Couplet »Shave and a haircut, two bits« spielte, das oft am Ende einer heiteren Musikdarbietung als komischer Effekt verwendet wurde. Natürlich war der Chorleiter empört. Er tadelte mich nie für diese kleine Verletzung des Anstands, aber er bat mich auch nie wieder darum, Orgel zu spielen.

Mein Musikinteresse war eher kommerziell. Ich bewunderte die Klavierspieler in den großen Woolworth- und Kresge-Geschäften in Chicagos Innenstadt. Sie spielten und sangen, um Kunden in die Musikabteilung zu locken, wo Regale voller Noten und Partituren sowie Zubehör zum Verkauf standen. Und wenn sich jemand für ein bestimmtes Stück interessierte und es anhören wollte, trug der Klavierspieler eine kurze Version vor. Ich stellte mir vor, ich sei einer dieser Klavierspieler, und diese Chance kam tatsächlich im Sommer meines ersten Jahres an der Highschool.

Ich hatte die vorhergehenden Sommer und die Mittagsstunden während des Schuljahres damit verbracht, in der Erfrischungshalle des Drugstores meines Onkels Earl Edmund Sweet in Oak Park zu arbeiten. Dort lernte ich, dass man Menschen mit einem Lächeln und Enthusiasmus begeistern und ihnen ein Eis verkaufen kann, selbst wenn sie eigentlich wegen einer Tasse Kaffee gekommen waren. Ich sparte jeden verdienten Penny und hatte schließlich genug auf dem Bankkonto, um mit zwei Freunden ein kleines Musikgeschäft zu gründen. Wir hatten jeweils 100 Dollar investiert und für 25 Dollar pro Monat ein winziges Lokal gemietet. Wir verkauften Noten, Partituren und neuartige Instrumente wie die Okarina – eine Art Kugelflöte –, Harmonikas und Ukulelen. Ich war der Klavierspieler, ich spielte und sang, aber verkaufte nicht viel. Die traurige Wahrheit ist, dass wir nicht genug Umsatz machten. Unser Mietvertrag erneuerte sich monatlich, und nach einigen Monaten gaben wir auf, verkauften unseren Warenbestand an ein anderes Musikgeschäft, teilten das Geld, das übrig war, untereinander auf, und das war’s.

Mein erstes Highschooljahr verlief wie eine Beerdigung. Ich begann mich in der Schule zu fühlen, wie ich mich früher bei den Pfadfindern gefühlt hatte. Das Ganze war einfach zu langsam für mich. Ich hatte unbedingt Pfadfinder werden wollen, und eine Zeit lang machte es mir sogar Spaß. Sie machten mich zu einem Hornisten. Aber Horn ist ein sehr beschränktes Instrument. Ich fand mich in der Situation wieder, dass ich bei den Treffen immer wieder das Gleiche machte. Kleine Fische! Ich kam nicht voran! Und schließlich sagte ich, zur Hölle damit. Mit der Schule war es das Gleiche – ich litt die ganze Zeit und machte überhaupt keine Fortschritte.

Das Einzige, das mir an der Schule Spaß machte, waren Debatten. Darin konnte ich mich regelrecht verbeißen. Allerdings hätte ich nicht gezögert, einen Streitpartner tatsächlich zu beißen, wenn es meiner Argumentation geholfen hätte. Ich liebte es, der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein und meine Zuhörer von der Richtigkeit meiner Sichtweise zu überzeugen. Eine Debatte, an die ich mich ganz besonders erinnere, drehte sich um die Frage: »Sollte das Rauchen verboten werden?«. Wie fast immer nahm ich die Position der Underdogs ein und versuchte, das Rauchen zu verteidigen. Das war ein geistig äußerst anregender Schlagabtausch, aber meine Gegner machten den Fehler, den Tabakteufel als zu schwarz, zu bösartig und zu grausam darzustellen. Rhetorik ist eine großartige Sache, solange sie einen gewissen Kontakt mit der Realität wahrt. Also griff ich ihre Übertreibungen an, indem ich die ganz einfache Geschichte meines Großvaters und seiner geliebten Pfeife erzählte – Großpapa Phossie, wie wir ihn nannten, was Großvater Bart bedeutet. Ich erzählte von den Nöten und Entbehrungen, die er in Böhmen durchlitten hatte, und wie er sich in die USA aufgemacht hatte. Ich schilderte in aller Ausführlichkeit, wie er im Schweiße seines Angesichts ein Zuhause für seine Familie aufgebaut hatte. Nun blieb ihm nur noch eine kurze Lebenszeit und wenige Freuden, außer für seinen Hund Stöckchen zu werfen und die Rauchringe zu betrachten, die aus seiner alten Pfeife aufstiegen, und sich an Szenen aus glücklicheren Tagen zu erinnern. »Wer von euch«, so fragte ich, »würde einen weißbärtigen alten Mann einer seiner letzten Freuden berauben wollen, nämlich seine geliebte Pfeife zu rauchen?« Ich freute mich diebisch, dass einige Mädchen im Auditorium Tränen in den Augen hatten, als ich meine Geschichte beendete. Ich wünschte, mein Vater hätte den Applaus hören können. Es hätte ihn vielleicht für einige Enttäuschungen über mein mangelndes Interesse an formaler Schulbildung entschädigt.

