Peter Härtling

Fränze

Roman

Mit Bildern von Peter Knorr

www.gulliver-welten.de

gulliver.jpg

Gulliver 170

© 1989, 1994 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Alle Rechte vorbehalten

Neue Rechtschreibung

Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg

Einbandgestaltung: Max Bartholl

Einbandbild: Peter Knorr

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-74134-9

fraenze_s003.jpg

Eins

Wenn Fränze was nicht passt, wenn ihr jemand schräg kommt, ihr eine Laus über die Leber gelaufen ist, dann schneidet sie auf. Das kann sie ungeheuer gut. Da wächst sie über sich hinaus. Sie spürt das richtig. Falls sie gerade in der Sonne steht, kann sie es an ihrem Schatten sehen: Mensch, Fränze, der wird immer länger! Doch da schneidet sie schon wieder auf.

Immerhin hat sie grüne Augen, was selten ist. Immerhin kann sie so gut Geige spielen, dass sie bei den Schulkonzerten alleine auftreten darf. Immerhin hat sie eine Menge Freundinnen und Freunde. Und Johannes hat ihr schriftlich bestätigt, dass er ohne ihre Ratschläge nur halb so froh wäre.

Johannes ist ihr Vater. Sie nennt ihn Johannes, seit sie denken und sprechen kann. Weil es sein Vorname ist und vielleicht, weil er aussieht wie ein Johannes. Das schwarze Haar mit den grauen Strähnen ein bisschen zu lang und das Gesicht schmal und immer ein wenig zu blass.

Ihre Mutter ruft sie nicht bei ihrem Vornamen, Sybille oder Bille. Sie sagt Mams zu ihr.

Mit Mams kriegt sie öfter mal Krach. Eben weil Mams sich mehr um sie kümmert als Johannes. Wenn es ganz ernst wird, spricht Mams sie mit Franziska an, so, wie sie tatsächlich heißt. Aber das eigentlich nur schriftlich, im Zeugnis, im Kinderpass oder im Familienstammbuch: Franziska Heissler. Sie ist jetzt zwölf, in drei Monaten, im November, wird sie dreizehn.

Fränze rennt die alten, ausgetretenen Steinstufen im Schulhaus runter, nimmt zwei auf einmal. Anke macht’s ihr nach. Anke ist ihre Problemfreundin. Mal stinkt sie ihr, mal mag sie sie. Schon in der Grundschule haben sie sich ständig gekabbelt. Mams fand das schlicht und einfach unvernünftig. Sie hätten denselben Schulweg und auch sonst gäbe es eine Menge Verbindungen. Ankes Mutter ist Mams’ beste Freundin.

Bei Anke hat die Wachstumsdrüse übrigens fehlerlos funktioniert. Sie ist einen halben Kopf größer als Fränze.

Fränze versucht, Anke abzuhängen. Aber Anke hat mal wieder was von einer Klette. Sie hängt fest. Ist nicht abzuschütteln.

»Renn doch nicht so, Fränze!« Sie japst nach Luft und hängt sich an Fränzes Ranzen. In Wellenlinien zieht sie Anke über den Schulhof und zum Tor hinaus.

Fränze mag ihren Schulweg. Er ist nicht allzu lang, hat keine unheimlichen oder gefährlichen Winkel und steckt voller Abwechslungen. Wenn sie sich wohl fühlt, gut drauf ist, kommt es ihr vor, als sei der Weg extra für sie. Gleich wenn sie das Haus verlassen hat, in dem sie wohnt, muss sie eine Straße überqueren. Auf der anderen Seite empfängt sie jeden Morgen ein unglaublich frischer Brotgeruch. Der kommt aus der Bäckerei Henzler. Selbst wenn sie sich anstrengt und hart schluckt, läuft ihr da die Spucke im Mund zusammen. Manchmal gibt ihr Mams Brezelgeld mit. Dann geht sie tief einatmend in den Laden, der von der immer lustigen Frau Henzler beherrscht wird, und kauft sich eine frische Butterbrezel.

