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Gabriele Strobel-Eisele
Gabriele Roth (Hrsg.)

Grenzen beim Erziehen

Nähe und Distanz in
pädagogischen Beziehungen

Verlag W. Kohlhammer

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© 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher

Gesamtherstellung:

W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022308-0

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-025358-2

epub:  ISBN 978-3-17-025359-9

mobi:  ISBN 978-3-17-025360-5

Inhalt

  1. Vorwort
  2. Einleitung: Koordinaten pädagogischer Beziehungen
  3. I    Begriffe und Grundfiguren zum Verständnis pädagogischer Beziehungen
  4. Liebe als Passion und Liebe als Aufgabe – mit Anmerkungen zum platonisch-pädagogischen Eros (Klaus Prange)
  5. Herman Nohls »Pädagogischer Bezug«: Analyse und Rekonstruktion (Dorle Klika)
  6. Rhetorik und Praxis: Ambivalenzen der deutschen Reformpädagogik (Jürgen Oelkers)
  7. Ist der Begriff »Pädagogische Beziehung« noch sinnvoll? (Hermann Giesecke)
  8. II   Formen sexuellen Missbrauchs und professionelles Handeln
  9. Täter und Täterstrategien bei sexuellem Missbrauch (Gabriele Roth)
  10. Die Psychodynamik des Kindes und die Folgen sexueller Übergriffe für die sozialen Beziehungen (Brigitte Becker)
  11. Vorstellungen von Partizipation des Kindes in Recht und Pädagogik (Barbara Schwarz)
  12. III Kontextspezifische Gestaltung pädagogischer Beziehungen
  13. Grenzen im Erziehungsprozess: Nähe- und Distanzregulationen an Übergängen im Bildungssystem (Elmar Drieschner und Detlef Gaus)
  14. Grundschulkinder im schulischen Spannungsfeld von Nähe und Distanz (Edeltraud Röbe)
  15. Phänomene der pädagogischen Entgrenzung: Konstruktionen des Phänomens Nähe und Distanz im institutionellen Alltag (Anja Seifert und Monika Sujbert)
  16. Schulisches Handeln zwischen Nähe und Distanz: Neue Akzente und Probleme (Gabriele Strobel-Eisele)
  17. Die Autorinnen und Autoren

Vorwort

Im Sommersemester 2011 fand an der Pädagogischen Hochschule eine Ringvorlesung zum Thema »Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen« statt. Anlass dafür waren die 2010 bekannt gewordenen Fälle sexuellen und emotionalen Missbrauchs in Erziehungsinstitutionen, insbesondere in der Odenwaldschule, die bis dahin als Vorzeigeschule der deutschen Reformpädagogik galt – zu Unrecht, wie wir heute wissen. Das Spektrum der Vorträge erstreckte sich auf Beschreibungen von Grenzverletzungen auf der Beziehungsebene zwischen Erzieherinnen/Erziehern und Kindern bzw. der Lehrerschaft und der Schülerschaft. Dabei erwiesen sich unangemessene Nähebeziehungen bzw. fehlendes Distanzverhalten als zentrale Probleme. Inwiefern aber auch auf der Sachebene, vor allem im Kontext des schulischen Unterrichts, Distanz und Nähe problematisch werden, stellte ein weiteres Themenfeld der Veranstaltung dar.

Den Referentinnen und Referenten der Ringvorlesung gilt unser Dank dafür, dass sie bereit waren, ihre Gedanken und kritischen Argumentationen zum Verhältnis von Grenzen und Grenzverletzungen in pädagogischen Beziehungen vorzutragen und ihre Beiträge für eine Publikation zur Verfügung zu stellen.

Darüber hinaus konnten wir weitere Autoren gewinnen, die durch ihre Thesen und Argumentationen das Spektrum des Themenfelds erweitert und ergänzt haben. Auch ihnen gilt unser Dank.

In manche Beiträge sind auch Anregungen von Studierenden der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg eingeflossen, die durch ihr kritisches Engagement viele Diskussionen bereichert und Reflexionen auf den Weg gebracht haben.

Das vorliegende Buch soll dem Ziel dienen, den Blick für Grenzverletzungen beim Erziehen zu schärfen und die semantischen sowie strukturellen Bedingungen aufzudecken, die unangemessene Nähe- oder Distanzverhältnisse in pädagogischen Beziehungen begünstigen.

Ludwigsburg im März 2013
Gabriele Strobel-Eisele und Gabriele Roth

Einleitung: Koordinaten pädagogischer Beziehungen

Gabriele Strobel-Eisele & Gabriele Roth

Die seit 2010 über die Massenmedien verbreitete Kenntnis über die Fälle sexuellen Missbrauchs und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in kirchlichen und weltlichen Erziehungsinstitutionen hat in der Bundesrepublik eine öffentliche Diskussion über Grenzen und Qualität pädagogischer Beziehungen ausgelöst. Anfänglich noch vor allem von engagierten Journalisten in allen größeren und kleineren Tages- und Wochenzeitungen geführt, griff allmählich die pädagogische Profession die Thematik auf und begann, Ursachen und Hintergründe zu analysieren und aufzudecken, die das Überschreiten der Grenzen in den pädagogischen Beziehungen begünstigt und möglich gemacht haben. Inzwischen ist das Bemühen um eine rückhaltlose Aufklärung auf den Weg gebracht; der pädosexuelle Missbrauch auch in reformpädagogischen Internaten wird nicht mehr bevorzugt auf individuelles Versagen zurückgeführt, sondern auch auf strukturelle Bedingungen und Erziehungsideologien. Jürgen Oelkers hat 2011 darüber in seinem Buch »Eros und Herrschaft« eine erste, systematische Analyse vorgelegt, die sich mit reformpädagogischen Schulen, insbesondere den Landerziehungsheimen befasst. Sie stellen jene Teile der Reformpädagogik dar, in denen sich seit den Gründerjahren bis hin zur Aufklärung zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer wieder sexueller und emotionaler Missbrauch ereignet hat. Um ihrem Anspruch nachzukommen, in besonderem Maße neue fortschrittliche Erziehungsmodelle zu sein, wurde ihre Praxis über lange Jahre idealisiert (vgl. Füller 2011). Ihre Beschreibungen verschwiegen die negativen Seiten und kolportierten auf diese Weise ein Idealbild, das den verbreiteten sexuellen Missbrauch und die gewaltvollen Übergriffe im Dunkeln ließ.

Die dramatische Aufdeckung und Aufarbeitung dieser besonders schwerwiegenden Fälle von Grenzverletzungen in pädagogischen Institutionen motiviert inzwischen eine Wiederaufnahme des die Pädagogik fundierenden Sachverhalts der pädagogischen Beziehung. Dass das Erziehen Nähe zum Kind ebenso braucht wie Distanz, darf als Konsens betrachtet werden. Wie sich aber diese Beziehung zwischen den Polen Nähe und Distanz konkretisiert im Handeln, und was das »Pädagogische« des erzieherischen Verhältnisses in verschiedenen Kontexten ausmacht, bedarf der weiteren Reflexion und der präzisierenden Bestimmung, vor allem um das Bewusstsein um Grenzverletzungen in beiden Polen zu stärken. In der Rede von der »professionellen Balance« zwischen Nähe und Distanz sind diese Fragen angesprochen, aber noch keinesfalls ausreichend konkretisiert und ausbuchstabiert. Angesichts der vielen bekannten, aber auch der vielen nicht bekannten Missbrauchsfälle liegt die eigentliche Herauforderung für die Pädagogik heute in der Neubestimmung des pädagogischen Bezugs bzw. der pädagogischen Beziehungen in ihren jeweiligen Kontexten und Institutionen.

Eine nachhaltige Antwort auf die Frage nach der Bestimmung des »Pädagogischen« in erzieherischen Verhältnissen gab in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg Herman Nohl (1933) im Rahmen der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Nohl war eine Bestimmung des Pädagogischen Bezugs gelungen, die zwischen traditionellen und reformpädagogischen Gestaltungsgesichtspunkten zu vermitteln versuchte: Autorität und Liebe markieren die Pole des Pädagogischen Bezugs (vgl. 1933, S. 25), in dem die Persönlichkeit des Erziehers die entscheidende Rolle spielt. Diese verbindende Formel fand über einen Zeitraum von fast 50 Jahren Akzeptanz und hatte den Status einer pädagogischen Leitorientierung inne. Aber es blieben Fragen offen und manche Antworten wurden als problematisch angesehen: So wird auch bei Nohl, ähnlich wie in reformpädagogischen Semantiken, das Ethos des Erziehens vor allem in der richtigen Gesinnung des Erziehers verankert, in seiner inneren Einstellung und der liebevollen Hinwendung zum Kind, weniger in seinen didaktischen Fähigkeiten bzw. seiner Vermittlungskompetenz. Weiterer theoretischer Klärungsbedarf liegt in der Annahme Nohls, das Urphänomen der elterlichen Liebe als natürliche Fortführung und Basis auch für jene pädagogischen Beziehungen zu reklamieren, die von Personen qua Beruf, Amt und Institution ausgeübt werden (vgl. Giesecke 1999, S. 248), also auch in außerfamiliären Erziehungsverhältnissen. Sie werden mehr oder weniger als eine Fortführung der elterlichen Liebe gesehen, ähnlich Pestalozzi, der vom »Vatersinn« und »Muttersinn« des Lehrers spricht und auf die Nähe des Lehrers zum Vater und zur Mutter und deren Liebe zum Kind hindeutet. Bezeichnungen wie »Liebe«, »leidenschaftliches Verhältnis« oder »emotional-fürsorgliche Beziehung« implizieren eine Nähesemantik, die aus theoretischen bzw. professionstheoretischen Überlegungen heraus einer weiteren Klärung bedarf.

»Liebe« und Erziehung

Eine erste Orientierung für das allgemeine Verständnis von »Liebe« sowie für »Liebe« in pädagogischen Beziehungen findet sich bei Max Scheler in seiner Abhandlung über »Wesen und Formen der Sympathie« von 1913. Seinen Ausführungen zum eigentlichen Sinn des Wortes »Liebe« schließt er die Überlegungen zum Zusammenhang von Liebe und Erziehung an, die eine klare begriffliche Unterscheidung beider Bereiche erlauben. Nach Scheler handelt es sich in der alltäglichen Rede um einen unreflektierten Gebrauch des Wortes »Liebe« und er betont, dass vor allem das Motiv des Veränderns von Dingen oder Personen der Liebe entgegenstehe: »Ich setze noch hinzu, dass überhaupt ein Verändernwollen des geliebten Gegenstandes gar nicht in der Liebe als solcher liegt« (Scheler 1948, S. 171). Es sei mit der Wesensgesetzlichkeit des Phänomens Liebe unvereinbar, ein »Sollen« als Bedingung für die Liebe zu setzen, weil damit ihr Wesen zerstört würde. Bei Liebe handle es sich um eine »totale« Beziehung, die alle Lebensäußerungen umgreift, nicht nur eine Seite eines Gegenstandes bzw. eines Menschen. Wer liebt, ist bereit, jemanden so zu nehmen, wie er oder sie ist, gerade weil er ist, wie er ist. Aus diesem Grund, so könnte man lapidar sagen, haben wir uns ja in ihn verliebt. Will man jemanden erziehen, möchte man ihn oder sie aber anders: besser, klüger, weiser, freundlicher. Sobald aber in eine freie Beziehung wechselseitiger Anerkennung das erzieherische Moment tritt, also die Forderung nach »Anderssein«, kommt in die Liebe ein falscher, zumindest ein störender oder eben schulmeisterlicher Ton hinein. Man möchte um seiner Selbst geliebt und nicht erst in einer Weise erzogen werden, damit man geliebt wird. Scheler macht aber dann darauf aufmerksam, dass der Liebe ein »Bewegungscharakter« eingelegt ist, der eine pädagogische Einstellung dann doch nicht ausschließt: Diese liege nicht in unmittelbaren Sollensvorschriften, da darin der erzieherische Gestus dominiere und Trotz oder verletzten Stolz auf Seiten der Kinder zur Folge hätte (vgl. ebd., S. 172), sondern in einer pädagogischen Einstellung, die darauf gerichtet ist, die im Kind liegenden Anlagen gleichermaßen wertzuschätzen und weiterentwickeln zu wollen. Für Scheler handelt es sich um »gleich-aktuelle«, d.h. gleichermaßen bedeutsame Phänomene, die sich nicht ausschließen. So markiert der Pol »Du sollst so sein« das eine, falsche Extrem, während das einfache Annehmen der Kinder, so wie sie eben empirisch-existentialistisch »sind«, d.h., mit dem, »was wir an ihnen fühlen« (ebd., S. 172), das andere Extrem darstellt. Damit ist ausgesagt, dass ein Kind zu lieben und seine Anlagen entwickeln zu wollen, nicht als unvereinbar anzusehen ist.

Für die elterliche Liebe markiert die Beschreibung der »Gleich-Aktualität« von liebender Akzeptanz und fordernder Einstellung ein Spannungsfeld. Eltern lieben ihr Kind so, wie es ihnen in die Wiege gelegt wird. Sie lieben es, obwohl sie seine Fehler und Schwächen sehen. Und auch die Kinder dürfen heute davon ausgehen, dass sie von ihren Eltern geliebt werden, als einzigartige Wesen, mit Eigenschaften, individuellen Besonderheiten, mit Stärken und Schwächen, sie müssen sich diese Liebe nicht erst verdienen. Eltern sorgen aber auch dafür, dass die Kinder Laufen und Sprechen lernen, gemeinschaftsfähig und selbstständig werden, ihre Aufgaben und Rollen im Leben wahrnehmen und gestalten können. Zu der natürlichen Elternliebe, die auf das Glück und die Zufriedenheit der kindlichen Gegenwart zielt, gesellt sich eben der zweite Strang, die elterliche, auf die Zukunft bezogene Fürsorge. Hier kommt das pädagogische Moment in die Beziehung hinein, weil Eltern auch bestimmte Lernanforderungen an ihre Kinder stellen, im Blick darauf, was sie unbedingt lernen, aber auch, was sie nicht lernen sollen. Damit entstehen ambivalente Beziehungsstrukturen, insofern sie ihre Kinder, entgegen deren momentanen Neigungen oder Überzeugungen, zu bestimmten Lernprozessen anhalten, gelegentlich auch glauben zwingen zu müssen. Eltern sorgen zwar für eine zufriedene Gegenwart, aber sie haben auch die erfolgreiche Zukunft ihrer Kinder im Blick und achten auf die Entwicklung von Anlagen und Talenten ebenso wie auf die Zurückdrängung ihrer Schwächen und Fehler. Wenn sie ihr Kind kennen, wissen sie sogar in vielen Fällen, was sie tun oder eher lassen sollten. Dieses intuitive Handlungswissen gewinnen sie aus ihren eigenen Lebenserfahrungen und dem Umgang mit ihrem Kind. Sie handeln daher im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Insofern stellt die familiäre Erziehung für das Kind weitaus mehr ein individuelles »Schicksal« dar als die Erziehung in öffentlichen Institutionen.

Auf diesem Hintergrund betrachtet, erweisen sich Familienbeziehungen als nicht professionalisierungsfähig, weil sich Elternliebe nicht professionalisieren lässt. Man sollte sogar tunlichst vermeiden, aus Eltern Erziehungsprofis zu machen, weil dadurch ihre umfassende Liebe zum eigenen Kind beeinträchtigt werden kann. Um das Spannungsverhältnis zwischen Liebe und Erziehen zu vermindern, ist es daher entlastend für das Eltern-Kind-Verhältnis, wenn der Unterricht, der ja stärker auf Zukunft und Fremderwartung ausgerichtet ist, in andere Hände gelegt wird und man Fechten, Autofahren oder Chemie nicht vom Vater oder der Mutter beigebracht bekommt. Aufgrund der affektiven Bindung wäre das Gesamtverhältnis wahrscheinlich häufiger belastet, wenn das eigene Kind z.B. schlecht lernt und sich dann als »schlechte« Tochter oder »schlechter« Sohn fühlen würde. Schon aus diesem Grund war es klug, bestimmte Erziehungsaufgaben an außerfamiliäre Instanzen abzugeben.

Diese Auslagerung, die natürlich noch weitere Gründe hatte, hat die öffentliche Erziehung und damit die pädagogische Professionalität begründet und verlangt eine Antwort auf die Frage nach dem professionellen Zuschnitt von Nähe und Distanz.

»Liebe« und Professionalität

Wie es denn mit »Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung« stehe, fragen Drieschner/Gaus 2011 in ihrem die gegenwärtige Professionalisierungsdebatte akzentuierenden Buchtitel. Als »Spannungsfeld pädagogischer Professionalität« interpretierten Dörr/Müller schon 2007 das Verhältnis von Nähe und Distanz in der pädagogischen Beziehung, deutlich vor dem Bekanntwerden der vielen Missbrauchsfälle in den reformpädagogischen und kirchlichen Internaten. Professionelle Pädagogen sollen »hinreichend fähig sein, … Nähe und Distanz zu ihren Adressaten und deren Probleme auf kunstvolle Weise zu verschränken und zu vermitteln … «, fordern Dörr/Müller (2007, S. 8). Beide Schriften bewegen sich im Rahmen einer Semantik, in der von Spannungsfeldern, aber auch von einer prinzipiellen Gegensätzlichkeit der Pole Emotionalität und Professionalität gesprochen wird. Letztere Position findet sich im strukturtheoretischen Professionalisierungsansatz expliziert, wie er von Oevermann (1996) und Helsper (1996) vertreten wird. Pädagogisches Handeln hat ihrer Beschreibung nach eine antinomische Grundstruktur, in der sich das berufsrollenspezifische Handeln und das persönliche, emotional geprägte Beziehungshandeln entgegenstehen. Attribute wie »technologisch«, »routinisiert« und »rational« kennzeichnen die eine Seite, »persönlich«, »ganzheitlich« und »emotional« die andere. Ein Defizit in Sachen pädagogischer Professionalität wäre beispielsweise bei einem Lehrer gegeben, der sein Handeln berufsrollenförmig begreift und entsprechend spezifische Ziele und Lernerwartungen an den Schüler richtet. Sofern er diese nicht zurücknimmt, wenn der Schüler sich nicht freiwillig darauf einlässt, gilt die Beziehung als krisenhaft und schädlich für die psychosoziale Gesundheit des Schülers (Oevermann 1996, S. 155).

Für eine pädagogische Profession ist diese Annahme fatal, weil selbst das kompetente, berufsrollenförmige Handeln eines Lehrers pejorativ gedeutet und unterstellt wird, dass diese Form der pädagogischen Beziehung dem Lernen des Schülers nicht förderlich sei. Der Grund für diese Deutung liegt darin, dass hier das therapeutisch-prophylaktische Professionsideal das pädagogische dominiert und aufgrund seiner Neutralität gegenüber spezifisch thematischen Lernanforderungen und bestimmten sozialen Erwartungen die pädagogische Beziehung geradezu schwächt. Man gewinnt den Eindruck, einer konfliktfreien, symmetrischen Beziehung dürfe nichts im Wege stehen und sie habe ihr Ziel darin, beiden Seiten, Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, erfreuliche gemeinschaftliche Nähe-Erlebnisse zu verschaffen, wozu vor allem die Erfahrung gehört, so sein und bleiben zu dürfen, wie man ist. Je weniger Normen und Vorgaben sich von außen dazwischendrängen, desto besser. Diese Sicht marginalisiert letztlich die pädagogische Beziehung, die in einem grundlegenden Sinne darauf zielt, das Lernen der Kinder und Jugendlichen auch sachlich-thematisch zu bestimmen und zu fördern (vgl. Prange 2005, Prange/Strobel-Eisele 2006).

In der gegenwärtigen Diskussion bleiben die sicherlich richtigen Forderungen nach einer Balance von Nähe und Distanz im professionellen Handeln noch etwas blass: Dieses soll zwar sachgemäß, rational und nach wissenschaftlich geprüften Regeln erfolgen, aber dann doch keinesfalls »zu« rational, bürokratisch, zu wenig emotional, lieblos oder verständnislos. Es schwingt die immer wieder belebte, aber falsche Entgegensetzung von Emotionalität und Rationalität mit, so als hätten beide nichts gemein. Das ist aber nicht der Fall. Das emotionale Handeln erschöpft sich keineswegs im bloßen Mitfühlen, sondern schließt auch rationale Überlegungen mit ein. Wer jemandem helfen will, versetzt sich auch kognitiv in die Lage des anderen, um ihm aus dieser Situation herauszuhelfen. Eine zu starke Mitleidsempfindung blockiert sogar die Entwicklung rationaler Strategien, die jemandem hilfreich sein können, um seine Lage zu verbessern und zu überwinden. So ist es nicht hilfreich, wenn ein Lehrer einen Schüler beim Lösen einer schwierigen Mathematikaufgabe emotional bestärkt und ermuntert, ihm aber nicht die nötigen Lösungsstrategien zeigt, ohne die er die Aufgabe nicht bearbeiten kann. Ähnlich verhält es sich bei der Frage, wie weit ein Erzieher z.B. dem Anlehnungsbedürfnis von Kindern oder Schülern entgegenkommen darf. Antworten darauf sind ohne Bezug auf das pädagogische Erziehungsund Entwicklungswissen nicht zu entscheiden. Aktuell befassen sich vor allem Kinderpsychologen und Therapeuten mit den Fragen zur gelungenen Ablösung von emotionalen Bindungen, die heute offenbar neben manchen Eltern auch zunehmend vom professionellen pädagogischen Personal nicht mehr zufrieden stellend bearbeitet werden (vgl. Winterhoff 2008).

So wichtig das Bemühen auch ist, Beziehungen aufzubauen und den zu Erziehenden die nötige emotionale Unterstützung und persönliche Wertschätzung zu zeigen, so sehr gilt es auch, das Bewusstsein darüber zu schärfen, dass Nähe auch emotionale Abhängigkeiten erzeugt. Man gewinnt Menschen, vor allem Kinder, durch Lob und weckt ihre Bereitschaft zu lernen, aber auch, einem zu Willen zu sein. Derjenige, der weiß, dass ein anderer ihn sehr schätzt, fühlt sich möglicherweise nicht frei, eine gegenteilige Meinung zu vertreten. Die Formen, in denen eine persönliche Wertschätzung zum Ausdruck gebracht wird, sind insofern immer auch in einem heimlichen Sinne autoritär. Wie subtil Nähebeziehungen emotionale Abhängigkeiten bewirken können, zeigen die Berichte der Opfer der Odenwaldschule eindrücklich (Dehmers 2011), weil es darum geht, sich die Wertschätzung des Anderen zu erhalten. Daher kann es für einen Schüler sogar besser sein, wenn Lehrer mit Wertschätzungen sparsam umgehen und Schüler nicht erfahren, dass sie von einem Lehrer hoch eingeschätzt werden – was im Falle von niederer Wertschätzung ja üblicher ist. Nähe als Mittel der Erziehung kann leicht zur Instrumentalisierung eigener Zwecke eingesetzt werden.

Wendet man die Forderung nach einer »kunstvollen« Balance von Nähe und Distanz (Dörr/Müller 2007) konstruktiv an, verlieren manche Antinomien an Substanz. »Kunst«, verstanden als ars oder artes im Sinne der ärztlichen Kunst und nicht als spontane Eingebung oder Idee, weist auf die rationale Implikation der Künste hin. Im Wort »Kunst« verbirgt sich ein Regel- und Anwendungswissen über ein Sachgebiet, das erworben werden muss und auf dessen Hintergrund dann das kreativ-intuitive Handeln entsteht. D.h., es gibt nicht das rollenförmige Handeln und daneben oder darüber noch das intuitive, den jeweiligen Fall angemessen bearbeitende Handeln. In diesem Sinne sieht J. F. Herbart Nähe (Liebe) und Autorität (Distanz) lediglich als zwei Dimensionen, die aber synchronisierbar sind und nur gemeinsam das Fundament der Erziehung abgeben (vgl. Herbart 1806).

Die Anwendung des Wissens erfolgt entsprechend der rationalen Urteilskraft in der jeweiligen Situation, d.h., es sind stets die situativen Bedingungen der einzelnen Fälle zu berücksichtigen. Professionelle Routinen basieren auf professionellem Können (vgl. Luhmann 2002, S. 104f.) und auf professionellen Haltungen, d.h., sie drücken nicht aus, dass man gleichgültig und ohne Interesse dem Einzelfall begegnet. Gerade in jenen Fällen, in denen die Kinder den Erziehern das Erziehen nicht leicht machen, ist eine professionelle Haltung besonders wichtig.

Dass bei der Regulierung von Nähe und Distanz Grenzen verletzt werden und Fehler passieren, ist abzusehen und Thema der professionellen Reflexion. Kunstfehler oder Komplikationen treten ein, auch wenn die Entscheidungen auf fachlichen Standards und rationalen Schlüssen basieren. Professionelles Handeln ist ein Handeln, bei dem in Unkenntnis eines sicheren Ausgangs ein Regelwissen kontextsensitiv angewendet wird und wo das Urteilsvermögen eines Professionellen verantwortlich ist für den konkreten Fall.

In diesem Sinne von pädagogischer Kunst zu sprechen, bewegt sich auf der Ebene des pädagogischen Takts, wie Herbart ihn formuliert hat, und erweist sich als eine grundlegend rationale Angelegenheit. Wann Nähe wichtig oder Distanz nötig wird, ist rational entlang pädagogischer Wissensbestände zu analysieren, um dann mit Augenmaß oder kontextueller Klugheit entschieden zu werden – durchaus in Unkenntnis des Ausgangs, aber auf der Basis fachlicher Standards und Routinen. Weder Routinen noch Technologie sind unpädagogisch oder unzulänglich. Jedem Erzieher kann man zumuten, sich um ein Kind zu kümmern und es mit Verstand zu fördern, ohne ihm zu nahe zu kommen. Die sachlich kompetente Anleitung zum Lernen, basierend auf den anthropologischen, pädagogisch-didaktischen Standards des Faches, steht der auf generellem Wohlwollen und Engagement basierenden Beziehungsebene jedenfalls nicht entgegen.

Abschließend werden gemeinsame Ausgangspunkte zusammenfassend angeführt, die die Systematik des Buches begründen und den Rahmen der Einzelbeiträge bilden. Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass nicht jeder Beitrag sich an allen Punkten orientiert.

Gemeinsame Ausgangspunkte

1. Pädagogische Beziehungen stehen im »Fadenkreuz« verschiedener Bedingungen: Das Alter der Kinder, die Themen und Sachverhalte der Erziehung und ihre jeweiligen Kontexte bzw. institutionellen Systeme begründen und bestimmen die Diversität pädagogischer Beziehungen. Dabei spielt selbstverständlich auch die Geschichte eine Rolle, wie sich an den »Pädagogiken« (Paschen) ablesen lässt, deren jeweilige Praxen stets unterschiedliche Artikulationen von Nähe und Distanz nach sich zogen. Es gibt somit nicht »den« Pädagogischen Bezug, wie Nohls allgemeine Formel noch impliziert. Der Kontext Schule bedeutet, dass der pädagogische Bezug eine Gestalt annehmen muss, die für das Verstehen von kulturell bedeutsamen Themen und Wissensbereichen sorgt. Solange die Schüler sich diese selbstständig bzw. an Beispielen aneignen können, kann der Lehrer die Rolle des Moderators einnehmen; brauchen sie aber Hilfe, muss der Lehrer ihnen diese zeigen und vermitteln. Die schulischen Beziehungen zielen darauf, die Anschlussfähigkeit der Heranwachsenden an gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen sicherzustellen.

2. Wer erzieht, stellt in jedem Falle eine soziale Beziehung her, weil er mit dem zu Erziehenden kommunizieren muss. Wie diese Beziehung dann aber zu beschreiben ist, wenn sie »pädagogisch« sein soll, hat in der Disziplin zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt. Häufig wird diese Beziehung mit »kommunikativ«, »demokratisch«, »symmetrisch«, »human« oder »partnerschaftlich« näher bestimmt. Als »pädagogisch« wird eine Beziehung bezeichnet, wenn sich das erzieherische Handeln ausdrücklich auf das Lernen der Kinder und Jugendlichen bezieht und diese dann selbst zeigen können, was sie gelernt haben (vgl. Prange 2005). Die folgenden Beiträge gehen von einer Koppelung von Lernformen und pädagogischen Handlungsformen aus.

3. Die Tatsache der Abhängigkeit in der Erziehung wird als vereinbar mit dem Ziel der Mündigkeit gesehen. Pädagogische Beziehungen sind asymmetrisch, aber ausdrücklich darauf gerichtet, diese Asymmetrie aufzuheben und überflüssig zu machen. Wer erzieht, führt Operationen des direkten oder indirekten Zeigens aus, d.h., der eine gibt an, führt vor, erinnert, ermahnt, leitet Üben an, lehrt und kontrolliert, der andere agiert entsprechend mit Lernen. Gleichheit ist ein Thema, das am Ende des Erziehungsprozesses diskutiert werden kann. Beim Erziehen geht es immer auch um das Aufzeigen von Grenzen in Form von Regeln und Vorgaben oder von Dingen, die ausgeschlossen sind, weil sie nicht gelernt oder wieder verlernt werden sollen. Symmetrische Beziehungen würden die gesellschaftliche Realität ignorieren, in der es Primär- und Komplementärrollen gibt, auf die die jüngere Generation vorbereitet werden muss.

4. Für die elterliche Liebe und für den Kontext Familie bleibt die Bezeichnung Liebe und die entsprechende Bindung grundlegend. Die Bezeichnung wird reserviert für die familiäre Beziehung und vergleichbare Basisgruppen bzw. therapeutische Einrichtungen, die darauf abzielen, dass Menschen (Kinder und Erwachsene) lernen, Bindungen aufzubauen und zu lösen. Aufgrund der immer früher einsetzenden Übergänge in außerfamiliäre Erziehungseinrichtungen (KITAS) sind angepasste Formen der Bindung nötig, die die Bindungsbedürftigkeit von Kleinkindern berücksichtigen.

5. In professionell-pädagogischen Kontexten geben Leitbegriffe wie Achtung, Fürsorge oder Wohlwollen die nötige pädagogische Orientierung. Die Bereitschaft von Erziehern und Lehrern, sich für das Lernen von Kindern und Jugendlichen zu engagieren und bei der Vermittlung der Sachverhalte und Themen eine solidarische Haltung zu den Kindern bzw. Schülern zu zeigen, stellt eine wesentliche Ausgangsbasis dar, um die Entwicklung der zu Erziehenden zu fördern und Lernhemmungen zu überwinden. Um schon in der Semantik eine prekäre Nähe zum Kind auszuschließen, ist von Bezeichnungen wie Liebe oder pädagogischem Eros künftig abzusehen. Auch in professionellen Kontexten dürfen Kinder bzw. Schülerinnen und Schüler erwarten, dass ihre Lehrer die Bereitschaft zeigen, sich um ihr Lernen zu bemühen und eine lernförderliche, angstfreie Atmosphäre zu schaffen. Die dafür nötigen Beziehungskompetenzen sind bei einer grundsätzlichen Bereitschaft und Anstrengung erlernbar.

Zur Systematik des Buches

Im Teil 1 des Buches werden Begriffe und Semantiken dargestellt und diskutiert, über die versucht wird, Grenzverletzungen bereits durch einen sensiblen Sprachgebrauch zu erkennen.

Mit der Unterscheidung »Liebe als Passion und Liebe als Aufgabe« plädiert Klaus Prange für eine Schärfung pädagogischer Begrifflichkeiten und der ihnen zugrunde liegenden Sachverhalte. Gerade weil sich nicht nur in pädagogischen Kontexten »Liebe« als eine Semantik mit unscharfen Rändern zeigt und unter »Liebe« sehr differenzierte Konzepte wie »Eros«, »Caritas« oder »Amor« firmieren, denen wiederum jeweils unterschiedliche Praxen anhängig sind, erweist sich das Ethos der Liebe als problematische Orientierung. Wenn es um die Beschreibung pädagogischer Erziehungsverhältnisse geht, ist das Ethos der Achtung die zu bevorzugende Leitidee.

Analyse und Rekonstruktion des »Pädagogischen Bezugs« bei Herman Nohl ist das Thema des Beitrags von Dorle Klika. Dabei stehen die relevanten Strukturmerkmale sowie sein Denken in den unaufhebbaren erzieherischen Antinomien wie Liebe – Autorität, Gegenwart – Zukunft oder Selbstbewahrung – Widerstand im Mittelpunkt. Insbesondere wird auf die klare Absage Nohls an sexuelle Motive auf Seiten der Erzieher und auf die Gefahren von Grenzverletzungen in Form sexuellen oder emotionalen Missbrauchs hingewiesen. Das Verdienst Nohls ist es, die Interaktivität des pädagogischen Bezugs herausgestellt und die wechselseitige Anerkennung zwischen Erzieher und Zögling an die Konzepte von Bildung und Erziehung gebunden zu haben.

Mit der Differenz von »Rhetorik und Praxis« weist Jürgen Oelkers auf die Semantik reformpädagogischer Schulen, insbesondere der Landerziehungsheime um 1900 hin, in deren Schein sich die Praxis der entsprechenden Reformanstalten oft als krasser Fall von Schönfärberei entpuppte. Neben dem Fallbeispiel der »Plamann’schen Erziehungsanstalt«, in der Gewalt und rüder Umgang alltägliche Praxis waren, zeigt Jürgen Oelkers die Diskrepanz zwischen dem ambitionierten pädagogischen Programm der Gründer der Landerziehungsheime sowie einiger Lehrer. Die Grenzüberschreitungen bewegen sich auf den Ebenen des emotionalen Zwangs und des sexuellen Missbrauchs. Die Kenntnis darüber soll zu einer Neubewertung dieser Richtung der Reformpädagogik führen und den Zusammenhang von Gewalt und Nähe in diesen Einrichtungen aufdecken.

Hermann Giesecke prüft, ob der Begriff »Pädagogische Beziehung« heute noch sinnvoll ist, angesichts eines Zeitgeistes, demzufolge die Psychologisierung der unmittelbaren menschlichen Beziehungen den pädagogischen Auftrag überlagert und unkenntlich macht. Am Beispiel der Lehrer-Schüler-Beziehung fragt Hermann Giesecke nach dem »Professionell Pädagogischen« und stellt fest, dass gegenwärtig das Kerngeschäft der Lehrerprofession, der Unterricht, von vielen sozialpädagogischen Zusatzaufgaben relativiert wird. Die familiäre Beziehung gilt als grundlegendes soziales Muster auch für die Erzieher qua Beruf und Amt, weil offensichtlich die Familie ihren Aufgaben nicht mehr nachkommen kann. Es stellt sich die Frage, ob man den öffentlichen Erziehungsauftrag zugunsten des Unterrichts zurücknehmen soll und ob es gelingt, pädagogische Beziehungen von ihren unterschiedlichen, erzieherischen Aufgaben her zu gestalten, die sich aus den verschiedenen Kontexten oder Institutionen ergeben.

Im Teil 2 stehen psychosoziale und rechtliche Perspektiven im Fokus, die ein spezifisches Wissen über Grenzverletzungen bereitstellen, die sich im Bereich von sexuellem und psychischem Missbrauch bewegen.

Aktuelle und vergangene Aufdeckungswellen (z.B. Missbrauch in der Odenwaldschule) führen bei Pädagogen und Pädagoginnen in der Praxis zu erheblichen Unsicherheiten und Ängsten im Umgang mit Kindern und Jugendlichen. Diese Unsicherheiten und Ängste können nur durch fachliche Kenntnisse zur Thematik und ständige Selbstreflexivität überwunden werden. Ausgehend davon werden im Text von Gabriele Roth zunächst wichtige Forschungsergebnisse zur Problematik »Sexueller Missbrauch«, insbesondere mit Blick auf die Täter und Täterinnen dargestellt. Im Anschluss erfolgen Ausführungen zu den Haltungen und zu den Strategien der Täter. Im weiteren Verlauf werden Aspekte zur möglichen Prävention durch die Setzung und Achtung von Grenzen in pädagogischen Institutionen aufgezeigt und diskutiert und schließlich verschiedene Maßnahmen zur Professionalisierung beschrieben.

Brigitte Becker leitet ihren Beitrag mit einer Fallanalyse ein, um daran Traumata missbrauchter Kinder herauszuarbeiten. Inwiefern als Folge davon die Nähe-Distanz-Regulierungen kindlicher Beziehungen zu Erwachsenen gestört sind, wird fallspezifisch analysiert. Welche Möglichkeiten einer Heilung bzw. Kompensierung denkbar sind, lässt sich in der therapeutischen Praxis eruieren. Im Anschluss wird ein autobiographischer Roman herangezogen, in dem bedrückend klar die Strategien einer häuslichen Missbrauchssituation nachgezeichnet werden. Anhand von zwei weiteren Fallgeschichten folgen Ausführungen zu Hilfemöglichkeiten und einem professionellen Umgang mit traumatisierten kindlichen Opfern.

Über die rechtlichen Regelungen pädagogischer Beziehung informiert Barbara Schwarz in ihrem Beitrag, der Grenzen und Chancen der Partizipation des Kindes anspricht. Obwohl das Ziel der Partizipation nicht in Frage steht, zeigen viele Beispiele aus der Praxis, dass die Beteiligungsformen noch nicht im nötigen Umfang realisiert werden. Zu häufig stehen gerade bei Kindern und Jugendlichen Ängste und Abhängigkeitsempfindungen der Wahrnehmung formalisierter Rechte entgegen. In familienrechtlichen Verfahren, in der Schule und in der Jugendhilfe zeigt sich, dass Kinder und Jugendliche dabei Unterstützung brauchen.

Im Teil 3 sind Kontexte leitend, entlang derer das spezifische pädagogische Handeln variiert. Dabei stehen die Institutionen der Frühen Bildung (KITAS), der Kindergarten, die Grundschule und die Sekundarschule im Fokus.

Elmar Drieschner und Detlef Gaus beschreiben Nähe- und Distanzregulierungen an Übergängen in Bildungssystemen. Mit dem Konstrukt ›Transitionskompetenz‹ sind bildungssoziologische und psychologische Perspektiven einbezogen, die für die Erforschung pädagogischer Übergangsbeziehungen in der Frühpädagogik (KITA) und der Grundschule relevant sind. Bei den Übergängen stellen der Aufbau, aber auch die Lösung von Bindungen zwischen Kindern und Erzieherinnen zentrale Kompetenzen des professionellen Personals dar. Der Frage, inwiefern die noch zu wenig erforschten Ablösungsprozesse, beispielsweise über Riten in Form von Aufnahme- und Abschlussfeiern sowie über den Bezug zur Sache, bearbeitet werden können, gehen die Autoren in ihrem Beitrag nach.

Welche prekären Effekte gut gemeinte Nähebeziehungen auf Grundschulkinder haben können, illustriert Edeltraud Röbe in ihrem Beitrag eindrucksvoll an einer Einschulungssituation. Inwiefern eine Lehrerin die neuen Erwartungen, die mit der Rolle eines Schulkindes verbunden sind, nicht erst nimmt und beim Kind eine große Enttäuschung hervorruft, beschreibt die Autorin auf dem Hintergrund des Kontextes und der besonderen Verfasstheit der Grundschule. Dabei werden leiblich-ästhetische Erfahrungen von Kindern sowie soziale und psychische Entwicklungsstadien thematisiert. Überlegungen zur didaktisch-methodischen Gestaltung und zum pädagogischen Leistungsbegriff ergänzen die Ausführungen. Die geschilderten Beziehungen von ungewollter Nähe und gebotener Distanz enthalten viele fundierte, das praktische Handeln orientierende Hinweise für ein angemessenes professionelles Handeln von Grundschullehrkräften.

In ihrem Beitrag »Konstruktionen des Phänomens Nähe und Distanz im institutionellen Alltag« thematisieren Anja Seifert und Monika Sujbert anhand von vier Beispielen, wie Erzieher bzw. Lehrer erzieherische Situationen interpretieren und inwiefern sie auf dem Hintergrund dieser Deutungen ihr Handeln ausrichten. Historische und begriffliche Reflexionen zum Kindbild sind den Ausführungen vorangestellt. Den Beitrag schließen Folgerungen hinsichtlich professioneller Kompetenzen für die Aus- und Weiterbildung ab, die im Zusammenhang mit den Reflexionen der Fallbeispiele entwickelt werden.

Gabriele Strobel-Eisele analysiert Distanz- und Näheprobleme im Kontext der Schule und weist auf problematische didaktische Implikationen hin, die mit den Forderungen nach Selbstbestimmung und Selbstorganisation im schulischen Lernen verbunden sind. An einem Beispiel aus der Schulpraxis wird illustriert, wie sich der Rückzug des Lehrers von seiner Aufgabe als Distanz-Überbrücker bzw. Vermittler zwischen Thema und Schüler auf den Lernprozess und das Verstehen der Inhalte auswirken kann. Auch auf der personalen und sozialen Ebene lassen sich Distanz- und Näheverhältnisse beobachten, in denen das Spezifische der schulpädagogischen Beziehungen zu stärken wäre.

Literatur

Dehmers, J. (2011): Wie laut soll ich denn noch schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch. Reinbek: Rowohlt.

Dörr, M./Müller, B. (Hrsg.)(2007): Nähe und Distanz. Ein Spannungsfeld pädagogischer Professionalität. Weinheim und München: Juventa.

Drieschner, E./Gaus, D. (2011): Liebe in Zeiten pädagogischer Professionalisierung. Wiesbaden: VS.

Füller, Ch. (2011): Sündenfall. Wie die Reformschule ihre Ideale missbrauchte. Köln: DuMont.

Giesecke, H. (1999): Die pädagogische Beziehung. Pädagogische Professionalität und die Emanzipation des Kindes. Weinheim: Juventa, 2. Aufl.

Helsper, W. (1996): Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten Kulturen: Paradoxe Verwendungsweisen von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. In: Combe, A./Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 521-570.

Herbart, J. F. (1806): Allgemeine Pädagogik aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet. In: Herbart, J. F.: Sämtliche Werke, Bd. 2, hrsg. v. Kehrbach, K./Fluegel, O., Aalen: Scientia 1989.

Luhmann, N. (2002): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp.

Nohl, H. (1933): Die Theorie der Bildung. In: Nohl, H./Pallat, L.: Handbuch der Pädagogik, Bd. I, Langensalza, Berlin, Leipzig: Beltz.

Oelkers, J. (2011): Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik. Beltz: Weinheim.

Oevermann, U. (1996): Theoretische Skizze zu einer revidierten Theorie pädagogischen Handelns. In: Combe, A./Helsper, W. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt: Suhrkamp, 4. Aufl., S. 924-943.

Prange, K. (2005): Die Zeigestruktur der Erziehung. Grundriss der Operativen Pädagogik. Paderborn: Schöningh.

Prange, K./Strobel-Eisele, G. (2006): Die Formen des pädagogischen Handelns. Eine Einführung. Kohlhammer: Stuttgart.

Scheler, M. (1948): Wesen und Formen der Sympathie. In: Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle. Frankfurt/M.: Schulte-Bulmke, 5. Aufl., (erstmals erschienen 1913).

Winterhoff, M. (2008): Warum unsere Kinder Tyrannen werden. Oder: Die Abschaffung der Kindheit. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

I

Begriffe und Grundfiguren zum Verständnis pädagogischer Beziehungen

Liebe als Passion und Liebe als Aufgabe – mit Anmerkungen zum platonisch-pädagogischen Eros

Klaus Prange

Der Ausdruck »Liebe« gehört zu den Großworten unserer Tradition. Er ist von einer eigentümlichen Aura umgeben, der Aura des Schicksalhaften und Selbstverständlichen. Er begegnet uns in der Poesie und im Drama, in der großen Oper, in Musicals und in Schlagern. Die Kulturindustrie ist gar nicht vorstellbar ohne das Thema »Liebe«; nicht auszudenken, wenn es dem Fernsehen verwehrt wäre, uns immer wieder Lust und Leiden der immer gleichen Liebesverhältnisse zu präsentieren. Und gleichermaßen bildet Liebe in der großen Kunst den Hintergrund für die großen Erzählungen, in der »Göttlichen Komödie« Dantes und im Nibelungenlied, in Shakespeares »Romeo und Julia« und in Goethes »Werther«, in den Ehebruchromanen des 19. Jahrhunderts bis herauf zu »Lady Chatterleys Lover« von D. H. Lawrence. Die tragisch Liebenden gehören zum geistig-seelischen Haushalt unseres kollektiven Bewusstseins. Liebe erscheint als Passion im Streit mit den Konventionen einer Gesellschaft, als ein Unruheherd und eine Gefährdung der gesellschaftlichen Normalität (vgl. Luhmann 1982).

Schließlich ist Liebe auch und vor allem das zentrale Thema der christlichen Religion, als Liebe Gottes, als Nächstenliebe und in absoluter Steigerung als Feindesliebe. Etwas gegen die christliche Liebe zu sagen, erscheint ruchlos und nachgerade gegenmenschlich. Und schließlich begegnet uns »Liebe« im Zusammenhang des griechisch-platonischen Erbes. Der platonische Eros, die geistige Liebe, gehört gleichfalls zum festen Bestand der gemeineuropäischen Überlieferung. Diese vorläufigen Hinweise sollen genügen, den Rahmen der folgenden Bemerkungen abzustecken. Auf der einen Seite die Liebe als Passion, auf der anderen die allgemeine Menschenliebe als Aufgabe und geradezu als Christenpflicht, und dazwischen die platonischgeistige Liebe.

Wenn in dieser Weise die Liebe zum festen Inventar unbestreitbarer Werte gehört, dann kann die Pädagogik nicht zurückstehen. Auch die pädagogische Semantik ist durchzogen von Proklamationen der Liebe. Beispielhaft sei unter den pädagogischen Autoren auf Pestalozzi hingewiesen, auf den sich ganze Generationen von Pädagogen immer wieder berufen haben (vgl. Seichter 2007). Dabei wird unter dem Titel der »Liebe« im erzieherischen Kontext durchaus Unterschiedliches gefasst. Es beginnt mit der Mutterliebe, geht weiter zur allgemeinen Eltern- und Geschwisterliebe und reicht bis zur Liebe der Erzieherinnen und Erzieher von Beruf im Kindergarten, in der Schule und selbst in der Hochschule, ferner der Liebe, von der die Seelsorge sich getragen weiß, und in der Tradition des christlichen Europa der Liebe, die wir jedem Menschen schulden, weil wir alle Kinder Gottes sind.

Das Thema Liebe wird noch komplizierter, wenn wir nicht nur an die Liebe zu anderen Menschen denken, sondern den erweiterten Wortgebrauch in Betracht ziehen. Wir sprechen ganz ungezwungen auch von der Liebe zur Musik oder zur schönen Literatur; als Pädagogen natürlich auch von der Liebe zur Pädagogik, die uns alle erfüllt und umtreibt, so dass wir schmerzlich getroffen zusammenzucken, wenn der Pädagogik von Fachfremden Seriosität und Kompetenz abgesprochen wird. Aber es gibt auch die Liebe zur Heimat, in früheren Zeiten ganz ungebrochen die Liebe zum Vaterland, so dass es aussieht, als könnte alles, was uns wert und wichtig ist, Gegenstand der Liebe werden.

Angesichts dieser vielen Verwendungen erscheint es mir sinnvoll, zunächst einmal davon auszugehen, dass die Liebe zwar, um eine Wendung Hegels aufzunehmen, durchaus bekannt, aber alles andere als erkannt ist. Die erste Aufgabe besteht daher darin, das Phänomen gewissermaßen freizulegen, um nicht zu sagen: es zu verfremden, bevor wir daran gehen können, seine pädagogische Dimension und Relevanz zu erörtern.

Die erste Adresse, nicht um zu lieben, sondern die Liebe begrifflich zu bestimmen, sind die Meisterdenker der Tradition. Aber da fällt auf, dass sich die Philosophen diesem Thema nur recht sporadisch gewidmet haben. Gewiss, da ist Plato, auf den ich gleich komme, aber ansonsten sind es andere Themen, die philosophisch im Mittelpunkt stehen: das Erkennen, das Denken, die ethischen Zielbestimmungen und dergleichen mehr. Viel reicheres Material liefern dagegen die Dichtung und überhaupt die Künste. Sie zeigen uns die Liebe als einen der Grundaffekte des Menschen und überhaupt den Menschen als affektbestimmt, ja geradezu umgetrieben und verzehrt bis zum Wahnsinn.

Das dürfte die erste Bestimmung sein, die es festzuhalten gilt. Wer liebt, wirklich liebt, ist hingerissen, existenziell betroffen oder, wie Herrmann Schmitz in seinem Buch über die Liebe bemerkt hat, »primär überwältigt« (Schmitz 1993). Wir entschließen uns in diesem Sinne nicht zur Liebe wie zu einem Ausflug in die Berge oder an das Meer oder dazu, endlich die Steuererklärung in Angriff zu nehmen, sondern sie meldet sich, fast wie eine Krankheit, die wir in der Regel ja auch nicht willentlich herbeiführen.

Die zweite Bestimmung ist: Liebe zählt im Haushalt der Gefühle zu den Richtungsgefühlen. Sie hat einen Adressaten, in formalem Sinne können wir auch sagen: sie hat ein Objekt, auf das sie gerichtet ist. Zunächst und zuerst auf andere Personen, ohne die zu leben man sich gar nicht mehr vorstellen kann. Liebe als Passion ist »Habenwollen« des Geliebten (Scheler 1948). Das male ich jetzt nicht weiter aus, weil ich eine allgemeine Kenntnis dieser Gegebenheit schlicht voraussetze.

Das Objekt der Liebe stellt einen Wert dar. Das ist jetzt eine weitergehende Bestimmung. In der älteren Tradition sprach man auch von einem Gut, einem bonum