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Helga Leeb

Die Geschichte mit Jonathan

Roman

LangenMüller

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© für das eBook: 2017 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 1989 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Atelier Seidel – Verlagsgrafik, Teising

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8277-4

Für Jonathan

Inhalt

Jonathan hat Geburtstag

Jonathan plant eine Urlaubsreise

Jonathan kann das auch

Jonathan kennt einen Heilpraktiker

Jonathan kann nicht Italienisch

Jonathan kauft sich ein Sakko

Jonathan möchte ein ruhiges Hotelzimmer

Jonathan leidet an Grippe

Jonathan macht ein Kompliment

Jonathan verliert keinen Schlüssel

Jonathan fehlt ein Hund

Jonathan ist falsch angezogen

Jonathan weiß alles

Jonathan meistert Krisen

Jonathan hat Geburtstag

Jonathan hat schrecklich gern Geburtstag. Irgendwann einmal in grauer Vorzeit muß ich seinen Geburtstag vergessen haben. Behauptet er. Ich kann mich nicht daran erinnern. Vermutlich kannten wir uns damals erst eine knappe Woche, und mir erschien es wichtiger, Jonathans ruheloses Widder-Wesen zu ergründen als seine Lebensdaten.

Jedenfalls fürchtet Jonathan seither, irgendein Familienmitglied könne nicht an seinen Geburtstag denken. Deshalb beginnt Jonathan – gründlich wie er ist – seine Umwelt frühzeitig auf diesen herausragenden Tag einzustimmen.

Etwa so: Es ist Mitte Dezember. Ein Sonntagmorgen. Jonathan, Christian, Michi und ich sitzen morgenmuffelig, aber jeder für sich zutiefst zufrieden, unter einem leise vor sich hinbröselnden Adventskranz am Kaffeetisch, kippen wahlweise Kaffee, Tee oder Kakao in uns hinein, kleckern mit weichen Eiern und mampfen genüßlich Buttersemmeln und Weihnachtsstollen. Nur Michi nicht. Er besteht, seit er eine Freundin hat, die der Naturkost anhängt, auf zähen Roggengebilden, die sehr gesund sind, grauenhaft schmecken und schwer im Magen liegen.

In Bayern 3 singt ein Kinderchor »Leise rieselt der Schnee«, was objektiv nicht zutrifft, denn vor den Fenstern rieselt nur Regen und über uns – wie gesagt – der Adventskranz. Trotzdem: Ganz langsam bewegen sich meine Gedanken in Richtung Weihnachten. Wer holt meine Mutter am Heiligen Abend ab? Nein – diesmal schütten wir keinesfalls Salz anstatt Zucker in den Punsch, ich werde die Behälter noch extra kennzeichnen. Die Weißwürste werden nicht platzen, und gesungen wird heuer auch nicht. Das halte ich einfach nicht mehr aus. Ich werde statt dessen eine stimmungsvolle Langspielplatte kaufen, ach ja, und was schenke ich dieses Jahr Jonathan?

Da blickt Jonathan plötzlich schwermütig durch seine neuerdings modisch-sachliche Brille mit Silberfassung und sagt: »Es sind jetzt nur noch zwölf Wochen bis zu meinem Geburtstag. Er fällt diesmal auf einen Samstag.«

Die Familie schaut irritiert auf, ich schlucke meinen letzten Bissen Stollen hinunter und erwidere: »Aber Jonathan, jetzt ist doch zuerst einmal Weihnachten, und zuvor haben leider noch meine Mutter, dein älterer Sohn und Tante Mia Geburtstag.«

»Ich weiß«, bemerkte Jonathan nachdrücklich. »Ich wollte ja nur mal feststellen, daß mein Geburtstag näherrückt.«

Kurz nach Weihnachten. (Die Weißwürste waren geplatzt, wir haben doch gesungen, dem Punsch merkte man fast gar nicht an, daß meiner Mutter doch ein kleiner Löffel Salz hineingeraten war, bevor sie mit gewohnter Energie zum Zucker griff.) Im Fernsehen erklärt Bobby Ewing gerade J. R., daß er Pam zum drittenmal heiraten werde, und J. R. sagt etwas furchtbar Gemeines. Da stellt Jonathan fest: »Wenn wir Ende Februar in Skiurlaub gehen, sind wir bis zu meinem Geburtstag zurück.«

»Klar sind wir dann zurück«, antworte ich beschwichtigend, denn Sue Ellen betritt gerade mit bösem Lächeln die Terrasse der Southfolk-Ranch.

