Maike Hallmann

Bellende Hunde

Roman

EIN GULLIVER VON BELTZ & GELBERG

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Gulliver 1073

Originalausgabe

© 2008 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Catherine Beck

Neue Rechtschreibung

Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg

Einbandgestaltung: Max Bartholl unter Verwendung eines Fotos von Gary Isaacs/gettyimages

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-74132-5

1

Der Himmel über Hamburgs Hafen war herrisch blau. Über die Landungsbrücken trieben vereinzelte Touristen, wehten zwischen Plastiktüten und Papierfetzen umher und klammerten sich hier an ein Fischbrötchen, dort an ein folienverschweißtes Körbchen mit Muscheln und gefärbten Seesternen. Hamburg lächelte, aber der eisige Wind verriet die schlechte Laune unter dem freundlichen Gesicht.

»Ich kann den Winter nicht leiden«, maulte Cata und fröstelte in ihrem dicken, wattierten Mantel. Die beiden anderen Mädchen sahen sich vielsagend an – Cata hatte für keine Jahreszeit so richtig etwas übrig. Im Frühling war alles nass, der Sommer war zu heiß, im Herbst rutschte man auf dem blöden Laub aus …

»Nachher trinken wir einen heißen Kakao mit Sahne«, schlug Esther aufmunternd vor, obwohl ihr gar nicht danach war. Cata war keine drei Monate jünger als sie, aber sie wirkte manchmal eher wie eine Fünfjährige als wie fünfzehn, und wenn sie ins Nörgeln geriet, hätte Esther manchmal gern einen Babysitter engagiert.

»Davon wird mir jetzt auch nicht warm«, murmelte Cata, aber es klang schon versöhnlicher.

Nina sagte gar nichts, drückte nur die blaue Reisetasche fester an ihre Brust und stapfte mit zusammengepressten Lippen die Hafenstraße entlang. Sie trug eine ausgeblichene Jeans, an den Knien kunstvoll zerrissen, und über dem engen schwarzen Sweatshirt nur eine leichte Sommerjacke. Esther fror, wenn sie die Freundin bloß ansah.

Sie wechselte den Klappspaten in die linke Hand, ballte die andere zur Faust und vergrub sie tief in der Jackentasche. Ein Königreich für das Paar Handschuhe, das zu Hause vergessen bei der Garderobe herumlag!

Der Einstieg zum alten Elbtunnel kauerte in einem Regenmantel aus Gerüst und Planen neben den dunklen Hafengebäuden. Die drei Mädchen fuhren im Personenaufzug nach unten, passierten einen komatösen Fahrzeugeinweiser, der offenbar im Stehen schlafen konnte, und trabten durch eine der beiden langen, leeren Röhren unter der Elbe.

Esther warf Nina einen Blick zu. Nina, deren schwedenblondes Haar im fahlen Kunstlicht bläulich schimmerte, sah aus wie eine Leiche. Die Hände, die die Reisetasche umklammerten, waren so bleich, dass Esther glaubte, die Knochen durch die Haut schimmern zu sehen.

Sie drängte die Beklemmung zurück. In letzter Zeit hatte sie den Tick, dass sie lauter Kleinigkeiten für Omen hielt. Vor ein paar Wochen erst hatte sie im Bus aus dem Fenster geschaut und ein Beerdigungsinstitut gesehen, war beim Schlump in die U-Bahn umgestiegen und hatte dort minutenlang eingequetscht zwischen missmutigen Leuten vor diesem dämlichen Plakat der Friedhofsgärtnerei gestanden, auf dem ein kleines Mädchen seiner Oma versicherte, für ihr Grab sei gesorgt. Entnervt hatte sie den Blick abgewandt und direkt auf das Werbeplakat eines Bestattungsunternehmens geschaut … und die nächsten zwei Tage war das in einer Tour so gegangen. Dann war ihre Großtante bei einem Autounfall gestorben und der Spuk hatte schlagartig aufgehört. Es war schwer, sich da nicht einzubilden, man könne ein bisschen hellsehen; vor allem, weil ihr so etwas dauernd passierte.

