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Inhalt

Prolog: Der Tag, an dem die Erde nicht stillstand

1. Am Abgrund

2. Zukunft braucht Herkunft

3. Ein schlimmer Fehler

4. Der junge Wilde

5. Dunkelste Nacht

6. Zerplatzte Träume

7. Das größte Geschenk

8. Plan versus Realität

9. Lhotse oder der schlechteste Film der Welt

10. Das perfekte Chaos

11. Eine schlechte Entscheidung

12. Im Angesicht des Todes

13. Besser scheitern

14. Dark Night of the Soul

15. Das Tor zur Welt

16. Geben

17. Die Quelle des Wissens

18. Allein ohne Sauerstoff

Epilog: Lerne und wachse

Prolog: Der Tag, an dem die Erde nicht stillstand

Ich halte das Handy so fest umklammert in meiner Hand, als ob mein Leben davon abhängen würde. Instinktiv ducken wir uns hinter ein kleines Zelt, als die Lawine mit voller Wucht einschlägt und über uns hinwegschießt. Nur mein Arm ist noch immer in die Luft gestreckt und trotzt der gewaltigen Druckwelle. Wenn uns dieses Mistding trifft, dann möchte ich es zumindest auf Video haben. Das Laufen auf fast 5400 Meter hat mir die Luft aus den Lungen gesaugt. Ich bin völlig außer Atem. Vereinzelt höre ich im Getöse Rufe und Schreie, die jedoch keinen Sinn ergeben und die die pure Angst der Menschen um uns herum widerspiegeln. Ich kann nicht fassen, wie schnell sich die Zeltstadt, die sich über eine Länge von etwa 1,7 Kilometer auf einer Gletschermoräne erstreckt und um diese Jahreszeit fast tausend Menschen aus aller Welt beherbergt, in ein Chaos verwandelt.

Eigentlich ist der Morgen des 25. April 2015 ein Morgen wie jeder andere. Um acht Uhr ist Frühstückszeit im Base Camp. Da ich noch einen ganzen Monat Zeit habe, bis das optimale Gipfelwetter eintrifft, gönne ich mir heute etwas Ruhe und sehe dem Tag entspannt entgegen. Obwohl ich mich hier auf 5360 Metern im Everest Base Camp befinde, ist mein Ziel ein anderes. Ich möchte auf den Lhotse, den vierthöchsten Berg der Erde. Neben ihm ragt der Mount Everest empor, mit welchem er über dessen Südsattel verbunden ist. Mit seinen 8516 Metern und seinen von Schnee und Eis bedeckten Flanken und der imposanten Südwand stellt der Lhotse eine nicht minder gewaltige Erscheinung dar als der um knapp 330 Meter höhere Mount Everest, welcher vom Base Camp aus nur als kleine schwarze Pyramide im Hintergrund ausgemacht werden kann.

Morgen möchte ich noch einmal zum Camp 1 und dann weiter zum Camp 2 auf 6400 Meter Höhe aufsteigen, um neue Lebensmittel- und Brennstoffreserven anzulegen und mich weiter zu akklimatisieren. Ich verzichte bei meinen Expeditionen ganz bewusst auf die Unterstützung von Trägern oder auf Flaschensauerstoff. Oberhalb des Base Camps bin ich ganz auf mich allein gestellt. In diesen Höhen, weit oben am Berg, gibt es niemanden, der mir in einer Notsituation helfen könnte. Alles andere käme mir so vor, als ob ich die Umgebung an meine Kräfte anpassen würde. Es würde sich wie Betrug anfühlen. Doch die Herangehensweise an sogenannte Solo-Expeditionen ist zeitintensiv und auch kräftezehrend. Da ich leider nicht an einem Tag bis zum Gipfel hoch- und wieder runterlaufen kann, ist die Planung, was ich wann und wo am Berg brauche, essenziell. Planungsfehler können mich im besten Fall den Gipfel kosten, im schlimmsten Fall haben sie aber ernsthafte, vielleicht sogar lebensbedrohliche Konsequenzen. Dass ich mich nun in dieser gefährlichen Situation befinde, hat aber definitiv nichts mit einem Planungsfehler zu tun.

