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Micha Brumlik
Stephan Ellinger
Oliver Hechler
Klaus Prange

Theorie der praktischen Pädagogik

Grundlagen erzieherischen Sehens, Denkens und Handelns

Verlag W. Kohlhammer

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher

Gesamtherstellung:

W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023661-5

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-023662-2

epub:  ISBN 978-3-17-025541-8

mobi:  ISBN 978-3-17-025421-3

Inhaltsverzeichnis

  1. 1   Einführung
  2. Stephan Ellinger und Oliver Hechler
  3. 2   Pädagogisches Wissen
  4. 2.1   Anthropologische Grundlagen der Erziehung
  5. Micha Brumlik
  6. 2.1.1   Drei Mythen und ihre Kritik
  7. 2.1.2   Hermeneutik der Naturgeschichte
  8. 2.1.3   Menschen: Leiblichkeit und Generation
  9. 2.1.4   Sinn und Funktion generationeller, sexueller Fortpflanzung
  10. 2.1.5   Grundbegriffe: Interaktion und Kommunikation
  11. 2.1.6   Leiblichkeit und Psychoanalyse
  12. 2.1.7   Das Ende des Menschen – Ende der Pädagogik?
  13. 2.1.8   Anthropologie des Idealismus und Pädagogik der Anerkennung
  14. 2.2   Erziehung als pädagogischer Grundbegriff
  15. Stephan Ellinger und Oliver Hechler
  16. 2.2.1   Erziehungsbegriff(e)
  17. 2.2.2   Erziehung im anthropologischen Begründungszusammenhang
  18. 2.2.3   Erziehung in metaphorischer Hinsicht
  19. 2.2.4   Erziehung in formaler Hinsicht
  20. 2.2.5   Elemente der Erziehung
  21. 2.2.6   Räume der Erziehung
  22. 2.2.7   Erziehung – eine vorläufige Bestimmung
  23. 2.2.8   Erziehen als Beruf
  24. 3   Pädagogisches Sehen, Denken und Handeln
  25. Stephan Ellinger und Oliver Hechler
  26. 3.1   Der pädagogische Aufbau der Person: Pädagogischer Ternar
  27. 3.1.1   Können
  28. 3.1.2   Wissen
  29. 3.1.3   Wollen
  30. 3.2   Lernen und Entwicklung – Die pädagogische Perspektive
  31. 3.2.1   Die Zirkelstruktur des Lernens
  32. 3.2.2   Die pädagogischen Lebensalter
  33. 4   Pädagogisches Ethos
  34. Klaus Prange
  35. 4.1   Moral – Ethik – Ethos
  36. 4.2   Erziehung als Gewissens- und Rechtspflicht
  37. 4.3   Die Moral des Zeigens als Kern der pädagogischen Beziehung
  38. 4.4   Ethos im Kontext: Gesichtspunkte der pädagogischen Ethik
  39. 4.5   Das Ethos der Familien
  40. 4.6   Das Ethos der Schulen
  41. 4.7   Das Ethos des Lernens im Lebenslauf
  42. 4.8   Deformationen des pädagogischen Ethos
  43. 5   Ausblick: Pädagogik zwischen Selbstbewahrung und Entwicklung
  44. Klaus Prange

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Einführung

Stephan Ellinger und Oliver Hechler

Die »Pädagogik ist die Wissenschaft, deren der Erzieher für sich bedarf« (Herbart 1964, 22). So führt Johann Friedrich Herbart 1806 in seine Abhandlung über »Allgemeine Pädagogik, aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet« ein. So knapp diese Feststellung daherkommt und so trivial sie sich liest – das, was Herbart als Forderung 1806 formulierte, ist bis heute weithin Forderung geblieben. Einer Forderung, der es zu entsprechen gilt, wenn man es mit der Pädagogik als Disziplin und dem berufsmäßigen Erziehen als professionelle Praxis ernst meint. Denn trotz der mehr als 2000 Jahre umfassenden Geschichte der theoretischen Pädagogik (Benner/Oelkers 2004) scheint es noch immer schwierig, einen Kanon pädagogischen Wissens zu formulieren, an dem sich sowohl der wissenschaftlich tätige als auch der interventionspraktische Pädagoge orientieren kann. Und das, obwohl bis heute eine mittlerweile unüberschaubare Menge an pädagogischer Fachliteratur zum Thema zusammengetragen wurde. Aus aktueller Sicht soll auf einige Veröffentlichungen hingewiesen werden, die den Einstieg in die theoretische Pädagogik gut ermöglichen, so dass von dort aus die Geschichte der pädagogischen Theorie erkundet werden kann.