Als das Schuljahr in jenem Frühjahr endete, traten die USA in den Ersten Weltkrieg ein. Ich nahm eine Arbeit als Haustürverkäufer von Kaffeebohnen und Neuheiten an. Ich war sicher, dass ich mir meinen Weg in die Welt bahnen könnte, und sah keinen Grund, in die Schule zurückzukehren. Abgesehen davon waren die Kriegsanstrengungen wichtiger. Alle sangen das patriotische Soldatenlied »Over There«, mit dem junge Männer angespornt wurden, sich bei der Armee zu melden. Das war, wo ich hinwollte. Meine Eltern waren strikt dagegen, aber schließlich konnte ich sie dazu überreden, mich als Fahrer eines Rettungswagens des Roten Kreuzes arbeiten zu lassen. Ich musste natürlich über mein Alter schwindeln, aber das konnte selbst meine Großmutter akzeptieren. In meiner Kompanie, die in Connecticut zur Ausbildung zusammentraf, befand sich noch ein weiterer junger Mann, der sich mit einer falschen Altersangabe den Eintritt erschwindelt hatte. Er galt als komischer Kauz, weil er immer, wenn wir frei hatten und in die Stadt gingen, um Mädchen zu erobern, im Camp blieb und Bilder malte. Sein Name war Walt Disney.

Kurz bevor ich mich Richtung Frankreich einschiffen sollte, wurde der Waffenstillstand unterzeichnet. Also kehrte ich nach Chicago zurück und fragte mich, was ich nun tun sollte. Meine Eltern überredeten mich dazu, es noch einmal mit der Schule zu probieren, aber ich hielt es nur ein halbes Jahr aus. Die Algebra war während meiner Abwesenheit nicht besser geworden.

Ich wollte draußen sein und verkaufen und mich als Klavierspieler verdingen, und das tat ich auch. Ich erhielt ein Verkaufsgebiet und verkaufte Zier-, Web- und Dekobänder. Das war mir auf den Leib geschneidert; ich fühlte mich wie ein Fisch im Wasser. In jedem Hotel, in dem ich übernachtete, richtete ich einen Musterraum ein und lernte, den Geschmack des jeweiligen Kunden schnell abzuschätzen und mit welcher Verkaufstechnik ich ihn überzeugen konnte. Kein Pitcher, der was auf sich hält, wirft den Ball immer auf die gleiche Weise, ebenso wendet kein Verkäufer bei jedem Kunden dieselbe Verkaufsmethode an. Im Jahr 1919 galt jeder als erfolgreich, der 25 oder 30 Dollar pro Woche verdiente, und es dauerte nicht lange, bis ich – in guten Wochen, in denen ich mehrere Engagements als Klavierspieler hatte – mehr Geld verdiente als mein Vater.

Mit 17 war ich ein echter »Scheich« – aufgeblasen und wahrscheinlich unerträglich für meine Umwelt. Rudolph Valentino machte damals die Damenwelt verrückt, und ich versuchte ihn zu imitieren. Ich zog durch meine eher drahtigen Haare einen Mittelscheitel und rieb Unmengen Haarpomade hinein, um den zurückgekämmten Haaren diesen glatten, glänzenden, kunstlederartigen Anschein à la Valentino zu verleihen. Ich kaufte modische Kleidung, und wenn ich ein Rendezvous hatte, rauchte ich türkische Zigaretten mit Korkfilter der Marke Melachrino. Nachdem meine Verabredung und ich uns irgendwo hingesetzt hatten, zog ich meine Schachtel Importzigaretten hervor und legte sie ostentativ auf den Tisch, um meine raffinierte Lebensart zu demonstrieren. Das war zwar nur eine vorübergehende Phase, aber sie ist mir heute noch peinlich, weil es nichts gibt, was ich weniger ausstehen kann als vorgetäuschte, hohle Raffinesse. Tatsächlich empfinde ich eine Art perverse Freude bei der Erinnerung an den Abend, an dem der größte Teil meiner »Scheich«-Attitüde schockartig aus mir entwich.

