Beate Dölling

Alles bestens

Roman

www.gulliver-welten.de

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Gulliver 1091

© 2007, 2008 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Frank Griesheimer

Neue Rechtschreibung

Markenkonzept: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg

Einbandgestaltung: Max Bartholl unter Verwendung der Motive von westend61/plainpicture und Joel Sartore/gettyimages

ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza

ISBN 978-3-407-74126-4

Ein dickes, fettes Dankeschön an Frank! B.D.

Außerdem dankt die Autorin der Stiftung Preußische Seehandlung, die dieses Projekt mit einem Stipendium förderte.

Die Zeit verwandelt uns nicht, sie entfaltet uns nur

Max Frisch

The more you know

Ich hatte mich ausgesperrt, war nackt und hungrig und ohne Schlüssel. Meine Eltern würden am Donnerstag wiederkommen; meine Klasse erst in einer Woche. Es war niemand da, zu dem ich hätte gehen können. Verwandte haben wir nicht in Berlin, und unsere Nachbarn links, mit denen meine Eltern manchmal Sushi essen, waren auf Mallorca. Frau Larmanta, rechts, wollte ich nicht auf den Wecker fallen. Sie ist steinalt und immer auf irgendwelchen Wohltätigkeitsveranstaltungen. Wenn ich bei ihr klingelte, hätte sie bestimmt gedacht, ich käme zum Spenden, obwohl ich ja nichts bei mir hatte, außer meinem Blut. Aber das kann man ja bekanntlich auch spenden.

Apropos: Mir sitzt noch immer der Schmerz im Rücken, weil sie mir den Arm umgedreht haben wie eine Hühnerkeule, dabei hab ich doch schon geblutet wie verrückt. Ich soll froh sein, sagten sie hinterher, dass sie mich nur in die Zelle gesteckt haben, statt mich in Bonnies Ranch abzuliefern.

Kennt ihr Bonnies Ranch? Eine Klapse vom Feinsten, im Norden von Berlin. Einmal drin, willste nie wieder raus. Das hat mir mal so ein Patientenarsch erzählt, im Wartezimmer meiner Mutter.

Sorry, eigentlich konnte ich es noch nie leiden, wenn jemand seinen ganz persönlichen Senf auftischt, möglichst noch in allen Einzelheiten, für jeden Mist um Verständnis heischend. Jeder Scheißamokläufer wird von den Psychoklempnern wie ein verdammtes Puzzle in Einzelteile zerlegt, begutachtet, und wenn die Käseblätter dann alle Einzelteile veröffentlicht haben, kriegen die Leute plötzlich Mitleid mit dem Killer. Hat eine schwere Kindheit gehabt, heißt es dann, der Arme. Aber wer hat das nicht?

Ich weiß, wovon ich spreche. Meine Mutter ist Psychologin. Bei uns wird seit jeher jede Regung auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Manchmal hab ich das Gefühl, bei mir ist beim Zusammensetzen ein Stück von meinem Modellflugzeug dazwischengerutscht und sorgt für Surrealismus pur. Was ja vielleicht ganz witzig wäre, wenn ich es allein für mich auskosten könnte, aber bei uns zu Hause muss man ständig erklären, was man denkt und träumt und fühlt und meint – dieser ganze Mist eben. Das ist es doch, was einen in den Wahnsinn treibt.

Dabei fing alles ganz harmlos an. Vor genau siebeneinhalb Wochen, im Mai, mit einem Weckerpiepen. Allerdings hatte ich genau dieses für mich so wichtige Piepen nicht gehört. Mit anderen Worten, ich hab verpennt. Klar, das passiert in den besten Familien, deswegen muss nicht gleich Panik aufkommen. Wozu hat man denn eine zweite Instanz im Haus, die sonst keine fünf Minuten nach dem ersten Piepen schon im Zimmer steht? Aber ausgerechnet an dem Tag war meine Mutter nicht da. Ist ja immer so – wenn man diese verdammten Mütter mal braucht, turnen sie auf irgendwelchen Kongressen rum. Sie war an dem Morgen schon sehr früh losgefahren, nach Stuttgart. Dort hielt sie einen Vortrag über Formen von SVV – selbstverletzendem Verhalten, also über Menschen, die sich selber aufritzen, sich die Zunge spalten oder den Penis, wenn ihr wisst, was ich meine.