»Eingepackt für die Pause?«, fragt Frau Henzler. Sie steckt die Brezel in eine Pergamenttüte und sagt: »Die Butter soll ja nicht zwischen die Hefte tröpfeln.«

Nach der Bäckerei und zwei hohen Mietshäusern klafft eine große Lücke. Sie wird »Park« genannt. Was mächtig übertrieben ist. Es gibt zwar zwei sehr ausladende, uralte Kastanienbäume und zwei Bänke. Doch der Rasen erinnert mehr an einen abgeschabten Mäusepelz. Und die Bänke sind meistens besetzt von unrasierten Männern. Mams meint, dass sie sich vor denen hüten soll. Dabei sind die nie unfreundlich, halten höchstens mal laute Reden, denen niemand zuhört. Einen von denen kennt Fränze beim Namen. Er hat sich ihr mal vorgestellt. »Ich bin der Pavel.« Wenn der nicht noch schläft, grüßt sie ihn im Vorbeigehen: »Guten Morgen, Pavel.« Meistens bläst er bloß die Backen auf und nickt.

Nach dem »Park« geht es um die Ecke. Die Gegend verändert sich mit einem Schlag. Mit der Gemütlichkeit ist es aus. Hier macht sich die »Holzverarbeitung« breit, eine Fabrik, die aus einer Anzahl von langgestreckten Schuppen besteht, in denen aus Bäumen Bretter gesägt werden. Fränze muss auf die Langholzlaster achten, die oft, ohne zu hupen, in die Hofeinfahrt einbiegen. »Pass bei den Holzfritzen auf!«, hat Mams ihr eingeschärft. Aber bei denen riecht es wunderschön nach Harz und Holz.

Gleich darauf, an der Tankstelle, stinkt es nach Benzin und Auspuffdreck. Was Fränze nicht davon abhält, eine Weile anzuhalten, wenn sie Zeit hat. Sie guckt zu, wie die Autos an den Zapfsäulen vorfahren, wie die Fahrerinnen und Fahrer sich beim Tanken geschickt oder ungeschickt anstellen, wie die Zählrädchen in den Säulen rennen.

fraenze_s008.jpg

In dem Hochhaus hinter der Tankstelle wohnt Anke. Ein letztes Mal geht es über die Straße und auf ein paar Vorgärten folgt die größte Attraktion des Wegs: das Zoogeschäft! Im Fenster sind meistens nur Vögel ausgestellt, Wellensittiche und zwei Papageien. Die scheinen unverkäuflich zu sein. Jedes Mal, wenn sich Fränze vor ihnen aufpflanzt, hat sie den Eindruck, dass die Vögel wissen, wer sie ist, dass sie sie kennen. Hinten im Laden leuchten die Aquarien. Vielleicht bekommt sie mal ein kleines Aquarium zum Geburtstag geschenkt. Johannes ist gar nicht abgeneigt. Nur Mams wehrt sich gegen Viecher jeglicher Art. Sie möchte keine Tiere in der Wohnung. »Wir bewohnen doch keinen Stall, keinen Käfig«, pflegt sie abwehrend zu sagen.

Von allen diesen Abwechslungen hat sie nun nichts. Anke nimmt sie voll in Anspruch und redet und redet. »Nächstes Jahr in den großen Ferien«, plappert sie, »gehen wir nicht bloß nach Spanien, obwohl mir’s da gefallen hat, nur das Meer ist manchmal dreckig, nächstes Jahr fliegen wir auf die Kanarischen Inseln, wo das Meer noch richtig sauber ist.«

Anke hat die Fähigkeit, ohne Atem zu holen, endlos lange Sätze zu reden.

Fränze hört schon gar nicht mehr hin. »Wir fliegen auch!«, erklärt sie. Dabei schiebt sie ihre Unterlippe nach vorn, wie immer, wenn sie aufschneidet oder schwindelt.

