Mirjam Pressler

Kratzer im Lack

Roman

www.gulliver-welten.de

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Gulliver 710

© 1981, 1992 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Alle Rechte vorbehalten

Neue Rechtschreibung

Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg

Einbandgestaltung: Max Bartholl

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-74148-6

1.

Herbert wird wach, als seine Mutter nebenan im Badezimmer die Wasserspülung drückt. Er wird immer so früh wach, er hat einen ganz leichten Schlaf. Die Autos, die draußen auf der Straße vorbeifahren, die stören ihn nicht, an dieses Geräusch ist er so gewöhnt, dass er es fast nicht mehr wahrnimmt. Aber das Klappen einer Tür, die Wasserspülung, das Klirren von Tellern und Tassen in der Küche, das weckt ihn auf.

Er weiß, dass das seine Mutter ist, nebenan im Badezimmer. Sie steht immer als Erste auf, und erst dann, wenn sie das Frühstück fertig hat, wenn die Brote zum Mitnehmen geschmiert und eingepackt sind, wenn die Thermosflasche gefüllt ist und die Kaffeekanne auf dem Tisch steht, weckt sie den Vater. Seine Schicht fängt um sechs Uhr an. Jetzt muss es ungefähr fünf sein. Nur ganz selten fährt er nachts. Das bringt zwar mehr Geld ein, aber er hält das nicht aus, sagt er. Eine Nacht fahren schafft ihn mehr als drei Tage. Er braucht seinen Schlaf vor Mitternacht.

Herbert weiß, dass er sich jetzt noch mal die Decke hochziehen und vor sich hin dösen kann. Wahrscheinlich wird er sogar wieder einschlafen. Er mag diese Zeit am Morgen, wenn noch niemand etwas von ihm will, wenn noch niemand etwas an ihm auszusetzen hat. Es ist eine friedliche Zeit vor dem Aufstehen, eine Zeit voller Träume und Hoffnungen. Manchmal erzählt sich Herbert auch Geschichten von Butch, dem großen Helden, aber das gelingt ihm nicht immer. Oft drängt sich der Tag, der gerade beginnt, in seine Gedanken und lässt ihn nicht mehr los. Dann würde er am liebsten aufstehen und die Angst wegduschen, sie mit Seifengeruch und Zahnpastageschmack vertreiben.

Nur die Angst vor der Morgenmuffigkeit seines Vaters hält ihn dann zurück. Was machst du denn jetzt schon in der Küche, würde der dann sagen. Du weißt doch, dass ich das nicht will. Mich macht Trubel morgens ganz verrückt.

Es wird schon hell draußen. Durch die Ritzen des schlecht schließenden Rollladens kriecht die Dämmerung in sein Zimmer. Er zieht sich die Decke über den Kopf, baut sich ein stickiges Zelt, das ihn abschirmt von der Außenwelt. Er stellt sich vor, wie es wäre, nicht mehr aufzuwachen, abends einzuschlafen und morgens nicht mehr aufzuwachen. Diese Vorstellung hat nichts Bedrohliches für ihn.

Durch das blau-weiß karierte Steppdeckendach dringen die Geräusche nur gedämpft und leise zu ihm, aber er kann sich ihnen nicht ganz entziehen. Sein Vater räuspert sich, hustet, zieht tief aus seiner Brust den Schleim hoch und spuckt ihn ins Waschbecken. Obwohl er dabei das Wasser laufen lässt, sieht Herbert später noch Schleimfetzen, die sich an den Unebenheiten und Sprüngen des alten Porzellanbeckens festgehakt haben und glitschig im fließenden Wasser schwimmen. Herbert ekelt sich davor. Der Vater könnte ein Taschentuch benutzen oder wenigstens das Waschbecken richtig sauber machen. »Raucherhusten ist das«, sagt die Mutter immer. »Du wirst es schon noch merken, wenn du älter bist.«

Herbert dreht sich auf die andere Seite. Vielleicht wird er heute einen guten Tag haben. Er hat lange geschlafen, er ist ausgeruht und stark. Er wird in die Schule gehen, die immer noch neue Schultasche in der Hand. Er hat sie zu seinem vierzehnten Geburtstag bekommen. Vorher hatte er noch mit einem Ranzen gehen müssen, orange mit weißen Steppnähten, obwohl keiner aus seiner Klasse mehr einen Ranzen getragen hatte. Das ist nun vorbei. Er hat eine Tasche wie die anderen.