Zunächst sind hier das »Pädagogische Wissen« (Kade et al. 2011) und die »Grundbegriffe der Pädagogik« (Dörpinghaus/Uphoff 2011) zu nennen. Beide Werke wenden sich den Grundbegriffen der theoretischen Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaft zu und entfalten diese sowohl in theoriegeschichtlicher Hinsicht als auch mit Hinblick auf aktuelle Gültigkeit. Neben den Ausführungen zu den Grundbegriffen der Pädagogik lassen sich noch Werke ausmachen, die zum einen bedeutende Pädagogen in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen. Gemeint sind hier die personalen Klassiker der Pädagogik, wie sie zum Beispiel von Tenorth (2003a; b) vorgestellt werden. Zum anderen aber lassen sich auch zentrale Werke der pädagogischen Theoriebildung ausmachen, in die zum Beispiel Prange (2008; 2009), Böhm et al. (2009) und Saalfrank/Zierer (2010) einführen. Schließlich widmen sich noch zahlreiche Untersuchungen der Geschichte der Pädagogik. Hier sollen beispielhaft Reble (1995) und Böhm (2004) genannt werden. Für die theoretische Pädagogik haben darüber hinaus noch die Allgemeine Pädagogik (vgl. Benner 1996), die Allgemeine Didaktik (vgl. Sünkel 2002) und die Pädagogische Anthropologie (vgl. Zirfas 2007) einen bedeutenden Stellenwert. Abschließend kann auch auf die große Zahl von Hand- und Wörterbüchern, Lexika und erziehungswissenschaftlichen Einführungsbänden hingewiesen werden. Beispielhaft sollen hier nur das dreibändige »Handbuch der Erziehungswissenschaft« (Mertens et al. 2007), das »Historische Wörterbuch der Pädagogik« (Benner/Oelkers 2004) und das »Wörterbuch der Pädagogik« (Böhm 2005) genannt sein. Im Blick auf aktuelle Entwicklungen im Bereich der theoretischen Pädagogik kann beispielhaft Wolfgang Sünkel angeführt werden. Sünkel (2011) hat mit seiner Untersuchung zum »Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis« eine allgemeine Theorie der Erziehung entworfen, die er leider aufgrund seines überraschenden Todes nicht mehr zu Ende führen konnte. Für Papenkort (2011) nimmt das Werk von Sünkel »in jeglicher Hinsicht eine Ausnahmestellung ein. Wenn ein Leser willens ist, den hohen Grad an Abstraktion, der mit einer ›allgemeinen Theorie‹ einher geht, zu dulden, vielleicht sogar, weil er das Konkretisierungspotential erahnt, zu begrüßen, wird er vielleicht mit zwei Eindrücken belohnt, die das Buch beim Rezensenten hinterlassen haben: Hier wird Wahrheit gesprochen, und die Form ihrer Darstellung ist von schlichter Schönheit geprägt« (Papenkort 2011, 8 ff).

Der Überblick zu den aktuellen Werken zur theoretischen Pädagogik bleibt unvollständig, und auch in theoriegeschichtlicher Hinsicht werden viele »große« Namen und Werke der Pädagogik nicht genannt. Dies ist an dieser Stelle aus zwei Gründen nicht weiter problematisch. Zum einen sollte die Darstellung zunächst einmal nur den pädagogischen Horizont skizzieren, vor dem sich dieses Buch verorten lässt. Damit ist der Zweck der Darstellung erfüllt. Zum anderen geht es in den folgenden Ausführungen gar nicht um eine weitere Allgemeine Pädagogik oder um ein weiteres enzyklopädisches Werk zur theoretischen Pädagogik, sondern vielmehr um einen Tatbestand, den Kühnel 1920 mit Blick auf die pädagogische Theorie und erzieherische Praxis folgendermaßen umreißt: »Genau in dem Maße, wie die Wissenschaft der Medizin – in Verbindung mit der Praxis – den Arzt ›macht‹, so ›macht‹ die theoretische Pädagogik – in Verbindung mit der Praxis – den Erzieher« (Kühnel 1920, 21). Die folgenden Überlegungen haben dasjenige pädagogische Wissen zum Gegenstand, das dazu taugt, den vielbeschworenen pädagogischen Blick zu begründen und damit für den interventionspraktisch tätigen, also den pädagogisch sehenden, denkenden und handelnden Erzieher die so notwendige und unhintergehbare pädagogische Orientierungs- und Begründungsfolie bereitzustellen. Auf diesem Wege soll erhellt werden, welches pädagogische Wissen und korrespondierend dann auch welches erzieherische Können zur verkörperlichten Handlungsfähigkeit des Erziehers führen, die es ihm ermöglicht, den Anforderungen der erzieherischen Praxis gerecht werden zu können. Der pädagogische Blick des Erziehers, folgt man sinngemäß Corvisart (1808), »der so oft über die umgängliche Gelehrsamkeit und die solideste Ausbildung den Sieg davon trägt, ist nur das Resultat des häufigen, methodischen und richtigen Gebrauchs der Sinne. Hier ist die Quelle jener Leichtigkeit in der Anwendung, jener Geschicklichkeit in der Darstellung und jener Sicherheit im Urteil, die so rasch sein kann, dass alle Akte gleichzeitig zu sein scheinen und zu Recht in dem Ausdruck ›Takt‹ zusammengefasst werden« (zit nach Foucault 2005, 135). Und Herbart bringt den angedeuteten Sachverhalt bereits im Jahre 1802 auf den Punkt, indem er feststellt: »Nun schiebt sich aber bei jedem noch so guten Theoretiker, wenn er seine Theorie ausübt […], zwischen die Theorie und Praxis ganz unwillkürlich ein Mittelglied ein, ein gewisser Takt [kursiv im Original] nämlich, eine schnelle Beurteilung und Entscheidung, die nicht wie der Schlendrian, ewig gleichförmig verfährt, aber auch nicht, wie eine vollkommen durchgeführte Theorie wenigstens sein sollte, sich rühmen darf, bei strenger Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel, zugleich die wahre Forderung des individuellen Falls ganz und gar zu treffen« (Herbart 1802, 44). Tenorth (1986, 295) beschreibt den Takt im Sinne Corvisarts und Herbarts prägnant als das zentrale Symbol dafür, in Situationen der Ungewissheit und ohne eindeutige Antworten durch die Wissenschaft als Pädagoge handlungsfähig zu bleiben. Der Takt setzt also an den Stellen ein, »welche die Theorie leer ließ«, und wird auf diese Weise »der unmittelbare Regent der Praxis« (Herbart 1802, 44). Damit bezeichnet »der Takt« das Repertoire und die Verfügbarkeit von berufsrollenbezogenen Routinen und berufsfeldspezifischen Deutungsmustern. Jakob Muth hat schließlich das Unterfangen gewagt, dem Wesen des skizzierten Takts etwas genauer nachzuspüren. Taktvolles Handeln der erzieherischen Persönlichkeit äußert sich Muth zufolge als die Fähigkeit zur Situationssicherheit, als dramaturgische Fähigkeit, als improvisatorische Gabe und als Wagnis zu freien Handlungsformen. Ein »taktvoller« Erzieher ist damit in der Lage, eine gelassene Haltung einzunehmen, die ihn für Unvorhergesehenes offen hält (Muth 1967, 77). Den vier skizzierten Fähigkeiten, die die Elemente des pädagogischen Taktes im Sinne Muths ausmachen, sind darüber hinaus weitere vier elementare Grundannahmen eingeschrieben. Muth (ebd.) benennt hier zunächst die Verbindlichkeit der Sprache. Das heißt, der Erzieher muss sprachlich so gebildet sein, dass er die Themen der Erziehung angemessen zur Sprache bringen kann – also in einer Weise, dass ihn der Zögling zum einen auch versteht und zum anderen seine Aufmerksamkeit sowohl auf den Erzieher als auch auf das von ihm Gezeigte richtet. Dann verweist Muth (ebd.) auf die Bedeutung der Natürlichkeit des Handelns des Erziehers. Auf der einen Seite muss es dem Erzieher möglich sein, sein erzieherisches Handeln im Sinne einer »Seins-Autorität« (Fromm 1976) zu verwirklichen und nicht im Sinne einer »Habens-Autorität« (ebd.) künstlich zu kultivieren: »Der springende Punkt ist, ob man Autorität hat oder ob man eine Autorität ist« (Fromm 1976, 298). Auf der anderen Seite ergibt sich die Notwendigkeit, ein erzieherisches Handeln zu realisieren, das die (Lern-)Themen angemessen erschließt »und sie nicht durch sich selbst oder durch gekünstelte methodische Spitzfindigkeiten verstellt und um ihr Wesen bringt« (Muth 1967, 41). Schließlich geht es um die Vermeidung von Kränkungen im erzieherischen Verhältnis. Im allgemein-menschlichen Umgang zeichnet sich der Taktvolle dadurch aus, dass er andere Menschen nicht verletzt, kränkt, demütigt, entwertet usw. Der Erzieher hat sich ebenfalls nach dieser Maxime zu richten, und es gelingt ihm am besten dadurch, dass er sich die Asymmetrie der erzieherischen Situation vergegenwärtigt und sich mehr an der Erziehungsbedürftigkeit des Zöglings orientiert als an seinem Veränderungspotential. Abschließend kommt der Wahrung der im pädagogischen Bezug notwendigen optimalen Distanz größte Bedeutung zu. Es ist hier nicht von maximaler, allerdings auch nicht von minimaler Distanz die Rede. Distanz dient der eigenen Selbstvergewisserung des Erziehers mit Hinblick auf seine Rolle. So sehr dieser mit dem Zögling die gleiche Ebene, die gleiche Sprache, »den gleichen Herzschlag finden soll« (Muth 1967, 58), nie darf er im erzieherischen Handeln völlig gleich werden. Die Vermeidung eines Distanzverlustes und die Aufrechterhaltung einer Differenz ermöglichen erst einen erzieherisch initiierten, angeleiteten oder begleiteten Lernprozess auf Seiten des Zöglings.