Nur, dass es eben völlig lächerlich war. Es gab keine Hellseherei, es gab nur eigenartige Verknüpfungen, die das Gehirn anstellte. Nina sah aus wie eine Leiche, weil das Licht beschissen war und weil es ihr – verständlicherweise! – dreckig ging. Es gab Gründe, sich Sorgen um die Freundin zu machen, die gab es bei Nina leider immer, aber ihre bleiche Haut und die leeren Augen, das feine bläulich weiße Haar und die farblosen Lippen waren kein Zeichen. Nina würde nicht sterben!

An der Tunnelwand befanden sich alle paar Meter schimmernde Reliefs: Fische, Seesterne, Hummer. Esthers Blick fiel auf eins davon.

Ratten. Mehrere fette Exemplare, die sich gierig um etwas drängten, das Esther im Vorbeilaufen auf die Schnelle nicht erkannte, aber die Ratten schienen es für essbar zu halten.

Die nächste düstere Ahnung machte sich in Esther breit, sie schüttelte den Unfug nur mit Mühe ab und ärgerte sich über ihre eigene Blödheit. Klar, Zeichen. Nina würde sterben, weil sie zufällig nicht auf einen Hummer geschaut hatte. In letzter Zeit ging sie sich selbst manchmal ganz schön auf die Nerven.

»Soll ich die Tasche nehmen?«, fragte sie. Ihre Stimme hallte ihnen im Tunnel voraus und flüsterte weit vorne unverständlich ihre Worte nach.

Nina schüttelte den Kopf und drückte die Tasche fester an sich.

Auf der anderen Seite des Tunnels erstreckte sich, soweit Esther wusste, der Freihafen – tristes Industriegebiet, so weit das Auge reichte. Sie kamen bei den verlassenen Gebäuden heraus, die Esther für eine alte Zollstation hielt, und schlugen einen Bogen zurück zur Elbe. Auf dem Aussichtspunkt am Ufer war selten etwas los. Sie und Nina hatten hier viele Sommerabende beineschaukelnd auf der Mauer verbracht, zum Hafen hinübergeschaut und sich fast schon eingebildet, dass die Plattform ihnen allein gehörte, aber manchmal verirrte sich doch ein Störenfried hierher. Nur ausgerechnet bei dieser Kälte hatten sie keinen erwartet.

»Verzieh dich bloß«, brummte Nina in sich hinein: An der dicken Steinbrüstung lehnte ein Typ und sah zu den Kais jenseits des Flusses hinüber. Und auf dem kleinen Stück Grün stand dreibeinig ein Husky und ließ einen Urinstrahl gegen den einzigen Baum auf der Plattform prasseln. Starre blaue Augen richteten sich auf Nina, dann lief der Hund auf sie zu, wedelte und schnüffelte an der Tasche.

»Sam!« Der Typ hatte sich umgedreht, doch der Hund dachte nicht daran, auf ihn zu hören. Nina hob die Tasche an die Brust, aber der Husky reckte sich einfach ein bisschen und schnupperte umso interessierter. Esther schob sich dazwischen und fasste den Hund mit der freien Hand am Halsband. »Aus«, befahl sie. Die blauen Augen blieben stur auf die Tasche gerichtet, aber immerhin biss er sie nicht. Nur ein Schwall Hundegeruch stieg aus seinem feuchten Fell auf.

»Tut mir leid.« Der Typ kam herübergeschlendert, er schien es nicht sehr eilig zu haben. »Is’n bisschen aufdringlich. SAM!«

Sam schenkte seinem Herrchen keinen Blick. Der Mann zog ihn von Esther weg. »Scheint ja superspannend zu sein, eure Tasche.« Mit gerunzelter Stirn musterte er die drei Mädchen – sein Blick ruhte etwas länger auf der kalkweißen, schwer atmenden Cata, dann blieb er auf Esther und ihrem Klappspaten liegen. »Was habt ihr denn vor?«, fragte er misstrauisch.

»Geliehenen Spaten zurückbringen«, erwiderte sie.

»So«, sagte er.

Sie starrten einander an. Hau bloß ab, dachte Esther. Was zum Teufel ging es ihn an, was sie hier trieben? Nur weil sein Hund an den Baum gepinkelt hatte, gehörte ihm ja wohl nicht der Platz.

Endlich löste sich sein Blick. Er lächelte irgendwie ölig. »Na, dann mal viel Spaß beim Zurückgeben«, sagte er.

»Danke«, sagte Esther sehr höflich.

