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Klaus Hurrelmann; Heidrun Bründel

Gewalt an Schulen

Pädagogische Antworten auf eine soziale Krise

 

 

 

 

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Beltz Taschenbuch 184

2. Auflage

© 2007 Beltz Verlag • Weinheim und Basel

Umschlaggestaltung: Federico Luci, Odenthal

Umschlagfoto: Mauritius, Mittenwald

Konvertierung e-book Zentrale Medien, Bochum

e-book ISBN: 978-3-407-22410-1

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Inhaltsübersicht

Einleitung

1. Kapitel Wie und wo Gewalt entsteht

Erscheinungsformen und Ausprägungen von Gewalt

Wie Gewalt entsteht – die wichtigsten Theorien

Wo Gewalt entsteht – die Rolle von Familie, Gleichaltrigengruppe und Medien

2. Kapitel Die Schule als Forum für Gewaltausübung

Die Verbreitung von Aggression und Gewalt an Schulen

Gewalt an unterschiedlichen Schulformen

3. Kapitel Die Schule als Produzent von Gewalt

Strukturelle und institutionelle Gewalt im Schulsystem

Schul- und unterrichtsorganisatorische Bedingungen

4. Kapitel Strategien der Gewaltprävention in der Schule

Erziehungspartnerschaft zwischen Eltern und Lehrern

Regeln und Konsequenzen im Unterricht

Verbesserung des Schulklimas

Steigerung gewaltpräventiver Kompetenzen von Lehrkräften

Individuelle Leistungsförderung von Schülerinnen und Schülern

5. Kapitel Die Praxis der schulischen Gewaltprävention

Sensibilisierungsprogramme

Gewaltpräventionsprogramme

Der ressourcenorientierte Ansatz

Ein Netzwerk der Gewaltprävention

Literatur

Elterntrainings

Präventionsprogramme in Schulen

Einleitung

Seit über 20 Jahren beschäftigt das Thema »Gewalt in der Schule« nicht nur die pädagogische, sondern auch die öffentliche Diskussion. Körperliche und psychische Übergriffe auf Mitschüler und auf Lehrerinnen und Lehrer finden große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und oft eine enorme Resonanz in den Massenmedien. Es entsteht der Eindruck, Gewalt und Aggression in den Schulen würden kontinuierlich ansteigen. Viele Lehrerinnen und Lehrer sind verunsichert, viele Eltern zweifeln an der pädagogischen Autorität der Erziehungsinstitution Schule.

Was hat sich wirklich verändert? In diesem Buch werden die Erscheinungsformen und Ursachen von Aggression und Gewalt unter Schülerinnen und Schülern analysiert und pädagogische Antworten gegeben, wie schulischen Gewaltformen wirksam entgegengewirkt werden kann.

Der historische Rückblick zeigt: Es hat noch nie eine gewaltfreie Schule gegeben und sie wird wahrscheinlich auch nie existieren. Aggressionen gehören zur menschlichen Grundausstattung und suchen sich ihre Bahnen. Die Aufgabe der pädagogischen Institution Schule besteht darin, den Aggressionen der ihr anvertrauten Schülerinnen und Schülern produktive Wege und feste Kanalisierungen zu eröffnen, um unakzeptable Gewalt einzudämmen. Diese Aufgabe ist für die Lehrkräfte in den Schulen in den letzten Jahren eindeutig schwieriger geworden.

Immer mehr psychische und sozial unsichere und irritierte Schülerinnen und Schüler kommen in die Schule. Sie stammen aus haltlosen und unstrukturierten Familienbeziehungen, aggressionsgeladenen Jugendgruppen und desolaten Nachbarschaften und haben oft in ihrer Freizeit gewalthaltige Medienangebote bis zum Überdruss konsumiert. Entsprechend »importieren« sie unkontrollierte Aggressionsimpulse in den schulischen Raum. Die Schule wird zu einem Austragungsort vieler Gewalthandlungen, an denen sie selbst unschuldig ist. Lehrerinnen und Lehrer stehen an vielen Schulen fassungslos vor Kindern und Jugendlichen, die keine Umgangsformen erlernt haben und sich vor einer aussichtslosen Lebensperspektive sehen.

Das Buch geht aber auch auf die Frage ein, welche Gründe es innerhalb der Institution Schule gibt, die aus den »gesunden« Aggressionen von Schülerinnen und Schülern ungesunde Gewaltformen machen. Eine als unfair empfundene Beurteilung mit schlechter individueller Leistungsförderung der Schülerinnen und Schüler, unklare Regelungen und unzureichende Sanktionen für Konflikte im schulischen Bereich, unterschwellige Aggressionen von Lehrkräften gegenüber den Schülern und ein insgesamt hoher Leistungsdruck können – von vielen Lehrkräften unbemerkt – Gewaltpotentiale bei den Schülerinnen und Schülern entzünden. Die Schule ist also keineswegs völlig unschuldig am Entstehen der Gewaltformen, die sie zu Recht so beklagt.