Aus diesen Erläuterungen lässt sich nun gut ableiten, auf welche Art Wissen dieses Buch abhebt. Es geht ihm weder um ein ausschließlich theoretisches Wissen noch um die ausschließliche Explikation erzieherischen Könnens, sondern vielmehr um die Formulierung einer pädagogischen Fachkunde, die letztendlich zwischen Theorie und Praxis, zwischen Disziplin und Profession angesiedelt ist. In einem erweiterten Sinne könnte man also sagen, es geht um die Formulierung einer Theorie der praktischen Pädagogik. Im engeren Verständnis zielen die Ausführungen auf die praxisrelevante Aufbereitung pädagogischer Wissensbestände, um einen genuin pädagogischen Zugang zum Gegenstand der erzieherischen Bemühungen zu ermöglichen. Auf diesem Wege, so ist zu hoffen, wird zweierlei geleistet. Zum einen kann so die spezifische Expertise der theoretischen Pädagogik und des berufsmäßigen Erziehers erarbeitet werden. Es geht dabei um das Spezifikum, das die theoretische und praktische Pädagogik von der Psychologie, der Soziologie, der Biologie und neuerdings auch von den Neurowissenschaften unterscheidet. Der immer wieder hervorgebrachten Annahme, die Pädagogik sei eine angewandte Wissenschaft – und das meint häufig letzten Endes gar keine Wissenschaft, sondern eine Disziplin, welche die Theorien und Methoden von so genannten Grundlagenwissenschaften für praktische Zwecke der Erzieher verwendet (Uexküll/Wesiak 1998, 2) –, kann so begründet entgegen getreten werden. Zum anderen soll es dem professionellen Pädagogen in einem ersten Schritt ermöglicht werden, die Lebensprobleme der Menschen, zu denen er in einem professionellen erzieherischen Verhältnis steht, als Lernprobleme zu konzeptualisieren. Vom Säugling bis zum alten Menschen ist es unhintergehbar das menschliche Lernen mit all seinen Schwierigkeiten, auf das es die Pädagogik und die Erziehung abgesehen haben. In einem zweiten Schritt geht es dann darum, gewissermaßen in differentialdiagnostischer und differentialindikativer pädagogischer Absicht, diese Probleme des Lernens auf ihr Wesen hin zu befragen, um Erkenntnis darüber zu erlangen, welcher Lernbedarf dem Lernproblem zu Grunde liegt. Es soll also ein höchst praxisrelevantes pädagogisches Wissen darüber generiert werden, was der Mensch im Angesicht der Anforderungen seiner Lebenspraxis und vor dem Hintergrund seines Lebenslaufs bisher gelernt hat, was bislang noch nicht gelernt wurde, aber nötig wäre oder was noch in Zukunft gelernt werden soll, jetzt aber noch nicht gekonnt, gewusst und gewollt sein muss. Erst vor dem Hintergrund dieser pädagogischen Einschätzung kann dann begründet entschieden werden, welches Erziehungsmittel im Sinne einer Lernhilfe dem Lernbedarf, der zu einem Lernproblem geführt hat, angemessen gerecht wird. Dasjenige pädagogische Bemühen, das hier vorläufig pädagogische Diagnostik und pädagogische Indikation genannt wird, hat Werner Loch (1979) folgendermaßen beschrieben: »Das pädagogische Verstehen ist durch die Absicht bestimmt, die Erziehung, die ein Individuum benötigt, aus dem Kontext seines Lebenslaufs und der sich darin zeigenden Entwicklungstendenzen des jeweiligen Lebensalters zu ermitteln und in ein ›Curriculum‹ umzusetzen, bei dessen lernendem ›Durchlaufen‹ das zu erziehende Individuum eine Gegenwart erfährt, die es im Blick auf seine Vergangenheit und im Blick auf seine Zukunft als zweckmäßig zu verstehen und als befriedigend zu verstehen vermag« (Loch 1979, 144). Wie aus dem bisher Ausgeführten deutlich wird, ist das menschliche Lernen der zentrale Bezugspunkt erzieherischer Bemühungen. Ob diese nun von einem Lernproblem ihren Ausgang nehmen und dann Lernhilfe durch Erziehung oder Förderung geleistet wird, ob Lernprobleme überhaupt erst aufgrund von pädagogisch begründeten Anforderungen an den zu erziehenden Menschen entstehen, oder ob schließlich die Erziehung das Lernen des Menschen ganz unspektakulär begleitet, ist für das hier in Angriff zu nehmende Unterfangen zunächst von nachgeordneter Bedeutung, denn für alle drei Modi gilt: Um solche pädagogische Differentialdiagnostik vornehmen zu können, bedarf es eines entwicklungspädagogischen Denkansatzes, der Aufschluss über das Lernen des Menschen in seiner jeweiligen Lebensspanne sucht.