Ein langer Blick wanderte noch über die Mädchen, dann schüttelte er den Kopf und zog seinen Hund die ersten paar Schritte mit, ehe er ihn losließ. Sie sahen den beiden nach, bis sie in den Schatten des Wegs verschwunden waren. Er sah sich nicht um.

»Geliehenen Spaten zurückbringen?«, fragte Nina. »Heilige Scheiße, Wagner! Mitten im Winter?«

»Jaja«, brummte Esther, »aber was soll’s, er hat’s ja geschluckt.« Sie sah sich um. »Wo genau wolltest du denn …« Jenseits der Brüstung, das wusste sie, ging es zwei, drei Meter runter, dann fiel eine künstliche Böschung aus Steinen schräg zum Ufer ab. Ansonsten sah ihr hier alles sehr zugebaut aus. Es sei denn …

Nina war ihrem Blick zum Baum gefolgt und schüttelte den Kopf, bevor sie noch einmal den Weg hinuntersah, aber Mann und Hund blieben verschwunden. »Da sieht man es, wenn gegraben wurde«, erklärte sie. »Ich dachte – dort drüben?«

Dort drüben säumte hinter der Mauer zu ihrer Linken ein schmaler, hoch über dem Wasser gelegener Streifen Grün die Elbe. Zu den Wohnhäusern dahinter war er durch eine weitere hohe, breite Mauer abgegrenzt; zum Wasser hin, es war kaum zu fassen, mit einem Jägerzaun. Über die Mauer konnte man jedoch von hier aus nicht – ein riesiges halbes Rad aus Draht versperrte aufdringlichen Ausflüglern den Weg.

»Das ist privat«, gab Esther zu bedenken.

»Die können mich am Arsch lecken.« Nina presste die Lippen zusammen und trabte los. Erst als Esther ihr folgte, setzte sich auch Cata in Bewegung, nachdem sie einen unsicheren Blick in die Richtung geworfen hatte, in die der Mann mit dem Hund verschwunden war.

»Privatgrundstück, Betreten verboten«, verkündete das Schild über dem launigen Blechdalmatiner, an dem Nina erhobenen Hauptes vorbeimarschierte. An grün und blau gestrichenen Garagentoren vorbei, an der Mauer entlang. Sie begegneten niemandem, in den Fenstern regte sich nichts.

Am Ende des Grundstücks führte eine Treppe über die Mauer, aber sie steckte in einer Art Drahtkäfig und die Tür war verschlossen. »Paranoide Arschlöcher«, knurrte Nina und drückte Cata so behutsam die Tasche in den Arm, als schliefe darin ein Baby. Esther lehnte den Spaten an die Wand und faltete die Hände zu einer Räuberleiter. Keine zwei Sekunden später war Nina oben auf der Mauer.

»Ist das nicht verboten?«, flüsterte Cata schreckensstarr. »Es ist nicht direkt erlaubt«, gab Esther zu und klapste ihr beruhigend auf die Schulter, ehe sie Nina Tasche und Klappspaten nach oben reichte. Sie faltete erneut die Hände, diesmal für Cata. Sie machte sich auf einiges gefasst, aber es kam schlimmer. Erst mussten sie eine halbe Ewigkeit auf die Freundin einreden, damit sie es überhaupt versuchte. Dann schaffte sie es, den Fuß so blöd in die gefalteten Hände zu platzieren, dass Esther eine Abschürfung am Daumenballen davontrug. Cata hatte keinerlei Körperspannung, wankte und schaukelte, als würde es stürmen. Als Esther sie endlich erfolgreich auf die Mauer gestemmt hatte, während Nina oben zog, waren alle drei schweißnass. Mit einem erstickten Quieken plumpste Cata auf der anderen Seite hinunter. Esther zuckte zusammen – großartig. Hoffentlich hatte sie sich nichts getan, sonst würden sie sie nie wieder dazu bekommen, über irgendetwas zu klettern, das höher war als ein Rinnstein.

Sie ergriff Ninas ausgestreckte Hand, kam zu ihrer Erleichterung halbwegs glatt über die Mauer und landete in einem abgeschiedenen Stück Welt, in dem auf einmal alles andere weit fort zu sein schien.