Obwohl sie nur zu einem Teil für die Gewalt von Schülerinnen und Schülern in ihren eigenen Mauern verantwortlich ist, erweist sich die Schule in allen wissenschaftlichen Studien als eine besonders geeignete Institution für die Gewaltprävention. Die Vorbeugung gegen inakzeptable Gewaltformen der Schülerinnen und Schüler beginnt bei der Intensivierung der individuellen Förderung der Leistungen der Schülerinnen und Schüler und der Entwicklung von klaren Umgangsformen innerhalb einer von Lehrkräften und Schülerschaft miteinander abgestimmten Schulkultur. Dazu gehören auch gezielte Strategien des Aufbaus von emotionalen und sozialen Kompetenzen sowohl von Lehrern als auch von Schülern in den Schulen.

Diese Ansätze werden in diesem Buch vorgestellt und kritisch besprochen. Das Ergebnis ist klar: Gewalt von Schülerinnen und Schülern lässt sich nicht völlig vermeiden, die unproduktiven und menschlich entwürdigenden Formen aber haben in einer pädagogischen Institution keinen Platz. Lehrerinnen und Lehrer sollten darin trainiert werden, so wenig Anlass für die Entstehung von Aggression und Gewalt bei ihren Schülerinnen und Schülern zu geben wie irgend möglich. Zugleich ist ihre Kompetenz zu fördern, Äußerungen von Gewalt in Unterricht und Schulleben auf das mögliche Mindestmaß zu reduzieren. Hierzu müssen sie in der Lage sein, Freude an ihrem Beruf zu haben und aus Überzeugung eng mit den Schülerinnen und Schülern und mit den Eltern zusammenzuarbeiten. Dann erweist sich Gewalt an Schulen als eine pädagogische Herausforderung, die mit erzieherischen Mitteln bewältigt werden kann, obwohl die Ursachen zum Teil allgemeiner gesellschaftlicher Natur sind.

1. Kapitel

Wie und wo Gewalt entsteht

Aggressivität ist eine angeborene menschliche Eigenschaft. Jeder von uns kennt unterschwellige Impulse, in bestimmten Situationen schädigende Handlungen auszuführen, entweder gegen Menschen oder auch gegen Sachen. Diese Aggressivität kann in eine Aggression umschlagen, wenn die Neigung zum Schädigen tatsächlich ausgelebt wird. Aggression ist ein Verhalten, das auf die absichtliche Schädigung eines Gegenstandes (Vandalismus) oder die absichtliche Verletzung eines anderen Menschen zielt. Als Autoaggression wird die gegen die eigene Person gerichtete Schädigung oder Verletzung bezeichnet, die ihre höchste Ausdrucksform im Suizid findet. Jeder Mensch hat wahrscheinlich durch seine angeborenen Anlagen ein bestimmtes Potential und Profil von Aggressivität. Es gehört im weitesten Sinne zur menschlichen Antriebskraft und ist insofern fester Bestandteil der Menschen als Gattungswesen. In welchem Ausmaß und in welchen Formen sich diese Aggressivität aber in tatsächliche Aggression niederschlägt, scheint nicht genetisch vorgegeben zu sein, sondern stark von den Umweltimpulsen und Sozialisationseffekten abzuhängen, die ein Mensch vor allem in der frühen Kindheit und im Jugendalter erfährt.

Erscheinungsformen und Ausprägungen von Gewalt

Aggression, die sich gegen ein Objekt, also entweder ein Lebewesen oder eine Sache richtet, wird im öffentlichen Sprachgebrauch und zunehmend auch in der wissenschaftlichen Forschung als »Gewalt« bezeichnet. Deutlicher als der Begriff Aggression bezeichnet der Begriff Gewalt den Sachverhalt einer auf ein Objekt gerichteten schädigenden Handlung. Wohl aus diesem Grunde hat er sich in den letzten Jahren immer stärker durchgesetzt, obwohl er sprachlich nicht ganz eindeutig zu fassen ist.