Ich sitze mit meinen Freunden im Essenszelt, als der Tisch plötzlich zu wackeln beginnt. Aber niemand reagiert besorgt, wir finden es sogar richtig lustig. Ein Erdbeben? Wie aufregend! Wir stürmen nach draußen, um uns umzusehen. Ich habe noch nie ein Erdbeben miterlebt und dieses scheint sogar ein starkes zu sein. Der Boden bewegt sich und schwankt, als befände ich mich auf einem kleinen Segelboot bei hohem Wellengang auf offener See. Ein tosendes Grummeln und Brummen liegt in der Luft, als ob ich im Herzen eines laufenden Dieselmotors stehen würde. Wir lachen und suchen mit unseren Blicken den Berg nach kleinen Stein- und Eislawinen ab, die sich polternd den Weg nach unten bahnen. Meine große Kamera liegt im Zelt, deshalb hole ich mein Handy heraus und beginne zu filmen. Das gibt bestimmt einen interessanten Eintrag für meinen Blog. Ich schaue in die mittlerweile durch einen Dunst eingehüllte Landschaft und bemerke plötzlich, wie die Menschen, die vor mir stehen, wegzulaufen beginnen. Ich blicke mich um und der Anblick dessen, was sich gerade vor meinen Augen abspielt, trifft mich unerwartet und resultiert in einem gewaltigen Schock. Ich sehe eine gigantische Lawine auf mich zurasen. Ich kann ihre Maße nicht einschätzen, aber so groß stelle ich mir einen Weltuntergangs-Tsunami vor. Ich bleibe einfach stehen, es ist mir unmöglich, mich zu bewegen. Mein Körper ist wie gelähmt. Um mich herum ist mittlerweile das Chaos ausgebrochen. Menschen laufen um ihr Leben. Laufen an mir vorbei, in alle Richtungen. Ich bin wie festgewachsen. Während sich die Lawine immer höher vor mir auftürmt, hämmert nur eine einzige Frage in meinem Kopf: »Macht es überhaupt Sinn wegzulaufen?!« Mein Gehirn stellt auf Autopilot um und sendet ein simples Signal, das sich laufend wiederholt: »Schmeiß dich hinter irgendetwas.« Ich renne los. Ein aus Stein gebauter Stupa zieht an mir vorbei. »Schmeiß dich hinter irgendetwas.« Ich lasse zwei Zelte hinter mir. »Schmeiß dich hinter irgendetwas.« Ich sehe Kuntal und Taro, zwei meiner Freunde, hinter einem Zelt hocken und springe hinzu. Ob das Zelt dieser Naturgewalt überhaupt standhalten kann, ist in diesem Moment nebensächlich. Ich kann jetzt nur noch abwarten.

Wie viel Zeit ist seit dem ersten Wackeln und jetzt vergangen? Sekunden, Minuten, Stunden? Zack! Sofort werde ich wieder aus meinen Gedanken gerissen, denn feiner Schneestaub dringt in meinen Mund und meine Nase ein. Ich kann kaum atmen. Es fühlt sich an, als ob ich ersticken würde. Ich bin kurz davor, in Panik zu geraten. Aber alles fühlt sich ein wenig seltsam und distanziert an, fast so, als ob ich die Kontrolle über Körper und Geist verloren hätte. Weil ich vor der Lawine gemütlich im Base Camp gesessen habe, ohne mich viel zu bewegen, habe ich zum Glück eine dicke Daunenjacke an, die ich nun als zusätzlichen Schutz über meine beiden Freunde und mich ausbreite. Für mich reine Selbstverständlichkeit. Die enorme Druckwelle wird dadurch etwas abgeschwächt. Wir ringen nach Luft und pressen zwischendurch ein »Fuck« heraus, um unserer Angst und Anspannung Ausdruck zu verleihen. Alles um mich herum beginnt zu verschwimmen. Mein Herz hämmert eine Tracht Prügel in meinen Körper. Alles um uns herum wird immer weißer. Ich habe das Gefühl, dass die Umgebung mit jedem Herzschlag pulsiert. Ich weiß nicht, was hier gerade passiert. Ich kann nicht denken. Aber ich spüre eins genau: Ich werde hier sterben. Und es macht mir nichts aus.

Gestorben bin ich offensichtlich nicht. Sonst hätte ich dieses Buch nicht schreiben können. Das Video, mit dem ich diesen Moment festhielt, habe ich einen Tag später zur Berichterstattung auf YouTube hochgeladen. Es ist ein Zeugnis darüber, wie ich und die anderen überlebt haben, zugleich dokumentiert es einen Moment des Glücks, den ich teilen wollte. Auch um allen, die sich um mich sorgen, zu zeigen, dass es mir gut geht. Mein Status-Update verbreitet sich viral und mit enormer Geschwindigkeit. Grund dafür sind die Aktualität, die Intensität und nicht zuletzt meine vielen »Fucks«, die auf dem Video zu hören sind. Innerhalb von vier Tagen erhält es etwa 20 Millionen Klicks. Zuerst freue ich mich darüber, aber dann frage ich mich, ob es moralisch richtig war, das Video hochzuladen. Schließlich profitiere ich vom Grauen eines Unglücks und vom Tod anderer Menschen. Das Video selbst hat mir Geld eingebracht und mich auf der ganzen Welt bekannt gemacht. Doch hat es durch die weltweite Ausstrahlung im Fernsehen auch Millionen von Menschen ein negatives Bild von Nepal vermittelt. Die Touristen haben Angst, in dieses wunderschöne Land zu reisen. Das ist eine Menge Verantwortung, die ich zu tragen versuche.