Sie kauerten eine Weile unter einer Trauerweide, deren kahle Äste herabhingen wie das nasse Haar einer Wasserleiche, und sahen durch diesen dürftigen Schutz zu den Kais jenseits des Flusses. Eine Reihe weißer Schiffe leuchtete zu ihnen herüber, säuberlich hintereinander vertäut wie im Gänsemarsch, weit rechts reckte die Rickmer Rickmers drei betagte Masten in die Höhe und ein kleines, gelbes Boot vom König-der-Löwen-Musical wühlte sich mühsam, aber eifrig durchs Wasser. Trotzdem wirkte der Hafen gespenstisch leer.

»Schöner Platz«, murmelte Cata beklommen und sah sich nervös um.

»Hier?«, fragte Esther und deutete mit dem Spaten auf eine Stelle zwischen Weide und Zaun.

Nina schüttelte den Kopf. »Dichter am Baum fänd ich schöner.«

»Dichter am Baum sind dicke Wurzeln«, gab Esther zu bedenken. »Ich weiß nicht, ob wir da durchkommen.« Es war ein paar Jahre her, aber sie erinnerte sich genau an das Fluchen ihres Vaters, als er im Garten das Grab für ihren Hund hatte ausheben wollen.

Nina zögerte. Endlich nickte sie. »Bisschen dichter am Wasser vielleicht.«

Ihre Stimme war ungewöhnlich dünn. Esther biss die Zähne zusammen, trat einen Schritt aufs Wasser zu, klappte den Spaten auseinander und entblößte ein Stück nackter Erde unter dem Laub. Dann fing sie an zu graben.

Ihr war übel, als sie fertig war. Sie sah zu, wie Nina die Tasche abstellte und den Reißverschluss aufzog.

Der Welpe sah gar nicht lebendig aus – also, klar, er war ja auch tot, aber er sah nicht echt aus. Wie ein Plüschtier. Sie hockte sich neben Nina und betrachtete das dunkle Fell, das sich an den Ohren lockte. Aus der Nähe sah er doch sehr wirklich aus, sogar zu sehr. Die Augen waren fast, aber eben nur fast geschlossen, milchige Schlitze im dunklen Pelzgesicht, und da war getrockneter Speichel an den Lefzen. Ein wenig Kruste in der winzigen Nase. Spuren von Feuchtigkeit unter den Augen. Ein ziemlich schrecklicher Anblick, musste Esther zugeben, erbarmungswürdig. »Sie sieht schlimm aus«, sagte sie leise, dann fiel ihr auf, dass sie zwar noch taktlosere Dinge hätte sagen können, aber die Auswahl war wirklich nicht sehr groß.

Nina nickte nur, die Augen riesig und hungrig, als wollte sie diesen unschönen, aber letzten Anblick in sich aufsaugen und speichern. »Der Tierarzt sagt, sie stammt wahrscheinlich von einem Massenzüchter.« Sie lachte heiser auf. »Ich soll mich das nächste Mal gefälligst besser informieren, wenn ich mir einen Hund anschaffe, hat er gesagt. Der Wichser. Ich steh da mit meinem toten Welpen und heule und er quatscht mich voll. Ich bin nach Hause und wollte eigentlich Petroleum oder so holen, um seine Praxis abzufackeln, aber dann bin ich eingeschlafen.«

Cata schaute entsetzt drein, aber Esther hörte gar nicht hin – Nina spuckte solche Bemerkungen im Dutzend aus, wenn sie traurig oder wütend war, da musste man nicht viel drauf geben. »Massenzüchter?«, fragte sie vorsichtig.

»Keine Ahnung, was er meint. Kann mich auch am Arsch lecken.« Nina schob eine Hand aus dem wie immer zu langen Ärmel und berührte den Welpen unendlich behutsam an der kleinen, weichen Schnauze.

»Ich dachte, du hast sie geschenkt bekommen?«, fragte Esther. Vorgestern hatte Nina sie angerufen und ihr erzählt, sie habe einen kleinen Hund, einen Winzling, ganz schwach, aber hungrig, sie würde ihn wieder aufpäppeln. Wer ihn ihr geschenkt hatte, wollte sie nicht verraten –irgendein Typ, mutmaßte Esther und ärgerte sich ein wenig über die Geheimniskrämerei. Aber Nina hatte dem edlen Schenker versprechen müssen, nichts zu sagen, und Nina nahm Versprechen so todernst, dass man Angst bekommen konnte.