»Du bist jetzt groß«, hat sein Vater gesagt. »Bald bist du erwachsen.«

»Es wird Zeit, dass er wächst«, hat die Mutter gesagt. »Und wie dünn er ist. Schau, nur Haut und Knochen.« Der Vater hat Herbert prüfend betrachtet und dann genickt. »Ja, das stimmt. Ich in seinem Alter, ich stand ganz anders da. Aber das hat er von dir. Bei euch sind alle so. Denk mal an deinen Bruder, der ist doch heute noch kein richtiger Kerl.«

Herbert hat beim Zuhören ein Gesicht gemacht, als hörte er nichts. Er hätte es auch lieber nicht gehört, er wollte gar nicht wissen, wie sein Vater mit vierzehn dagestanden hat. Aber er konnte auch nicht einfach aus dem Zimmer gehen und die Tür hinter sich zumachen, da hätte es Krach gegeben. Seine Eltern machen das oft so, dass sie von ihm sprechen, als wäre er gar nicht dabei. Herbert fühlt sich dann wie ein Gegenstand.

Zum Geburtstag hat er eine Aktentasche bekommen und das Fahrrad, das er sich schon lange gewünscht hatte. »Aber mit dem Rad fährst du nicht in die Schule. Wenn das geklaut wird. So ein teures Rad.«

Die anderen in der Klasse haben fast alle Räder, tolle, plakettengeschmückte Räder. Morgens kurven sie, obwohl das verboten ist, in den Schulhof und demonstrieren ihre Geschicklichkeit, besonders wenn Mädchen zuschauen.

»Warum habt ihr mir ein Rad gekauft, wenn ich damit nicht in die Schule fahren darf?«

»Mittags«, hat der Vater gesagt, »wenn du deine Aufgaben gemacht hast. Dann kannst du von mir aus fahren, so viel du willst. Aber in der Schule könnte es zu leicht geklaut werden.«

Die Mutter hat genickt. »Außerdem ist die Schule so nah, die paar Minuten kannst du auch wirklich zu Fuß gehen.«

Herbert, der fügsame Sohn, der brave Sohn, geht weiter zu Fuß in die Schule und das Fahrrad steht im Keller.

Herbert merkt jetzt ganz genau, dass es nichts mehr wird mit dem Schlafen. Er kann an nichts anderes mehr denken als an den Tag, der vor ihm liegt. Natürlich wird er sich zwei Banjos kaufen, vor der Schule, das tut er immer, und dann wird er aufrecht und furchtlos an den anderen vorbeigehen. Er wird ihnen zeigen, dass sie ihm egal sind, dass sie ihm nichts anhaben können, weil er ruhig und besonnen ist. Herbert spannt den linken Arm an und tastet über seine Muskeln. So schwach ist er wirklich nicht. Wenn die anderen nur nicht so blöd wären. So blöd und so laut. Herbert kann Krach nicht ausstehen, er tut ihm richtig weh.

Ich werde nicht hinhören heute, denkt er. Ich werde den Lärm heute einfach überhören. Ich werde das können, irgendwie. Heute kann ich das, bestimmt.

Er sieht sich durch das Schulhaus gehen, aufrecht, mit erhobenem Kopf, sieht sich Klaus direkt ins Gesicht schauen, ganz ohne Angst, und Klaus wird auf ihn zukommen und sagen: Es tut mir Leid, Herbert, dass ich dich geärgert habe. Allen tut es Leid. Wir werden es nicht mehr tun. Wir sehen ein, dass wir einen Fehler gemacht haben. Ab heute wird das alles anders.

Klaus wird seine Hand ausstrecken und Herbert wird sie ergreifen. Ist schon gut, Klaus, wird er sagen. Reden wir nicht mehr drüber. Es ist alles in Ordnung.

Herbert nimmt das Kopfkissen und wühlt sein brennendes Gesicht in das kühle Tuch. So wird es nicht sein. So wird es nie sein.

Es wird ein Tag sein wie jeder andere. Er wird sich bemühen, unauffällig durch das Klassenzimmer zu gehen, und wird über das erste Bein stolpern, das ihm gestellt wird. Er wird versuchen, freundlich und hilfsbereit zu seiner Mutter zu sein. Aber es wird nichts nützen. Sicher wird ihm der volle Mülleimer aus der Hand fallen und die Eierschalen werden mit dem Kaffeesatz und den Zigarettenkippen über den Küchenfußboden rutschen. Trottel, wird die Mutter sagen. Kannst du nicht besser aufpassen?

Es wird kein besonderer Tag werden. Es gibt keine besonderen Tage. Es gibt keine Wunder. Wer auf Wunder wartet, ist blöd. Nur alte Weiber warten auf Wunder.

Herbert schläft doch wieder ein. Noch eine Stunde träumen, dann fängt der Tag an.

