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Anja Walczak

Feinde in
meinem Kopf

Eine wahre Geschichte,
die Mut macht

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© für die Originalausgabe und das eBook:

2017 nymphenburger in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten.

Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel, unter Verwendung

eines Fotos von Andreas Löffler

Satz und eBook-Produktion:

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

www.Buch-Werkstatt.de

ISBN 978-3-485-06141-4

Mein Leben vor der Geisterbahn

Unser Ersatzteillager hält einiges auf Vorrat für uns bereit. Ist ein Bein kaputt, gibt es ein zweites. Hat ein Rechtshänder Probleme, seine rechte Hand zu nutzen, kann er lernen, mit links zu schreiben. Wir haben zwei Nieren und können eine davon sogar spenden. Mit einer Lungenhälfte zu leben, ist bedrohlich, aber möglich.

Doch was ist, wenn wir kopflos sind? Eine Kopferkrankung gehört zu den unsichtbaren Erkrankungen. Welche Zeitbombe im Kopf tickt, können wir bestenfalls erahnen, wenn sich der Nachbar mal wieder wie ein Irrer aufführt. Auch ich kann nach zwei Kopf-Operationen, epileptischen Anfällen und 31 Bestrahlungen weder Gedanken lesen noch hellsehen. Ich tappe also weiterhin im Dunkeln. Doch ich kann meine Fahrt durch diese Geisterbahn beschreiben. Wie schnell findet man den Ausgang, wenn die Monster lebendig werden? Und wie fühlt es sich an, irre zu sein?

Jung, dynamisch, erfolgreich. Was von diesem Slogan traf auf mich zu?

Jung? Beim ersten Tumor im Kopf zählte ich 33 Jahre. Eindeutig zu jung.

Dynamisch? Auf jeden Fall. Als Reporterin für Funk und Fernsehen jagte ich nach Schlagzeilen im Lokaljournalismus.

Erfolgreich? Meine Auftragslage war super. Und ich hatte große Pläne im Kopf. Doch noch viel mehr im Schädel, wie sich später herausstellen sollte.

Ehrgeiz trieb mich dazu, mich für ein dreimonatiges Praktikum im Ausland zu bewerben. Ich wollte zu einer Zeitung nach New York, dort nicht nur Kaffee kochen, sondern meine dürftigen Englischkenntnisse aufhübschen.

Im Vorfeld der Bewerbung – bei einem Zigarettenhersteller, der das Abenteuer finanziert – hatte ich nichts dem Zufall überlassen. Ich lernte mehr als ein Jahr lang megaviele Englischvokabeln und hatte zum Smalltalk einen Privattrainer engagiert. Schließlich war das perfekte Bewerbungsschreiben in der Landessprache verfasst. Was dann passierte, traf mich tief. Denn perfekt war nicht perfekt genug. Eine Absage. Vielleicht weil ich Nichtraucher bin? Sicher nicht, denn diese Frage war im Vorfeld gar nicht gestellt worden. Doch die Niederlage, mich nicht ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu lassen, war harmlos gegen den Schiffbruch, der mich kurze Zeit später ereilen sollte. Ein unbekannter Sponsor hatte mir stattdessen ein Ticket ins Land der Tumore spendiert. Die Reise: ein Horrortrip mit Abenteuern ganz anderer Art. Kann man aussteigen, wenn man erfährt, dass die Fahrt lebensbedrohlich ist? Ich war gezwungen, den Notausgang zu finden. Und das so schnell wie möglich. Hätte ich vorher gewusst, dass die Reise mehr als acht Jahre dauern würde, hätte ich mich wohl gleich von Bord gestürzt. Plötzlich war ich Opfer. Ein unangenehmer Seitenwechsel. Jahrelang hatte ich über Schicksalsschläge der anderen berichtet. Plötzlich stand ich selbst dem Ungeheuer namens Schicksal gegenüber.

Meine Fahrt ins Neuro-Land dauerte also länger als drei Monate und führte nicht über New York. Immerhin lernte ich eine neue Fremdsprache kennen: nicht Englisch, sondern Fachchinesisch.

Montag, 19. 12. 2005

Die Handtasche

»Hallo! Frau Walczak! Können Sie mich verstehen?« Verschwommen erkenne ich einen Mann in Signalfarben. Ist es ein Notarzt? Offenbar liege ich auf einer Trage in einem Rettungswagen. Ich höre das Martinshorn. Träume ich? Alles wirkt so unwirklich.