Das war Sonntagabend gewesen. Jetzt war Dienstag, und Esther hatte es nicht geschafft, mal vorbeizuschauen. Heute hatte sie nach der Schule kommen wollen, aber es war zu spät gewesen. Sie hatte den Hund ihrer besten Freundin nie lebend gesehen, und jetzt gab es einen Teil von Ninas Leben, mit dem sie irgendwie nichts zu tun hatte. Daran änderte es auch nichts, dass sie ihn mit beerdigte, hier an diesem feuchten, kahlen Ort, an dem sie nicht sein durften. Sie streckte die Hand nach der Freundin aus. »Es tut mir so leid«, sagte sie hilflos.

Sie hockten einen Moment schweigend nebeneinander und starrten den toten Hund an. Da lag so viel Endgültigkeit in diesem winzigen Leib, dass Esther ganz schwindlig wurde. Steh auf, dachte sie, aber da regte sich nichts und bei genauerer Überlegung war das auch besser so.

»Wir sollten hier weg«, mahnte Cata kläglich. »Ehe uns jemand sieht.«

Nach deinem Quieken nicht unwahrscheinlich, dass jemand kommt, dachte Esther unfreundlich, aber sie riss sich zusammen. Cata hatte ja recht. Außerdem vertieften sich bereits die Schatten und bald würden sie nicht mehr viel sehen.

Nina beugte sich über die Tasche und küsste den toten Welpen auf das winzige Pelzgesicht. »Do swidanja, Malyschka«, flüsterte sie. Ihre sonst so beweglichen Züge waren starr, als sie den Reißverschluss zuzog.

Die Tasche passte genau in das Loch, das Esther ausgehoben hatte. Sie fühlte sich schuldig, ohne zu wissen, weshalb.

2

Nach einer Feier oder einem großen Familientreffen wirkt ein Haus fremd und leer. Seit Esther sich von den anderen Mädchen verabschiedet hatte, kam ihr die ganze Stadt so vor. Auf dem Nachhauseweg kaufte sie am Kiosk in der Osterstraße noch ein bisschen Schokolade und eine Oxmox und klammerte sich an der zusammengerollten Zeitschrift fest, als sie weiterging.

Im Treppenhaus des Altbaus, in dem sie aufgewachsen war, roch es nach Essen und frischer Seife, und aus einer der oberen Wohnungen drang etwas, das man unter ausreichend Alkoholeinfluss bestimmt für Musik halten konnte. Esther hatte es nicht so mit dem elektronischen Zeug.

»Hast du Hunger?«, rief ihre Mutter aus der Küche, als sie die Tür hörte.

Esther blieb stehen und schaute den Flur entlang. Ihre Mutter und Judith hatten es sich am Küchentisch gemütlich gemacht, Judith war mal wieder in eine ihrer knallbunten Zeitschriften vertieft. Ihr Vater war vermutlich noch beim Sport – seit ein paar Monaten hielt er es eisern durch, sich jeden Dienstagabend hinzuprügeln. Kurz verspürte sie den Wunsch, sich der Idylle anzuschließen, in die Wärme der Küche einzutauchen, sich einen Teller Essen aufwärmen zu lassen und ab und zu ein paar Zeilen aus der Oxmox gegen ein paar Albernheiten aus der Mädchen, Girl oder Bravo zu tauschen, die Judith da so konzentriert durcharbeitete. Aber in ihr rauschten noch Elbwind und Hafenkälte, sie war still und leer im Kopf und die Küche mitsamt ihrer familiären Gemütlichkeit kam ihr fremd vor.

»Nein, danke«, rief sie zurück. »Bin oben.« Sie schlüpfte aus den Turnschuhen, warf die Jacke über einen Garderobenhaken und trabte die Wendeltreppe hoch.

Familie Wagner residierte in zwei Etagen; oben war das Reich der Mädchen, komplett mit einer kleinen Küche. Nur das Zimmer, in das die Treppe mündete, gehörte noch zu »unten« – in der Ecke standen Waschmaschine und Trockner, und bei schlechtem Wetter hing hier mitunter die Wäsche von sieben Leuten, wenn die Maschine der Merzens nebenan mal wieder den Geist aufgegeben hatte.