2.

Frau Kronawitter öffnet die Haustür und tritt auf die Straße. Die Kälte schlägt ihr ins Gesicht und nimmt ihr fast den Atem. Sie muss husten, dieses schmerzende Husten, das sie jetzt oft hat, seit es so nasskalt geworden ist. Sie versucht es zu unterdrücken, atmet nur ganz flach, aber ihre Bronchien krampfen sich zusammen. Es tut weh. Sie keucht vor Anstrengung und lehnt sich einen Moment an die Hauswand von Nummer einundneunzig. Endlich wird es besser. Sie verträgt dieses Wetter nicht, es bedrückt sie, macht sie müde, bevor der Tag richtig angefangen hat.

Der Hund zieht und zerrt an der Leine und strebt der nächsten Hausecke zu, der Stelle, an der er immer sein Bein hebt, jeden Morgen an derselben Stelle. Von den Häuserblocks sind in dem bleigrauen Morgenlicht nur die Umrisse zu sehen, mit feinen hellen Streifen von den Ritzen der Fensterläden. Das Licht der Straßenlaternen verschwimmt wie hinter Milchglasscheiben, graue Ballons vor dunklen Mauern. Und dazu diese feuchte Kälte. Frau Kronawitter zieht den Schal fester um sich. Mit der einen Hand drückt sie ihre Handtasche an sich, aus braunem Kunstleder ist sie und hat neunzehn Mark achtzig gekostet beim Oberpollinger im Sommerschlussverkauf, mit der anderen Hand zieht sie die Leine hinter sich her.

»Los, Wastl, jetzt komm endlich.«

Richtig lästig ist so ein Hund. Frau Kronawitter ist froh, dass sie nicht weit gehen muss zum Laden. Sie spürt das feuchte Wetter auch in den Beinen. Das Rheumatische ist das, es liegt bei ihr in der Familie. Schon ihre Mutter hat das gehabt. Krumm und schief ist sie gewesen in den letzten Jahren vor ihrem Tod und hat immer nur gejammert. Auch Frau Kronawitter spürt das Ziehen in den Gelenken.

Ich werde alt, denkt sie. Eine alte Frau sollte nicht mehr arbeiten.

Sie könnte den Laden aufgeben und in die große Stadt am Main ziehen, wo Gerda in einer Fünfzimmerwohnung lebt. Fünf Zimmer für sie, ihren Mann und den Jungen, den Wolfgang. »Ein Zimmer können wir dir leicht abgeben, Mutter«, hat Gerda gesagt. »Schau, du wirst bald siebzig und da wird es Zeit, Mutter.« Aber Frau Kronawitter kann es sich nicht vorstellen, woanders zu leben.

Sie überquert die Straße an der Ampel. Hundertzwanzig Schritte mehr muss sie dafür gehen, auf der einen Seite sechzig Schritte bis hin zur Ampel, auf der anderen Seite wieder sechzig zurück, bis zu der Stelle, dem Geschäft gegenüber, an der sie die Straße hätte überqueren können, wenn sie sich getraut hätte. Aber seit zwei, drei Jahren traut sie sich nicht mehr, sie ist wirklich nicht mehr gut auf den Beinen.

Wastl zieht zu den Hausecken, zu den Laternenpfählen, schnüffelt und hebt das Hinterbein. Kinder tauchen aus dem Nebel auf, einzeln oder auch mal zu zweit, mit Ranzen oder Schultaschen, muffelig bei diesem Wetter.

»Grüß Gott, Frau Kronawitter.«

Sie kennt die meisten von ihnen. Sie kennt die meisten Leute hier. Das ist ihre Straße, hier hat sie schon als Kind gelebt, hier ist sie alt geworden.

Sie schließt die Ladentür auf, hebt, ohne es überhaupt wahrzunehmen, die Füße, zwei Stufen hoch, jahrelange Gewöhnung ist das. Sie tastet mit der Hand nach dem Lichtschalter. Die Neonröhre blitzt zwei-, dreimal auf, dann ist es hell. Das ist jeden Morgen ein Moment der Erleichterung, wenn die Lampe brennt, wenn sie sich prüfend und ängstlich umgeschaut hat und sich versichert, dass alles in Ordnung ist. Was erwartet sie denn, um Gottes willen? Leichen im Laden? Frauenschänder? Sie lächelt. Ein halbherziges Lächeln ist das, eines, das die Angst vertreiben soll. Erleichterung ist in diesem Lächeln und Selbstkritik. Zum Lachen ist das, dass sie so alt geworden ist und sich im Dunkeln fürchtet wie ein Kind.

Theo ist gern in der Dunkelheit spazieren gegangen, ruhig und friedlich hat er die Nacht genannt. Er ist ein guter Mensch gewesen. Er hat es nie verstanden, dass sie sogar mit ihm zusammen Angst gehabt hat, er hat nichts gewusst von den drohenden Schatten und den verborgenen Ängsten, die einen im Dunkeln überfallen können.

»Ein dummes altes Weib bist du«, sagt Frau Kronawitter laut zu sich selbst. »Wer wird dir schon was tun?«

Wastl schüttelt sich und lässt sich auf sein Kissen hinter der Theke fallen, das geblümte, abgesteppte Kissen, das Frau Kronawitter immer wieder ganz unter die Theke schiebt, auch wenn der Wastl das nicht mag. Man muss dauernd mit einem Besuch von der Bezirksinspektion rechnen, völlig unverhofft tauchen die auf. Und ein Hund in einem Süßwarengeschäft, das ist sicher nicht erlaubt.

Frau Kronawitter legt ihre Handtasche in das Fach unter der Kasse, dann zieht sie ihren Mantel und den Schal aus und hängt sie an einen Haken hinter dem Vorhang, mit dem sie sich eine kleine private Ecke abgeteilt hat. Dort hat sie einen Topf, einen Tauchsieder, Tassen und Teebeutel, damit sie sich zwischendurch mal was Heißes zum Trinken machen kann. Von einem anderen Haken nimmt sie jetzt die weiße, gestärkte Schürze, die sie immer im Laden trägt.

Adrett muss man aussehen, wenn man Lebensmittel verkauft, immer sauber und adrett. Das hat Theo gesagt und daran hält sie sich auch. Eine fleckenlose weiße Schürze trägt sie über dem Kleid, jeden Tag, all die Jahre. Zwölf Jahre und drei Monate ist es jetzt schon her, dass sie sich entschlossen hat, den Laden allein weiterzuführen, zwölf Jahre und drei Monate seit Theos Tod. Ihre Hände zittern. Sie kann noch immer nicht in Ruhe daran denken. Sie nimmt ein Staubtuch aus dem offenen Fach unter der Theke und beginnt abzustauben.

So fängt er immer an, der Tag der Johanna Kronawitter. Jeden Morgen öffnet sie ihren kleinen Laden, mittags um zwölf geht sie in ihre Wohnung, in der schon ihre Eltern gelebt haben, und kocht für sich und den Hund. Bis drei ruht sie sich aus, dann steht sie wieder im Geschäft bis abends um halb sieben. Jeder Tag verläuft wie der vorangegangene, aneinander gereiht sind die Tage wie Holzperlen auf einer Schnur, Perlen in einem müden, farblosen Beige, langweilig und unauffällig. Nur für den Sonntag gibt es eine blaue Perle. Sonntags morgens geht sie auf den Friedhof, dann kocht sie für sich und Wastl etwas besonders Gutes, denn Sonntag ist Sonntag, auch wenn man allein ist. Nach einem Mittagsschläfchen nimmt sie Wastl an die Leine und geht mit ihm im Park spazieren, wenn das Wetter danach ist. Dort lässt sie ihn frei laufen, schaut zu, wie er durch die Wiese kreiselt, und lacht, wenn ihm vor Begeisterung die Stimme überkippt beim Bellen. Danach sitzt sie dann in diesem kleinen, alten Café am Steubenplatz, wo sie schon mit Theo immer hingegangen ist, später, als die Kinder größer waren und sie sich das leisten konnten, und isst ein Stück Kuchen, Schwarzwälder Kirsch oder Obstkuchen.

Aus den Tagen sind Wochen geworden und aus den Wochen Monate und aus den Monaten Jahre. Frau Kronawitter hat das Empfinden für Zeit fast verloren. Zeit bedeutet für sie: ein Blick auf die Uhr, damit sie weiß, ob sie sich auf den Weg machen muss, auf den Weg zum Geschäft oder auf den Weg zu ihrer Wohnung. Ihre Tage verlaufen regelmäßig.

Und regelmäßig kommen auch ihre Kunden. Sie hat fast nur Stammkunden. Herbert kommt meistens als Erster, ein magerer, verschlossener Junge, ungefähr so alt wie ihr Enkel. Wolfgang ist im Juli vierzehn geworden. Sie kennt ihn kaum, nur an Weihnachten sieht sie ihn und manchmal an ihrem Geburtstag. Von Frankfurt nach München ist es einfach zu weit, um nur mal schnell zum Wochenende zu kommen.

Herbert kauft sich immer zwei Banjos und ab und zu mal ein Päckchen Kaugummi. Als sie ihm auf zwei Mark herausgibt, überlegt sie, woher er das Geld hat, jeden Tag. Er ist kein Kind wohlhabender Eltern, die Hollmanns wohnen im selben Haus wie Frau Kronawitter, im dritten Stock rechts. Diese Wohnung hat früher den Bergers gehört. Zehn Jahre ist es jetzt her, dass sie zu ihrer Tochter nach Amerika ausgewandert sind. Nein, Herbert hat keine wohlhabenden Eltern. Einfache Leute sind das in dieser Straße. Immer ist dies eine Straße der einfachen Leute gewesen, auch als sie selbst noch ein Kind war.

Wir konnten uns damals keine Banjos kaufen, denkt sie, wir nicht. Wenn es damals überhaupt Banjos gegeben hätte. Wir haben Margarinebrot mitbekommen für die Pause oder Schmalzbrot, und je nach Jahreszeit mal eine Karotte oder einen Apfel.

»Hier«, sagt sie und steckt die Banjos in eine kleine Papiertüte. Hellgrau ist die Tüte, hellgrau mit blauen Sternchen. Schon vor dem Krieg haben sie immer solche Tütchen gehabt, und als später ein Lieferant diese Muster wieder angeboten hat, hat Theo sich gefreut wie ein kleines Kind. Blaue Sternchen.

Für Herbert, die Sternchentüte in der Hand, hätte sie auch einfach weiß sein können, er weiß nichts von Theos Freude, er sieht die Sternchen gar nicht, nickt nur und steigt die zwei Stufen hinunter.

Sein Vater fährt Taxi, denkt Frau Kronawitter. Das ist auch nichts Besonderes. Und seine Mutter arbeitet in der Drogerie um die Ecke, bei dem Aumüller Martin. So gut geht der Laden dort auch nicht, dass der Aumüller seiner Verkäuferin sehr viel bezahlen kann. Keinem geht es mehr so gut wie früher, sie bringen nichts mehr ein, die kleinen Läden. Früher, als Theo noch gelebt hat, war das anders, da hat das Geld noch gereicht. Eine ganze Familie konnte davon leben. Natürlich, große Sprünge haben sie nicht machen können, auch früher nicht, doch das haben sie auch nicht gewollt. Sie sind zufrieden gewesen, wenn sie ihr Auskommen gehabt haben. Und wir haben Kinder aufziehen können, denkt sie, zwei Kinder.

Sie fängt schnell an, die Theke zu ordnen. Ganz vorn links steht der Karton mit den Überraschungseiern. Komisch, dass die Kinder so scharf darauf sind, so wenig Schokolade und so teuer, und das Zeug, das da drin ist, die Überraschungen, die sind doch nichts wert.

Zwei Kinder haben wir aufgezogen und jetzt ist nur noch die Gerda da.

Hinter die Überraschungseier sortiert sie die Lutscher, nicht nach Farben, das mag sie nicht, sie legt immer fünf verschiedene zusammen, bunt wie Ostereier, und daneben die Kaugummis.

Sie kann schon lange keine Kaugummis mehr kauen, das Zeug klebt ihr an den Zähnen fest. Sie hat ihre dritten Zähne. Damals, als die Amerikaner gekommen sind, nach dem Krieg, hat sie zum ersten Mal Kaugummi im Mund gehabt, ganz wild ist sie darauf gewesen, jahrelang. Theo hat sie immer ausgelacht wegen der Kauerei. Wie eine Kuh bist du, hat er gesagt. Auch die Kinder haben ständig gekaut, vor allem Ludwig.

Frau Kronawitter ist froh, dass eine Kundin kommt, die Frau Herrmann aus vierundachtzig im dritten Stock. Pralinen will sie, mit Schnapsfüllung, was besonders Gutes soll es sein, ihr Bruder hat Geburtstag. »Es darf ruhig ein bisschen mehr kosten«, sagt sie. »Mein Bruder lässt sich auch nicht lumpen.«

Frau Kronawitter berät, bedient, holt umständlich ihre Schachteln und Schächtelchen aus den Regalen und zeigt sie vor. Frau Herrmann hat Zeit.

Und Frau Kronawitter braucht nicht mehr an Ludwig zu denken.

3.

Es ist wirklich ein Glück, dass die alte Frau Kronawitter immer schon um halb acht aufmacht. Herbert schiebt die Banjos in die Schultasche. In der Hosentasche würden sie aufweichen, die Schokoladenschicht würde durch die Körperwärme zu einer braunen Schmiere werden. Schon der Gedanke bereitet ihm Übelkeit.