»Ich meine ja nur, weil wir einmal an meinem Geburtstag noch in St. Moritz waren«, wirft Jonathan ein.

»Ich erinnere mich. Wir gingen aus und haben versucht, mit unseren schweren Zottelschuhen Rock’n’Roll zu tanzen. Es war sehr lustig.«

»Findest du? Also, ich weiß nicht. Ich feiere meinen Geburtstag lieber zu Hause«, sagte Jonathan mit einem Anflug von Schwermut in der Stimme. Schade, daß ich nie erfahren habe, warum Sue Ellen türknallend das Schlafzimmer verlassen hat. Ab Februar weist Jonathan praktisch jeden dritten Tag in irgendeinem Zusammenhang darauf hin, daß sich sein Geburtstag nähert. Eine gewisse Nervosität breitet sich aus. Die gänzlich unwahrscheinliche Möglichkeit, Jonathans Geburtstag zu vergessen, beginnt durch die ständige Erwähnung Gestalt anzunehmen und sich schattenhaft über das tägliche Leben zu breiten.

Ab Ende Februar ermahne ich die Söhne in regelmäßigen Abständen: »Ihr wißt doch, daß euer Vater bald Geburtstag hat!«

»Klar wissen wir das«, beruhigt mich Michi. »Was schenken wir ihm denn?« fragt Christian fröhlich.

»Na, was wohl? Das gleiche wie jedes Jahr«, erwiderte Michi trocken. »Ich eine Krawatte, du einen Krimi, die Mama ein Hemd und einen Pullover und die Oma einen Geldbeutel oder einen Birnenschnaps.«

Ich lasse die Frauenzeitschrift sinken, für die ich seit vielen Jahren arbeite, und sage: »Hört mal, ich glaube, wir machen uns das zu einfach. Immer bekommt Jonathan zu Weihnachten von mir ein schickes Hemd mit Pullover, von Michi eine Krawatte, von Christian einen Krimi und von Oma einen Geldbeutel oder einen Birnenschnaps. Und was bekommt er zum Geburtstag? Von mir ein schickes Hemd mit Pullover, von Michi eine Krawatte, von Christian einen Krimi und von Oma einen Geldbeutel oder einen Birnenschnaps.«

»Das kommt davon, weil er seine Bücher alle umsonst kriegt«, bemerkt Michi seufzend.

»So ist das eben, wenn man beruflich mit Verlagen zu tun hat«, erkläre ich. »Trotzdem. Hier schreibt eine Leserin, es sei unglaublich phantasielos, Männer immer mit den gleichen Dingen zu beschenken. Man müsse sich nur anstrengen, dann fiele einem schon etwas Originelles ein.«

»Wieso?« fragt Christian erschrocken. »Jonathan freut sich doch immer sehr über unsere Geschenke.«

»Und überhaupt, was soll man einem Vater denn sonst schenken?« erkundigt sich Michi ratlos. »Ich weiß es auch nicht so recht«, gebe ich zu. »Aber ich erinnere mich, daß wir in einer der Nummern vor Weihnachten einen Sonderteil gedruckt haben mit dem Titel: Hundert originelle Geschenke für ihn. Ich bin in der Vorweihnachtszeit nicht dazu gekommen, mich damit zu befassen. Aber das Heft liegt sicher noch irgendwo herum. Wir könnten’s uns ja mal zusammen ansehen.«

»Wenn du meinst«, erwidert Christian gedehnt. »Aber eigentlich sollte ich Vokabeln lernen. Wir schreiben morgen eine Lateinarbeit.«

»Und ich muß Puppi anrufen«, teilt Michi mit. »Ich erwarte jetzt, daß ihr hierbleibt und mit mir gemeinsam darüber nachdenkt, womit wir Jonathan zum Geburtstag eine Freude machen können«, sage ich nachdrücklich, quetsche mich hinter den Schaukelstuhl und angle die Zeitschrift mit den Geschenktips aus dem Stapel in der Ecke beim Bücherregal.