An dieser Stelle möchte ich übrigens gleich mal erwähnen, dass ich nicht daran glaube, dass uns noch irgendwas retten kann. Uns, die Menschheit. Überlegt doch mal, was hat uns all unser Wissen denn gebracht, wenn wir jetzt doch wieder mehr glauben als denken und den Scheißpapst anhimmeln oder auf den Messias warten oder auf sonst einen gottverdammten Erlöser. Mal ehrlich, wer von uns will schon erlöst werden? Und wovon? Vom Internet vielleicht?

Der Glaube versetzt Berge, hieß es, als ich klein war. Heute müsste man sagen, er sprengt sie – Dynamit im Gürtel, Gebetbuch mitnehmen, Lunte anzünden, anschnallen, Leute, und ab ins Paradies. Schneller, weiter, höher als jede Cruise-Missile.

Aber zurück zu dem Tag, als mein Wecker klingelte und meine Mutter auf dem Kongress und mein Vater angeblich für drei Tage auf einer Knochen-Fortbildung war und ich noch in anderen Welten wandelte, mit fest geschlossenen Augen. An dem Tag wollten wir nämlich auf Klassenfahrt gehen. Die ganze 10a und ich. Als ich dann irgendwann im Morgengrauen aufwachte, war es schon zehn vor acht, und um acht wollten wir uns am Zoo treffen. Wie ein Idiot bin ich ins Badezimmer gewankt und wusste nicht, was ich zuerst machen sollte, pinkeln, Zähne putzen oder Haarpracht kämmen. Ich stand wie gelähmt vor dem Spiegel und sah mich an. Oder vielmehr, ich begegnete mir.

Ihr könnt euch das vielleicht nicht vorstellen, aber das war ein historischer Moment in meinem Leben. Andere Leute verwandeln sich eines Morgens in einen Käfer, bleiben auf dem Rücken liegen und verrecken; ich aber stand vor einem Spiegelbild, und daraus schaute mich ein Mann an, den ich noch nie vorher gesehen hatte. Gestern war er noch ein stinkender kleiner Alien, wie seine Mutter manchmal behauptete, aber jetzt war er plötzlich ein echter Kerl, mit breiten Augenbrauen, harten Wangenknochen, Weltblick. Ich sah aus wie der Davidoff-Mann: The more you know!

Ich wusste alles! Mir war sofort klar, dass man bei so einer Verwandlung keinen Wecker hören konnte!

Ich versuchte, die Zahnpastaspritzer vom Spiegel mit Spucke wegzuwischen, um voll zur Geltung zu kommen, aber das verschmierte den Spiegel nur. Trotz dieser Nähe schaute ich mir aus der Ferne zu. Kein Zweifel, das war ab heute ich, auch wenn ich mir noch ein bisschen fremd vorkam.

Vielleicht kennt ihr das ja aus Filmen. Man identifiziert sich mit dem Helden, plötzlich bist du selbst Keanu Reeves oder James Bond und rennst dir den Arsch ab, obwohl du gleichzeitig auf dem Sofa sitzt und ’ne Tüte Chips killst. Meine Mutter hat mir mal erklärt, was da in einem abgeht, Überschneidung des Ichs nennt man das.