Der Begriff der »Gewalt« ist in der deutschen Sprache doppelbödig (Imbusch 2002, 29). Er enthält die Komponenten sowohl der direkten persönlichen Gewalt (lateinisch violentia) als auch der legitimen institutionellen Gewalt (lateinisch potentia). Im angelsächsischen Sprachraum lässt sich mit »violence« und »power« diese Unterscheidung deutlich zum Ausdruck bringen. Im Deutschen aber bleibt die Doppelbedeutung ein und desselben Begriffs bestehen, einmal Gewalt als Bezeichnung für einen einmaligen physischen Akt, bei dem ein Mensch einem anderen Menschen Schaden mittels physischer Stärke oder psychisch-verbaler Abwertung zufügt, zum anderen Gewalt als Bezeichnung für öffentliche Macht, mittels derer bestimmte Ordnungsvorstellungen durchgesetzt werden.

Im ersten »Internationalen Handbuch der Gewaltforschung« haben Heitmeyer und Hagan (2002) auf die Schwierigkeit hingewiesen, einen für den wissenschaftlichen Gebrauch geeigneten Gewaltbegriff zu definieren. Neben der erwähnten Doppelbedeutung verweisen sie auf die sich im historischen Verlauf schnell und stark verändernden Vorstellungen von der Akzeptanz und Legitimität von Aggression und Gewalt, die eine genaue und dauerhafte Festlegung dieser beiden Begriffe fast unmöglich machen. Im Zeitverlauf verschieben sich die Vorstellungen davon, welche Ausprägungen von Aggression und Gewalt als kulturell akzeptabel oder sogar produktiv gelten und von welcher Ausprägung und Schwelle ab sie als illegitim und zerstörerisch wahrgenommen werden. Mit der Veränderung von moralischen, rechtlichen, politischen, erzieherischen und sexuellen Normen und Werten wandeln sich auch die Grenzbeziehungen und Festlegungen. »Neue Grenzmarkierungen von Gewalt stellen sich beispielsweise aufgrund einer höheren Sensibilität (Vergewaltigung in der Ehe) oder eines veränderten Wahrnehmungsmusters (Sitzblockade) ein. Gerade weil der Problembereich der Gewalt in besonderem Maße uneindeutig ist, ist eine erhöhte Sensibilität und Reflexibilität geboten« (Heitmeyer und Hagan 2002, 16).

Historische Veränderungen von Gewaltprofilen

Die systematische Aufbereitung der bisherigen Gewaltforschung durch die beiden Herausgeber verweist auf ein insgesamt sehr hohes Ausmaß von individueller, kollektiver und staatlicher Gewalt im 20. Jahrhundert. Gesellschaftliche Entwicklungsprozesse waren in den letzten hundert Jahren – wie wahrscheinlich in den Jahrhunderten davor auch – mit äußerst inhumanen und destruktiven Begleiterscheinungen verbunden. Obwohl mit dem staatlichen Gewaltmonopol ein Instrumentarium zur Bewältigung gewalthaltiger Spannungen in modernen Gesellschaften vorhanden ist, wird die »Potentia« von vielen Regierungen dieser Welt immer wieder auch zur Unterdrückung unbequemer Bevölkerungsgruppen eingesetzt. Obwohl alle Menschen Sehnsucht nach unverletzter Integrität haben, kommt es auch im 21. Jahrhundert zu verheerenden und destruktiven Ausprägungen von körperlicher und psychischer Gewalt im zwischenmenschlichen Zusammenleben.

Zusammenfassend stellen die beiden Herausgeber fest: »Die Hoffnung einer ganzen Reihe von Kultur- und Zivilisationstheoretikern, dass sich die Menschheit in einem permanenten Zivilisationsprozess befindet, an dessen vorläufigem Ende eine gewaltfreie Moderne steht, hat sich als ein Traum herausgestellt. Die Vorstellung, Gewalt sei in vormodernen Gesellschaften stärker verbreitet gewesen, in fremden Gesellschaften viel häufiger anzutreffen, nur in modernen Gesellschaften lediglich noch eine Ausnahmeerscheinung, scheint ein Mythos mit beträchtlichen Fehlwahrnehmungen zu sein« (Heitmeyer und Hagan 2002, 20). Von einer besseren oder überlegenen moralischen Grundausstattung der Gattung Mensch in den heutigen hoch entwickelten Gesellschaften kann also demnach nicht die Rede sein.