»Hier«, lese ich vor, »origineller Pullover in lilagelbem Kringelmuster mit Spatenkragen, Arbeitsaufwand für geübte Hobby-Strickerinnen 81 Stunden.«

»Also geübt bist du ja nicht. Wenn du jeden Abend drei Stunden lila-gelbe Kringel strickst, brauchst du ungefähr dreißig bis vierzig Tage«, stellt Christian fest. »Natürlich nur, wenn du nie ins Kino gehst, den Italienisch-Kurs ausfallen läßt und dich wahnsinnig konzentrierst. Weil Kringel stricken – hier steht’s – erfordert äußerste Konzentration.«

»Du bist blöd«, mischt sich Michi ein. »Da kann sie doch gleich wieder einen Pullover kaufen. Aber schau, da ist was Tolles: Sportuhr in aktuellen Schockfarben, über dem Skianzug am Oberarm zu tragen. Für 385 Mark.«

»Kannst du dir den Papa in seinem uralten Anorak mit einer schockfarbenen Sportuhr am Oberarm vorstellen?« ruft Christian, und beide beginnen haltlos zu kichern.

»Ihr habt nicht den nötigen Ernst«, stelle ich fest. »Wie wär’s zum Beispiel mit einem Mini-Malkasten für ›Leute, die gern im Urlaub aquarellieren‹ oder hier – mit einem ›Tisch-Roboter, der die Brösel absaugt, ohne runterzufallen‹?«

»Also aquarellieren tut der Papa im Urlaub nicht«, kommentiert Michi. »Bröseln beim Frühstück tut er schon. Sehr sogar. Aber daß er die Brösel mit einem Tischroboter wegmacht, glaub ich nicht.«

»Schau mal da«, Christian gerät in Begeisterung. »Ein stabiler Hornkamm aus Irland. Für 21 Mark. Den könnte ich mir leisten. Das ist ein Geschenk, das hat was Internationales.«

»Aber dem Papa seine Haare sind doch gar nicht mehr so üppig«, mischt sich Michi ein. »Deswegen brauchst du nicht gleich so streng schauen, Mama, ich meine, man sieht fast überhaupt nicht, daß sie in der Mitte ein bißchen dünn werden, da, wo du ihn beim Fernsehen immer kraulst.« Michi ist mehr für den handlichen Halogen-Brandlöscher auf Seite 108 oder für den elektrischen Schuhputzautomaten.

»Der ist zu teuer«, sagt Christian. »Und außerdem ist es dem Papa immer sehr peinlich, wenn er die Schuhe geputzt bekommt.«

»Nur im Ausland, wenn er sich dazu auf einen öffentlichen Stuhl setzen muß. In der Türkei zum Beispiel«, werfe ich ein. »Daheim ist es ihm überhaupt nicht peinlich.«

»Von meinem Taschengeld kann ich mir so ein Geschenk sowieso nicht leisten«, bemerkt Michi und wendet sich einem »Duschgel in Entenform für das Kind im Manne« zu 36 Mark zu, während Christian den »Attachecase aus bordeauxrotem Boxcalf-Leder« zu 674 Mark überblättert und über einen »Kasten voller Bleistifte in allen Härtegraden« zu 22 Mark nachdenkt. Es wird ein langer Nachmittag.

Zuletzt hat Jonathan wirklich Geburtstag. Wir erwarten ihn am Frühstückstisch und singen wie immer laut und mißtönend »Happy birthday to you«. Jonathan schreitet beschwingt an seinen Platz am Eßtisch, blickt gerührt auf die Päckchen und Pakete zwischen Kaffeekanne und Geburtstagskerze und scheint leicht irritiert von deren ungewöhnlicher Form.

Zuerst öffnet er Christians Geschenk. »Was ist denn das?« fragt Jonathan verwirrt.

»Das ist ein Miniaturauto aus Plexiglas mit Bleistift, Anspitzer, Schere und Lineal. Das stellt man im Büro auf den Schreibtisch. Irre schick und praktisch.«

»Aha.« Jonathan rückt die Brille zurecht. »Also toll, wirklich wunderbar. Hoffentlich hat es auf meinem Schreibtisch noch Platz.«

Er wickelt das nächste Geschenk aus.