»Frau Walczak, Sie hatten einen epileptischen Anfall und sind zusammengebrochen. Hatten Sie so etwas schon mal?«

»Nein«, höre ich mich antworten.

»Wir fahren Sie jetzt ins Krankenhaus. Dort werden Sie durchgecheckt. Bleiben Sie ganz ruhig!«

Das sagt sich so leicht. Warum wache ich nicht auf? Ich kenne doch Alpträume zur Genüge. Aus denen wache ich spätestens JETZT auf. Hat bisher immer geklappt. Warum diesmal nicht? Ich erstarre. Wo ist meine Handtasche? Die Warnung meiner Oma wühlt mich noch mehr auf. Hat sie mich nicht schon immer davor gewarnt? »Kind, passe auf deine Handtasche auf!« Soll sie jetzt etwa recht bekommen? Wo ist sie – meine Handtasche? Geklaut? Handy, Papiere, Geld – alles drin. Wer weiß, wer jetzt gerade dank meiner Geldkarte im Shoppingrausch mit meinem guten Namen Schuhregale leerräumt? Ich gerate in Panik, will aufstehen. Ich muss den Täter stoppen oder wenigstens die Karte sperren lassen. Wie hoch ist mein Dispo?

Irgendwie geht aufstehen nicht. Bin ich gelähmt? Was habt ihr mir verabreicht? Ich merke, ich bin an etwas angeschlossen. Ein Tropf? Ich versuche, mich zu konzentrieren. Mein Gefühl sagt, ich bin im falschen Film. Nebel des Grauens? Jedenfalls nehme ich alles wie im Nebel wahr. Ich sehe viel, aber keine Handtasche.

Die nächsten Minuten erscheinen mir wie eine Ewigkeit voller Angst und Schrecken. Plötzlich der Geistesblitz. Ich greife neben mich und fühle Leder. Das ist sie ja! Das muss sie sein! Die Schlaufe meiner Handtasche. Ich wende mich nach rechts. Mein Kopf schaut nach unten. Da steht sie – meine Tasche. Endlich sehe ich wieder klar! Erschöpft drehe ich mich zurück auf meinen Rücken. Jetzt stört mich auch das Geratter auf der Holperstraße nicht mehr. Erleichterung! Sie ist bei mir. Man hat sie mir nicht geklaut, Oma! Verblüffend, denke ich, es gibt auch ehrliche Menschen, selbst im Alptraum.

Was ist eigentlich passiert? Während der Rettungswagen lauthals durch die Straßen tönt, versuche ich mich zu erinnern. Ich suche ein Alibi für die Tatzeit. Ist es Tag? Ist es Nacht?

Langsam kommen die Erinnerungen zurück. Ich weiß, ich war heute arbeiten. Ich weiß auch, ich hatte viel zu tun – Recherchen, Telefonate, Fakten zusammentragen, Organisatorisches für den nächsten Dreh beim Mitteldeutschen Rundfunk. Ich erinnere mich, dass ich gegen 19 Uhr das Funkhaus verlassen habe. Da saß nur noch unsere Studioleiterin am Computer in der Redaktion – wie so oft. Sie arbeitet viel und lange. Zum Abschied rief sie mir hinterher: »Du bist ja mal wieder spät dran. Schönen Feierabend!« Dass dieser Plan nicht aufgehen sollte – wer hätte das geahnt?

Ich war in Eile. Noch schnell in den Supermarkt, Einkäufe erledigen. Was lag im Einkaufswagen? Keine Ahnung. Aber ich weiß noch, dass ich ein Päckchen Kaffee aus dem Regal nehmen wollte. Ich sehe das Bild vor mir, wie ich zum Regal gehe. Und dann? Filmriss. Ich weiß nicht, was mit mir passiert ist.

Mein Steißbein schmerzt. Ich kombiniere. Ich muss also hingefallen sein. Glück gehabt. Auf den Po gefallen. Es hätte ja auch der Kopf sein können. Wir erreichen das Krankenhaus. Ich werde liegend in die Notaufnahme gerollt. Während des Transports starre ich die weiße Decke an, alles in Bewegung um mich herum – ungewohnte Perspektive, viele mir unbekannte Helfer huschen durch die Gegend. Das Einzige, was Ruhe ausstrahlt, ist meine Handtasche. Ich passe ab sofort mit Argusaugen auf sie auf, Oma! Und ich denke an Omas Lieblingsserie. »In aller Freundschaft« fühlt sich plötzlich total real an. Hat da eigentlich schon mal ein Patient seine Handtasche gesucht? Ich muss Oma mal fragen.