Esther stellte fest, dass sie die eben gekaufte Oxmox bereits besaß – sie lag aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch. Seufzend rollte sie sich auf dem Bett zusammen, starrte an die Decke und fragte sich, was Nina wohl gerade tat.

Zehn Minuten später brachte Judith ihr einen dampfenden Teller.

»Ich soll spionieren, wie es dir geht«, verriet sie, setzte sich neben Esther auf die Bettkante und grinste. Judith war gerade zwölf geworden, hatte dieselben roten Haare wie die Mutter und Esther, aber nicht den etwas kräftig geratenen Unterkiefer der Schwester – Judiths Gesicht war klein und schmal, und Esther war es ein bisschen leid, von allen zu hören, dass sie mal eine Schönheit würde, auch wenn sie es manchmal selbst dachte.

»Ninas Hund ist gestorben«, erzählte sie, ohne nachzudenken, und schnupperte. Tortellini mit Gemüsefüllung in der Zwiebel-Tomaten-Sauce, die seit Jahren Gegenstand ständiger Wagner’scher Verbesserungen war und nie gleich schmeckte – auf einmal knurrte ihr Magen.

»Richtig gut heute«, empfahl Judith und reichte ihr den Teller. »Nina hatte einen Hund

»Seit vorgestern. Einen Welpen.«

»Oh.« Die kleine Stirn krauste sich besorgt. »Scheiße. Ist er überfahren worden?«

»Krank gewesen.« Esther stieß einen tiefen Seufzer aus. »Nina war heute Morgen mit ihm beim Tierarzt, der hat ihn direkt eingeschläfert, weil er so krank war. Er hat gesagt, der Hund stammt wahrscheinlich von einem Massenzüchter.«

»Was ist das?«

»Wohl Leute, die Massen an kranken Hunden züchten. Blöde Frage.« Mit einem Mal war Esther seltsam gereizt – Judith machte es sich gerade so richtig gemütlich auf ihrem Bett, und wenn sie sich erst mal eingenistet hatte, war es schwer, sie wieder loszuwerden.

»Das ist doch völlig mies«, empörte sich ihre kleine Schwester. »Warum …«

»Schau mal«, unterbrach Esther sie, »die hab ich doppelt.« Sie deutete auf die Oxmox auf dem Bett. »Willst du eine mitnehmen?«

Judith schmollte kurz. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich geh ja schon.«

»Sei nicht …«

»Bin ich nicht. Ich sag Mama, du hast schnell aufgegessen und schläfst jetzt, und du bist okay, nur müde.«

»Danke.« Esther strich der kleinen Schwester übers Haar, was sie gerade noch so eben schaffte, ehe Judith mitsamt erbeutetem Hamburger Stadtmagazin und fröhlichem »Schlaf gut« zur Tür hinaus war.

Die Tür ging fast augenblicklich wieder auf, nur einen Spalt. »Bist du doch, oder?«

»Was?«

»Okay.«

»Jaja. Alles in Ordnung.«

Zack, war Judith wieder weg. Esther lächelte kurz, wippte mit den Füßen und probierte die Sauce. War wirklich gut. Aber Essen half nicht gegen das nagende Gefühl im Bauch.

Massenzüchter.

Sie stand auf, sah ein bisschen aus dem Fenster, lief ein paar ruhelose Kreise und tat dann, was sie eigentlich von Anfang an vorgehabt hatte: Sie schaltete den Computer ein, der seufzend zum Leben erwachte. Er war ein bisschen zu oft an, seit sie einen eigenen Internetanschluss hatte, das wusste sie.

»Massenzüchter« ergab bei Google eine wahre Flut an Treffern. Mit einem Seufzer der Erleichterung vertiefte sich Esther ins Durcharbeiten der unzähligen Links. Das war genau das Richtige – länger herumzuliegen, sich schlecht zu fühlen und über tote Welpen und bleiche Ninas nachzugrübeln hätte sie nicht ausgehalten.

Sie fand eine verwirrende Vielfalt von Seiten, die ein und dasselbe sagten: Man musste beim Hundekauf aufpassen, sonst geriet man an einen Massenzüchter und kaufte einen kranken Hund. Beim Lesen umwölkte sich ihre Stirn zusehends. Es war eine ziemliche Schweinerei, und offensichtlich war es sehr verbreitet, ein Geschäft mit kranken Welpen und dämlichen Käufern zu machen. Am Ende lief es darauf hinaus, dass alle einen Rassehund wollten, aber die Züchterpreise waren vielen Leuten zu hoch und da kamen geschäftstüchtige Typen ins Spiel und produzierten die Hunde regelrecht wie am Fließband.