»Das ist«, erklärt Michi, »eine Supertaschenlampe aus Flugzeugaluminium mit verstellbarem Halogen-Lichtstrahl. Damit kannst du Spotlicht oder Flutlicht machen.«

»Unglaublich. Und wo?«

»Praktisch überall. Im Auto, an der Haustür, auf Bergtouren oder nachts im Bett.«

»Ich verstehe«, sagt Jonathan. »Um Gottes willen, was ist denn das?« erkundigt er sich dann und wickelt das Präsent seiner Schwiegermutter aus, das knollenartig von mehreren unterschiedlichen, bereits gebrauchten, aber sorgsam glattgestrichenen Geschenkpapierhüllen umgeben ist.

»Das ist«, sage ich, »ein Luffaschwamm in der Form eines Boxhandschuhs an einem praktischen Stiel, damit man sich in der Badewanne den Rücken leichter bürsten kann. Kommt aus der originellsten Bade-Boutique Deutschlands. Italienischer Entwurf.«

»Aber bisher hast doch immer du mir den Rücken gebürstet. Das war sehr angenehm«, murmelt Jonathan hilflos.

Endlich wendet er sich meinem Geschenk zu. Aus goldglänzender Hülle taucht ein brauner Knubbel auf, der wie eine Salatkartoffel aussieht.

»Das ist ein Autoschalthebel aus Wurzelholz, ein sogenannter Handschmeichler, von Hand geschnitzt und poliert«, rufe ich stolz. »Ohne Handschmeichler fährt heute praktisch niemand mehr Auto, der etwas auf sich hält.«

»Das war alles sicher sehr teuer«, bemerkt Jonathan gerührt.

»Ziemlich, aber dafür sind es lauter Geschenke im neuesten Styling, und die Hauptsache ist, daß du dich freust.«

»Und wie«, sagt Jonathan und räuspert sich. »Ich danke euch. Ich danke euch sehr.«

Abends sitzen wir wie jedes Jahr beim Italiener. Die Luft ist schwer und warm vom Duft nach Wein, Gewürzen und Knoblauch. Jonathan hebt sein Glas und hält eine kleine Rede. »Es war ein wunderschöner Geburtstag mit wunderschönen Geschenken«, sagt er. »Aber für nächstes Jahr habe ich eine Bitte. Nächstes Jahr hätte ich von Christian gern einen Krimi und von Michi eine Krawatte und von der Oma einen Geldbeutel oder den Birnenschnaps, von dem allen immer so schlecht wird. Und von dir« – Jonathan sieht mich schuldbewußt an – »von dir hätte ich am liebsten ein Hemd und einen Pullover. Du sagst doch selber immer, daß man davon nie genug haben kann.«

»Also weißt du…«, beginne ich eine längere Erklärung.

»Natürlich nur dann«, unterbricht mich Jonathan, »wenn ihr meinen Geburtstag nächstes Jahr nicht vergeßt, wie es ja durchaus schon passiert ist.«

Jonathan plant eine Urlaubsreise

Jonathan liebt es, Urlaubsreisen zu planen. Deshalb stapeln sich das ganze Jahr über auf dem zierlichen, dreistöckigen Beistelltischchen neben seinem Schreibtisch Prospekte, Landkarten, Reiseführer und sorgfältig ausgeschnittene Zeitungsartikel.

Manchmal klappen die einzelnen Etagen des Tischchens – ursprünglich nur zum Abstellen von ein paar Sherry-Gläsern gedacht – unter der Last zusammen, und alles liegt am Boden. Irgend jemand bringt dann die winzigen Ablageflächen mittels sinnvoll angebrachter, aber nicht sehr stabiler Scharniere erneut in waagrechte Stellung und wirft den Papierkram wieder drauf. Jonathan blickt abends zerstreut auf sein Tischchen und murmelt: »Komisch, ich dachte, ich hätte Marrakesch ganz oben liegen, wieso liegt da jetzt Zermatt? Hat hier womöglich jemand aufgeräumt?« Was jedes Familienmitglied sofort und wahrheitsgemäß verneint.

Wir sind gerade von einem ausgiebigen Inselurlaub in Süditalien zurückgekommen – braun, wohlig erschöpft, bis obenhin angefüllt mit Zikadengesang, Pinienduft, goldgelbem Wein und dem Geruch nach Holzkohlenfeuer und gegrilltem Fisch. Wir haben noch das Tuckern des kleinen Motorboots im Ohr, das uns jeden Morgen in eine andere Badebucht brachte, wir sehen noch das türkisfarbene Gefunkel des Meeres, wenn wir die Augen schließen, und spüren den sonnenwarmen Kieselstrand unter den Füßen.