Diese Bestandsaufnahme gilt nicht nur im Blick auf die Gesamtgesellschaft, sondern auch auf ihre Teilsysteme. Sie kann in vollem Ausmaß auf das gesellschaftliche Teilsystem »Bildung« und die hierin vorherrschende Organisationsform »Schule« übertragen werden. Trotz aller kulturellen Errungenschaften, die mit dem Fortschritt pädagogischer Umgangsformen einhergehen, ist es zweifelhaft, ob in den heutigen Schulen in der Gesamtbilanz aller Ausprägungsformen ein geringeres Ausmaß von Gewalt vorherrscht als etwa im deutschen Kaiserreich, in dem die körperliche Züchtigung von Schülerinnen und Schülern durch Lehrkräfte gesetzlich vorgeschrieben war. Auch heute herrschen in Schulen ungleiche Machtverhältnisse vor, die zu neuartigen Formen der strukturellen, indirekten Gewalt führen, die in das gesellschaftliche Teilsystem Schule gewissermaßen eingebaut sind. Dazu gehört die hohe Macht der Lehrkräfte zur Definition des erreichten Leistungsstandes von Schülerinnen und Schülern, die über den gesamten weiteren beruflichen Lebenslauf der Jugendlichen entscheiden kann. Hieraus hat sich gewissermaßen eine neue historische Form des »Züchtigungsrechtes« der Lehrkräfte entwickelt, die zwar nicht mit körperlicher Gewalt verbunden ist, aber auf ihre Weise ebenfalls starke Schädigungen und Verletzungen bei Schülerinnen und Schülern nach sich ziehen kann sowie als Folge davon gewalttätige Handlungen gegen Lehrkräfte und sogar Gewaltexzesse in Form von Amokläufen (Füllgrabe 2000; 2004).

Neue Ausprägungen von Aggression und Gewalt

Auf der direkten interaktiven Ebene sind auch in den Schulen des 21. Jahrhunderts Ausprägungen von physischer, körperlicher Gewalt weiterhin stark verbreitet, obwohl sie möglicherweise gegenüber früheren historischen Epochen im Umfang zurückgegangen sind. Daneben haben sich neue Formen von psychischer und verbaler Gewalt etabliert (»Mobbing«, »Bullying«), die bei den Opfern möglicherweise stärkere Verletzungen und Demütigungen zur Folge haben als körperliche Übergriffe (Dambach 2002). In Anlehnung an das Resümee der allgemeinen Gewaltforschung lässt sich deswegen auch sagen: Die Hoffnung vieler Pädagogen und Erziehungstheoretiker, dass sich Bildungsprozesse in der Schule in einem permanenten Zivilisationsprozess befinden, an dessen Ende eine gewaltfreie Umgangsform zwischen Lehrerinnen und Lehrern auf der einen Seite und Schülerinnen und Schülern auf der anderen Seite und auch innerhalb der Schülerschaft und der Lehrerschaft besteht, hat sich als ein Traum herausgestellt. Vielmehr hat der historische Wandel von Bildungs- und Unterrichtsabläufen zu neuen Formen von Ausprägungen, Formen und Verläufen von Gewalt in Schulen geführt.

Sowohl für Lehrerinnen und Lehrer als auch für Schülerinnen und Schüler stellt Gewalt eine jederzeit verfügbare Ressource dar, die sich ihre spezifischen Profile und Wege sucht und in einer frappierenden Weise den breiten menschlichen Einfallsreichtum widerspiegelt. Denken wir an solche Ausprägungen von Gewalt wie das Filmen von Übergriffen auf Mitschülerinnen und Mitschüler durch Mobilkameras, dann wird deutlich, wie stark die jeweiligen Ausprägungen von Aggression und Gewalt von der jeweils aktuellen technischen und medialen Entwicklung gespeist werden.

Gewalt ist also auch heute tief im Gewebe des sozialen Zusammenlebens in der ganzen Gesellschaft und deswegen auch in der Schule verankert. Sie stellt so etwas wie eine offenbar nicht völlig vermeidbare »chronische Sozialkrankheit« einer jeden Gesellschaft dar. Wie jede Krankheit hat auch Gewalt spezifische Ursachen, die analysiert und verstanden werden müssen, wenn Gewalt zurückgedrängt werden und im Idealfall eliminiert werden soll. Das Auftreten von Aggressionen unter Menschen ist immer schon in der menschlichen Geschichte ein Signal dafür gewesen, dass die sozialen Kontakte zwischen ihnen nicht in gegenseitiger Zufriedenheit ablaufen und Ungleichheit mit ungerechter Verteilung von Ressourcen vorherrscht. Genau an dieser Stelle können dann auch entsprechende Gegenstrategien ansetzen. Diese Überlegungen gelten ohne jede Einschränkung auch für Bildungs- und Schulsysteme.

Definitionen von Aggression und Gewalt

Für die weitere Argumentation verwenden wir die beiden Begriffe Aggression und Gewalt gleichberechtigt. Aggression ist der in der wissenschaftlichen Sprache üblichere Begriff und bezeichnet eine Handlung, die auf die Verletzung eines anderen Menschen zielt. Als Gewalt wurde ursprünglich in Fachliteratur und Umgangssprache nur die körperliche Verletzung eines Menschen auf der Basis von Aggression bezeichnet. Heute wird der Begriff stark erweitert verwendet und umfasst auch psychische und institutionelle Ausprägungen.