Ich stand im Badezimmer und wertvolle Zeit verstrich. Inzwischen war es bestimmt schon acht Uhr. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Plötzlich wurde mir klar, dass ich als Mann doch nicht mit dem ganzen Kindergartenhaufen auf Klassenfahrt gehen konnte! Außerdem war es beim besten Willen nicht mehr zu schaffen, um Viertel nach acht am Zoo zu sein. Also holte ich das Telefon aus meinem Zimmer und räusperte mich ein paarmal. Mein Alter räuspert sich immer ein paarmal, bevor er etwas Wichtiges sagen will. Ich musste mir genau überlegen, was ich sagen wollte. Kann sich jemand vorstellen, wie anstrengend das war, um acht Uhr früh schon genau zu wissen, was man gleich sagen würde? Der Mann in mir sagte: keep cool, und das, was mich sonst noch ausmachte, überlegte, ob ich nicht lieber aufschreiben sollte, was ich gleich sagen würde. Mir sauste Fax oder E-Mail durch den Kopf, aber allein um den Computer hochzufahren war keine Zeit mehr. Also nahm ich das Telefon und wählte die Nummer von meiner bekloppten Schule.

»Droste-Hülshoff-Gymnasium, Sekretariat, Hensel am Apparat«, meldete sich die Stimme unserer Sekretärin.

Ich räusperte mich und legte meinen ganzen Mann in die Stimme: »Springborn hier. Guten Morgen, werte Frau Hensel!«

Dabei ist mir fast schlecht geworden, vor lauter Heuchelei. Aber mein Alter hätte das genauso gesagt: »Guten Morgen, werte Frau Hensel!«, wobei »Guten Morgen, Frau Hensel« voll und ganz gereicht hätte. Meine Eltern sind schon ziemlich alt, müsst ihr wissen, beide über 50, es hat halt lange nicht geklappt mit mir, mit meiner Entstehung. Alte Leute reden so. Und Heucheln gehört zu ihren Jobs. Jedenfalls wollte ich genauso klingen wie mein Vater. Seitdem ich meinen Stimmbruch hatte, haben uns alle immerzu am Telefon verwechselt. Warum sollte mir das nicht eines Tages zugutekommen?

»Mein Sohn kann leider nicht mit auf Klassenfahrt«, sagte mein Vater sehr freundlich. »Er hat die ganze Nacht geblutet.«

»Ach du meine Güte!«, sagte Frau Hensel. »Was ist denn passiert?«

»Nichts Ernstes«, sagte mein Vater. »Nur eine akute Nasenwurzelentzündung, und das blutet manchmal sehr heftig, besonders nachts.«

Oh Mann, ich kann euch sagen, ich war so richtig in Fahrt und hätte der Schnepfe am liebsten noch mehr aufgetischt, etwa in der Art:

»Sie wissen doch, mein Sohn popelt immer im Unterricht. Davon verkleben die Kapillaren und Schlackenstoffe werden nicht mehr abgebaut. Es kommt zu einer Akkumulation von weißen Blutkörperchen, die schließlich platzen, und dann spritzt venöses Blut durch die Gegend. Manchmal explodiert auch der Nasentunnel auf der arteriellen Seite, durch Akkumulation von roten Blutkörperchen. Dann ist das Blut heller, röter … Eine Riesensauerei, sage ich Ihnen!«

Aber ich hielt meine Klappe. Die gute Frau Hensel hatte mich mal vor einer Mathearbeit nach Hause geschickt, weil ich einen auf Darmverschluss gemacht habe. Man soll die Leute nicht überfordern. Sie drehen sonst durch, laufen Amok oder sonst was.

»Herr Doktor Springborn …«, sagte Frau Hensel, »… am besten gebe ich Ihnen die Handynummer von Frau Merosa.«

Frau Merosa ist unsere Klassenlehrerin. Ich tat so, als notierte ich mir die Nummer. Nun saß ich ganz schön im Schlamassel. Die Medusa kannte mich seit der sechsten Klasse. Sie würde sofort meinen Vater in mir erkennen und auch sonst 1000 Fragen stellen. Ehrlich, ich kenne keine Schnepfe, die so viele Fragen stellt wie die Medusa, außer meiner Mutter natürlich.