Wir versuchen gerade wieder im Alltag Tritt zu fassen. Die Badetücher baumeln an der Leine, die ersten Telephonate sind geführt, die Erzählungen über den Urlaub beginnen ihre endgültige Form anzunehmen und zu handlichen Kurzfassungen zu schrumpfen, da sagt Jonathan zwischen einem Foul an Rummenigge und einem sensationellen Fallrückzieher von Pflügler (oder war es Eike Immel, ach nein, der steht ja zwischen den Pfosten, und zwar bisher ungeprüft, wie der Fernsehkommentator erklärt): »Ich hab mir heute mal Prospekte von Zypern, Marokko und der Côte dAzur bestellt. Du weißt ja, ich habe noch acht Tage Resturlaub. Wenn wir die Ende Oktober nehmen, muß man schon sehr aufs Klima achten. Eigentlich kommt nur noch Zypern oder Afrika in Frage. Es sei denn, wir fahren nach Südtirol. Aber da sind wir ja oft übers Wochenende. Vielleicht würde es uns da zu ruhig sein. Was denkst du?« Ich denke: Um Himmels willen, bloß nicht schon wieder verreisen. Ende Oktober – bis dahin sind es ja nur noch knappe fünf Wochen. Ich muß noch ein schwieriges Interview machen und eine Glosse schreiben. Und es gibt zwei interessante Kunstausstellungen in München und mindestens drei Filme, die wir sehen wollten. Und Max und Bettina haben uns an den Chiemsee eingeladen. Und Bayern ist im Herbst so schön, und ich mag einfach keinen Fischerhafen mehr sehen, sondern eine gemütliche Bergtour machen.

All das denke ich, sage es aber nicht. Statt dessen äußere ich etwas vage Zustimmendes in der Art: »Wir haben ja noch eine Menge Zeit. Du planst unsere Urlaubsreisen immer so wunderbar. Ich bin sicher, daß du das Richtige findest.«

Jonathan nickt befriedigt und beugt sich über Landkarten, in die er mit Rotstift Kreuze und Kringel malt.

Ungefähr drei Tage später – im Sportstudio wird gerade das Foul an Rummenigge kommentiert und der Fallrückzieher von Pflügler, oder war es doch Thon? – sagt Jonathan zu mir: »Bis Ende Oktober sind es ja nur noch viereinhalb Wochen. Und du mußt noch ein Interview und eine Glosse schreiben. Und wir wollten doch die beiden Kunstausstellungen sehen und mindestens drei Filme. Und Max und Bettina haben uns an den Chiemsee eingeladen und überhaupt, im Herbst ist Bayern so schön. Ich habe viel mehr Lust auf eine gemütliche Bergtour als auf einen Fischerhafen. Vielleicht sollten wir meinen Resturlaub aufs Frühjahr verschieben?«

Ich sage: »Das ist eine großartige Idee«, und Jonathan plant weiter, sammelt Tips, Hoteladressen und Prospekte, sein Tischchen neigt sich bedenklich, und bald wird es wieder zusammenklappen.

Es passiert wirklich selten, daß Jonathan Planungsfehler unterlaufen. Aber manchmal geschieht es doch. Ich erinnere mich an unsere erste gemeinsame Auslandsreise. Es sollte nach Jugoslawien gehen, damals noch ein ungewisses, östliches Land, arm an Touristen, aber reich an wildromantischen Küsten und Inseln voller zerbröckelndem k.- und k.-Charme. Wir hatten wenig Geld und großes Fernweh und wollten mit unserem klapprigen DKW-Coupé, einem Vorkriegsmodell aus achter Hand, tief in den Süden bis in die sagenhafte Stadt Ragusa.

Kurz vor unserer Abfahrt brachte Jonathan eine phantastische Nachricht nach Hause. In Jugoslawien, hatte er aus zuverlässiger Quelle gehört, herrsche ein verzweifelter Mangel an Feuersteinen.

»An was?« fragte ich.