Esther schnaubte. Rassehunde fand sie unnötig wie einen Kropf. Ihre Hündin, bester Hund der Welt und meisterhafte Fußwärmerin in kalten Winternächten, war ein Mischling gewesen. Seit vier Jahren, seit Lonka überfahren worden war, bettelte Judith immer mal wieder um einen Hund, aber Esther stellte sich quer – sie wollte keinen anderen Hund im Haus dulden. Wie Lonka würde er sowieso nicht sein. Papiere hin oder her – so eine Ahnentafel hätte Lonka höchstens gefressen.

Esther fand Dutzende pastellfarbener Foren, in denen irgendwelche Leute jammerten, wie viel ihre kranken Hunde sie gekostet hätten. Irgendwie ging es ständig nur um Geld, stellte Esther angewidert fest. Überhaupt – jeder Vollidiot konnte im Internet rumblöken, und es kam ihr vor, als würden die Leute die Fresse umso weiter aufreißen, je näher ihr IQ dem Gefrierpunkt kam: Neunzig Prozent dessen, was sie gerade gelesen hatte, war die reinste Zeitverschwendung gewesen. Gerade wollte sie den Computer ausschalten, da weckte ein Eintrag ihre Aufmerksamkeit: Ein gewisser Fontane fragte nicht ohne Spott, was denn die Leute gegen die angeblichen Züchter ihrer kranken Hunde unternommen hätten. Den Einwand, dass die Polizei nichts machen konnte, ließ er nicht gelten – wenn man es ernst meinte, schrieb er, müsse man den Leuten aufs Dach steigen, keine Ruhe geben, bis etwas passierte. Zeit, im Forum herumzujammern, habe man ja schließlich auch.

Esther war elektrisiert. »Und was genau unternehmen?«, fragte sie den gesichtslosen Fontane, der nicht antwortete. Sein Eintrag war fast drei Monate alt. Sie klickte auf sein Profil, um zu sehen, ob es eine E-Mail-Adresse gab, aber er hatte nichts eingetragen, und dieser Beitrag war der einzige, den er im Forum hinterlassen hatte. Nachdenklich betrachtete sie die Standard-Silhouette, die mangels eines eigens hochgeladenen Bildes als Avatar diente.

Keine eigene Homepage, aber ein paar Seiten hatte er verlinkt. »www.schwarzlichter.com« war gleich der erste Link. Kannte sie nicht – sie klickte ihn an.

Mit einem Mal war ihr Zimmer dunkel. Das Kükengelb des Forums hatte ihr Zimmer hell erleuchtet, aber jetzt war der Monitor schwarz bis auf die Grafik einer digital wirkenden erhobenen Hand und einen längeren Text, alles in einem leicht radioaktiv wirkenden Türkisgrün. Esther las:

www.schwarzlichter.com – wer schweigt, verliert.

Erst lernst du laufen, dann bringen sie dir Sprechen bei und dann heißt es: Setz dich und halt’s Maul.

Vergiss es!

Schreib, was du denkst. Berichte, was du siehst:

Seltsames, das niemand bemerkt.

Ungerechtigkeiten, die für andere unwichtig sind.

Verbrechen, für die sich keiner interessiert.

Wahrheiten, die nicht in der Zeitung stehen.

www.schwarzlichter.com ist deine Plattform.

Songs, Storys, Pics, Videos: Lade hoch, was immer du willst, nur sei nicht still.

Hier kannst du über Erlebnisse reden. Über Probleme. Über dubiose Vorkommnisse in deiner Stadt. Egal ob große Dinge oder kleine. Du allein bist der Maßstab.

www.schwarzlichter.com – wer schweigt, verliert.

Esther bekam eine Gänsehaut. Sie stellte einen Code ein – alberne Spielerei, fand sie naserümpfend – und betrat die eigentliche Seite.

Im ersten Moment war sie enttäuscht. Sie überflog einen Blogeintrag, in dem irgendwer über seine Albträume erzählte, die sie nicht interessierten, und einen, der die Frage behandelte, ob Hausaufgaben eigentlich in einer Demokratie vertretbar seien. Sie suchte nach einem Mitglied namens Fontane, wurde aber nicht fündig.