Sicherlich mag es übertrieben sein, das alles diesem Video zuzuschreiben, aber ich hatte große Schwierigkeiten damit, die ganze Sache richtig einzuordnen. Ich hatte Angst, dass es schlichtweg falsch war, den Clip hochzuladen. Ich hatte Angst davor, für mein Handeln kritisiert zu werden. Aber dann begann ich darüber zu sprechen und meine Freunde beruhigten mich. Kuntal, der bereits einen Monat mit mir im Base Camp verbracht hatte, wusste, dass es mir allein um die Dokumentation gegangen war. Zu diesem Zeitpunkt hätte niemand ahnen können, wie schnell sich das Video verbreiten würde. Daher hätte ich mir auch keine Gedanken über mögliche Konsequenzen machen können. Als ich im Zuge dieses Buches mit Kuntal telefoniere, sagt er die Worte, die mich schlussendlich befreien: »Dein Video hat geholfen, den Menschen zu zeigen, was wirklich passiert ist. Es hat für unglaublich viel Unterstützung gesorgt und viele Menschen zum Spenden bewegt.« Doch auch wenn ich mit dem Geld, das ich mit der medialen Verwertung des Videos erzielt habe, den Wiederaufbau in Nepal unterstützen konnte: Es fühlt sich bis heute falsch an.

Eigentlich glaube ich immer, den Grund für mein Handeln zu kennen, aber oft steckt noch was anderes dahinter. Warum ich in die Berge gehe? Ich würde mich als Problembergsteiger bezeichnen, als jemanden, der in den Bergen nach den Antworten des Lebens sucht. Meine Seele ist auf der Suche nach sich selbst, das ist der wahre Grund, warum ich losziehe.

1. Am Abgrund

Mein Flugzeug landet am späten Abend des 11. Oktober 2013 in Kirgisistan. Als ich über die Landebahn zum Terminal laufe, gehe ich alles noch mal durch: Permit abholen, Satellitentelefon aktivieren, Jeep organisieren. Ich hole meinen Rucksack vom Gepäckband und muss feststellen, dass er geöffnet wurde. Ich überprüfe sofort seinen Inhalt und finde ein Dokument: »Information zur durchgeführten Gepäcköffnung. Dabei wurden Gegenstände entnommen und entsorgt, da diese gegen die geltenden Gefahrgutvorschriften und das Luftverkehrsgesetz verstoßen.« Ich bekomme einen Schrecken. Was, wenn sie meinen Kocher entfernt haben? Hier in Kirgisistan bekomme ich unmöglich einen neuen zu kaufen, dann wäre die Expedition schon zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hat! Mit großer Erleichterung stelle ich dann aber fest, dass nur meine drei Feuerzeuge fehlen. Wie man die finden konnte, ist mir allerdings ein Rätsel, denn sie waren ziemlich tief unten in meinem verschlossenen Kochtopf versteckt. Allerdings hat mein 100-Liter-Rucksack ein etwas kompliziertes System – zu komplex für die Grenzbeamten, die es anscheinend nicht geschafft haben, ihn im Anschluss wieder zu verschließen. Somit ist er die 5500 Kilometer von Berlin über Moskau bis nach Osch komplett offen gereist. Ein Wunder, dass sich mein Zeug nicht über zwei Kontinente verstreut hat.