»Feuersteinen«, wiederholte Jonathan. »Feu-er-stei-nen. Das sind diese kleinen Dinger, die in ein Feuerzeug gehören, damit es funktioniert.«

»Aha.«

Ich rauchte nicht, Jonathan benutzte Streichhölzer, wenn er sich, was nur selten vorkam, eine Pfeife ansteckte, auch sonst kannte ich niemanden, der auf Feuersteine angewiesen war. Doch ja – Tante Ella hatte zu ihren Lebzeiten ein kleines silbernes Feuerzeug benutzt, um sich ihre Zigarillos anzuzünden, deren Rauch sie tief in die von Korsettstangen gestützte, mächtig vorspringende Brust sog.

»Seltsam, daß es in Jugoslawien keine Feuersteine gibt«, bemerkte ich. »Ich hätte eher gedacht, daß dort Bohnenkaffee und Nylonstrümpfe fehlen.«

»Die fehlen sicher auch«, vermutete Jonathan. »Aber Feuersteine sind für uns viel praktischer. Nehmen wir mal an, wir besorgen uns tausend Stück, die nehmen kaum Platz im Gepäck weg, niemand am Zoll interessiert sich dafür, und in Jugoslawien verkaufen wir sie in kleinen Portionen. Das ist so, als hätten wir ein dickes Scheckbuch dabei.«

Ich fand, das sei eine unmoralische, kapitalistische Handlungsweise.

Jonathan fand, man müsse das nicht philosophisch, sondern sachlich sehen. »Die Jugoslawen brauchen Feuersteine und haben keine. Wir haben welche und verkaufen sie ihnen. Das ist doch vernünftig.«

»Sehr vernünftig«, stimmte ich zu.

Zwei Wochen später saßen wir müde und glücklich unter einer Platane in der Altstadt von Split, die damals noch nicht von häßlichen Hochhaussiedlungen eingeschnürt war, und bestellten das einzige Getränk, das man bestellen konnte: einen süßlichen, faden Himbeersaft. Er hieß »Malina«, wie das berühmte Buch von Ingeborg Bachmann. Ich mochte beide nicht.

Jonathan öffnete die Brieftasche, stellte fest, daß unser Vorrat an Dinarscheinen zur Neige ging, und sagte entschlossen: »Jetzt greifen wir zu den Feuersteinen.«

Er winkte den Ober heran und fragte halblaut: »Feuersteine?«

»Bittasähr?« fragte der Ober zurück. »Feu-er-stei-ne«, wiederholte Jonathan langsam und bedeutungsschwer.

»Ah, Feuersteine!« rief der Ober begeistert. »Ja, ja, Feuersteine, gute Feuersteine, prima Qualität.«

»Wie viele?« fragte Jonathan.

»Hundert, zweihundert?« schlug der Ober vor. »Also zweihundert«, erwiderte Jonathan und warf mir einen triumphierenden Blick zu. Dann erkundigte er sich: »Wieviel Dinar für zweihundert Feuersteine?«

Der Ober wiegte nachdenklich sein graues Haupt: »Besser Deutschmark.«

»Nein, nein«, winkte Jonathan ab. »Besser Dinar.«

»Gutt, Dinar. Warten Momänt«, sagte der Ober und verschwand.

»Na, das läuft doch prima«, stellte Jonathan fest und schlug locker ein Bein über das andere.

Der Ober kam zurück, schaute sich sorgfältig nach beiden Seiten um, neigte sich tief zu Jonathan herab, zog eine Brieftasche aus dem Jackett und entnahm ihr einen flachen grauen Plastikbeutel. »Wieviel Dinar Sie mir geben für zweihundert Feuersteine«, fragte Jonathan verschwörerisch.

»Sie wollen Dinar für Feuersteine?« fragte der Ober erschrocken zurück.

»Ja, klar. Wir machen hier Urlaub, verstehen Sie? Wir brauchen viele Dinar. Sie brauchen Feuersteine.«

»Klar, verstehe«, sagte der Ober. »Aber ich brauche nix Feuersteine. Ich habe viele Feuersteine. Hier im Beutel. Viel gute Feuersteine, prima Qualität. Ich glauben, Sie kaufen meine Feuersteine!«

»Warum soll ich denn Feuersteine kaufen?« rief Jonathan.

»Warum soll ich kaufen?« rief der Ober. »Gibt genug viel Feuersteine in Jugoslawien. Haben Herr vielleicht Nylonstrimpf oder Bohnenkaffee?« Jonathan schaute mich hilfesuchend an. Ich schüttelte traurig den Kopf.