Mich schauderte es jetzt schon, der guten Medusa je wieder unter die Augen zu treten. Schließlich werden Spitznamen nicht beliebig verteilt.

»Bitte, liebe Frau Hensel«, sagte mein Vater und räusperte sich, um die tiefe Stimme zu halten. »Ich bin sehr in Eile, habe leider überhaupt keine Zeit, mit der werten Frau Medu… äh … Merosa zu sprechen …«

Echt, ich sülzte da rum, genau wie mein Alter, charmant, aber bestimmt; keinen Widerspruch duldend. Voll peinlich eben. Aber so was zieht ja bei den Erwachsenen. Die gute alte Hensel sagte auch gleich: »Ja, Herr Doktor, natürlich, Herr Doktor …«

Frau Hensel kommt aus dem Osten, müsst ihr wissen, also aus einem von diesen neuen Bundesländern, die ja eigentlich gar nicht mehr so neu sind, aber wo sie noch alle titelhörig und unterwürfig sind.

Ich sah sie direkt vor mir, die Gute, wie sie am Telefon stand und einen Knicks nach dem anderen machte. Daran soll man Ossis ja sofort erkennen. Das ist meinem Alten beim letzten deutschen Ärztetag aufgefallen, dass die Ossis immerzu Knickse machen, wenn man sie lobt oder ihnen einen Kugelschreiber schenkt, und dann hat mir mein Alter erklärt, was Knickse überhaupt sind. Im Westen, müsst ihr wissen, ist der Knicks schon lange ausgestorben. Nur manchmal, in ganz alten Filmen und Dokumentarberichten über die BdM-Jugend in der Nazizeit, sieht man, wie die Mädels früher schon fleißig knicksten.

Das sei total schädlich für die Knie. Als Orthopäde kennt sich mein Alter natürlich aus mit Knieschäden und dem ganzen Mist. Auch wenn er durch die Akupunktur-Prüfung gefallen ist, aber in Sachen Knie ist er eine Koryphäe, wenn ihr wisst, was ich meine.

Jedenfalls sagt er, Ostfrauen hätten mehr Knieschäden als Ostmänner, weil Ostmänner nicht knicksten, sondern einen Diener machten. Das sähe zwar genauso bescheuert aus, sei aber nicht schädlich für die Knie. Echt, Leute, so was erzählt mein Alter beim Abendbrot, so ganz nebenbei, mit vollem Mund. Dabei ist er auch nicht besser als die Knickser. Von wegen Knochen-Fortbildung! Aber ich will nicht vorgreifen, Leute.

Nach dem Telefongespräch konnte ich nicht gleich wieder umschalten auf mich. Ich spielte noch eine Weile meinen Vater, fasste mir ans Knie, rannte hektisch durchs Haus, zündete mir eine von seinen Zigaretten an, the more you know, suchte meine Tasche, küsste meine Frau, sagte: »Bis heute Abend, Darling!«

Dann ging ich zur Tür. Und weil ich schon mal an der Tür stand, ging ich auch raus, tat so, als müsste ich in die Praxis fahren. Und ich machte, wie jeder anständige Orthopäde, die Tür hinter mir zu.

Grün

Da stand ich nun, vor unserer Haustür, in grünen Shorts, mit einer brennenden Zigarette und nacktem Oberkörper. Mein Alter war weg, meine Mutter nicht da und die Putze kommt nur freitags. Es war Montag, falls ihr’s genau wissen wollt. Montag früh, Viertel nach acht.

Die Bäume standen im grünen Saft, mein Magen knurrte, meine Körperbehaarung stand zu Berge; es war noch sehr kühl, aber es sollte ein sonniger Tag werden. Ich rauchte erst mal in Ruhe die Zigarette und unterdrückte einen Würgereiz. Bis zu dem Tag war ich noch Nichtraucher gewesen.