Meine Retter wirken routiniert, schnell, aber nicht hektisch. Kurze, klare Ansagen. Für alle hier – Alltag. Nur für mich nicht. Ich muss mich noch an meine Nebenrolle gewöhnen, ich hatte keine Chance, mich vorzubereiten. Ich frage mich wieder und wieder: Ist das hier echt? Dieses Gefühl von Realitätsverlust wird sich in den kommenden Stunden noch verstärken.

Wenig später warte ich auf einem Stuhl im Krankenhausflur auf mein Untersuchungsergebnis. Ich bin allein auf weiter Flur. Mein Kopf ist durchleuchtet worden. Die Computertomographie, kurz CT, war eine Premiere für mich. Nach einer Filmpremiere gäbe es jetzt die Premierenfeier. Doch im Krankenhaus ist der rote Teppich weiß.

Hab ich mich eigentlich bei dem Notarztteam bedankt? Ich weiß es nicht mehr. Wie hieß der Notarzt? Wie sahen die Retter überhaupt aus? Ich würde sie nicht wiedererkennen. Wie kann ich jetzt schon nicht mehr wissen, was eben war? Haben die aber einen undankbaren Job, denke ich. Sind Lebensretter, und wenn es allen so geht wie mir, wird sich wohl nie jemand bei ihnen bedanken. War denen das bei ihrer Berufswahl bewusst? Und noch was: Irgendwer muss die Retter ja alarmiert haben. Auch dieser Mensch wird wohl nie ein Dankeschön erhalten. Wie schade. Ich hätte mich gern bei ihm bedankt, vor allem dafür, dass er meine Handtasche nicht geklaut hat.

Was wohl mein Lieblingsfreund Micha und meine Lieblingseltern gerade machen? Wenn ich ihnen nachher erzähle, was mir heute passiert ist – staunen werden sie. Warum bin ich eigentlich umgefallen?

Auf jeden Fall habe ich Glück gehabt. Ich male mir aus, was hätte sein können, wenn mir das beim Autofahren passiert wäre. Ich lebe, ich bin nicht schwer verletzt, und durch mich ist niemand anderes verletzt worden. Aber vor allem bin ich froh, dass meine Handtasche bei mir ist.

Ein junger Arzt ruft mich auf. Gut sieht er aus. Ich versuche, mir sein Gesicht einzuprägen, damit ich mich nachher wenigstens an ihn erinnere. »Wie heißen Sie?«, will ich fragen, da sagt er es schon. Er ist mir sympathisch. Nur leider schützt mich das vor seiner Diagnose nicht. »Frau Walczak, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Welche wollen Sie zuerst hören?« Ich muss schmunzeln. Auch Ärzte haben offensichtlich Humor.

»Die schlechte«, antworte ich – in der Aussicht darauf, dass das Drama dann wenigstens ein Happy End haben wird. »Sie haben einen Tumor im Kopf. Faustgroß ist er. Er liegt auf der linken Seite ihres Gehirns. Es ist ein Wunder, dass Sie nicht schon früher umgefallen sind.« Der Faustschlag sitzt. Aber ich stehe noch. Jetzt könnte der Alptraum nun wirklich mal aufhören.

»Und die gute?« Vielleicht sagt er ja: »April, April«. Nur leider weiß ich es ganz genau, heute ist nicht der 1. April. »Der Tumor kann und sollte operiert werden. Er sieht gutartig aus.« Spontan fällt mir der Werbeslogan ein: Alles muss raus!

»Wen sollen wir benachrichtigen? Sie müssen jetzt im Krankenhaus bleiben.« Was? Nein! Wieso bleiben? Diese Ansage passt mir gar nicht. Ich habe in den nächsten Tagen so viele Drehs, Termine, Weihnachten steht vor der Tür und überhaupt. Das geht JETZT nicht. Trotz, Überforderung, Wut. Wut darüber, dass ich einfach nicht aufwache.

»Informieren Sie bitte meinen Lieblingsfreund!« Die Telefonnummer von Micha fällt mir auf Anhieb ein. Völlig verblödet bin ich also nicht – trotz des Tumors. Noch nicht? Auch dass Micha heute Spätschicht hat, weiß ich prompt. Bei ihm dauern die Schichten schon mal bis Mitternacht. Er ist Sportredakteur bei der Zeitung. All das weiß ich. Und ich weiß, auch wenn ich mich im Moment sehr alleine fühle, sie ist bei mir. Ich klammere mich an meine Handtasche.