Tags darauf sitze ich in einem viel zu großen Sessel der lokalen Reiseagentur und lasse meinen Blick über die kleinen Statuen und billig aussehenden Bilder aus anderen asiatischen Ländern schweifen. Diese sollen anscheinend die Erfahrung der Agentur untermauern. Der Chef der Reiseagentur, ein etwas korpulenter älterer Herr, fühlt die Dicke meines Oberarms und lacht: »Ruf mich in zwei Tagen an, wenn es dir zu kalt wird, dann holen wir dich wieder ab.« Ich kann nicht widerstehen mitzulachen, obwohl ich mir sicher bin, dass ich meine Pik-Lenin-Expedition (7134 Meter) nicht so schnell abbrechen werde. Auch wenn ich vier Wochen oder länger am Berg sein werde, ganz auf mich allein gestellt. Und schneller als erwartet sitze ich mit meinem Fahrer im Jeep und verlasse die Stadt. Osch wird auch die südliche Hauptstadt des Landes genannt, was kaum verwunderlich ist, denn es gibt nur zwei große Städte in Kirgisistan und die andere ist die Hauptstadt Bischkek im Norden. Doch Osch ist für mich die deutlich Schönere. Als sich die ersten Menschen in dieser Gegend ansiedelten, lebten sie in den Höhlen des heute heiligen Suleiman-Too-Berges. Die Stadt bildete sich der Überlieferung nach um diese Höhlen, also um den Berg herum. Mitten im Stadtzentrum steht somit dieser steile, felsige Hügel, der etwa 240 Meter über den Dächern emporragt und auf dessen Gipfel eine kleine Moschee errichtet wurde, die man über eine Treppe erreichen kann. Lässt man die Stadt hinter sich, fällt einem jedoch rasch die dünne Besiedelung vom Rest des Landes auf. Karge Böden und abgeholzte Wälder dominieren das Landschaftsbild. Mich jedoch fasziniert am meisten, dass der Großteil des Landes aus Gebirge besteht. Plötzlich eröffnet sich mir eine neue, wunderbare Welt. Wir fahren durch kleine Wüstenstreifen, die durch das leuchtende Grün von Oasen durchbrochen werden, passieren sandige Täler und kleine Dörfer und häufig hilft nur ein riskantes Ausweichmanöver in letzter Sekunde, um den Jeep vor einem unerfreulichen Zusammentreffen mit Kühen, Eseln, Schafen oder Ziegen zu bewahren. Vollkommen fasziniert von der Andersartigkeit dieser Landschaft und in Gedanken versunken fällt mir plötzlich wieder ein, dass ich noch keine Ersatzfeuerzeuge besorgt habe. Wir halten irgendwo im Nirgendwo und ich kaufe im Dorfladen noch schnell diese überlebensnotwendigen Utensilien. Sicherheitshalber nehme ich gleich fünf Stück, und ein Zippo habe ich auch noch – das sollte ausreichen. Während ich bezahle, ist mir noch nicht bewusst, dass mich dieser Einkauf später in große Schwierigkeiten bringen wird.

Eigentlich sprach vieles gegen diese Reise. Ich beherrschte weder Kirgisisch noch das als Zweitsprache verbreitete Russisch, und natürlich hatte ich keinen Schimmer, was mich erwarten würde. Und doch hat mich Angst hierhergetrieben. Angst davor, mich von den falschen Gründen abhalten zu lassen, das zu tun, was mir am Herzen liegt. Um ehrlich zu sein, habe ich wenig zu verlieren. Mein Studium kann noch ein bisschen warten. Das, was ich wirklich will, sollte ich einfach durchziehen. Just go for it. Jost go for it! Wir fahren weiter durch die karge, mongolisch anmutende Landschaft und plötzlich sehe ich ihn zum ersten Mal: den Pik Lenin – Berg meiner Träume. Ich kann es kaum glauben, ihm so nahe zu sein. Auch wenn dies nach dem Mont Blanc erst meine zweite große Solo-Expedition ist, ist die Vorfreude größer als der Respekt vor diesem großen Unterfangen. Stück für Stück nähern wir uns dem schneebedeckten Riesen und schließlich erreichen wir das Ende der Straße, das Basislager. Auf 3200 Meter Höhe steige ich aus, lade meine 85 Kilo schwere Ausrüstung ab und verabschiede mich. Ich freue mich, endlich in den Bergen zu sein, alles wirkt so imposant und unwirklich. Aber am meisten genieße ich die Stille. Das ist das Schöne an einer Solo-Expedition, ich bin vollkommen allein. Es gibt nur den Berg und mich. Im Alltag verlangt ständig irgendetwas meine Aufmerksamkeit, aber hier ist alles so rein, so pur, es gibt keinerlei Ablenkungen. In dieser Stille höre ich mich selbst am besten und lerne zu verstehen, was für mich im Leben wirklich wichtig ist.

Plötzlich fällt mir ein, dass ich meine neuen Feuerzeuge im Jeep vergessen habe. Ein Desaster! Ich brauche sie, sonst ist es schnell vorbei mit der einsamen Romantik in den Bergen. Wie ein Wahnsinniger renne ich dem Jeep hinterher, rudere wild mit den Armen und schreie mir die Seele aus dem Leib. Das war’s, jetzt muss ich improvisieren, um hier rauszukommen. Keine Feuerzeuge – keine Expedition. Ich brauche sie, um den Benzinkocher entflammen zu können, Schnee zu schmelzen und somit Trinkwasser zu gewinnen. In Gedanken sehe ich mich bereits die 30 Kilometer mit meiner 85 Kilo schweren Expeditionsausrüstung zurückschnaufen. Doch plötzlich dreht der Jeep ganz Hollywood-like doch noch um und kommt auf mich zu. Ich kann mich nicht mal darüber freuen, denn in dem Moment ringe ich einfach nur nach Luft. Mir wird schmerzhaft bewusst, dass ich mich bereits auf 3400 Meter Höhe befinde und noch überhaupt nicht akklimatisiert bin.