Aggression und Gewalt sind also wissenschaftliche und umgangssprachliche Begriffe für dieselben Vorgänge, wobei der Begriff Gewalt den der Aggression wegen seiner größeren Anschaulichkeit mehr und mehr verdrängt. Das gilt auch für den Begriff »Gewaltbereitschaft«, der immer stärker an die Stelle des Begriffes »Aggressivität« tritt. Wir folgen in diesem Buch dieser Begrifflichkeit. Grob vereinfacht lassen sich individuelle Formen der Gewalt von institutionellen und strukturellen Formen unterscheiden:

Formen der Gewalt
individuelle Gewalt institutionelle Gewalt

physische Gewalt

psychische Gewalt

demokratisch legitimierte Gewalt 

illegitime strukturelle Gewalt 

kollektive politische Gewalt, auch »Gegengewalt«

sexuelle Gewalt

geschlechterfeindliche Gewalt

fremdenfeindliche Gewalt

Individuelle Gewalt

Die individuelle Gewalt geht von einzelnen Akteuren aus und richtet sich gegen einzelne oder mehrere Personen oder gegen Sachen (»Sachbeschädigung«, »Vandalismus«). Individuelle Gewalt wird oft im privaten Bereich vollzogen, etwa in Familie, Verwandtschaft und Freundeskreis. Sie geschieht damit also von der Öffentlichkeit im Prinzip unbemerkt. Häufige Ausprägungen sind Schläge und Prügel von (Ehe-)Männern gegen Frauen, Vergewaltigung innerhalb und außerhalb der Ehe. Meist haben die Ausprägungen dieser Gewaltformen sowohl etwas mit Machtausübung zu tun als auch mit dem Wunsch nach Nähe bei gleichzeitiger Befürchtung von »Kontroll- und Besitzverlust«. Liebe und Gewalt gehen oft eine unheilvolle Allianz ein. Sexualisierte Gewalt in Verwandtschaftsbeziehungen, Kindesmisshandlungen, Vernachlässigung und Verwahrlosung von Kindern und die körperliche und psychische Verletzung von älteren, kranken, schutzlosen oder hilfsbedürftigen Menschen sind weitere Ausdrucksprägungen von privater Gewalt. Wie Imbusch (2002, 46) bemerkt, waren diese lange Zeit dem öffentlichen Zugriff entzogen, weil sie in den Schutz der Privatsphäre fielen. Erst in jüngster Zeit, seit etwa 1960, sind sie in das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit getreten und damit in ihrem ganzen Ausmaß erst bewusst geworden.

Individuelle Formen der Gewalt können aber auch im öffentlichen Raum auftreten. Die Schule ist ein solcher Raum, in dem praktisch alle Ausprägungen von körperlicher, psychischer, verbaler, sexueller, geschlechtsfeindlicher und fremdenfeindlicher sowie rassistischer Gewalt verzeichnet werden können.

Ausprägungen von individueller Gewalt

Nehmen wir eine Differenzierung der verschiedenen individuellen Gewaltausprägungen vor, dann können die folgenden Unterscheidungen getroffen werden:

  • Physische Gewalt ist die Schädigung oder Verletzung eines oder mehrerer Menschen durch körperliche Kraft und/ oder andere Zwangsmittel. Zu den vorherrschenden Zwangsmitteln gehören Waffen aller Art.

  • Psychische Gewalt ist die Schädigung und Verletzung eines oder mehrerer anderer Menschen durch Abwendung, Ablehnung, Abwertung, Entzug von Vertrauen, Entmutigung und Erpressung. Sie kann sich auf Worte stützen und wird dann als »verbale Gewalt« bezeichnet, die meist auf Beleidigung, Erniedrigung und Entwürdigung ausgerichtet ist. Sie kann sich auf Gesten und Gebärden, den Entzug von Lebensnotwendigkeiten und andere Formen der Einschüchterung und Angst stützen und in Formen seelischer Grausamkeit und Folter übergehen. Im Unterschied zur physischen Gewalt sind die Schädigungen und Verletzungen oft weniger sichtbar oder manifestieren sich erheblich später. Psychische Gewalt wirkt sehr stark im Verborgenen und ist deswegen von Außenstehenden auch schwerer erkennbar und beeinflussbar als physische Gewalt.

  • Sexuelle Gewalt lässt sich als eine spezifische Ausprägung der Kombination meist von physischer und psychischer Gewalt verstehen, die auf die Schädigung und Verletzung eines oder mehrerer anderer Menschen durch erzwungene intime Körperkontakte oder andere sexuelle Handlungen zielt, die nur dem Täter oder der Täterin eine Befriedigung eigener sexueller oder Machtbedürfnisse ermöglicht, das Opfer aber erniedrigt und entwürdigt.