Dann entdeckte sie die ersten Einträge zu ungewöhnlicheren Vorfällen.

Der Brand einer Schulturnhalle in München. Ein Unfall mit einem Scheinwerfer in einem Kulturzentrum in Berlin, den jemand verdächtig gefunden hatte. Und in Leipzig war irgendetwas mit einem Chemiekonzern ziemlich schiefgelaufen. Sie wollte sich gerade tiefer einlesen, da stieß sie auf den Eintrag eines gewissen RunnerLE.

RunnerLE schrieb:

ja geil, was das gebracht hat. die machen genau so weiter, wie vorher und wir haben ärger am hals. klingt immer großartig, huuu wir tun was aber im endeffekt bewegen wir einen scheiß. es ändert sich gar nichts außer dass man stress bekommt, den man nicht gebrauchen kann. nur meine meinung. sankthanna hat bestimmt eine andere …

Esther runzelte die Stirn. Der Text auf der Startseite hatte sie mit prickelndem Tatendrang erfüllt; sie hatte keine Lust, sich jetzt von so einem frustrierten Gefasel ausbremsen zu lassen. Sie las widerwillig ein bisschen weiter und stellte fest, dass dieser RunnerLE die Sache in Leipzig überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte. Sie schaute in sein Profil. Er las nicht, lief gern, war ebenfalls fünfzehn – ein bisschen nichtssagend, fand sie, aber trotzdem wurmte sie sein traniges Gefasel.

Kurz entschlossen registrierte sie sich unter dem Namen Fontana und schrieb ihm eine Privatnachricht.

Fontana schrieb:

Hi!

Lese gerade über eure Sache mit Biocity. Schade, dass es nicht ganz hingehauen hat.

Mich würde interessieren, was genau schiefgelaufen ist. Außerdem wüsste ich gerne genauer, wie ihr überhaupt auf die Sache gestoßen seid. Ich habe es hier in Hamburg gerade mit einer sehr hässlichen Sache zu tun, glaube ich – es geht um Hundehandel.

Ich würde mich über eine schnelle Antwort sehr freuen!

Ungeduldige Grüße

Fontana

Sie schickte die Nachricht ab und wusste dann nicht mehr, ob es eine gute Idee gewesen war. Was sollte er ihr denn antworten? Überhaupt – auf der Seite gab es ein paar Leute, die ihr eigentlich interessanter vorkamen. Aber irgendwie schienen sich alle untereinander zu kennen. Sie stellte sich vor, wie sie sich schrieben: Hat dir diese komische Tussi aus Hamburg auch was von Hundehandel vorgefaselt? Was will die eigentlich?

Was wollte sie eigentlich?

Sie klickte sich unschlüssig noch einmal durch ihre Trefferliste bei Google. Ihre Unternehmungslust war angeschlagen, sie war wütend auf RunnerLE und zugleich auf sich selbst. Wenn Nina damit rausrückte, woher sie den Hund hatte, und wenn er wirklich von so einem Massenzüchter stammte … war es dann nicht irgendwie ihre Pflicht, etwas zu unternehmen? Manche Aufgaben sucht man sich nicht aus, hatte ihr Vater mal gesagt, die kommen einfach an und klopfen an die Tür. Esther fand es schäbig, solche Aufgaben abzuweisen. Um Cata hatte sie sich schließlich auch gekümmert, als die neu in die Klasse gekommen war, in ihrer Karottenhose und dem giftgrünen Strickpullover, der peinlich über zu viel Bauch und Hüften spannte.

Wenn der Welpe von so einem Massenzüchter kam, gab es da noch mehr Hunde und die lebten und brauchten Hilfe.

Sie war todmüde. Morgen, versprach sie Ninas totem Welpen … obwohl sie nicht recht wusste, was genau sie morgen denn tun sollte. Sie schloss das Fenster mit den Google-Ergebnissen und wollte eben auch die Schwarzlichter wegklicken, da sah sie die Benachrichtigung blinken, dass eine neue Privatnachricht eingetroffen war.

RunnerLE schrieb:

hi. frag sankthanna die erzählt es dir bestimmt gern. mfg, RunnerLE

Postwendend schrieb Esther zurück:

Fontana schrieb: