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Heal your Hospital

Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung und besseren Lesbarkeit wird im folgenden Text auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung in der Regel verzichtet. Es sind jedoch stets Personen männlichen und weiblichen Geschlechts gleichermaßen gemeint.

Interdisziplinäres Autorenteam Witten

Heal your Hospital

Studierende für neue Wege der Gesundheitsversorgung

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Lektorat: Katharina Budych, Frankfurt am Main
Satz und Gestaltung: Mario Moths
Umschlaggestaltung: Franziska Brugger, Frankfurt am Main

ISBN 978-3-86321-240-7
eISBN 978-3-86321-377-0

INHALT

Vorwort

1.Einleitung

2.Das Individuum in einer individualisierten Medizin

(Levka Dahmen geb. Meier)

2.1.Der ganzheitliche Blick auf Patienten

2.2.Was versteht man unter „individualisierter“ Medizin?

2.3.Psychische und soziale Faktoren

2.4.Chancen und Risiken

2.5.Eine integrative und individualisierte Medizin schaffen!

3.Fit als Patient

(Claudia Schlösser)

3.1.Partizipative Entscheidungsfindung

3.2.Gesundheitskompetenz

3.3.Informationsquelle Internet

3.4.Patienteninformationen

3.5.Die Websites „Was hab ich?“ und „Medicatrix“

3.6.Patienteninformationen bekannter machen und ausbauen!

4.Die Arbeitskrise im Gesundheitswesen

(Sebastian Beltz, Matthias Thamm)

4.1.Der Arbeitsalltag eines Assistenzarztes

4.2.Zwischen Anspruch und Wirklichkeit

4.3.Überlastung und Burn-out

4.4.Arbeitsbelastung bei Ärzten

4.5.Arbeitsbelastung bei Pflegenden

4.6.Entscheidungs- und Steuerungskompetenzen überdenken!

5.Vertrauen durch Interaktion

(Ruth Kania)

5.1.Arbeitsauftrag Blutentnahme

5.2.Der Prozess einer Blutentnahme

5.3.Fehler können tödlich sein

5.4.Schnittstellen im Krankenhaus

5.5.Die Bedeutung der Kommunikation für Organisationen

5.6.Kommunikation verbessern!

6.Vom Kranken- zum Gesundheitshaus – ist so etwas möglich?

(Johanna Werner, Julian Grah, Matthias Thamm)

6.1.Die Organisation Krankenhaus im Umbruch

6.2.Modernisierung als schöpferischer Akt der Beteiligten

6.3.Ein menschengemäßes Krankenhaus – das Beispiel Klinik Havelhöhe in Berlin

7.Streifzug durch das Gesundheitssystem

(Moritz Völker)

7.1.Die Gesetzliche Krankenversicherung

7.2.Was ist schon Solidarität? Kopfpauschale versus Bürgerversicherung

7.3.Der stationäre Sektor

7.4.Der ambulante Sektor

7.5.Solidarität ist mehr als nur ein Wort

8.Wege in die Integrierte Versorgung

(Moritz Völker, Sören Schulz)

8.1.Was ist Integrierte Versorgung?

8.2.Integrierte Versorgung am Beispiel „Gesundes Kinzigtal“

8.3.Prävention lohnt sich

9.Qualität – eine Frage der Perspektive

(Sören Schulz)

9.1.Der Qualitätsbegriff in der Medizin

9.2.Qualitätsindikatoren

9.3.Daten(ein)fluss

9.4.Qualitätsberichte – Datenfriedhof oder Entscheidungsgrundlage?

9.5.Die Zukunft der Qualitätsmessung

9.6.Chancen und Risiken einer qualitätsabhängigen Vergütung

10. Gesundheit gemeinsam gestalten

(Sebastian Beltz)

Die Autoren

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Gemeinsam die „gute Medizin“ zu gestalten und damit die Voraussetzungen für das bestmögliche Gesundsein zu ermöglichen, das ist das Anliegen dieses Buches. Solange es Studierende gibt, die sich diesem Anliegen verschreiben und dies so umfassend und engagiert entwickeln, wie es die Autoren dieses Bandes tun, so lange gibt es eine begründete Hoffnung für die wirklichen Innnovationen in der Organisation der Gesundheitsversorgung, die wir alle für uns selber, für unsere Verwandten und Freunde und für die gesamte Gesellschaft uns wünschen.

All denen, die dafür brennen, empfehle ich dieses Buch.

Dr. h.c. Helmut Hildebrandt
Co-Vorsitzender der Gesundheitskommission der
Heinrich-Böll-Stiftung,
Vorstand der OptiMedis AG und Geschäftsführer der
Gesundes Kinzigtal GmbH

Vorwort

Unser Gesundheitssystem ist, noch, eines der leistungsfähigsten der Welt. Damit das so bleibt, müssen wir – die im Gesundheitswesen Tätigen – gesellschaftliche und politische Änderungen anstoßen. Denn wir Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und Heilberufler kennen das System und seine Probleme aus der täglichen Arbeit. Ich freue mich, dass mit diesem Buch Studierende eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme des Gesundheitswesens aus unterschiedlichen Blickwinkeln liefern und in einem zweiten Schritt Entwicklungswege für unser Gesundheitssystem aufzeigen, von denen Patientinnen und Patienten profitieren können.

Dabei liefert das Werk anschauliche Beschreibungen des Gesundheitssystems „hinter den Kulissen“, die zusammen ein facettenreiches Bild ergeben – beispielsweise der Bericht eines Assistenzarztes vom Arbeitsalltag in einem Klinikum zwischen Zeitdruck, langen Diensten, verantwortungsvollen Entscheidungen und umfangreichen bürokratischen Aufgaben. Er macht dem Leser nicht nur die Vielzahl der ärztlichen Aufgaben deutlich, sondern es wird auch erfahrbar, welche persönlichen Kosten die große Arbeitsbelastung nach sich zieht. Das Autorenteam bringt hier die Situation vieler Ärztinnen und Ärzten im deutschen Gesundheitssystem zwischen ökonomischen Zwängen und dem persönlichen und berufsethischen Anspruch, ausschließlich zum Wohl des Patienten zu handeln, auf den Punkt. Ebenso sieht die Situation bei den Pflegenden aus – auch hier haben die Autoren genau hineingesehen und Zeitdruck, Verantwortung, Stress und systemimmanente Überlastung beschrieben.

Auch wenn – oder gerade weil – meine eigenen berufspolitischen Standpunkte nicht immer hundertprozentig mit den aufgestellten Forderungen übereinstimmen – freue ich mich über alle Denkanstöße und Diskussionspunkte, die dieses sorgfältig zusammengestellte Werk liefert.

Besonders die differenzierte Betrachtung der Integrierten Versorgung möchte ich hier als sehr gelungen hervorheben. Mir persönlich ist seit langem auch der Überwindung der starren Sektorengrenzen, der optimalen Koordination und der Etablierung von verbesserten Kommunikationsstrukturen innerhalb der Patientenversorgung ein besonderes Anligen.

Mein herzlicher Dank gilt dem studentischen Autorenteam. Dass dieses Buch von Studierenden geschrieben wurde, macht seine besondere Perspektive aus: Es freut mich zu sehen, wie viel Tatkraft, Engagement und intellektuelle Überlegung in dieses Buch geflossen sind – diese Haltung der ärztlichen und wissenschaftlichen Nachwuchsgeneration macht mich sehr zuversichtlich für die Zukunft unseres Gesundheitssystems.

Dr. med. Klaus Reinhardt
Vorsitzender des Hartmannbundes – Verband der Ärzte Deutschlands e. V
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Interdisziplinäres Autorenteam Witten

1. Einleitung

Universität Witten/Herdecke, 25. Oktober 2012: An diesem verregneten Donnerstag drängen sich fünf Professoren und 80 Studierende der Fakultäten für Gesundheit, Wirtschaft und Kultur um eine leere Tafel. „Heal your hospital“ lautet das Thema dieses Seminars im Rahmen des Studium fundamentale1 unserer Universität, in dem sich nun Studierende der Medizin, Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Philosophie und Kulturwissenschaften zusammenfinden. Im Zentrum steht die damals wie heute heiße Debatte um die Zuspitzung der Probleme des deutschen Gesundheitssystems. Schnell wird klar, dass sich die Bestandsaufnahme in die Länge ziehen wird und unsere Idealvorstellungen nicht mit dem gewonnenen Bild zusammenpassen.

Steht unser Gesundheitssystem tatsächlich am Abgrund? Ist Medizin heute nur noch reine Fließbandarbeit? Ist der Patient zu einer Diagnose, zu einer Abrechnungsziffer oder gar zum Kunden deklariert und der Arzt zum Verkäufer geworden? Was steckt hinter all den Aussagen, Vorurteilen und düsteren Prophezeiungen von vermeintlichen Experten in Talkshows, die uns täglich mitteilen, wie ungerecht, teuer und unmenschlich unser Gesundheitssystem heute ist? Vor diesen so oft beschriebenen Trümmern unseres deutschen „Heilsystems“, das statt auf Heilung des Menschen auf Profit ausgelegt zu sein scheint und statt Ethik am Menschen Rationierung in den Vordergrund stellt, stehen auch wir, als die kommende Generation von im Gesundheitswesen Tätigen.

Einerseits haben wir als Studierende bereits praktische Erfahrungen gemacht, die uns Anlass zur Sorge geben, andererseits werden wir uns in naher Zukunft in diesem System – zumindest als Patient und Versicherter, einige von uns als Therapeuten, Pflegende, Wirtschaftswissenschaftler, Berater oder Mediziner – immer wieder neu begegnen. Der Wille, in diesem System tätig zu werden und das Wissen um die Fallstricke unserer Ideale, bringen uns in Not.

Wir werden im Studium darauf vorbereitet, ein Leben lang für die Gesundheit anderer zu arbeiten. Wir wollen mit unseren erworbenen Fähigkeiten dem Menschen dienen, ihn in den Mittelpunkt unseres Handelns stellen und unser Bestes für seine Gesundheit geben. Wie geht es uns aber damit? Was läuft in dieser Arbeitsrealität so falsch und warum werden täglich Resultate produziert, die eigentlich von niemandem gewollt sind? Warum leben wir in einem so reichen Land wie Deutschland – das so oft als eines der technologisch, wissenschaftlich und politisch führenden Länder der Welt bezeichnet wird – in einem Gesundheitssystem, das nicht zu unser aller Zufriedenheit funktioniert, vielmehr zu so viel Diskussion anregt?

Es bedrückt uns, dass wir schon zum jetzigen Zeitpunkt an der Möglichkeit, unsere Ideale umzusetzen, so sehr zweifeln müssen. Der 2011 verstorbene tschechische Präsident und Ideenträger des europäischen Wandels nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, Václav Havel, beschreibt dieses Gefühl der Verunsicherung, das uns in Anbetracht unserer zukünftigen Arbeitsrealität befällt, in einer Rede in Philadelphia wie folgt: „Es ist, als ob etwas zerbricht, zusammenfällt und am Ende ist, während etwas anderes, noch undeutlich, beginnt, sich aus den Trümmern zu erheben.“

Aus unserer Not heraus haben wir uns auf eine gemeinsame Suche begeben. Wir wollten die Ursachen des Übels erkennen und Wege finden, unsere Ideen für ein besseres Gesundheitssystem von morgen einzubringen. Heute, fast vier Jahre nach der ersten Bestandsaufnahme, möchten wir Ihnen gerne aufzeigen, dass es möglich ist, Gesundheit anders zu gestalten und dass auch Sie – ob als Patient, als ebenfalls in diesem System Tätiger2 oder an den Entwicklungen des Gesundheitssystems interessierter Leser – daran teilhaben können.

Wir neun Studierenden aus der Medizin, der Wirtschaftswissenschaft sowie der Politik und Philosophie als Autoren dieses Buches haben teilweise Vorbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege oder dem Rettungsdienst, haben Praktika in verschiedenen Gesundheitsbereichen im In- und Ausland absolviert – und allemal Erfahrungen als Patienten gemacht sowie aus der Perspektive als Therapeut. Wir sind von dem System aber noch nicht zu sehr beeinflusst. Wir vertreten keine homogene Interessengemeinschaft, sind keiner Partei und keinem Unternehmen verpflichtet und können guten Gewissens von uns behaupten, mit einer reinen Weste zu schreiben, ohne dabei Repressalien oder finanzielle Nachteile befürchten zu müssen. Wir wollen keine altbewährten Machtpositionen festigen.

Nichts, was sich in der Vergangenheit nicht bewährt hat, muss zukünftig auch weitergeführt werden, denn wir haben keine Sehnsucht nach alten sozialen und moralischen Ordnungen der Vergangenheit. Wie schon Albert Einstein sagte, so viel ist sicher: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Wir haben dieses Buch geschrieben, weil wir glauben, dass es an der Zeit ist, der Zukunft eine Chance zu geben. Aus dieser Motivation heraus haben wir uns intensiv mit dem deutschen Gesundheitswesen befasst und Thesen für ein besseres Gesundheitssystem aufgestellt, um unserer Initiativkraft und unserem Gestaltungswillen Ausdruck zu verleihen.

Wir sehen uns als junge Studierende und gerade als zukünftige Akteure in diesem System in der Pflicht, an diesem Anderen, Neuen, Idealistischen teilzuhaben und mitzuwirken. Wir verstehen uns dabei auch als Teil einer Generation, die kritisch agiert und sich dabei durch stetigen Optimismus auszeichnet. Dazu gehört es auch, sich für seine Werte aktiv einzusetzen. Wir suchen daher die öffentliche Debatte und wollen diese im Streben nach Veränderung anfeuern. Dabei sehen wir uns keinesfalls als einen Tropfen auf dem heißen Stein, sondern vielmehr als den Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringen kann.

Sie werden in diesem Buch auf neun Perspektiven mit ihren individuellen Schwerpunkten stoßen. Zu Beginn stellen wir Ihnen unser Menschenbild dar und setzten uns mit den Akteuren des Gesundheitssystems im Einzelnen und ihren Schnittstellen auseinander. Mit der Thematik der Patienteninformation geht es uns gezielt um den Menschen als Individuum und damit um dessen Einzigartigkeit. Unser Verständnis von Souveränität und Verantwortung des Einzelnen führt uns anschließend zu Institutionen und Organisationen im Gesundheitssystem, in welchen die Akteure diese Werte als Maxime für ihr Handeln sehen lernen. Schließlich kommen wir auf das Gesamtsystem mit seinen aktuellen Fehlentwicklungen zu sprechen. Wir zeigen mögliche Alternativen auf und möchten abschließend einen Ausblick auf ein zukunftsorientiertes, menschengemäßes Gesundheitssystem geben.

Aus unseren unterschiedlichen, sehr persönlichen Blickwinkeln möchten wir dabei diverse aktuelle Problemfelder ansprechen. Wir erheben keinen allumfassenden Wahrheitsanspruch – präsentieren nicht die Ideallösung, sondern schreiben nach bestem Wissen und Gewissen über das, was uns heute und in der Zukunft erwartet und was dieses System zu dem gemacht hat, was und wie es heute ist. Unsere Ansprüche an Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sind dabei nur die folgenden: Interesse und Wachsamkeit. Hinterfragen Sie die alltäglichen ärztlichen Leistungen! Tun Sie dies in Anbetracht dieses Buches mit uns zusammen und hinterfragen Sie auch uns. Wir wollen provozieren, zum Mitdenken und Hinterfragen auffordern.

Da Krankheit als Teil des Lebens jeden Einzelnen und somit jeden Teil unserer Gesellschaft betrifft, ist der wirksame Schutz unserer Gesundheit in Form eines funktionierenden Gesundheitssystems als eine der höchsten zivilisatorischen Leistungen anzusehen. Als gemeinsame Errungenschaft spiegelt das Gesundheitssystem einer Gesellschaft jedoch auch immer diese selbst wider.

Wir werden in diesem Buch nicht versäumen, immer wieder darauf hinzuweisen, dass wir Medizin nicht bräuchten, gäbe es keine Patienten. Nur weil ihnen geholfen werden soll, ist ein solch komplexes Konstrukt wie ein Gesundheitssystem überhaupt erst entstanden. Diesen Umstand sollten wir uns täglich neu vergegenwärtigen. Und wir sollten uns die Frage stellen: Wer krankt denn eigentlich in unserem System? Wir sehen die Gefahr, dass ohne eine bewusste Neukonfrontation mit dieser Frage die Qualität der Gesundheitsversorgung weiter sinkt und nicht nur der Patient ins Abseits gerät.

Damit dies nicht geschieht, sehen wir einen Paradigmenwechsel im System als unabdingbar an. Ein menschengemäßes Gesundheitssystem, das beiden, dem Individuum Patient und dem Individuum Heilberufler, gerecht wird, kann nur mithilfe eines grundlegenden Wandels entstehen. Lassen Sie sich also von uns für eine neue Art und Weise der Zusammenarbeit im deutschen Gesundheitssystem begeistern. Aber seien Sie sich nicht überrascht, wenn wir dabei auch auf kritisch zu bewertende Auswüchse stoßen, die die Zusammenarbeit in diesem System angenommen hat.

Wir wollen Sie nun auf eine Reise einladen, bei der die Endstation noch lange nicht in Sicht ist. Der Weg ist lang – aber so auch unsere Ausdauer.

1Das Studium fundamentale ist ein über die reine Fachausbildung hinausgehendes Lehrmodell der Universität Witten/Herdecke, in dessen Rahmen sich die Studierenden in den Bereichen der Kultur- und Gesellschaftswissenschaften, Philosophie, Kunstwissenschaften und Künsten sowie bei der Schulung kommunikativer Fähigkeiten weiterbilden sollen. Zusätzlich finden sich interdisziplinäre Projekte. Durch öffentliche Vorträge, Konzerte, Theater- und Tanzaufführungen, Lesungen und Workshops gestaltet die Universität einen eigenen Kulturraum (Anm. der Autoren).

2In diesem Buch im Folgenden auch Heilberufler genannt (Anm. der Autoren).

Levka Dahmen (geb. Meier)

2.Das Individuum in einer individualisierten Medizin

These:

Jeder Mensch hat seine individuelle Gesundheit. In der Medizin darf der Mensch nicht allein auf seine körperlichen und genetischen Merkmale reduziert werden. Auch die Intaktheit der Psyche und die Stabilität des sozialen Umfeldes müssen als Grundpfeiler unserer Gesundheit verstanden werden.