Ich brauchte dringend ein T-Shirt. Vielleicht konnte ich mir irgendwo ein T-Shirt von einer Wäscheleine holen und bei Schlecker ein Paar Flip-Flops klauen. Aber in Zehlendorf gibt es keine Wäscheleinen im Garten. Da gibt es nur Wäschetrockner und die sind im Keller.

Tja, Leute, da stand ich nun, während der Berufsverkehr vor sich hin rollte und die Vögel in den Bäumen zwitscherten und meine Klasse auf dem Weg zur Klassenfahrt war und kein einziges Fenster in unserem Haus offen stand.

Hätte ich doch bloß vorher was gegessen! Echt, ich kann euch nur raten, esst was, bevor ihr euch aussperrt! Und zieht euch was Anständiges an. Und raucht nicht auf nüchternen Magen!

Ich ging in den grünen Garten und setzte mich auf die arabische Bank. Wir haben lauter arabische Bänke im Garten, arabische Tische, Lampen, Kissen, Stühle. Das ist die Art Beitrag, den meine Eltern zum Weltverständnis beisteuern. Jedes Stück hat enorm viel gekostet! Der Tisch ist sogar maßgeschneidert, damit sich meine Mutter nicht an der Tischplatte die Knie stößt. Meine Mutter hat nämlich eine ganz spezielle Kniehöhe, womit sie gegen die meisten Tische stößt. Aber mein Vater arbeitet dran. Jetzt lässt er noch die Tische ändern, aber wahrscheinlich kann er es kaum abwarten, ihr endlich künstliche Knie zu verpassen.

Ich setzte mich auf die arabische Bank unter dem Apfelbaum. Ohne Kissen taugt so eine Bank gar nichts, aber die arabischen Kissen waren im Geräteschuppen, und der Schlüssel vom Geräteschuppen hing im Keller, einen Meter vom Trockner entfernt, und der Schlüssel vom Keller hing im Schlüsselkasten neben der Garderobe im Hausflur. Ich kam mir vor wie bei Peterson und Findus. Fehlte nur noch, dass so ein verdammter Stier auf der Nachbarweide war, aber auf allen Nachbarweiden war tote Hose. In Zehlendorf ist immer tote Hose, wenn nicht gerade Berufsverkehr ist. Echt, es ist so beschissen langweilig, man könnte genauso gut auf dem Mars wohnen oder auf dem Saturn.

Bei Saturn fiel mir der Alexanderplatz ein und plötzlich ging’s mir nicht mehr gut. Ich hatte meine erste Krise als Mann. Bei Saturn wollte ich mir seit Tagen schon das neue Album von Camille kaufen, aber dann hatte ich das Geld für zwei Kinokarten ausgegeben, für The day after tomorrow, diesen beknackten Katastrophenfilm, in dem ganz New York einfriert und für den es mir immer zu kalt war. Ich wollte mit Sascha Schellenberg ins Kino. Sascha war zu der Zeit noch mein bester Kumpel, wir guckten uns öfter alte Filme an, Taxi-Driver, Brazil, Clockwork Orange und den ganzen Mist, oder fuhren in die Stadt und chillten auf dem Badeschiff, am Treptower. Ich hatte mich schon gefreut, mit ihm ins Kino zu gehen, aber da hat er sich nach der großen Pause in Eva Kerstenberger verknallt, so eine Mittelklasse-Kuh aus der Achten. Und ich armer Sponsor hab ihnen die beiden Kinokarten geschenkt. Dachte, der Film wird sie schon abkühlen, mit so viel Eis und Frust, aber danach war Sascha überhaupt nicht mehr zu retten. Als ich ihn später fragte: »Na Alter, wie war der Film?«, grinste er dreckig und sagte: »Was für ein Film, Mann?«

Ich schlug ihm auf die Schulter, grinste auch dreckig und sagte: »Cool, Mann«, wofür ich mich heute noch in den Arsch treten könnte. Aber hätte das was genützt?

Der gute Sascha war nicht mehr zu gebrauchen, er starrte nur noch dieser kleinen Schnecke hinterher und knutschte dauernd an ihr rum. Und ich verlor von einer Sekunde auf die andere meinen bis dahin zurechnungsfähigen Kumpel, die Kinokarten, mein Geld.

Hätte ich mir doch nur das neue Album von Camille gekauft. Im Nu war der ganze Nachmittag im Arsch. – Too drunk to fuck!

Und jetzt, auf der arabischen Bank, drohte die wie Nebel aufgestiegene Morgen-Melancholie ihren Aggregatzustand zu wechseln und in tiefste Depression überzugehen. Deswegen stand ich auf, solange ich noch konnte; ich war schon sehr schwach geworden, müsst ihr wissen. Von innen zerrte der Hunger an mir, von außen drückte die Depression. Meine Bauchdecke hatte bereits konkave Formen angenommen. Ich durfte gar nicht an Frühstück denken und erst recht nicht an Kinokarten.

Ich tapste von Baum zu Baum und suchte nach einem Apfel. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich meine Shorts auch noch ausziehen sollte, um einen auf Adam zu machen, aber bei Adam musste ich an den Adam von Bonanza denken, der bescheuerteste von den Cartwright-Brüdern, und der wollte ich auf keinen Fall sein und schon gar nicht nackt. Also behielt ich meine Shorts an und suchte weiter nach einem Apfel, aber ob ihr’s glaubt oder nicht, der Mai ist eine beschissene Zeit für Äpfel. Also ging ich zum Kirschbaum, aber es war auch eine beschissene Zeit für Kirschen. Es gab auch keine Birnen, Pflaumen, Pfirsiche und all das andere Zeug.

Ich aß ein bisschen Löwenzahn, ein paar Ameisen und suchte nach Erdbeeren. Leider fand ich nur die wenigen, die über Nacht gereift waren. Meine Mutter hatte gestern Abend noch das ganze Beet abgerodet, für ihre berühmten Milkshakes.

»Hänschen«, hatte sie gesagt. »Hast du auch Lust auf einen Erdbeermilkshake?«

Meistens reagiere ich nicht, wenn sie mich Hänschen nennt. Ich heiße Johannes Richard Ephraim Springborn, wenn ihr’s genau wissen wollt, und nenne mich Hannes oder Ritschi – je nachdem, was so anfällt, aber meine Mutter ist sowieso in meiner Kindheit stecken geblieben, außerdem ist es hoffnungslos, ihr etwas auszureden. Dabei ist sie eine intelligente Frau, kennt sich mit den völlig Gestörten aus, aber meine Bedürfnisse ignoriert sie. Dafür macht sie die besten Milkshakes in ganz Berlin, mit Sahne, Vanilleeis und frischen Erdbeeren, püriert das Ganze und tut frisch gezuckerte Minze dazu. So ein Drink haut einen fast gar nicht um, besonders wenn man noch zwei, drei edle Tropfen Cognac untermischt. Das ist gut für die Knie.

Im Erdbeerbeet waren genau fünf rote Erdbeeren. Ich konnte sie legen und wenden, wie ich wollte, es wurden nicht mehr. Logisch, denn Erdbeeren vermehren sich nicht einfach so in einer hungrigen Männerhand. Ich warf sie alle auf einmal ein. Wenigstens hatte ich jetzt einen besseren Geschmack im Mund. Erdbeergeschmack, wenn ihr’s genau wissen wollt. Aber mein Magen spielte verrückt und knurrte wie der fiese Dobermann aus der Matterhornstraße. Mit diesem Knurren im Bauch wurde ich mir meiner miserablen Situation erst richtig bewusst. Aber ich wollte das Beste draus machen.

Inzwischen war es bestimmt schon halb neun. Ich pinkelte auf die Fisherman’s Friends, Mamas Lieblingsrosen, und blinzelte in die Sonne. Zweifelsohne würde heute ein wunderschöner Tag werden, jedenfalls was das Wetter anbelangte. Also beschloss ich, runter zum Schlachtensee zu gehen und mir so lange die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen, bis mir eine geniale Idee käme.

Mann, ich kann euch sagen, dieses Barfußlaufen war die pure Tortur. Da merkt man erst mal, was so alles auf dem Bürgersteig liegt. Scherben, Steine, Kronkorken. Ich versuchte, so cool wie möglich Richtung See zu latschen, summte sogar vor mich hin, das soll ja bekanntlich die Stimmung verbessern, half bei mir aber nicht, auch nicht in Verbindung mit dem frischen Grün in den Gärten und an den Bäumen.

Es waren jede Menge Rentner unterwegs, mit Einkaufswagen, Pudel, Spazierstock. Alle verrenkten sich die Hälse nach mir! Fehlte nur noch, dass sie mir hinterherpfiffen. Ich verstand das nicht. Da liefen die Mädchen in hauchdünnen, durchsichtigen Tops herum, die nicht größer waren als ein Taschentuch, sodass ihnen die Titten oben nur so herausquollen, und man starrte mich an, mich!, obwohl meine Shorts länger waren als jeder verdammte Minirock.

Endlich war ich am See und haute mich sofort ins Gras. Ich war inzwischen alles andere als ein Mann. Ich war ein zittriger kleiner Zwerg, der sich am liebsten in ein Kaninchenloch gestürzt hätte. Aber dann hätte ich wahrscheinlich Alice getroffen, und keine Ahnung, was anstrengender gewesen wäre: Alice, die durchgeknallte Königin und die falsche Suppenschildkröte – oder mit Sandra I, II und III durch Baustellen zu reiten.

Erotischer war auf jeden Fall meine Version, auch wenn ich mich nicht mehr so richtig an alles erinnere.

Die Liegewiese war noch leer und im See schwammen nur ein paar Enten. Ein nebliger Schatten lag über dem Wasser. Die Enten tauchten nach Futter, kleine Wellen plätscherten ans Ufer. Mir war bis dahin noch nie aufgefallen, wie schön unser Schlachtensee ist, wahrscheinlich weil meine Eltern mit mir jedes Jahr nach Florida oder auf die Seychellen abdüsten und ich nur märchenhaft türkisfarbenes Meer kenne weit, weit weg von hier. Aber der Schlachtensee war ein See mitten in Berlin. Grün und schlammig. Er war immer da. Jeden Tag ging ich an ihm vorbei, zur S-Bahn. Er gehörte zu mir. Wahrscheinlich war er meine wirkliche Heimat. Alles Leben kam aus dem Schlachtensee.

Ich stellte mir gerade vor, wie die gesamte Berliner Bevölkerung aus dem Schlachtensee kam, da liefen mir Jogger durchs Blickfeld. Jogger in Gelb und Orange, manche auch in Hellgrün. Mein Alter ist auch mal um den Schlachtensee gejoggt. In Schwarz. Schwarz macht schlank. Aber seine Wampe hat er damit nicht weggekriegt.

Früher bin ich mit meinen Eltern am See spazieren gegangen. Wir haben ein prima Restaurant am Schlachtensee, die Alte Fischerhütte, in der man wunderbar deftig oder süß frühstücken kann, vorausgesetzt natürlich, man hat das nötige Kleingeld dabei.

Ich seufzte.

Plötzlich musste ich an diesen armen Irren denken, den wir im letzten Winter in Englisch behandelt hatten, Holden Caulfield, aus The Catcher in the Rye. Mich hat das Buch ja nicht gerade umgehauen, ehrlich gesagt, es hat mich bis zum Erbrechen gelangweilt. Und dann auch noch auf Englisch!

Irgend so ein Idiot fliegt zum vierten Mal von der Schule und tingelt ein paar Tage in New York herum, bevor er heimlich nach Hause geht und dann in die Klapse kommt. Muss man so eine Karriere noch breittreten?

Trotzdem ging mir dieser Typ nicht aus dem Kopf.

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