  • Geschlechterfeindliche Gewalt ist die spezifische Form der Kombination von physischer, psychischer, verbaler und sexueller Gewalt gegen Frauen oder Männer, die in diskriminierender und erniedrigender Absicht vorgenommen wird, um die körperliche und seelische Integrität als Angehöriger eines Geschlechtes und die sexuelle Selbstbestimmung zu schädigen und zu verletzen.

  • In Analogie dazu kann auch von fremdenfeindlicher oder ethnienfeindlicher (»rassistischer«) Gewalt gesprochen werden, wobei sich die Aggressionsimpulse auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, Herkunftsgruppe oder Ethnie beziehen.

Wie diese begriffliche Kategorisierung zeigt, sind die physische und die psychische Gewalt die beiden zentralen Erscheinungsformen. Häufig treten sie in Kombination miteinander auf, während sexuelle, geschlechterfeindliche, fremdenfeindliche und ethnienfeindliche Gewalt spezifische Ausprägungen von physischer und psychischer Gewalt oder auch eine Kombination von beiden darstellen.

Ausprägungen von institutioneller Gewalt

Neben den Formen der individuellen Gewalt existieren Formen der institutionellen Gewalt. Bei institutioneller Gewalt werden durch Vertreter des Staates oder einer Organisation wie der Schule physische und psychische Zwangseingriffe durchgeführt oder angedroht, um ein kollektives Abhängigkeits- oder Unterwerfungsverhältnis der Bürger oder der Organisationsmitglieder herzustellen und zu sichern. Die Inhaber hierarchisch übergeordneter Positionen haben eine Verfügungsmacht, die sie über physische und psychische Sanktionen aktivieren können, um ein bestimmtes Verhalten ihrer »Untergebenen« zu erzwingen.

  • Der Prototyp der institutionellen Gewalt ist die allseits als legitim empfundene »Ordnungsgewalt«. In formalen Institutionen wie Bildungseinrichtungen vom Typ der Schule begegnet uns diese Ausprägung der institutionellen Gewalt, indem die Inhaber übergeordneter hierarchischer Positionen – die Lehrkräfte – durch entsprechende Sanktionen bestimmte Verhaltensweisen der Untergebenen – der  Schülerinnen und Schüler – erzwingen (können). Die Ausprägungen solcher Formen der institutionellen Gewalt werden in der Regel als unproblematisch und gerecht empfunden, weil auf diese Weise die Voraussetzungen für ein geregeltes Miteinander in der Bildungseinrichtung Schule und für die Realisierung des zentralen Institutionszwecks der Schule gesichert werden. Der zentrale Institutionszweck ist die Durchführung von Unterricht und Bildung mit dem Ziel, jeden Schüler und jede Schülerin in den kognitiven sozialen Kompetenzen so optimal wie möglich zu fördern und zur persönlichen Fähigkeit der Selbstbestimmung zu führen. Zur Erreichung dieses Ziels, gewissermaßen zur Aufrechterhaltung der »Schulordnung«, wird eine als legitim anerkannte Form der institutionellen Gewalt eingesetzt.

  • Die institutionelle Gewalt wird zu einer illegitimen »strukturellen Gewalt«, wenn nicht die Förderung der Organisationsmitglieder, sondern ihre Unterdrückung das Ziel der Machtanwendung ist (Galtung 1975). Der Begriff »strukturelle Gewalt« hat einen wertenden Charakter und zielt auf die problematischen Aspekte der Einbeziehung von Gewalt in die Strukturen einer Institution ab. Er unterstellt, hierdurch werde die Selbstentfaltung und Selbstbestimmung der Mitglieder der Institution beeinträchtigt. Übertragen auf die Bildungsinstitution Schule kann der Begriff verwendet werden, um in kritischer Absicht auf die soziale Ungerechtigkeit der Machtverhältnisse zwischen Lehrkräften und Schülerschaft hinzuweisen. Die Rechtfertigungen und Legitimierungen von illegitimen Ausprägungen von institutioneller Gewalt werden häufig auch mit dem Begriff der »kulturellen« oder »symbolischen« Gewalt bezeichnet (Bourdieu 1993). Damit sind die »ideologischen« Rechtfertigungen gemeint, die ungerechte und die Entfaltungsfähigkeit der Untergebenen oder Abhängigen in einer Institution unterdrückenden Herrschaftsverhältnisse verklären oder beschönigen. Es handelt sich hierbei um kulturelle Formen der Festigung von Machtverhältnissen und die in ihnen eingelagerten Gewaltstrukturen, indem diese als nicht mehr hinterfragbar erscheinen und damit in ihrem Ungerechtigkeitscharakter verkannt werden (Imbusch 2002, 41).