Anke packt sie wieder am Ranzen: »Aber du hast gesagt, ihr spart alles Geld für ein Haus. Und ihr macht bei euren Großeltern in der Pfalz Ferien.«

Fränze spürt, dass sie rot anläuft. Sie verzieht das Gesicht und wendet sich von Anke ab. »Der Johannes verdient jetzt mehr. Er hat einen besseren Posten bekommen.«

Anke glaubt ihr kein Wort. So, wie sie fragt, tut sie Fränze weh: »Seit wann denn das? Das müsste Mutti doch längst von deiner Mutter wissen. Die sagen sich doch alles.«

Fränze macht ein paar große Schritte, weg von Anke, und kehrt ihr den Rücken zu. »Alles sagen die sich auch nicht.«

»Wohin fliegt ihr denn?«

Fränze schießen eine Menge Namen durch den Kopf. Zufällig bleibt einer hängen. »Nach Florida. Das steht fest. Jawohl.«

Sie geht Anke ein paar Schritte voraus. Nicht mehr weit und sie ist Anke los. Sie sieht schon die Tankstelle.

»Nach Florida? Das ist doch in Amerika, Fränze!«

»Ja.«

»Und ihr spart überhaupt nicht mehr?«

»Das geht trotzdem.«

»Du lügst.« Anke passt auf, dass der Abstand zwischen Fränze und ihr groß genug bleibt.

Fränze dreht sich auf dem Absatz wie ein Kreisel. »Sag das noch mal!«

Anke schüttelt den Kopf. »Warum noch mal?«

Fränze geht auf Anke los, die ihr geschickt ausweicht, davonläuft und schreit: »Du hast gelogen. Ich erzähl’s meiner Mutter und sie sagt es deiner.«

»Prima!« Fränze stemmt die Hände in die Hüften und spürt, wie ihr Hals vor Wut anschwillt. »Toll, Anke! Erzähl’s nur. Du Petze. Und ersauf in deinem blöden sauberen Meer.«

Mams erwartet sie. Sie deckt für sie beide auf dem Küchenbalkon. Nachdenklich sagt sie: »Komisch, Johannes wollte anrufen und mir sagen, ob er heute Abend später kommt, wie schon die letzten Abende. Er hat so viel Arbeit.«

Sie essen. Die Tauben auf der Fensterbank gegenüber beobachten sie mit ständig nickenden, wippenden Köpfchen. »Irgendwas«, sagt Mams mehr zu sich, »stimmt mit Johannes nicht. Wenn ich nur wüsste, was ihm Sorgen macht.«

Mams hat Recht. Johannes ist seit einiger Zeit anders, stiller und bedrückter. Er kann noch immer witzig sein, denkt Fränze. Aber oft wirkt das nicht echt. Fränze schaut Mams prüfend ins Gesicht. »Ob im Büro was los ist?«

Mams legt die Gabel weg. »Das bestreitet er. Vielleicht hat es auch gar nichts mit seiner Arbeit zu tun. Das gibt’s, dass sich jemand ohne Grund elend fühlt.«

»Aber nicht der Johannes«, widerspricht Fränze. Sie könnte ihn fragen, aber sie traut sich nicht. Vielleicht käme dann was raus, was für sie alle schlimm ist. Was ihr gemeinsames Leben ändert. Davor hat sie Angst.

Fränze steht auf. Die Tauben gegenüber tippeln abflugbereit hin und her. Fränze tritt hinter Mams, legt das Kinn ganz leicht auf ihren Kopf, bis sie ihn wegzieht, aufsteht, sich zu ihr dreht. »Es wird schon«, sagt sie.

Fränze fällt ein, wie Johannes, wenn mal was nicht klappt, zum Trost sagt: »Es gibt eben keine geraden Schweineschwänzchen.«

Zwei

Fränze hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Sie findet, dass es gar kein gemütlicheres Zimmer geben kann. Es ist nicht groß. Die Wand, unter der ihr Bett steht, ist schräg, da sie unterm Dach wohnen.