FAZIT DES TAGES

Ich habe ein sogenanntes Meningeom – so groß wie eine Faust in meinem Kopf. Es drückt aufs Gehirn. Aber ich kann noch denken und fühlen. Noch? Ich merke jedenfalls, dass ich nichts merke von einem faustgroßen Tumor im Kopf. So einen blöden Alptraum hatte ich noch nie. Immerhin gibt es auch im Alptraum Lichtblicke. Meine Handtasche hat mich nicht im Stich gelassen.

Acht Jahre, sechs Monate und 18 Tage später, Montag, 7. 7. 2014

Hautausschlag

8:30 Uhr – mein Handy klingelt im Auto. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit. Meine Hausärztin, die auch meine Freundin ist, ruft an. Schön, dass sie sich meldet. Bei ihr dürfte das Ergebnis aus der Radiologie von meiner Nachkontrolle angekommen sein. Jetzt wird sie unkompliziert – wie so oft – auf diesem Weg Entwarnung geben. Vor ein paar Tagen ist mein Kopf wieder durchleuchtet worden – mit Hilfe der sogenannten Magnetresonanztomographie, kurz MRT. Hier erspähen Radiologen krankhafte Organveränderungen im Kopf. Wenn was wäre, versteht sich.

Inzwischen ist die Kopf-OP acht Jahre her. Der Tumor war vollständig entfernt worden. Also, was sollte jetzt noch sein? Es gibt Ärzte, die meinen, wenn ein Tumor nach fünf Jahren nicht wieder da ist, dann gilt man als geheilt. Also war ich fünf Jahre lang artig nachkontrollieren. Dann hatte ich den rausoperierten Riesentumor quasi zu den Akten gelegt. Ich wollte die Schublade nicht wieder aufziehen. Einmal Tumor mit allen Nachwirkungen hatte mir gereicht. Auch ein Krimi darf ein gutes Ende haben. Kein Interesse an einem Mehrteiler. Ich wollte einfach wieder »normal« und nicht mehr »neuro« sein. Doch dann – nach drei Jahren Untersuchungspause packte mich eine ganz mysteriöse Unruhe. Angst? Könnte da wieder was in meinem Kopf sein, was nicht da hingehört?

Also gut, eine Untersuchung noch – zur Beruhigung, hab ich mir gesagt. Und dann den Schlussstrich ziehen. So war der Plan. Mein Plan.

Meine Ärztin am Telefon: »Anja, fährst du gerade Auto?«

»Ja.«

Sie: »Auf Arbeit?«

Ich: »Ja.«

Sie: »Du musst heute unbedingt mal zu mir in die Praxis kommen.«

Ich: »Ja.«

Sie: »Wann kommst du?«

Ich: »Am Nachmittag nach meinem Dreh.«

Sie: »In Ordnung. Ich bin bis 19 Uhr da.«

Das Blut schießt mir ins Gesicht. Ich fühle, es kann nur etwas Schlimmes bedeuten. Bei allen vorherigen Kontrollen hat sie mir immer kurz und bündig mitgeteilt: »Anja. Es ist alles o.k. Keine Sorge!« Und jetzt? Ich muss zu ihr kommen. Sie hat gefragt, ob ich Auto fahre? Was ist los? Mir ist schlecht. Bitte, bitte, lass es nicht wieder so schlimm sein wie vor acht Jahren. Ich hoffe auf eine Kleinigkeit, die auf dem kurzen Dienstweg nicht zu erklären ist – schon gar nicht am Telefon.

Was, wenn ich doch wieder operiert werden muss? Vor acht Jahren war das ALLES schrecklich. Nun laufen Bildfetzen durch meinen Kopf: wochenlange Demenz, Riesennarbe, blaues Gesicht, Notdurft verrichten im Bett, Kuscheltierklau, alter Mann will bei mir schlafen, Vierbett-Poker, das Kind ohne Haare.

Warum träume ich schon wieder alp? Ich parke mein Auto in der Tiefgarage im Funkhaus. Ich muss mich auf meine Arbeit konzentrieren. Schließlich ist alles vorbereitet. Ich will nicht das Handtuch werfen. Warum auch? Ich weiß doch noch gar nicht, was ist. Ich werde den Dreh durchziehen!

Mein Kamerateam wartet und auch die Hauptdarsteller. Und dabei hab ich gerade heute so ein schönes Thema. Ich bin auf dem besten Weg, beruflich das umzusetzen, was mir Spaß macht. Eine Serie über Hunde. An meiner Seite ein richtig guter Kameramann und ein hervorragender Tonassistent. Als Hauptdarsteller ein Hundetrainer mit seinem Vierbeiner »Socke«, einem schwarzen Labrador-Border Collie-Mix mit einer weißen Pfote – daher der Name. Wir haben einen Termin in einer Schule in Weißenfels. Dem Trainer gelingt es dort mit Hilfe von »Socke«, geistig behinderte Kinder zu besonderen Leistungen anzuspornen. Durch den Hund passieren kleine Wunder. Kinder, die sonst kaum sprechen, artikulieren Kommandos und steuern ihre Motorik besser.

Nur meine Freude darüber ist heute getrübt. Ich bin nicht richtig bei der Sache. Lass die doofen Gedanken nicht zu, Anja! Egal was ist, du kannst es doch nicht ändern, was deine Ärztin dir nachher mitteilt. Und nachher ist eben auch erst nachher. Konzentriere dich, zieh das wie ein Profi durch! Weder Mensch noch Tier merken, wie es mir geht. Ich bin der Schauspieler des Tages! Zurück im Funkhaus produziere ich den Beitrag fertig, sodass er ausgestrahlt werden kann.

17:30 Uhr – ich stehe in der Warteschlange zur Anmeldung bei meiner Ärztin. Vor mir jammert ein Patient so laut über seinen Hautausschlag, dass es wirklich jeder hören kann. Was für ein Luxusproblem, denke ich. Soll ich lautstark kontern, dass ich vielleicht wieder einen Tumor im Kopf habe? Ich hätte so gerne Hautausschlag. Kann man in der Warteschlange Krankheiten tauschen?

»Anja. Da ist wieder was.« Sie hat es tatsächlich gesagt. Mein MRT sei bedenklich. Faustschlag Nummer zwei. Es ist nicht ein Tumor, nein es sind diesmal sogar mehrere. Nicht ein großer, wie beim letzten Mal, stattdessen kleinere, verteilt in der linken Kopfhälfte. Drei zeigt das MRT. Meine Hausärztin hat mir bereits einen Beratungstermin bei den Spezialisten in der Klinik von damals.

»Ich will nicht wieder in dieses Krankenhaus«, wehre ich ab. Meine schlechten Erfahrungen vom ersten Mal sind mir noch immer mit Schrecken im Bewusstsein. Dort war ich vor acht Jahren operiert worden. Erfolgreich zwar, aber das Prozedere während des Genesungsprozesses habe ich als Katastrophe in Erinnerung. Freie Arztwahl, denke ich. Und diesmal hab ich eine Wahl. Ich will in eine andere Klinik in Halle, weil diese in meinem Freundeskreis einen besseren Ruf hat. »Gut, dann besorge ich dir da auch noch einen Termin, du hörst dir beide Meinungen an und entscheidest.« Und sie schiebt nach:

»Anja, ich möchte jetzt nicht, dass du noch Auto fährst. Hörst du, das ist zu gefährlich.«

»Geht klar«, höre ich mich sagen.

»Hätte ich das eher gewusst, hätte ich dich in Schwerin nicht mitlaufen lassen«, sagt sie noch. Unglaublich. Vorgestern erst war das. Da war meine Welt noch in Ordnung. Jetzt kommt mir das eine Ewigkeit her vor. Dabei spüre ich den 15-Kilometer-Lauf noch in den Knochen. Alles ging gut – selbst mit diesen Tumoren im Kopf. Merkwürdig. Ich hatte weder Kopfschmerzen noch Seheinschränkungen, Benommenheit oder Gleichgewichtsstörungen. Das können Hinweise auf Tumore sein.

Kurz träume ich mich zurück. Der sogenannte »Schweriner Fünf-Seen-Lauf« ist ein herrlicher Naturlauf. Eine meiner besten Freundinnen, meine Lieblingsantje, ist auch mitgelaufen. Wir fühlten uns unschlagbar. Und nun? So fit und doch im Kopf verseucht? Bin wirklich ich gemeint oder ist das Ganze eine böse Verwechslung? Diese Fortsetzung passt mir gar nicht. Filme werden wiederholt. Aber diesen Film würde ich ausschalten, wenn ich könnte. Kann mich mal bitte jemand kneifen? Mit einem Mal liegen zwischen vorgestern und heute Welten.

Ich setze mich ins Auto und fahre nach Hause.

FAZIT DES TAGES

Trotz, Überforderung, Wut. Wieder mal darüber, dass ich einfach nicht aufwache. Und Wut, dass ich keinen Hautausschlag habe.