Beginnen wir mit der Betrachtung derer, die wir als Studierende im Zentrum unseres Gesundheitssystems sehen: den Patientinnen und Patienten. Wir durften vor einiger Zeit Frau O. kennenlernen und möchten sie Ihnen im Folgenden vorstellen.

2.1.Der ganzheitliche Blick auf Patienten

Frau O. kennt Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte. In den vergangenen drei Monaten hat sie bei ihnen vermutlich mehr Zeit verbracht als in ihren eigenen vier Wänden. Alles begann bei einer Routineuntersuchung bei ihrem Frauenarzt, bei der in ihrer linken Brust ein Knoten getastet wurde. Mit Sorge sah sie sich den nun anstehenden Untersuchungen ausgeliefert. Was würden sie bringen?

Mammografie, Ultraschalluntersuchung, dann eine Gewebeentnahme aus ihrer Brust, die schließlich Klarheit brachte: Der Knoten stellte sich als bösartiger Tumor heraus. Weitere Untersuchungen mussten durchgeführt werden, um herauszufinden, ob der Krebs schon „gestreut“ hatte. In diesem Fall wären ihre Chancen wesentlich schlechter gewesen, so hieß es. Aber Frau O. hatte Glück, man hatte den Tumor früh genug entdeckt. Ziemlich schnell wurde anschließend ihre Brust operiert, und – „ganz neu“, sagten die Ärzte – intraoperativ bestrahlt, bevor Frau O. ein Silikonimplantat bekam, das nun ihre Brust sein soll. „Inklusive Bruststraffung“, witzelte ein Chirurg.

Nach der Operation folgten mehrere Wochen Chemotherapie. In den ersten Wochen vertrug Frau O. die Medikamente der Chemotherapie nicht gut und litt unter starken Nebenwirkungen. Die Ärzte rieten ihr, das Medikament zu wechseln. Sie stimmte zu und tatsächlich verbesserten sich die Nebenwirkungen und wurden für sie erträglicher. „Alles Routine“, so beruhigten die Ärzte Frau O. immer wieder, sie waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden. „Ein ganz ausgezeichneter Therapieerfolg!“, sagten sie denn auch zu ihr bei der Entlassung aus dem Krankenhaus und empfahlen ihr, in einigen Jahren zur Nachsorge wiederzukommen, um zu überprüfen, ob nicht doch etwas nachgewachsen sei.

Alles Routine? Ein ausgezeichneter Therapieerfolg? Warum fühlt sich Frau O. dann nicht ausgezeichnet? Anders als für die Ärzte waren für sie die vergangenen Monate ein Grauen, ein lebenseinschneidendes Ereignis. Sie hatte zwar Glück im Unglück, das weiß sie – aber trotzdem fühlt sie sich hundeelend. Wie soll sie mit dem Gefühl, fast gestorben zu sein und doch zu leben, umgehen? Wie mit dem Wissen, dass ein Risiko der Wiederoder Neuerkrankung ihrer Brust besteht? Gewissheit gibt es dabei nicht, nur Statistiken. Diese prophezeien Frau O. eine erneute Erkrankung an Brustkrebs mit einer Wahrscheinlichkeit von elf Prozent.1 Ist das viel oder wenig? Für die Ärzte sind elf Prozent wenig – für Frau O. sind elf Prozent viel. Auf jeden Fall fühlen sie sich gerade so an. Aber mit ihrer Angst und den elf Prozent ist sie jetzt allein, denn ihre Brust ist wieder gesund – und das ist ja das Wichtigste.

Wir als AutorInnen dieses Buches haben den Anspruch, unsere zukünftigen Patientinnen und Patienten individuell wahrzunehmen – jeder und jedem, die oder der uns Vertrauen schenkt, nach den ihr oder ihm eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden. Dies bedeutet für uns weit mehr, als nur die körperlichen Leiden und Erkrankungen unserer Patienten zu betrachten, da eine rein körperlich-biologisch orientierte Medizin nicht den individuellen Bedürfnissen der Patienten gerecht wird.

Zur individuellen Gesundheit eines jeden Patienten gehören für uns auch die Intaktheit seiner Psyche und die Stabilität seines sozialen Umfeldes. Wir möchten deshalb später in einem System arbeiten (bzw. es gestalten), das uns die Zeit und die Freiheit lässt, bei einem Patienten mehr als nur einen kurzfristigen körperlichen Aspekt zu erfassen. Erst dann werden wir unseren Patienten und unseren Aufgaben als Ärzte gerecht. Wir möchten lernen, den Menschen individuell im Sinne von ganzheitlich zu sehen und zu therapieren.

Für uns ist der Grund für ein Symptom oder eine Krankheit nicht allein genetisch oder körperlich bedingt, sondern entsteht aus einem Zusammenspiel von Körper, Psyche und Umweltfaktoren. Wir fordern daher, Abstand zu nehmen von einer Medizin, die sich ausschließlich auf die Naturwissenschaft stützt und dabei den Patienten als Individuum vernachlässigt. Denn „wenn Medizin nichts als Naturwissenschaft sein wird, so wird sie gar nichts sein. Denn Medizin steht nicht der Natur gegenüber, sondern dem Menschen gegenüber“2.

„Gesundheit ist ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens.“ So lautet die Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Bezogen auf unsere Patientin Frau O. bedeutet eine erfolgreiche Therapie des Brustkrebses vielleicht die Heilung der Brust, aber noch nicht die Gesundung ihrer Person. Betrachtet werden sollte unter Umständen auch, unter welchen Voraussetzungen es bei Frau O. zum Krankheitsausbruch gekommen ist und welche Faktoren ihre Genesung zukünftig unterstützen oder blockieren können.

Bezogen auf die psychische Ebene spielen im Falle von Frau O. der eigene Umgang mit der Krebserkrankung und die Auseinandersetzung mit dem teilweisen Verlust der eigenen Brust als wichtiges Symbol der Weiblichkeit eine wichtige Rolle. Auf der sozialen Ebene erfuhr und erfährt Frau O. Stress und Druck am Arbeitsplatz und ist mit einer Überforderung im Familienalltag konfrontiert. Um eine Krankheit wirklich bewältigen zu können, sollten solche Aspekte bei einer Therapie mitberücksichtigt und ein individueller Behandlungsplan aufgestellt werden können. Das jedoch erfordert Zeit. Und diese ist sowohl für die Ärzte im Krankenhaus als auch für die Hausärzte in der Praxis knapp bemessen. Der Patient wird häufig seiner eigenen Verantwortung überlassen. Einigen Patienten gelingt es auch, diese wahrzunehmen, aktiv zu werden und sich beispielsweise psychologische oder psychotherapeutische Unterstützung zu suchen, anderen aber fehlt der Überblick und fehlen die Ressourcen, diese Unterstützung einzufordern.

2.2.Was versteht man unter „individualisierter“ Medizin?

Auf Grundlage der bisherigen Ausführungen könnte man also annehmen, unsere Forderungen zielten auf die verstärkte Umsetzung einer individuelleren Medizin. In der Tat gibt es in der Medizin die Begriffe der individualisierten bzw. personalisierten bzw. personenzentrierten Medizin. Die drei Begriffen beschreiben alle drei de facto dasselbe und haben in der heutigen Medizin und Wissenschaft stark an Bedeutung zugenommen. Von vielen WissenschaftlerInnen wird in ihnen sogar die Medizin der Zukunft gesehen.3,4,5 Anders aber als wir Studierende versteht die medizinische Forschung die Beschreibung des individuellen Patienten nicht als Individuum mit biologischen, psychologischen und sozialen Bedürfnissen, sondern reduziert seine Individualität auf seine genetische Einzigartigkeit: sein Genom.

Diese neue Interpretationsmöglichkeit des individuellen Faktors wurde erst durch die Erkenntnisse aus den Forschungen von James Watson und Francis Crick 1953 möglich. Mit molekulargenetischer Genauigkeit können wir heute auf jeden Patienten individuell eingehen. Anhand des genetisch einzigartigen Materials ist es uns möglich, eine immer genauere Diagnostik, Therapie und Prävention zu entwickeln.

Das bedeutet beispielsweise, dass wir aufgrund des Wissens über Ihr Genom Ihnen, lieber Leser, vorhersagen könnten, an welchen Erkrankungen Sie vermutlich später einmal leiden werden. Wir wären beispielsweise in der Lage zu errechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Sie irgendwann in Ihrem Leben an Brustkrebs erkranken werden. Was Sie dann mit dieser Entscheidung machen, ob Sie sich daraufhin die Brust amputieren lassen oder nicht, und wie Sie mit diesem Wissen umgehen, das bliebe Ihnen überlassen.

Das Individuelle in der Medizin ist damit gänzlich neu definiert. Und wir Studenten sind mit der Einseitigkeit dieser Definition nicht einverstanden. Wir verstehen die individuell-genetische Medizin als wichtige neue Betrachtungsweise. Wir bemängeln jedoch, dass bei einer zu starken Fokussierung der Wissenschaft und der Medizin auf den individuellen Faktor „Genom“ das Verständnis für das Individuum in seiner Ganzheit in den Hintergrund gerät. Das finden wir falsch. Wir bemühen uns deshalb, eine differenzierte Sicht auf die Individualität unserer zukünftigen Patienten zu erhalten, und fordern dazu auf, den Begriff des „Individuellen“ in der Medizin im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs neu zu definieren.

Die Begriffe der individualisierten oder personalisierten Medizin werden heute meist synonym verwendet, bleiben in ihrer Bedeutung aber leider recht unklar. Wir haben sie Ihnen zusammenfassend als eine Reduzierung des Individuellen des Menschen auf das Genom beschrieben. Aus naturwissenschaftlicher Sicht stellt dies einen Paradigmenwechsel in der Medizin dar.6 Denn anders als noch vor zwanzig Jahren können wir heute viel präziser und individueller genetische Informationen abfragen, bewerten und therapieren. Ich möchte Sie, lieber Leser, fragen: Was stellen Sie sich unter individualisierter Medizin vor?

Vermutlich wird sich Ihre Auffassung von individualisierter Medizin in den bereits unternommenen wie auch in den nachfolgenden Definitions-versuchen wiederfinden. Denn tatsächlich ist die Definition der individualisierten Medizin schwierig und geht über das zuvor Genannte hinaus. Wir möchten Ihnen deshalb einen kurzen Überblick zu diesem Begriff geben.

Die Bundesarbeitsgruppe für „Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem“ versteht die individualisierte Medizin in ihrem Zukunftsreport als „eine mögliche Gesundheitsversorgung“, die aus dem synergetischen Zusammenwirken der drei Einheiten „Medizinischer und gesellschaftlicher Bedarf“, „Wissenschaftlich-technische Entwicklungen“ und „Patientenorientierung“ entstehen könnte.7 Das ist eine sehr zaghafte Eingrenzung des Begriffes. Demnach wird individualisierte Medizin als ein Versorgungskonzept gesehen, in welchem Praxis, Forschung und der Patient miteinander agieren. Faktisch ist diese Auffassung nichts Neues. Die Balance zwischen Forschung, Realität der Praxis und den Bedürfnissen des Patienten zu finden, ist eine Aufgabe, mit der sich Ärzte bereits seit Generationen auseinandersetzen. Die Schwierigkeit, den Begriff klar einzugrenzen, liegt möglicherweise an dem Suchen unserer Gesellschaft nach einer Medizin, die einerseits unsere medizinische Versorgung langfristig personell und finanziell sichern kann und andererseits unseren steigenden Versorgungsansprüchen gerecht wird.

Dazu ein Blick in das Geschehen: Der Anteil chronisch kranker Menschen in unserer Gesellschaft steigt kontinuierlich an.8 Chronisch krank bedeutet, dass die Krankheit nie oder kaum heilbar, sondern nur leicht „verbesserbar“ ist. 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sind chronisch krank, 80 Prozent der Menschen leiden in ihrem Leben einmal an einer chronischen Erkrankung wie chronischen Schmerzzuständen, Bluthochdruck, Demenz oder Rheuma. Und um Ihnen eine Vorstellung zu geben, welche Verteilungs- und Kostenfragen dahinter stehen: 92 Prozent der Kosten unseres Gesundheitssystems werden durch nur 20 Prozent der Patienten verursacht.9 Der Großteil von ihnen ist chronisch krank. In Anbetracht dieser Zahlen wird deutlich, dass zur Vorbeugung und Therapie – vor allem chronischer Krankheiten – neue und verbesserte therapeutische, präventive und auf Rehabilitation zielende Versorgungsansätze notwendig sind.10 Selbiges gilt auch für die Therapie bei Tumorerkrankungen. Wie jedoch könnte diese neue Medizin aussehen?

Stellen Sie sich vor, dass wir durch Einblick in Ihr genetisches Material zukünftig in der Lage sein könnten, Ihnen vorherzusagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit Sie später an Demenz erkranken. Je älter Sie werden, desto höher wäre dabei die Wahrscheinlichkeit des Krankheitsausbruchs. Sie könnten dann an regelmäßigen Tests und gezielten Schulungen teilnehmen, um Ihre Merkfähigkeit schon vor dem Demenzausbruch zu trainieren – und eventuell damit den Beginn der Demenz um ein paar Jahre hinausschieben. Das alles könnte durch die Forschung am Genom möglich werden. Die Anforderungen an die Weiterentwicklung der Genomforschung werden dabei immer höher. Besonders in den Bereichen der Pharmakologie und Prävention verspricht man sich dadurch große Vorteile.11

Mithilfe von DNA-Informationen können Patienten schon heute anhand ihres genetischen Fingerabdrucks als Risikogruppen erkannt werden und eine gezielte Prävention und frühzeitige Diagnose und Therapie erfahren. Zu den Zielen der individualisierten Medizin gehört, Patienten nach ihren genetischen Risiken einzuteilen. Dies gilt sowohl in Bezug auf die Wahrscheinlichkeit eines Krankheitsausbruchs als auch für die individuelle Wirksamkeit eines Medikamentes. Ihr Arzt könnte Ihnen so möglicherweise voraussagen, wie Ihr Körper auf ein bestimmtes Medikament reagieren wird.12,13 Denn Menschen können auf Arzneimittel durchaus unterschiedlich ansprechen. Paracetamol als Kopfschmerzmittel wirkt beispielsweise bei Patient A sehr effektiv und beseitigt den Schmerz zuverlässig. Patient B hingegen kann soviel Paracetamol schlucken, wie er möchte, bei ihm hat es keine spürbare Wirkung gegen den Kopfschmerz.

2005 hat eine Studie zur Therapie mit Psychopharmaka, also Medikamenten zur Behandlung psychischer Erkrankungen, die Schwierigkeiten bei der Wahl des richtigen Medikaments gezeigt: Bei 40 bis 80 Prozent der Patienten ließ sich eine kleine oder keine messbare Reaktion auf die Therapie mit dem ersten Medikament nachweisen.14 Erst das zweite oder dritte Medikament erzielte die gewünschte Wirkung. Mit entsprechenden genetischen Informationen könnten Ärzte jedoch, ohne erfolglose Therapieversuche durchführen zu müssen, direkt das optimale Medikament in optimaler Dosis verschreiben.15 Im Fall unserer Patientin Frau O. hätte dies bedeutet, dass die Ärzte aufgrund der Kenntnis ihres genetischen Codes die bei ihr aufgetretenen starken Nebenwirkungen hätten vorhersagen können. Sie hätten dann direkt und ohne zweiten Anlauf ihr das passende Medikament vorschlagen können.16,17 Das Motto der individualisierten Medizin lautet demnach: „Our opportunity in personalized health care is to deliver the right treatment to the right patient at the right time, every time.“18

Neben den hier skizzierten Vorteilen ergeben sich aus unserer Sicht aber auch Aspekte, die auf den ersten Blick nicht deutlich werden und die aus Arzt- und Patientenperspektive einer kritischen Reflexion bedürfen.

2.3.Psychische und soziale Faktoren

Die individualisierte Medizin wird in der Wissenschaft zweifelsfrei weiter an Boden gewinnen. Eine berechtigte Frage ist allerdings, ob darin das Individuum wirklich im Mittelpunkt stehen wird. Unserer Ansicht nach gehören zur Betrachtung des Individuums, wie schon ausgeführt, nicht nur die körperliche und genetische Ebene, sondern auch die Intaktheit der Psyche und die Stabilität des sozialen Umfeldes.

In der individualisierten Medizin, die sich auf die genetischen Eigenheiten des Patienten konzentriert, bleiben diese Ebenen ausgeblendet. Stattdessen erfolgt eine Einteilung der Patienten in Risikogruppen. Bei Gruppe A liegt ein 20-prozentiges Erkrankungsrisiko für Demenz vor, bei Gruppe B ein 45-prozentiges Risiko. Die individuelle Risikozuteilung entscheidet darüber, in welcher Gruppe und nach welchen Schemata der Patient behandelt wird. „From one to many – a global opportunity“ lautet die Unterüberschrift eines wissenschaftlichen Artikels über personalisierte Medizin. Deutlicher lässt sich der Zweifel an der neu proklamierten Fokussierung auf das Individuum wohl nicht ausdrücken.19

Fachleute haben während einer Versammlung des Deutschen Ethikrates und bei einer Expertenanhörung des Bundestagsauschusses für Technikfolgenabschätzung 2009 zur individualisierten Medizin daran erinnert, dass diese weder etwas mit dem Patienten als Person noch mit seiner Personalität zu tun habe, sondern vielmehr als eine „stratifizierende (kategorisierende) Medizin“ zu verstehen sei, welche die Patienten in verschiedene klinisch relevante Problemgruppen unterteile.20

Im Gegensatz zur Denkweise der individualisierten bzw. stratifizierenden Medizin steht das ursprüngliche Verständnis der Begriffe Individualisierung und Individuum: „Individualisierung bedeutet, dass das Individuum ein Bezugspunkt für sich selbst und die Gesellschaft wird.“21 In diesem Sinne sind auch die humanistischen Ausdrücke „Person“ und „Individuum“ in der Medizin und Philosophie immer als Wesen mit einer körperlichen u n d einer geistig-seelischen Komponente verstanden worden.22 Dem seelisch-geistigen Wesen des Menschen verbleibt aber in der derzeit als individualisiert bezeichneten Medizin überhaupt kein Raum.23

Erinnern Sie sich an unsere Patientin Frau O.? Der Brustkrebs wurde erfolgreich durch eine schematische und leitlinienkonforme Therapie entfernt und bei zukünftiger Einbeziehung genetischer Informationen hätte die Therapie vielleicht noch gezielter und effizienter durchgeführt werden können. Ein Teil der Heilung ist dank eines wissenschaftlich evidenten Behandlungsschemas erreicht worden. Dieser Tatsache muss mit Anerkennung begegnet werden. Was Frau O. jedoch nicht erhalten hat, ist eine psychologische Unterstützung, sind Ratschläge, wie sie mit der Angst vor einem erneuten Krankheitsausbruch umgehen könnte. Dieser Teil der Heilung fehlte, denn für derlei Therapie und Fürsorge werden in unserem Gesundheitssystem nur begrenzt Ressourcen zur Verfügung gestellt. Die Probleme auf der nicht körperlichen Ebene werden so häufig systematisch nicht therapiert, die Patienten alleine gelassen. Umgebungsbedingte Einflüsse wie Probleme im Beruf und in der Familie, wirtschaftliche Existenzängste und das Altern vernachlässigt der wissenschaftliche Diskurs der personalisierten Medizin (bisher) gar vollständig.24

Psychische Faktoren haben einen erheblichen Einfluss auf die physische Gesundheit des Menschen,25 ihre Ausblendung ist medizinisch nicht vertretbar. Ein psychisch labiler oder unausgeglichener Mensch ist deutlich anfälliger für körperliche Krankheiten. Vielleicht kennen Sie dieses Phänomen im Kleinen auch bei sich selbst. Wenn Sie einen beruflich besonders stressigen Monat erlebt haben oder wenn Sie familiär mit einer Sie emotional belastenden Situation konfrontiert worden sind, dann ist Ihr Körper empfänglicher für Krankheiten wie beispielsweise eine banale Erkältung als sonst. Im Großen bedeutet dies, dass besonders bei emotional und psychisch belastenden Erkrankungen eine Beachtung der seelisch-geistigen Ebene stattfinden sollte, um eine Gesundung des „ganzen“ Menschen zu gewähren.

In der individualisierten Medizin wird dies jedoch trotz aller Individualität außen vor gelassen. In den USA hat sich aus diesem Grunde eine akademische Richtung der „integrativen und individualisierten Medizin“ gebildet. Sie leugnet die Bedeutung der traditionellen Genomforschung nicht, sondern will sie zur integrativen und ganzheitlichen Medizin erweitern.26 Die Definition des Consortium of Academic Health Centers for Integrative Medicine (CAHCIM) verdeutlicht, dass es dabei nicht allein um die Einbeziehung komplementär-medizinischer Möglichkeiten geht, sondern zunächst einmal um die Rechtfertigung einer Medizinkultur, die sich ganzheitlich auf die menschliche Person bezieht: „Integrative medicine is the practice of medicine that reaffirms the importance of the relationship between practitioner and patient, focuses on the whole person, is informed by evidence, and makes use of all appropriate therapeutic approaches, healthcare professionals and disciplines to achieve optimal health and healing.“27

Dies erwarten unserer Meinung nach auch die Patienten von der Medizin. Sie schätzen nach wie vor die persönliche Beziehung zum Arzt und fordern ein medizinisches Versorgungsangebot ein, das auf ihre individuellen Bedürfnisse ganzheitlich eingeht.28 In der jüngeren Zeit hat das Mitgestaltungsrecht der Patienten den gesundheitspolitischen Diskurs im nationalen und internationalen Bereich stark aufgewertet. Wir verstehen dies als Chance und fordern auf: „Die Ausgestaltung einer individuellen Medizin darf die Sichtweise und den Wunsch des eigentlichen Adressaten der Medizin, des Patienten, auch in der Forschung nicht vernachlässigen.“29

2.4.Chancen und Risiken

Die individualisierte Medizin verspricht uns ganz neue Wege. Doch wohin sich diese entwickeln werden, ist noch unklar. Offen bleibt, ob die personalisierte Medizin später eine breite Anwendung finden und inwieweit sie erstrebenswert sein wird. Es werden sich auch ethische Herausforderungen stellen, weil sie beispielsweise indirekt das Gleichbehandlungsprinzip von Patienten verletzen könnte.

In Deutschland ist über die Krankenversicherungspflicht erreicht, dass jeder von uns Zugang zu medizinischer Versorgung auf hohem Niveau hat.30 Für die Entwicklung einer individualisierten Medizin sind jedoch hohe Forschungsausgaben notwendig. Diese Kosten werden anteilig öffentlich, von privaten Trägern und von der Pharmaindustrie getragen. Wir fragen uns, wie sichergestellt wird, dass die im Rahmen der Forschung entwickelten, teils sehr teuren Behandlungen wirklich allen Patientinnen und Patienten und nicht nur einem kleinen sehr gut versicherten bzw. vermögenden Teil der Bevölkerung zur Verfügung stehen werden. Diese – schon heute aktuelle – Problematik könnte durch eine stärkere Fokussierung auf eine individualisierte Medizin noch verstärkt werden.

Mit dem Einsatz einer individualisierten Arzneimitteltherapie beispielsweise erhöhen sich die Therapiemöglichkeiten für genetisch seltenere Erkrankungen. Der Anreiz für privatwirtschaftliche Akteure, in diesen Sektor zu investieren, ist allerdings gering, da die Forschungskosten hoch sind und der potenzielle Markt – nur wenige Menschen sind erkrankt – klein. Demnach würden solche Medikamente sehr teuer sein und zu einer Steigerung der Kosten im öffentlichen Gesundheitswesen führen. Andernfalls müssten die Medikamente von den Patienten privat getragen werden, was für einen Teil der Bevölkerung eine Einschränkung des freien Zugangs zur Gesundheitsversorgung bedeuten würde. Dies wirft ethische und moralische Fragen auf. Die Autoren des Zukunftsreports äußern sich im Deutschen Ärzteblatt entsprechend: „Bis auf Ausnahmen im Sinne therapeutischer Unikate werde es sich aus Gründen der Wirtschaftlichkeit, Praktikabilität und des Nutzens auch künftig um Gruppen, nicht um Einzelpersonen handeln.“31

Es muss also immer geklärt sein, inwiefern die einzelnen Maßnahmen auch tatsächlich einen Zugewinn an Gesundheit unserer Gesellschaft liefern. Stärker noch als bisher muss zukünftig aus unserer Sicht außerdem betrachtet werden, wie wir als Individuum und als Gesellschaft mit dem Wissen über krankheitsbezogene Befunde umgehen. Welche direkten und indirekten Konsequenzen ergeben sich für den Patienten, wenn er erfährt, dass er zu einer Gruppe von Menschen gehört, die mit hoher Wahrscheinlichkeit an einer bestimmten Krebsart erkranken werden? Wie geht die Gesellschaft damit um? Arbeitgeber könnten, wenn sie über die Daten verfügen, gesundheitliche Risikoeinstufungen nicht nur zum Vorteil ihrer Beschäftigten verwenden, private Krankenkassen manche Versicherten mit erhöhten Beiträgen belasten oder vielleicht gar nicht erst aufnehmen. Wie also behandeln wir diese Thematik gesellschaftlich?

Können wir dem Patienten psychische Hilfestellung bieten, wenn er für sich die Frage beantworten muss, wie der Befund nun sein Leben beeinflusst? Wie krass dieser Einfluss sein kann und wie aktuell die Thematik ist, können Sie in öffentlichen Debatten verfolgen. Angelina Jolie beispielsweise ließ sich präventiv, dass heißt ohne einen Krankheitsausbruch, beide Brüste operativ entfernen. Grund war das ihr prognostizierte Risiko, mit 87-prozentiger Wahrscheinlichkeit an Brustkrebs zu erkranken.32

Dass wir medizinisch dazu in der Lage sind, solche Risiken vorauszusagen, halten wir für eine große Neuerung der Medizin. Wir finden aber auch, dass daraus zugleich eine neue Verantwortung entsteht. Denn Patienten nehmen statistische Risiken häufig subjektiv höher wahr – wie zum Beispiel Frau O. Das Risiko, mit einer Wahrscheinlichkeit von elf Prozent erneut an Brustkrebs zu erkranken, schätzen die Ärzte von Frau O. als gering ein. Frau O. selbst aber empfindet dieses Risiko als ungemein hoch und bedrohlich. Wie können wir Patienten wie Frau O. dabei unterstützen, statistische Risikoangaben zu verstehen? Wie können wir ihnen helfen, mit dem Wissen um das Risiko einer Neuerkrankung, egal wie hoch, und der Angst davor zu leben? Was bedeutet es für Frau O., dass sie im Vergleich zu gesunden Frauen nun ein erhöhtes Risiko hat, erneut an Brustkrebs zu erkranken? Bedeutet es, dass sie sich nun tagtäglich mit dem Thema Sterben auseinandersetzen muss? Dass sie ein Testament aufsetzt oder dass sie ihren Beruf kündigt und jede freie Minute mit ihren Kindern verbringt?

Die Frage nach dem individuellen Weg und der gesellschaftlichen Verantwortung ist auch in unserem Buch nicht abschließend geklärt. Allerdings möchten wir als Studierende die Gesellschaft und die medizinischen Entscheidungsträger dazu auffordern, diese Dimension bei der Einführung einer individualisierten Medizin nicht zu vernachlässigen.

2.5.Eine integrative und individualisierte Medizin schaffen!

So sehr es in der Medizin des Dranges nach immer neuen Wegen bedarf, so wichtig ist auch deren kritische Reflexion und Diskussion, das zeigt uns das vorliegende Beispiel der „individualisierten“ Medizin deutlich! Der Trend der medizinischen Wissenschaft liegt in der Erstellung allgemeingültiger Richtlinien, die für jeden Patienten Anwendung finden können. Dieser wissenschaftliche Ansatz ist unbedingt notwendig, aber in seiner alleinigen Beachtung wird sogar in dieser „individualisierten“ Medizin der Einzigartigkeit des Menschen als Individuum zu wenig Bedeutung beigemessen.

Deshalb bedarf es unserer Meinung nach einer Erweiterung der Medizin, die vom Gegenteil des Allgemeinen – vom Individuellen des Menschen – ausgeht. Die integrative Medizin beinhaltet diesen individuellen Ansatz. Wie wichtig aber beide Ansätze sind, zeigen die Ansprüche unserer Patienten, die sich Qualität und Individualität in der medizinischen Versorgung wünschen. Eine als „integrative und individualisierte“ verstandene Medizin wäre in der Lage, beide Ansprüche zu erfüllen. Wohingegen die derzeitige Entwicklung der „individualisierten“ Medizin die „individuellen“ Bedürfnisse der Patienten nur begrenzt zu erfüllen verspricht.

Unabhängig von der Bezeichnung allein sind vor allem die in der Diskussion aufgegriffenen Argumente kritisch zu hinterfragen. Wie bereits gezeigt, bringt die Einführung einer rein wissenschaftlich orientierten „individualisierten“ Medizin Folgen mit sich, die grundlegend in die Rechte und die Gesundheitsversorgung der Menschen eingreifen könnten. Ein offener Diskurs hierüber in Wissenschaft und Gesellschaft ist aus unserer Sicht unerlässlich. Es geht dabei um Fragen der Verteilung von Ressourcen, um die Finanzierung und Gerechtigkeit. Außerdem wird deutlich, dass die Notwendigkeit eines solchen Diskurses nicht erst morgen besteht, sondern dass wir ihn bereits jetzt im Rahmen der aktuellen Forschung beginnen müssen. Denn mit der Entscheidung zur verstärkten Investition in diesen Bereich fällt auch indirekt die Entscheidung gegen andere Alternativen. Damit wird in großem Maße auch Einfluss auf die Ausrichtung der Zukunft genommen, in der wir leben und arbeiten werden und für die wir verantwortlich sind.

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Angelina Jolie ließ sich Brüste abnehmen. http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-05/angelina-jolie-brueste-amputation-brustkrebs, Zugriff am 20.09.2015.

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