Ihren Schreibtisch hat sie in zwei Felder eingeteilt. Eines für die Schule und eines für ihren Privatkram, für das Zeug, das sich einfach angesammelt hat: zum Beispiel eine ganze Herde von Eseln. Aus Stoff, Glas, Ton, Holz, groß und klein. Fränze liebt Esel. Das Schimpfwort »Esel« hält sie für Quatsch. Ihren schönsten Esel, einen flauschigen, stämmigen Stoffesel, hat sie mit Genehmigung von Johannes sogar Johannes getauft.

Sie sitzt da und schiebt Esel hin und her. Zu nichts kann sie sich entschließen. Zu den Hausaufgaben nicht. Auch nicht dazu, sich aufs Bett zu legen und zu dösen. Erst recht nicht zum Geigen.

Sie guckt zum Fenster raus und sieht nichts und denkt an Mams und Johannes. Wenn sie gefragt würde, was sie denkt, würde sie keine Antwort wissen. Ihre Gedanken huschen und flattern herum.

Sie hört Mams rufen und danach die Tür ins Schloss fallen.

»Tschüs«, antwortet sie, viel zu spät. Sie guckt auf die Uhr. Mams ist superpünktlich, Punkt halb zwei. Um zwei muss sie wieder in der Buchhandlung sein, in der sie arbeitet.

Endlich gehört ihr die Wohnung allein, wie immer um diese Zeit. Sie könnte Anke anrufen. Aber dazu hat sie keine Lust. Sie könnte auch bei Holger vorbeigehen. Der würde sich bestimmt freuen.

Sie geht auf den Flur, stellt sich vor den Garderobenspiegel, setzt sich den Regenhut von Johannes auf und starrt durch sich hindurch. Dann verlässt sie die Wohnung, schnappt sich im letzten Moment ihren Schlüssel vom Schlüsselbrett und rennt auf der Treppe Frau Hilgruber in die Arme.

Die hat ihr gerade noch gefehlt.

»Immer stürmisch!« Frau Hilgruber drückt Fränze kurz, aber heftig an ihren mächtigen Busen. Sie duftet an diesem Tag nach Sauerkraut. Danach schiebt sie Fränze von sich, auf Abstand, hält sie jedoch an den Armen fest. »Kannst du nicht aufpassen, Fränze? Wie geht’s denn? Hat die Schule wieder begonnen?«

»Schon lange.«

»Und ihr seid nicht in die Ferien gegangen? Wegen dem Haus. Stimmt’s?«

Sie weiß alles. Mams sagt, wenn die Sprache auf Frau Hilgruber kommt: »Es hat gar keinen Sinn, ihr was zu verheimlichen. Erzähl ihr lieber alles ganz genau. Sonst erfindet die aus Bosheit was dazu.«

Fränze versucht, sich aus ihrem Griff zu winden. Aber Frau Hilgruber hat Hände wie Klammern. »Habt ihr das Haus denn schon gekauft?«

»Das weiß ich nicht.«

»Na, hör mal, deine Mutter erzählte mir, ihr hättet es gemeinsam angeschaut.«

Soll sie gestehen, dass ihr das Haus gar nicht so gefällt wie Johannes? Sie muss auch, wenn sie umziehen, in eine andere Schule gehen. Und Mutter ist nicht sicher, ob sie in ihrer Buchhandlung weiterarbeiten kann. Das Haus brächte vieles durcheinander. Nur Johannes hätte es näher zur Arbeit. Und er hätte endlich seinen Garten. Den wünscht er sich sehnlich.

»Na, gefällt dir das Haus, Fränze?«

»Ja!« Endlich schafft sie es, sich zu befreien. Sie rennt die Treppe hinunter.

Frau Hilgruber ruft ihr nach: »Ich komm demnächst mal bei euch vorbei.«