  • Eine Mischform aus individueller und institutioneller Gewalt ist schließlich die kollektiv ausgeübte »politische« Gewalt als eine öffentlich sichtbare Protestform. Sie stellt sich in der Regel als Reaktion auf strukturelle Gewalt ein. Werden Gewaltformen als illegitim und unerträglich empfunden, können die Betroffenen ihrerseits mit »kollektiver politischer Gewalt« hierauf reagieren, indem sie physische Gewalt einsetzen, um politische Macht mit dem Ziel zu erringen, die etablierten Herrschaftsverhältnisse zu ändern. Gewisse Spielarten dieser kollektiven politischen Gewalt sind auch in der Bildungseinrichtung Schule möglich, indem etwa Schülerinnen und Schüler gegen die vorherrschenden Kriterien für die Beurteilung ihrer Leistungen protestieren und eine Veränderung von Bewertungspraktiken zu erzwingen versuchen.

Formen der fremdenfeindlichen Gewalt

Formen der kollektiven politischen Gewalt haben allerdings auch häufig das Ziel, die etablierten Herrschaftsverhältnisse nicht durch Angriff auf die Machthaber, sondern auf missliebige Bevölkerungsgruppen zu attackieren. Diese Gewaltausprägung hat in der Regel einen fremdenfeindlichen, ethnienfeindlichen und auch spezifischen rassistischen Hintergrund. Physische und psychische Gewalt richtet sich in diesem Fall gegen Menschen fremder Herkunft, fremder Religionen, Menschen mit anderem Aussehen und anderen kulturellen Gewohnheiten als denen der traditionellen einheimischen Bevölkerung. Diese Aggressionsform tritt nicht nur im unmittelbaren menschlichen Nahbereich auf, wobei sich Opfer und Täter direkt wahrnehmen können, sondern auch in anonymer Ausprägung. Dazu gehören etwa Brandanschläge gegen die Wohnsitze von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und Einrichtungen muslimischer oder jüdischer Religionsausübung oder der Angriff auf Schüler jüdischer Herkunft in der Schule.

In vielen Fällen ist hierbei eine rechtsextremistische Orientierung die Ausgangsbasis für die Gewaltausübung. Gewalt wird in diesem ideologischen Kontext als ein legitimer Ordnungsfaktor in einer unübersichtlich gewordenen Gesellschaft angesehen, in der keine klaren Regeln für Recht und Ordnung mehr empfunden werden. Gewalt soll der Aufrechterhaltung einer eindeutigen Hierarchie zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religionen dienen. Menschen bestimmter sozialer, rassistischer und religiöser Herkunft werden als »höherwertig« als andere klassifiziert, wobei die Gewalttäter sich jeweils zu der überlegenen Gruppe rechnen. Diese Gewaltformen arbeiten also mit einer Ideologie der sozialen und ethnischen Ungleichheit und sind ethnozentrisch orientiert, wobei die eigene Kultur zum Maßstab für Normalität erklärt wird. Die Zugehörigkeit zum eigenen Volk und zur eigenen Rasse wird als ausreichende Qualifikation wahrgenommen, um sich gegenüber Fremden abzusetzen (Heitmeyer 1995).

Bei dieser besonderen Spielart von kollektiver politischer Gewalt richtet sich die Aggression nicht gegen Machthaber oder Repräsentanten der Machthaber wie Polizei und Ordnungskräfte, sondern gegen andere Bevölkerungsgruppen, die als unerwünscht und bedrohlich empfunden werden, weil sie den eigenen, prekären Platz in der Gesellschaft in Frage zu stellen scheinen, den die Gewalttäter meist selbst einnehmen. Wie die Ursachenforschung zeigt, sind die Täter in einem hohen Ausmaß sozial benachteiligte und isolierte Menschen, meist Jugendliche und junge Erwachsene, die eine langjährige Erfahrung der Vernachlässigung und Demütigung in Familie, Schule, Nachbarschaft und teilweise auch im Beruf hinter sich haben. Die Demütigung kann sich in starken biografischen Brüchen ausdrücken, etwa intensiven Versagenserlebnissen im Bildungssektor, beim Aufbau von persönlichen Beziehungen oder im Berufsbereich (lang anhaltende Arbeitslosigkeit). In vielen Fällen baut sich ein tief sitzendes Minderwertigkeitsgefühl auf, das dauerhaft psychisch nicht ertragen werden kann, weil zu wenig soziale Anerkennung aus der sozialen Umwelt erfahren wird und kein Selbstvertrauen entsteht. Gewaltreaktionen sind oft Reaktionen auf diese als Erniedrigung empfundene Lebenssituation.