Somit ist nun der Gegenstand der weiteren Ausführungen benannt und hergeleitet. Es geht um die Formulierung einer praktischen Pädagogik, in deren Mittelpunkt eine genuin pädagogische Entwicklungslehre steht. Der maßgebliche Bezugspunkt einer solchen Entwicklungslehre ist aus pädagogischer Sicht, wie bereits verdeutlicht, das lebensalterspezifische Lernen des Menschen. Erst durch die lernende Aneignung von Fertigkeiten, von Wissensbeständen und von Willenseinstellungen gelingt es dem Menschen, sukzessive sein Leben, so weit es möglich ist, in personaler Selbstbestimmung zu gestalten. Diese Lernaufgaben in den unterschiedlichen Lebensaltern entstammen verschiedenen Themenfeldern aus den Bereichen des Könnens, Wissens und werden erzieherisch angestoßen, angeleitet und begleitet. Um Irritationen entgegen zu wirken, muss an dieser Stelle deutlich festgehalten werden: Personale Selbstbestimmung meint nicht das Gegenteil von ich-bezogener Selbstverwirklichung, sondern bezieht sich basal auf den anthropologischen Tatbestand des personalen und sozialen Wesens des Menschen. Aber es ist gerade diese Personalität und Sozialität, die sich zum einen nicht von selbst ergibt. Vielmehr muss sich der Mensch unterschiedliche Themen aus den Bereichen des Könnens, Wissens und des Wollens lernend aneignen, um seine Personalität und Sozialität auszubilden. Dieser Entwicklungsprozess vom Menschen zur Person einschließlich ihrer konstitutiven Sozialität kann als Personagenese, oder mit Winfried Böhm gesprochen, als Personwerdung des Menschen bezeichnet werden (vgl. Böhm 2011). Hierfür ist Erziehung unverzichtbar. An dieser Stelle kann auch deutlich gemacht werden, was Erziehung von Sozialisation unterscheidet. Selbstverständlich lernt der Mensch nicht nur aufgrund erzieherischer Einwirkungen, sondern auch und in nicht zu geringem Maße durch die sozialisatorischen Einflüsse, die seine Lebenswelt bereithält und die überhaupt nicht, sieht man mal vom Rousseauschen Erziehungsroman Emile (Rousseau 1919) ab, ausgeblendet werden können. In pädagogischer Sicht könnte Sozialisation so als funktionale Erziehung bezeichnet werden. Die Personagenese vollzieht sich in einem zunächst asymmetrischen erzieherischen Verhältnis zwischen mindestens zwei beteiligten Individuen. Beim einen, dem Zögling oder dem Schüler, geht es um eine Entwicklung vom (noch) Nicht-Können zum Können, vom (noch) Nicht-Wissen zum Wissen und von (noch) Nicht-Wollen zum Wollen. Der andere, der Erzieher oder der Lehrer, kennt die Themen, verfügt über die Fertigkeiten und/oder weiß um die Willenseinstellungen, die er vermitteln möchte. In diesem Sinne ist das erzieherische Verhältnis, zumindest bis zu dem Punkt, an dem es in ein erzieherisches Selbstverhältnis übergeht, eine »Du-Beziehung des Schülers und Zöglings in Ansehung des Lehrenden als Repräsentanten des Gültigen« (Petzelt 1964, 311). Erzieherische Interaktion ist dementsprechend nicht gleichzusetzen mit sozialisatorischer Interaktion oder geht in dieser gar auf. Das erzieherische Verhältnis ist ein interpersonelles Verhältnis sui generis, das sich eben auch nicht einseitig dem Zuständigkeitsbereich der biologischen Anlagen oder dem der psychosozialen Umwelt zuschreiben lässt. Dieser eigentümliche Charakter, der den Gegenstand der pädagogischen Wissenschaft und der erzieherischen Praxis abgibt, ergibt sich aus dem anthropologischen Tatbestand, dass der Mensch eben auf Erziehung angewiesen ist und nicht primär auf Sozialisation. Wäre sozialisatorische Interaktion die einzige Antwort auf die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, würde der Mensch nicht überleben. Weder die anlagebedingten noch die umweltbedingten Aktions- und Reaktionsbereitschaften könnten angemessen auf die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen reagieren. Dies vermag ausschließlich die Erziehung, die prinzipiell in ein erzieherisches Verhältnis (vgl. Kron 1971) eingebettet ist. Festzuhalten bleibt: Die Menschwerdung des Menschen, die Personagenese, vollzieht sich zwischen Anlage, also den genetischen Dispositionen, und Umwelt, also den psychosozialen Dispositionen, im Rahmen eines erzieherischen Verhältnisses. Und somit stellt das erzieherische Verhältnis, in dem Themen mit Blick auf aneignendes Lernen zeigend vermittelt werden, den zentralen Parameter der Personwerdung dar, der sich kategorial von den psychischen Parametern, den biologischen Parametern und den sozialen Parametern unterscheidet. Es ist also das erzieherische Verhältnis, in dem auf Themen bezogen erzogen und gelernt wird, das den eigentümlichen Gegenstand der Pädagogik markiert und von anderen disziplinären und professionellen Sichtweisen abgrenzt. Zum anderen verweist die ausgebildete Personalität und Sozialität, um deren Erhalt sich das Individuum im Sinne der Selbsterziehung (erzieherisches Selbstverhältnis) kümmern und sorgen muss, auf das, was in der Pädagogik mit dem Begriff der Mündigkeit als Erziehungsziel formuliert wird. Ob nun Mündigkeit begriffen wird als die Fähigkeit zum Eigendenken (Kant), als herrschaftsfreier Vernunftgebrauch auf der Basis der Selbstreflexion (Habermas), als die individuelle Bewährung in der Gemeinschaft (Rousseau) oder als gebildete Individualität (Humboldt), immer geht diesem Zustand ein Lernprozess voraus, der sich durch Subjektivierung der Lernthemen, also durch individuelle Sinn- und Bedeutungszuschreibung durch das lernende Subjekt, zu einem individuellen Bildungsprozess herausgebildet hat.

Der pädagogische Blick, dem ein theoretisch begründetes Verständnis der Personagenese des Menschen zu Grunde liegt, hebt darauf ab, den Erzieher im Umgang mit dem Zögling in die Lage zu versetzen, mit dem von Herman Nohl skizzierten und für die Erziehung typischen Sachverhalt umgehen zu können: »Wir stehen vor einem Äußeren oder vor Äußerungen, die wir aus einem Inneren deuten müssen, das wir doch selbst wieder nur aus diesem Äußeren erschließen können« (Nohl 1947, 9). Und die pädagogische Deutung der Phänomene der menschlichen Lebenspraxis wird unter der Perspektive des Lernens vorgenommen, das die erzieherischen Bemühungen zu erreichen versuchen.

Das Unterfangen der Formulierung einer Theorie der praktischen Pädagogik nimmt somit ihren notwendigen Ausgangspunkt in der Explikation pädagogischen Wissens, das hier, entsprechend dem Anliegen des Buchs, auf die Darstellung der anthropologischen Grundlagen der Pädagogik – leitend ist die Frage: »Warum und wozu Erziehung«? – einerseits und der Bestimmung von Erziehung als den maßgeblichen Grundbegriff der theoretischen und praktischen Pädagogik – hier wird danach gefragt: »Was ist Erziehung?« – andererseits enggeführt wird.

Während im Kapitel 2 »Pädagogisches Wissen« zum einen die Notwendigkeit der Erziehung für die Menschwerdung hervorgehoben und zum anderen darüber hinaus auch eine Idee entworfen wird, was es mit Erziehung aus einem pädagogischen Blickwinkel auf sich hat, widmet sich das Kapitel 3 »Pädagogisches Sehen, Denken und Handeln« den Grundrissen einer pädagogischen Entwicklungstheorie, die für das erzieherische Sehen, Denken und Handeln eine pädagogische Begründungsfolie abgeben kann. Im Zentrum dieser Ausführungen steht zunächst die Darstellung des pädagogischen Aufbaus der Person als ein Ensemble von Themen aus den Lernbereichen des Könnens, Wissens und Wollens. Wirkt der Aufbau der Person zunächst noch sehr statisch, so wird dieser durch zwei Sachverhalte dynamisiert. Zum einen bewegt sich der Mensch in einem Kreislauf von Lernen, Lernhemmungen und Lernhilfen (Loch 1999). Das heißt, es wird gelernt, und dieses geht soweit gut, bis der Mensch zu einem Punkt kommt, an dem sich das Lernen nicht mehr von selbst ergibt. Der damit entstehenden und sich verfestigenden Lernhemmung wird üblicherweise mit unterschiedlichen, mehr oder weniger bewussten und intentionalen Lernhilfen mit dem Ziel begegnet, das Lernen aus eigener Kraft wieder zu ermöglichen. Zum anderen bewegt sich der skizzierte Kreislauf gewissermaßen über den Lebenslauf und die Lebensalter hinweg. Das heißt, dass zum Beispiel die (Lern-)Themen des Könnens im Kleinkindalter völlig andere sind als im Jugend-oder späten Erwachsenenalter. Das pädagogische und erzieherische Interesse, das dieser Darstellung zu Grunde liegt, ist die Frage, was denn ein Mensch im Laufe seines Lebens lernen sollte, um dann begründete Aussagen darüber zu treffen, ob ein – und wenn ja welcher – aktueller Lernbedarf besteht, welchem Lernbereich und welchem Lebensalter dieser zugeordnet werden kann und welche erzieherischen Mittel geeignet erscheinen, diesem Lernbedarf zu begegnen.

Schließlich muss noch auf das »Pädagogische Ethos« (Kapitel 4) oder besser: auf das Ethos der Erziehung eingegangen werden, ohne das erzieherisches Handeln Gefahr läuft, missbräuchlich verwendet, oder aber auch, und nicht nur in bewusst unlauterer Absicht, deformiert zu werden. Erst das Ethos der Erziehung in den unterschiedlichen erzieherischen Räumen kann Erziehung als Praxis legitimieren.

Im »Ausblick« (Kapitel 5) muss dann kritisch gefragt werden, welchen pädagogisch bedeutsamen Horizont die Überlegungen zu einer Theorie der praktischen Pädagogik eröffnen können. Hierzu zählt, sowohl auf die pädagogische Notwendigkeit dieser Überlegungen als solche als auch auf die Begrenzungen, auf die diese Sichtweise stößt, zu verweisen.

Zum Schluss der vorliegenden Einleitung sei noch auf eine Begriffsklärung hingewiesen. Wie an einigen Stellen des bisher Ausgeführten schon deutlich werden konnte, versteht sich aktuell die »Sache der Pädagogik« (vgl. Fuhr/Schultheis 1999) nicht mehr von selbst. Nicht nur, dass man sich trefflich darüber streiten kann, welche Gegenstände überhaupt zur Sache der Pädagogik werden können bzw. werden sollten oder seit jeher eindeutig zu ihr gehören. Auch besteht darüber hinaus unter Fachleuten kein Konsens hinsichtlich der Aufrechterhaltung und Weiterverwendung des Begriffs Pädagogik. Verflüchtigte sich dieser schon im Laufe der 1960er Jahre – aus der »alten« (geisteswissenschaftlichen) Pädagogik wurde die »neue« (sozialwissenschaftlich ausgerichtete) Erziehungswissenschaft –, so geht heute der Trend in Richtung (empirische) Bildungswissenschaft. Durch die Entsorgung des Pädagogischen, nämlich der Erziehung, ist, so scheint es zumindest, der Anschluss an eine sich selbst empirisch-naturwissenschaftlich (miss-)verstehende Humanwissenschaft möglich geworden. Ob diese Entwicklung dem gattungsspezifischen Phänomen der Erziehung gerecht wird oder mit diesem gar nichts mehr zu tun hat und haben will, bleibt abzuwarten. Für dieses Buch gilt aber die begründete Annahme, dass es die Pädagogik in zweifacher Hinsicht gibt. Zum einen als Wissenschaft von der Erziehung und zum anderen als professionelle Berufspraxis. Dass ein Großteil der Erziehung von pädagogischen Laien – ganz voran die Eltern – geleistet wird, bleibt von dieser Bestimmung unberührt. Das heißt, wenn Eltern, Freunde, Verwandte, Bekannte, ob sie wollen oder nicht, erzieherisch tätig sind bzw. wirksam werden in dem Sinne, dass sie jemandem etwas zeigen und dieser jemand eignet sich die Themen des Gezeigten an, dann handelt es sich um das Phänomen Erziehung. Und die Pädagogik als Wissenschaft von der Erziehung ist dafür da, dieses Phänomen zu beleuchten. Gilt es hingegen, etwas zu lernen, das zum Beispiel die Eltern ihrem Kind nicht angemessen zeigen können oder wenn sich im Erwachsenenalter Fragen auftun, die nur mit einem Zugewinn an Kenntnissen, Fertigkeiten oder Willenseinstellungen beantwortet werden können, dann ist auch hier Erziehung (wieder) nötig, die diesmal allerdings durch die »Erzieher von Beruf« (Prange/Strobel-Eisele 2006, 44) geleistet werden. Dies geschieht durch Erzieherinnen und Erzieher in der Kinderkrippe oder im Kindergarten, durch unterrichtende Erzieher (Lehrer) in der Schule, durch Sozialpädagogen im Kontext familienbezogener oder individueller Hilfen bei lebenspraktischen Problemlagen oder durch Erwachsenenbildner im Rahmen von Fort- und Weiterbildung. Kurz und gut, in den weiteren Ausführungen wird, so weit es das Sprachgefühl zulässt, von der Pädagogik als der Wissenschaft von der Erziehung (Disziplin) und von dem Erzieher als (Interventions-)Praktiker der Pädagogik (Profession) gesprochen. Mit dieser Unterscheidung und Bestimmung verbindet sich noch ein weiterer Sachverhalt. Die Begriffe Pädagoge und Erzieher werden für beiderlei Geschlecht verwendet und verweisen ausschließlich auf die mit den Begriffen verbundene Funktionsbezeichnung. Wenn ausdrücklich von männlichen oder weiblichen Erziehern und Erzieherinnen die Rede ist, wird dies deutlich gemacht.

Literatur

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Prange, K./Strobel-Eisele, G. (2006): Formen pädagogischen Handelns. Stuttgart.

Reble, A. (1995): Geschichte der Pädagogik. 18. Auflage. Stuttgart.

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Saalfrank, W.-T./Zierer, K. (2010) (Hg.): Zeitgemäße Klassiker der Pädagogik. Leben – Werk – Wirken. Paderborn.

Sünkel, W. (2002): Phänomenologie des Unterrichts. Grundriss der theoretischen Didaktik. 2. Auflage. Weinheim.

Sünkel, W. (2011): Erziehungsbegriff und Erziehungsverhältnis. Allgemeine Theorie der Erziehung. Band 1. Weinheim.

Tenorth, H.-E. (2003a): Klassiker der Pädagogik. Erster Band. Von Erasmus bis Helene Lange. München.

Tenorth, H.-E. (2003b): Klassiker der Pädagogik. Zweiter Band. Von John Dewey bis Pauolo Freire. München.

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Treml, A.K. (2005): Pädagogische Ideengeschichte. Ein Überblick. Stuttgart.

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Pädagogisches Wissen

2.1       Grundlagen einer pädagogischen Anthropologie

Micha Brumlik

2.1.1     Drei Mythen und ihre Kritik

In seinem ebenso streitbaren wie bestreitbaren, auf jeden Fall höchst umstrittenen Werk »Das unbeschriebene Blatt. Die moderne Leugnung der menschlichen Natur« strebt der Psycholinguist Steven Pinker nicht weniger als eine Revision sämtlicher Grundüberzeugungen der modernen Pädagogik an (Pinker 2003). Die drei Mythen, die Pinker zerstören will, sind die des Menschen als eines leeren Blattes, eines unbegrenzt lernfähigen und konditionierbaren Wesens, des »Dualismus von Geist und Körper«, also der Mythos vom »Geist in der Maschine«, sowie schließlich des »Edlen Wilden« – drei Mythen, deren Herkunft aus der neuzeitlichen Philosophie unschwer zu entschlüsseln sind: So stehe der Empirismus John Lockes für die Überzeugung des menschlichen Geistes als einer tabula rasa, der Mentalismus des René Descartes für einen Leib/Geist Dualismus und Jean Jacques Rousseau für den Glauben an einen von Natur aus guten, von keinerlei angeborenen aggressiven Impulsen getriebenen Menschen.

Um den ersten Mythos, den des unbeschriebenen Blattes, zu destruieren, lässt sich einerseits auf das Versagen aller behavioristischen Lerntheorien bei der Erklärung der Sprachkompetenz und andererseits auf die methodologisch unzureichenden Verfahren jener Sozialisations- und Lernforschung hinweisen, die komplexe kognitive oder auch affektive Dispositionen ausschließlich durch den Einfluss des Elternhauses erklären will. So konnte schon David Rowe (1997) in seiner bahnbrechenden Studie über »Genetik und Sozialisation« nachweisen, dass die meisten sozialisationstheoretischen Studien bezüglich des Einflusses des Elternhauses wenn schon nicht falsch, so doch zumindest wertlos sind, da sie in den allermeisten Fällen den möglichen genetischen Einfluss nicht überhaupt mitkontrolliert haben. Demgegenüber können Zwillings- und Adoptionsstudien den erheblichen Einfluss genetischer Faktoren in wesentlichen Dimensionen beweisen. Steven Pinker hat die Überzeugungen dieser Forschungsrichtung in drei Gesetzen der »Verhaltensgenetik« umformuliert: »Das Erste Gesetz: Alle menschlichen Verhaltensmerkmale sind erblich. Das zweite Gesetz: In der gleichen Familie aufzuwachsen hat einen geringeren Effekt, als die gleichen Gene zu haben. Das dritte Gesetz: Ein erheblicher Anteil der Variation in komplexen menschlichen Verhaltensmerkmalen wird nicht durch die Effekte von Genen oder Familien erklärt« (Pinker 2003, 515).

Ob sich diese »Gesetze« nach den neuesten Forschungen der »Epigenetik« noch halten lassen, darf allerdings bezweifelt werden. Unter Epigenetik wird eine Disziplin verstanden, die sich dem unmittelbaren biologischen Umfeld der DNA widmet und zwar so, dass diesem Umfeld zugerechnet werden kann, ob überhaupt und wenn ja das in der DNA angelegte Erbgut zur Entfaltung kommt. Die Forschung konnte zeigen, dass dieses chemische Umfeld der DNA indes sehr wohl von sozialen Verhaltensweisen und Erfahrungen beeinflusst und verändert wird und zwar so, dass es dann letzten Endes eben doch Sozialisationsprozesse und nicht starre Erbanlagen sind, die über die Entwicklung und Entfaltung eventuell biologisch angelegter Eigenschaften von Organismen entscheiden (Bauer 2008, 136 f). Das hat Konsequenzen für Pinkers zweite Kritik: Der von Pinker kritisierte zweite Mythos, der Geist/Körper Dualismus, der Mythos vom »Gespenst in der Maschine« (Gilbert Ryle), ist in den letzten Jahren nicht zuletzt durch die experimentell verfahrende, neurobiologische Hirnforschung widerlegt worden, die die relative Spezifizität von Kompetenzen und Dispositionen in Bezug auf bestimmte Hirnareale nachweisen konnte. Damit sei – so Pinkers weitergehende Schlussfolgerung – die Hoffnung, im menschlichen Gehirn ein besonders leistungsfähiges, sich im Lauf der Sozialisation ständig flexibel weiterentwickelndes Lernorgan sehen zu können, widerlegt. Allerdings kann auch Pinker zunächst nicht anders, als die widersprüchlichen Befunde zu dieser Frage festzuhalten: Einerseits muss er einräumen, dass Säuglinge, denen schon als Babies eine Gehirnhälfte amputiert wurde, sich weitgehend normal entwickelt haben. Andererseits kann er auf Experimente verweisen, wonach Jugendliche, die als Babies unter einer Meningitis litten, ihre Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, verloren hatten, und – die berühmte Studie von Anderson u.a. – junge Erwachsene, die im Kleinkindalter Verletzungen des präfrontalen Kortex erlitten hatten, trotz Genesung und trotz Aufwachsens in liebevollen, sorgenden Familien, sich im späteren Leben scheinbar unheilbar soziopathisch verhielten (Pinker 2003, 146). Bei alledem ist freilich zu beachten, dass es so etwas wie klar abgrenzbare Gehirnareale nicht zu geben scheint, sondern dass unscharf umschriebene Gehirnareale mit fließenden Grenzen und wechselnden Vernetzungen Steuerungsfunktionen übernehmen können (Edelman 2004, 40).

Schließlich – was den dritten Mythos, den Mythos vom guten Wilden im Sinne des Rousseauismus betrifft – können sowohl Zwillings-als auch Adoptionsforschung, vor allem aber evolutionstheoretische und evolutionspsychologische Annahmen Folgendes plausibel machen: dass Aggressivität – also zumal bei männlichen Gattungsangehörigen angelegte Dispositionen zur Erweiterung ihres Territoriums, zum aktiven Werben um Weibchen und zum Kampf gegen Konkurrenten – eine nicht nur für die Gattung homo sapiens und ihre Mitglieder sinnvolle Verhaltensdisposition ist. Ohne sie wäre es der Menschheit, speziell ihren männlichen Angehörigen, nicht gelungen, im Wettbewerb mit anderen Arten, aber auch untereinander, den Globus als ökologische Nische zu erobern (Plomin 1999; Pinker 2003, 425f).

Pinkers naturwissenschaftlich gestützter Abschied von der Traditionslinie Locke, Descartes und Rousseau lenkt den Blick auf deren Antipoden, nämlich auf Leibniz, Spinoza und Hobbes, also auf jene Philosophen des Rationalismus, die auf der relativen, durch Lernen nicht modifizierbaren Undurchdringlichkeit jeder Individualität, ihrer strikten Zugehörigkeit zur Natur sowie ihrer unausrottbaren, allenfalls einschränkbaren Aggressivität bestehen. Dem sind neuere Trends in der Sozialwissenschaft gefolgt: In der Erziehungswissenschaft behaupten sich systemtheoretische Überlegungen, die (Luhmann/Schorr 1982; Luhmann 2002; Radtke 2003) davon ausgehen, dass das menschliche Bewusstsein ein autopoetisches, operativ geschlossenes System sei, das sich letztlich nur selbst sozialisieren könne; weshalb die Kausalitätsannahmen aller intentionalen Erziehung auf einer Täuschung beruhen. Gleichwohl: In der neurobiologisch und affekttheoretisch orientierten Gehirnforschung bekennt sich etwa Antonio Damasio (2003) emphatisch zu Spinozas affektivem Monismus, während Gewaltforschung und Kriminologie durch die Impulse der Soziobiologie die schon von Konrad Lorenz und vor ihm von Sigmund Freud behauptete These vom Aggressionstrieb nun auch statistisch quantitativ stützen können.

Man kann sich die Dramatik dieser Lage – mindestens für die Erziehungswissenschaft und ihre normativen Grundlagen – nicht drastisch genug vorstellen: Sollten tatsächlich Leibniz, Spinoza und Hobbes gegen Locke, Descartes und Rousseau recht behalten, dann würde sich schlüssiger Weise auch jede Form traditioneller pädagogischer Anthropologie als falsch oder überflüssig erweisen. Aber was genau heißt »Pädagogische Anthropologie«?

2.1.2     Hermeneutik der Naturgeschichte

Die auch noch die heutige Erziehungswissenschaft in den meisten ihrer Ausformungen prägende Formulierung dieser traditionellen pädagogischen Anthropologie findet sich freilich in Kants Vorlesungen über Pädagogik, wo es bekanntermaßen heißt:

»Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß […]«. Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um. Ein Tier ist schon alles durch seinen Instinkt; eine fremde Vernunft hat bereits alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt, und muss sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich im Stande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt; so müssen es andere für ihn tun. Die Menschengattung – so schließt Kant aus diesem anthropologischen Befund normativ weiter »soll die ganze Naturanlage der Menschheit, durch ihre eigne Bemühung, nach und nach von selbst herausbringen« (Kant 1970, 697).

Kant hat diese Überzeugungen schließlich in die zugespitzte Bemerkung münden lassen, dass der Mensch nur durch Erziehung Mensch werden könne und: »Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht« (Kant 1970, 697 f). Lässt sich diese Grundüberzeugung einer aufklärerischen Anthropologie nach den Erkenntnissen von Soziobiologie, Zwillingsforschung, neurobiologischer Gehirnforschung (Geyer 2004; Roth 2003) und Evolutionspsychologie überhaupt noch halten? Wäre im Sinn dieser Wissenschaften nicht viel eher zu behaupten, dass der Mensch das ist, was die Evolution aus ihm gemacht hat? Damit drängt sich dann aber unabweisbar die Frage auf, warum die Evolution überhaupt einen vermeintlich so überflüssigen Mechanismus wie die Erziehung hervorgebracht hat. Diese Frage zu beantworten, bedarf es einer »Hermeneutik der Naturgeschichte«, wie Jürgen Habermas diese Thematik genannt hat, genauer vielleicht einer »Hermeneutik der menschlichen Natur«. Habermas hatte in einem vergleichbaren Zusammenhang auf das nicht einfach komplementäre Widerspiel einer kausal argumentierenden Evolutionstheorie der Ausstattung des menschlichen Organismus hier und einer »Hermeneutik der Naturgeschichte« dort hingewiesen. Sie verbinde »den Zugang zu den in den Lebenswelten verkörperten Strukturen des Geistes mit der biologischen Erklärung ihrer Genese« (Habermas 1999, 30).

Dem Spannungsverhältnis von »Natur« und »Kultur« galten schon die Reflexionen der klassischen antiken Philosophie. Im Oktober des Jahres 2002 berichtete die Wissenschaftsseite einer großen deutschen Tageszeitung über ein soeben beendetes Symposion an der Universität Kiel zur griechischen Vasenmalerei. Die Archäologin Lesley Beaumont aus Sidney hatte sich dort mit der politischen Entwicklung der Polis und den Veränderungen der griechischen Familie seit dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert befasst. Mit der Einführung der Demokratie, so der Bericht, werde die Familie zur Keimzelle der Polis. Das Kind sei nicht länger ein kleiner Erwachsener. Sein Körper wirke unbeholfen und rundlich. Zwischen Vater und Mutter robbe es auf einer Pelike (um 440 v. Chr.) am Boden. Die damit wieder aufgenommene Debatte über die Konstruktion von Kindheit berührt ein zentrales, ein grundlegendes Problem aller Pädagogik und somit auch aller Familienerziehung, nämlich das Verhältnis von Natur und Kultur. Die abendländische Tradition verstand Erziehungsprozesse von allem Anfang an in einem engen und zugleich weiterführenden Verhältnis zur Natur.