Ein Musiker namens Herbie Mintz, der immer wusste, wo es Arbeit gab, vertraute mir an, er kenne einen Nachtclub, der einen Klavierspieler meines Stils suche. Er befand sich ziemlich weit weg in Calumet City, aber zahlte wesentlich besser als andere Lokale. Ich biss sofort an. Von Oak Park am westlichen Stadtrand von Chicago in einen Vorort im Südosten zu gelangen, war ein ziemlich aufwendiges Unterfangen. Ich musste mit Bussen und Zügen fahren und mehrmals umsteigen, aber irgendwie schaffte ich es, pünktlich zur Öffnung um 21 Uhr da zu sein.

Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Nachtclub um ein Bordell. Das »Cabaret« im Erdgeschoss, in dem wir spielten, war grauenhaft geschmacklos in einem grellen Plüsch- und Glitzerstil dekoriert. Es wurde von einer Puffmutter überwacht, die gut und gerne 200 Pfund auf die Waage brachte. Noch nie hatte ich eine derartige Aufmachung gesehen. Ihre Haare und ihr Make-up waren so bunt und schillernd wie das Dekor der Räumlichkeiten und sie verströmte dicke Wolken eines billigen Parfüms. Ich bekam davon eine Menge ab, als sie sich schwer über mich beugte und mich mit ihrem Gesang begleitete. Ich sehe immer noch ihre gelben Perlen vor mir, die auf ihrem schweren Busen auf- und abhüpften, und die Ringe, die an ihren weich gepolsterten Fingern glitzerten, während sie mit ihrer rauen Stimme irgendwelche Lieder zum Besten gab.

Zwischen den Sets, wenn sie keine Lust mehr hatte, ihre Mädchen mit einem Gast in die oberen Gemächer zu dirigieren, kam Big Momma zum Klavier und machte sich an mich heran.

»Wo wohnst du, Honey?«, fragte sie mich.

Ich musste mich schwer beherrschen, damit meine Stimme nicht überschlug, als ich ihr antwortete, ich stamme aus Oak Park.

»Nun, das ist viel zu weit weg, als dass du zu so später Stunde noch nach Hause fahren könntest. Heute Nacht bleibst du hier.«

Ich hatte viel zu viel Angst, um nein zu sagen, und rutschte den restlichen Abend unruhig auf dem Klavierstuhl hin und her und beobachtete sie aus den Augenwinkeln, in der Hoffnung, sie auf Abstand halten zu können. Die Kunden waren eine ziemlich laute, rohe Meute, von der ich keinerlei Hilfe erwarten konnte. Kurz vor dem letzten Set ging ich zum Barmann und nahm ihn beiseite. Ich bemühte mich intensiv, so lässig wie möglich zu wirken und meiner Stimme die nötige Festigkeit zu verleihen.

»Hören Sie, wir haben nur noch einen Set zu spielen und ich habe eine lange Heimfahrt vor mir. Ich möchte also hinterher schnell aufbrechen«, sagte ich. »Könnten Sie mich jetzt gleich auszahlen?«

Mit wissendem Pokerface und ohne ein Wort griff er unter die Bar und gab mir mein Geld. Ich eilte auf die Männertoilette und stopfte das Geld in die Socken, da ich an diesem Ort niemandem über den Weg traute. Nach dem Set, während die anderen Musiker damit beschäftigt waren, ihre Instrumente einzupacken, rannte ich auf die Straße und bemühte mich, größtmögliche Distanz zwischen mich und die schwergewichtige Puffmutter zu legen.

Ich kehrte nie zurück.

Mein Job als Verkäufer von Zier- und Dekobändern gelangte schon nach kurzer Zeit an seine Grenzen. Er war zwar interessant, aber mir wurde klar, dass ich nicht für eine Karriere geschaffen war, die darauf ausgelegt war, Farmersfrauen Rosen-knospenmuster zu verkaufen, die sie auf Strumpfbänder und Bettkissen nähten. Also hängte ich den Job im Sommer 1919 an den Nagel und begann in einer Band am Paw Paw Lake, Michigan, zu spielen. Wir trafen den Geschmack der damaligen Zeit und waren mit unseren gestreiften Blazern und unseren steifen Strohhüten richtig »in«. Es war die Zeit des Charleston Craze und des Films »Flaming Youth«, wow!

Ich spielte in einem Amüsierschuppen namens Edgewater. Der See war damals ein sehr beliebter Sommerurlaubsort, und wir zogen Gäste aus allen umliegenden Hotels an. Am Spätnachmittag versammelte sich unsere Band auf einem der Fährschiffe, die über den See schipperten. Wir spielten frenetisch, während das Dampfschiff die Küste abfuhr. Eines unserer Bandmitglieder hielt üblicherweise ein Megafon hoch und rief in die Menge: »Heute Abend Tanz im Edgewater; lassen Sie sich diesen Spaß nicht entgehen!«