Solo unterwegs zu sein, bedeutet auch, emotional auf sich allein gestellt zu sein. Denn da ist meistens niemand, der einem in einer Notsituation helfen kann. Im Alleingang sind Fehler tabu. Ein Sturz kann nicht einfach so von dem zum Seilpartner führenden Seil abgefangen werden. Fehltritte ziehen tödliche Konsequenzen mit sich. Das, was anderen Angst macht, bedeutet für mich Freiheit. Ich trage niemandem gegenüber Verantwortung und stehe nur für meine eigenen Fehler ein. Ja, ich kann jede Entscheidung allein treffen, ohne mich anderen gegenüber rechtfertigen zu müssen. Es liegt alles in meiner Hand.

Wenig später liege ich im Zelt, portioniere in Gedanken meine Ausrüstung in drei Teile und plane die weitere Vorgehensweise. Ich werde drei Tage hintereinander jeweils 25 Kilo zum vorgeschobenen Basislager auf 4200 Meter tragen. Sprich in ein Camp, das ein wenig höher liegt als das eigentliche Basislager.Hoch müssen Kerosin, Lebensmittel, die Zelte und was man sonst noch an Ausrüstung braucht. Ich habe mir sogar den Luxus gegönnt, eine Dose Ananas für besondere Anlässe einzupacken. Dann werde ich zwei Tage lang jeweils 20 Kilo zu Camp 1 auf 4400 Meter schleppen und dort deponieren. Und als kleine Motivation für den Abstieg lasse ich eine Flasche Cola im Basislager, die ich zusammen mit einem Paar Schuhe und einer Notration an Essen unter einem kleinen Steinhaufen vergrabe. Wenn ich wiederkomme, wird diese Cola ein Schatz sein.

Ich trage die ersten Lasten vom Base Camp zum ersten Lagerplatz hoch. Eigentlich sind es nur 8,5 Kilometer, die ich mit meinem schweren Rucksack zurücklegen muss. Laut Höhenprofil befindet sich das Camp nur 800 Höhenmeter weiter oben, aber diese haben es dafür in sich. Ich muss einen höher gelegenen Pass überqueren, auf der anderen Seite zuerst absteigen und danach erneut aufsteigen. Der Pfad, der zur Sommerzeit von Bergsteigern, Guides, Packpferden und Eseln zu einer stark genutzten Strecke wird, ist nun verwaist und nicht ungefährlich. Manchmal bricht er einfach ab, weil ihn eine Steinlawine fortgerissen hat. Was auf den ersten Blick einfach aussieht, wird dann doch schnell ungemütlich. Der Weg schlängelt sich einen steilen Hang empor, der Untergrund ist pickelhart und mit feinem Schotter bedeckt. Ein falscher Schritt und ich stürze mit meinem schweren Rucksack in die Tiefe. Als ich endlich nach einigen Stunden auf etwa 4200 Metern ankomme, sehe ich den perfekten Platz für mein Camp. Ich baue mein Zelt windgeschützt in der Nähe eines Flusses auf und erspare mir somit das Schneeschmelzen. Nachdem alles im Zelt verstaut ist, mache ich mich wieder auf den Weg nach unten. Ohne den schweren Rucksack fühle ich mich unbeschreiblich leicht und komme nach nur einer Stunde wieder im Basislager an.

Kurz darauf folgt die Überraschung des Abends: Ich erspähe in der Ferne einen Hirten. Ich bin überzeugt, dass mir mein Unterbewusstsein einen Streich spielt. Ich bin so weit draußen, weg von jeder Zivilisation, dass hier unmöglich jemand anderes sein kann. Doch der Hirte lässt sich von meinen Gedanken nicht beeindrucken und läuft geradewegs auf mich zu. Ein kurzer, prüfender Blick auf den Neuankömmling reicht aus, um ihn ebenfalls als Bergsteiger zu identifizieren. Er begrüßt mich auf Englisch und ich muss schmunzeln. Noch bevor er fertig ist, unterbreche ich ihn: »Wir können uns auch auf Deutsch unterhalten.« Das hat mir gerade noch gefehlt, am Ende der Welt in der tiefsten Einsamkeit kommt auf einmal noch so ein verrückter deutscher Solo-Bergsteiger daher. Aber irgendwie bin ich dann doch froh, dass er da ist, er bringt etwas Abwechslung in den Tag.

Am nächsten Morgen beschließen wir, gemeinsam hochzugehen. Auch wenn wir nicht darüber sprechen, steht für uns beide fest, dass jeder im Stillen sein Ding macht und wir uns gegenseitig bei nichts helfen. Unterwegs erfahre ich, dass Konny 56 Jahre alt ist und bereits gut vorakklimatisiert ist, da er wochenlang in Tibet auf über 4000 Meter unterwegs war. Er hat sich zum Ziel gesetzt, ganz direkt und möglichst schnell den Pik-Lenin-Gipfel zu erklimmen. Seine Ausrüstung ist »ultraleicht«, er hat keine gut isolierten Schuhe und weder eine Daunenjacke noch eine warme Hose dabei. Sein Zelt macht nicht gerade einen stabilen Eindruck und er hat auch keinen Kocher. Ich bin ernsthaft besorgt um ihn. Einzig die Tatsache, dass er sehr erfahren und selbstsicher wirkt, mildert mein mulmiges Gefühl. Oben angekommen baut er sein Zelt direkt neben meinem auf, doch ich muss noch einmal nach unten, um morgen die letzten 25 Kilo hochzutragen. Im Basislager angekommen, falle ich sofort ins Zelt. Ich fühle mich gut, es ist diese angenehme Müdigkeit, die leicht auf der Haut brennt und ein warmes, wohliges Gefühl erzeugt. Mitten in der Nacht höre ich plötzlich ein Geräusch. Irgendetwas schleicht um mein Zelt. Schneeleoparden, die in dieser Gegend heimisch sind, sind eigentlich menschenscheu, aber was könnte es sonst sein? Etwa ein einsamer Wolf? Ich bin kein ängstlicher Mensch, aber etwas mulmig ist mir trotzdem zumute. Meine Fantasie malt sich die wildesten Geschichten aus, ein größeres Tier könnte die Zeltplane mit Leichtigkeit zerreißen und dann würde ich schutzlos daliegen. Dieser Gedanke bestimmt meine Nacht und raubt mir den Schlaf. Als ich frühmorgens verschlafen aus dem Zelt schaue, erwarte ich, Spuren eines Tieres vorzufinden, aber es ist nichts zu sehen. Habe ich mir die Geräusche nur eingebildet? Während ich mein Zelt abbaue, stelle ich fest, dass darunter Feldmäuse ein riesiges Netz an Tunneln angelegt haben. Sie sind unter der Bodenplane herumgelaufen und haben so für die undefinierbaren Geräusche gesorgt. Ich muss über mich selbst lachen. Da habe ich mich also tatsächlich vor Mäusen gefürchtet. Der einzige einsame Wolf hier draußen bin ich.

Einige Tage später starten Konny und ich gemeinsam von Camp 1 in Richtung Gipfel. Wir zwingen uns noch vor sechs Uhr hinaus, schließlich haben wir bis zu Camp 2 einen weiten Weg vor uns. Es ist mittlerweile schon Ende Oktober und wir bekommen die eisigen Temperaturen des nahenden kirgisischen Winters voll zu spüren, denn die Sonne geht in der Nordwand erst sehr spät auf. Vor allem die Zehen leiden an Taubheit und ich versuche die Durchblutung durch Ziehen und Strecken anzuregen. Langsam kämpfen wir uns durch 40 Zentimeter Pulverschnee aufwärts. Konny zu Fuß und im direkten Anstieg, ich teils im Zickzack mit meinen Skiern, die im Tiefschnee am effizientesten sind. Unter jedem Ski ist ein Fell aufgeklebt, die Kunstfasern gleiten nach vorn, aber wenn ich zurückrutschen würde, stellen sich die Fasern auf und greifen in den Schnee, ähnlich dem Streicheln eines Hundes gegen den Strich seines Fells. Zusätzlich verteilt die große Oberfläche meiner Skier das Gewicht, sodass ich kaum einsinke. Konny hingegen ist knietief im Schnee versunken. Und dann, endlich, erreicht uns der erste Sonnenstrahl. Ich spüre die geballte Wärme im Gesicht und muss feststellen, wie schön die einfachen Dinge des Lebens sein können. Einen Sonnenstrahl weiß man sonst gar nicht zu schätzen, hier bekommt dieser kleine Strahl eine immense Bedeutung. Und tatsächlich bewirkt er Wunder, endlich spüre ich den leichten, brennenden Schmerz, als meine Zehen wieder auftauen. Die Bewegungen beginnen zu fließen und die Gedanken sind ganz weit weg. Die Realität holt mich erst wieder ein, als sich unsere Spuren kurz vor dem Gletscherbruch treffen. Ein kurzer Blick auf die Uhr lässt mich erschrecken. Es ist schon Mittag geworden. Wir haben unter den tief winterlichen Bedingungen erst ein Drittel der Strecke geschafft. Ich schaue mich um und bemerke, dass wir uns in einem riesigen schneegefüllten Labyrinth aus Gletscherspalten und Eistürmen befinden, wo es keinen ersichtlichen Weg gibt. Es würde Stunden dauern, um diese Passage zu bewältigen. Uns wird bewusst, dass es unter diesen Umständen unmöglich sein wird, das Camp, geschweige denn den Gipfel zu erreichen. Wir machen ein paar Bilder, die dokumentieren sollen, wie weit wir gekommen sind und drehen schweren Herzens um. »Goodbye Lenin«, rauscht es durch meinen Kopf. Der Weg hinunter ist lang und wir erreichen das Camp erst, als es schon dämmert. Nicht nur physisch erschöpft krieche ich nach dem Essen in meinen Schlafsack.

Am nächsten Morgen erreicht mich die Erkenntnis: Jetzt abzusteigen kommt für mich überhaupt nicht in Frage! Ich habe all den Aufwand betrieben und dann soll jetzt schon bei 4750 Meter Höhe Schluss sein? Ich habe das Gefühl, nicht alles gegeben zu haben. Der Gedanke, es noch einmal zu versuchen, lässt mich einfach nicht los. Jetzt aus Angst umzudrehen, würde ich später mit Sicherheit bereuen. Ich würde mir ewig vorhalten: »Hätte ich doch …«, oder mich fragen »Was wäre gewesen, wenn …?«. Ich habe noch genügend Vorräte, so schnell werde ich nicht aufgeben. Dieser Entschluss beflügelt mich richtig. Es dauert nicht lange und ich bin wieder hochmotiviert. Da unser ausgewählter Gipfel aufgrund der Schneekonditionen zu gefährlich ist, entscheiden wir uns spontan für einen kleinen Fünftausender, den wir in der Ferne ausmachen. Dieser Gipfel wird zusätzlich meine Akklimatisation vorantreiben, es ist ein weiterer Schritt Richtung Pik Lenin. Mit ungewohnter Leichtigkeit erreichen wir bei bestem Wetter den Gipfel. Hier oben werden wir mit einer strahlenden Aussicht belohnt, die kontrastreicher nicht sein könnte. Auf der einen Seite blickt man in eine weite, warm aussehende, sandige Steppenlandschaft, während sich auf der anderen Seite das ewige Eis der Berge erhebt. Schließlich erreichen wir das Camp am Abend wieder, erschöpft, aber glücklich. Nach dieser erfolgreichen Tour kommt leider auch die Zeit des Abschieds. Konnys Nahrungsvorräte sind aufgebraucht und ich möchte meinen Plan eines erneuten Gipfelversuchs doch noch in die Realität umsetzen. Ich steige mit ihm zum vorgeschobenen Basislager ab und fülle meinen Rucksack mit Vorräten. Jetzt geht es richtig los!

Als ich aufstehe, ist es noch tief dunkel. Alles, was ich für meine Tour brauche, packe ich in zwei Rucksäcke. Ich bin jetzt ganz allein am Berg. Alles ist reduziert auf den Berg und mich. Von Angesicht zu Angesicht schauen wir uns an, aber nicht wie zwei Gegenspieler, ich fühle mich in Harmonie mit ihm verbunden und hoffe, dass er mir eine Besteigung gewähren wird.

Im Sommer benötigt man etwa einen Tag, um die tausend Höhenmeter zu bewältigen, aber im Winter gibt es keine Fixseile, an denen man sich mit Hilfe einer Sicherung relativ schnell fortbewegen kann. Hinzu kommt, dass der Schnee die Gletscherspalten verdeckt. Ich komme nur sehr langsam voran. Die Spuren, die ich zuvor angelegt habe, sind zum Großteil verweht. Es ist sogar Neuschnee gefallen. Manchmal ist er hüfttief. Aber ich habe 35 Kilo Gepäck dabei. Das reicht locker, um acht Tage unterwegs zu sein. Ich kann mir Camp 2 auf 5300 Metern einrichten und von dort die Gipfeletappe in Angriff nehmen, ohne vorher absteigen zu müssen. Langsam und vorsichtig bewege ich mich vorwärts. Meine Skistöcke helfen mir beim Ertasten des Weges und ich kann auf diese Weise versteckte Gletscherspalten ausfindig machen. Manchmal sacken sie komplett weg und geben breite, tiefschwarze Risse frei. Ich stochere ein wenig herum. Die Oberfläche der fragilen Schneebrücke bröckelt. Erst dann kann ich sehen, wie groß die Spalte ist und ob ich an dieser Stelle über sie hinwegspringen kann oder ob ich besser woanders mein Glück versuchen sollte.

Einen Spaltensturz kann ich mir solo nicht erlauben, es ist niemand hier, der mir helfen könnte. Selbst wenn ich nicht durch den Aufprall sterben würde, ich würde in der Gletscherspalte festsitzen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gibt es in der Spalte kein GPS und kein Satellitensignal. Es wäre kein schöner Tod. Ich schiebe die dunklen Gedanken beiseite und schaue nach oben. Die Sonne steht schon sehr niedrig, ich bin viel langsamer als gedacht. Ich sollte bald nach einem geeigneten Platz für mein Zelt Ausschau halten, aber ich befinde mich inmitten des Gletscherbruchs, diesem Gewirr aus riesigen Gletscherspalten und Eistürmen. Am Rand des Gletschers, wo es einigermaßen flach wäre, herrscht zu große Lawinengefahr, dort läuft alles zu einem Trichter zusammen. Eine Lawine, die sich weiter oben lösen würde, träfe in jedem Fall die Ebene, auf der ich am liebsten mein Zelt aufgeschlagen hätte. Bei näherer Betrachtung sieht der Gletscher aus, als ob er Rippen hätte. Diese Rippen sind wie Mauern, zwischen denen sich große und tiefe Gletscherspalten auftun. Genau auf einer dieser vier Meter breiten Rippen finde ich einen einigermaßen ebenen Zeltplatz. Wirklich geeignet ist der Platz nicht, aber ich habe keine Wahl. Es ist der einzige Ort, an dem es keine Lawinengefahr gibt. Die breiten, tiefen Spalten würden eine Lawine ausbremsen und in sich aufnehmen. Ich grabe eine Vertiefung in den Schnee, die etwa der Grundfläche meines Zeltes entspricht, sodass ich dieses besser geschützt positionieren kann. Dann hämmere zur zusätzlichen Verankerung noch meine Heringe und sogar meinen Eispickel in das Eis. Schließlich liege ich mit der gesamten Ausrüstung im Zelt und freue mich auf den morgigen Tag. Das Wetter ist gut, das Zelt ist verankert und mit viel Gewicht beschwert. Für eine Nacht wird es schon gut gehen. Ich schlafe sanft ein, werde jedoch einige Stunden später vom lauten Flattern der Zeltplane geweckt.

Starker Wind ist aufgekommen. Das bedeutet nichts Gutes, aber in diesem Moment kann ich nichts dagegen tun. Ich versuche wieder einzuschlafen, aber das Getöse und Geheule halten mich wach. Der Sturm legt weiter zu. An ein Abbauen des Zeltes und einen schnellen Abstieg ist in dieser Situation nicht mehr zu denken. Ich bin an diesem Ort gefangen. Die Böen schlagen an mein Zelt wie tosende Wellen gegen einen Felsen am Strand. Es beginnt sich zu verformen und ich hoffe inständig, dass der Wind die Zeltplane nicht zerreißt. Wie ein Embryo rolle mich zusammen und versuche, mich ganz schwer zu machen, als plötzlich eine gewaltige Böe das Zelt erfasst. Die Heringe vibrieren und knirschen unter dem gewaltigen Druck. Ich höre etwas reißen und brechen. Im selben Moment wird mir bewusst, dass das Zelt aus der Verankerung gerissen wurde und es mit mir als blinden Passagier zu rutschen beginnt, direkt auf die riesige Gletscherspalte zu. Im selben Moment, in dem ich die Situation erfasse, befreie ich mich aus meinem Schlafsack, zippe geistesgegenwärtig den Reißverschluss des Zeltes auf und hechte hinaus, wo ich hastig in meine Skistiefel springe. Mit einer Hand halte ich das Zelt noch am Gestänge fest, sonst würde es der Wind einfach fortfegen. Ich stehe also frierend in meiner Unterwäsche im Sturm und habe zwei Optionen: Entweder das Zelt loslassen und zusehen, wie meine gesamte Ausrüstung in der Gletscherspalte verschwindet, und im Anschluss einige Stunden nonstop in Unterwäsche zu meinem vorgeschobenen Basislager laufen. Keine prickelnde Vorstellung, auch wenn ich es wahrscheinlich überleben würde. Von schweren Erfrierungen bliebe ich garantiert nicht verschont. Oder das Zelt weiterhin festhalten und mit diesem langsam auf die Gletscherspalte zurutschen, bis ich damit 35 Meter in die Tiefe stürze – was auch nicht gerade verlockend ist. Meine Gedanken rotieren und gleichzeitig ist da diese unendliche Leere. Ich weiß, dass mir nicht viel Zeit bleibt, um eine Entscheidung zu treffen. Es gibt keinen Ausweg aus dieser Situation und ich habe mich selbst hineinmanövriert. Hätte ich doch schon früher nach einem geeigneten Zeltplatz gesucht, dann würde ich jetzt nicht in dieser verzwickten Situation feststecken. Ich habe Angst, eine tiefe und urgewaltige Angst. Angst, dass ich hier sterbe. Mein Leben fliegt jedoch nicht an meinen Augen vorbei, wie man immer sagt. Was ich in dem Moment fühle, ist Reue. Reue für das, was ich noch nicht getan habe im Leben, was ich nicht sein konnte und was ich nicht mehr erleben werde. Wenn ich doch nur mehr Zeit gehabt hätte …

2. Zukunft braucht Herkunft