Die rechtsextremistisch gefärbten Aggressionen richten sich – oft unter Zuhilfenahme von diversen »Verschwörungstheorien« – gegen Menschen, die von ihrer sozioökonomischen und kulturellen Position her noch schwächer sind als man selbst: Ausländische Asylbewerber, Menschen mit Migrationsgeschichte, Angehörige seltener Religionsgemeinschaften, Behinderte, Homosexuelle, Straffällige, Prostituierte und Obdachlose. Gegen die politisch Mächtigen gehen diese Gewalttäter selten vor. Im Gegenteil bemühen sie sich um deren offene oder heimliche Zustimmung. Sie registrieren sehr genau, welche Signale aus dem politischen Bereich der herrschenden Parteien und der von ihnen als wichtig erachteten Meinungsführer in Politik und Medien kommen. Sie empfinden sich als eine Art politische Avantgarde, die im Grunde das an Zielen politisch umsetzt und ausführt, was sich die Mächtigen nach ihrer Auffassung nicht trauen, aber doch klammheimlich wünschen.

Noch ein weiterer Aspekt der rechtsextremistisch orientierten politischen Gewalt fällt auf. Es wird an Symbole aus der Zeit des deutschen Nationalsozialismus angeknüpft, um auf diese Weise in demonstrativer Absicht die »politisch korrekte« öffentliche Einstellung zu provozieren, wonach es sich bei der Hitler-Diktatur in Deutschland um eine politisch unerträgliche und moralisch auf das Schärfste abzulehnende Phase der deutschen Geschichte gehandelt hat. Dieser Verstoß gegen die mühsam aufrechterhaltenen Regeln und Umgangsformen einer demokratischen Kultur sichert große Aufmerksamkeit, weil sie einen politisch immer noch bloß liegenden Nerv der deutschen Geschichte und des Selbstverständnisses der älteren Generation trifft. Nationalsozialistische Symbole und Rituale werden in der Absicht verwand, politische und pädagogische Autoritäten herauszufordern. Erst in dem Maße, wie eine wirkliche Auseinandersetzung und Verarbeitung der deutschen Vergangenheit des Nationalsozialismus gelingt, wird der Provokationscharakter solcher Gewaltaktionen geringer werden. Aus diesem Grund ist eine abgeklärte und selbstbewusste Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Epoche des Nationalsozialismus in Deutschland und den dahinter liegenden politischen Konstellationen weiterhin wichtig.

Geschlechtsspezifische Profile der Gewaltausprägung

Fast alle Formen von Gewalt werden von Angehörigen des männlichen Geschlechtes häufiger ausgeübt als von denen des weiblichen. Schon in den ersten Lebensjahren zeigt sich bei Jungen ein stärkeres Auftreten von aggressiven Verhaltensweisen verschiedenster Art im Vergleich zu Mädchen. Während der Kindheit, des Jugendalters und auch der Erwachsenenphase hält dieser Unterschied an.

Es ist deswegen durchaus berechtigt, in Bezug auf Aggressivität nach einer genetischen Unterscheidung in Bezug auf Aggressivität zwischen den Geschlechtern zu suchen. Entsprechende Studien haben allerdings bisher keine klaren Ergebnisse gebracht. Ganz offensichtlich ist das angeborene Aggressionspotential bei männlichen und weiblichen Säuglingen nach Umfang und Profil nicht sehr unterschiedlich. Vieles spricht deswegen dafür, in der Kombination der genetischen Faktoren mit den Umweltbedingungen den entscheidenden Grund für die stärkere Ausprägung von Aggressions und Gewalthandlungen bei Angehörigen des männlichen Geschlechts zu sehen (Baker 2002, 753). In der gegenwärtigen genetischen Forschung wird es für unwahrscheinlich gehalten, dass jemals ein »Gen für Gewalt« entdeckt werden könnte, weil nach dem bisherigen Erkenntnisstand Gene keine bestimmten Verhaltensweisen kodieren und prädisponieren. Gleichwohl ist es nicht ausgeschlossen, dass in der weiteren Forschung genetische Dispositionen für bestimmte Aggressionsprofile gefunden werden, die sich möglicherweise auch zwischen den Geschlechtern unterscheiden. Auch in diesem Fall würde allerdings der Einfluss geschlechtsspezifischer Sozialisations- und Erziehungsimpulse von entscheidender Bedeutung für die Erklärung der Geschlechtsunterschiede bleiben.

 

Ziehen wir die bisherigen Erkenntnisse aus der geschlechterspezifischen Forschung zusammen, lassen sich die folgenden Tendenzen von unterschiedlichen Ausprägungen von Gewalthandlungen bei Männern und Frauen ausmachen: