Vorwort

Am Ende der Einleitung zu 1000 Tage Frühling, dem ersten Buch von Tomislav Perko, stellte Reiseschriftsteller Hrvoje Šalković fest, dass das Buch nur einen einzigen Schönheitsfehler hat: »Sie werden einen wahnsinnigen Wunsch verspüren, diese warme, interessante Geschichte weiterzulesen und -zuverfolgen.« Zwei Jahre später hat Tomislav diesen »Fehler« schließlich korrigiert, und wir dürfen seine ehrlich und humorvoll erzählte Geschichte weiterlesen, die uns auf eine zweifellos unterhaltsame Reise mitnimmt. Wenn dieses Buch nur das wäre, was man auf den ersten Blick vermutet: nämlich eine außergewöhnliche Robinsonade eines ehemaligen Brokers, der zu Hause wie auf Kohlen saß und jetzt durch die Welt tingelt, dann würde es genügen, das Buch fände seinen Weg zu all jenen, die sich nach einer ähnlichen Lebensstiländerung sehnen. Bereits im ersten Buch wurde aber klar, Tomislavs Suche ist die Suche nach Freiheit. Denn wir alle wollen frei sein und den richtigen Weg finden, um unsere Ziele zu erreichen. Sein Weg war, immer mit einem hochgestreckten Daumen irgendwo an der Straße, ohne besonderen Plan, ins Unbekannte, aber auch Schönere zu reisen. Perko weist immer wieder bescheiden darauf hin, dass er kein Schriftsteller ist, dass man von seinem Buch sprachlich nicht viel zu erwarten habe, dass man ihm nichts übel nehmen und das Buch nicht hassen sollte. So wie er es anfangs hasste, als er noch nicht wusste, wie er seine eigenen Erfahrungen in Text übertragen kann. Und wie könnte man jemandem irgendetwas übel nehmen, der mit seinem Buch nichts anderes will, als seine Geschichte erzählen und den Leser dazu ermutigen, seine eigene Geschichte zu schaffen, egal, ob das Reisen, Hobbys oder etwas anderes ist. Der einzige Schritt, der wirklich zählt, ist der erste. Der, mit dem man von der Couch in die Welt hinausgeht, mit allem Vertrauten bricht und sich aus eigener Kraft neu erfindet. Das zeigt auch dieses Buch. 1000 Tage Sommer, genauso wie 1000 Tage Frühling, führt keine Listen der zurückgelegten Kilometer an, keine Adressen von Ho(s)tels, gibt keine Anweisungen oder Verhaltenstipps für unterwegs, sondern zeigt uns, wie das Leben, in diesem Fall das Reisen, in der Praxis eines »normalen« Menschen aussieht. Perko sagt uns nicht, wie lang und welcher Art der Weg in die Freiheit ist, aber er zeigt uns den Ort, wo wir beginnen und von wo aus wir auf die Suche gehen könnten. Auch wenn man manchmal »das tun muss, was man nicht mag, um genau das zu machen, was man gerne tut«. Es scheint, als hätte Tomislav dieses Buch nicht so sehr geschrieben, um einem inneren Drang zum Schreiben nachzukommen und ein Kunstwerk des geschriebenen Wortes zu schaffen, sondern vielmehr aus einem Bedürfnis heraus, seine Geschichte ehrlich zu erzählen, um so andere – und sei es auch nur einen einzigen Leser – dazu zu ermutigen, die Liebe zu etwas zu finden und sich diesem mit ganzem Herzen zu widmen, um sein Leben in vollen Zügen zu genießen und dadurch herauszufinden, wie die Welt von ihm und seinem Tun profitieren könnte. Der größte Wert dieses Buches liegt gerade in dieser Selbstlosigkeit des Teilens. Weder der erste noch der zweite Band sind klassische Reisereportagen, noch geben sie vor, es zu sein. Der Leser kann sich auf dieses Buch nicht verlassen wie auf eine Karte oder einen Reiseführer, er findet jedoch eine Handvoll Dinge, die ihn inspirieren könnten zu reisen, selbst Erfahrungen zu sammeln, Dinge mit eigenen Augen zu betrachten, was ohnehin viel wichtiger ist als reine Information. Auch ohne eine Karte kommt man zum gewünschten Reiseziel, aber wenn man nicht losgeht, kommt man nicht weit.

Maja Klarić

Tag 217

Ich öffnete mein schwarzes Heft und schrieb alle Gedanken auf, die mir durch den Kopf gingen. Schon seit zehn Tagen bin ich Vegetarier. Ich fühle mich gut, Fleisch fehlt mir überhaupt nicht, und darüber hinaus habe ich ein paar Dokus über die gesundheitlichen Vorteile einer pflanzlichen Ernährung gesehen. Obwohl ich keine Extreme und Grenzen mag, schien es mir vernünftig und sinnvoll, Vegetarier zu sein.

Das erinnerte mich an den Ursprung der Lebensart, die ich heute noch verfolge, und an die ersten Jahre meines Studiums: Eines Tages wache ich auf und entscheide mich, alle meine Ansichten zu löschen, alles zu vergessen, was ich zu Hause, in der Schule, in der Kirche oder in den Medien gelernt habe, und einfach von vorne anzufangen. Ich werde Fragen stellen, ich werde nichts mehr als selbstverständlich hinnehmen, ich werde meine Meinung über alles, was ich jahrelang gedacht habe, ändern. Ich werde keine Vorurteile mehr haben. Ich werde dazulernen. Ich werde zuhören.

Es öffnete mir die Augen. Auf einmal erkannte ich, dass ich unzählige Dinge falsch verstanden habe, dass ich vor allem durch mein Umfeld die Person geworden bin, die ich zu diesem Zeitpunkt war. Kroatien ist das beste Land der Welt. Iss Fleisch, ohne Fleisch kann man nicht leben. Glaub an das, was in den Zeitungen steht und was im Fernsehen gesagt wird. Hör auf deine Lehrer und Professoren. Zweifle nie an Tatsachen, die in einem Lehrbuch stehen.

Bullshit. Es ist erstaunlich, wie viele Leute etwas wissen – und dabei keine Ahnung haben. Sie haben es irgendwo gehört oder kennen einfach niemanden, der es anders macht. Dann muss es wohl stimmen. Der Vegetarismus ist nur eines von vielen Beispielen. Ich wuchs mit Fleisch auf. Fleisch war täglich auf dem Teller, außer freitags, da gab es Fisch. Und an den zwei, drei Tagen im Jahr, an denen man bis Mitternacht warten musste, um dann alles in sich hineinzustopfen, was tagsüber verboten war.

Als Chloe am Sonntag bei meinen Eltern zum Mittagessen eingeladen war und ich ihnen sagte, sie sei Vegetarierin, sagte mein Vater mit einem breiten Grinsen im Gesicht: »Sie kann das Gras auf dem Hof essen. Das ist alles, was wir für Vegetarier haben.«

Sehr witzig von meinem Vater.

Aber mal ehrlich: Wie viele Dinge meinen wir zu wissen, haben aber keine Ahnung davon? Wie viele Gespräche werden geführt, nur um zu beweisen, dass wir die besseren Argumente haben, obwohl wir nie ernsthaft versuchen, die andere Seite der Geschichte zu verstehen? Wie oft streiten wir miteinander, weil wir uns einfach nicht darauf einigen können, dass nicht nur einer recht hat? Wie oft schauen wir auf die Unterschiede zwischen Menschen anstatt auf die Gemeinsamkeiten? Zu oft.

Und das ist ein weiterer Grund, warum ich auf Reisen bin. Denn ich beschloss, nichts mehr sicher zu wissen. Ich wollte von vorn anfangen, alle Standpunkte hören, nicht nur einen. Ich beschloss zuzuhören, nicht zu predigen. Ich wollte Orte, Menschen und Sitten kennenlernen, von denen ich nur das wusste, was andere mir erzählten.

Auf meinen Reisen erkannte ich, dass die anderen gelogen haben. Um ihre Unwissenheit zu verbergen, um ihren eigenen Arsch zu retten, um uns so zu formen, wie sie es für richtig hielten. Wer die anderen auch waren, es gelang ihnen.

Als ich Kroatien verließ, warnten mich alle, in Serbien besonders vorsichtig zu sein. In Serbien wurde ich von allen gewarnt, in Bulgarien vorsichtig zu sein. Dort angekommen, warnte man mich vor der Türkei. Die Türken warnten mich, mich vor den Kurden in Acht zu nehmen, und die Kurden vor den Iranern. Die Iraner dann vor den Pakistanern. Und so weiter und so fort. Und wo hatte ich Probleme? Nirgendwo. Tatsächlich erlebte ich in den letzten vier Jahren nur einen einzigen Vorfall, und zwar auf dem Zagreber Hauptbahnhof, als ich von Boys (BBB – Bad Blue Boys, Fans des Zagreber Fußballclubs Dinamo) angegriffen wurde, weil sie dachten, ich sei Torcidaš (Torcida, Fan von Hajduk, Fußballclub in Split). Mittlerweile bereiste ich, oft per Anhalter, über dreißig Länder, schlief am Straßenrand oder in Häusern von Fremden, fuhr durch gefährliche Länder, wurde in den schmutzigsten Teilen der Welt krank, aß in Restaurants, die nicht einmal die grundlegendste Hygienekontrolle im Westen bestehen würden.

Und hier bin ich, lebendig und gesund. Meistens glücklich, manchmal traurig. Umgeben von netten Menschen, hier und da auch einsam. Aber FREI. Um das zu machen, was ich will, um meinen Träumen zu folgen, egal, ob jemand sie für bedeutungslos hält. Egal, dass manche dachten, ich würde mein Leben wegwerfen, weil ich keinen normalen Job habe, weil ich keine Wohnung besitze, die ich die nächsten dreißig Jahre abbezahlen muss, weil es mir völlig egal ist, woher jemand kommt oder wie er aussieht, an welchen Gott er glaubt oder mit wem er sein Bett teilt. Das habe ich auf meinen Reisen gelernt. Vergeblich wären alle Kilometer, Länder, Menschen und Erfahrungen gewesen, wenn ich diese Lektion nicht verstanden hätte.

Das Beste von allem ist, dass es überhaupt nicht ums Reisen geht. Es gibt eine Million Möglichkeiten, um (über sich hinaus) zu wachsen, eine Million Möglichkeiten, um glücklich zu sein, um das zu werden, wovon man schon immer geträumt hat. Das Reisen ist mein Weg. Nicht besser und nicht schlechter als jeder andere.

Nur meiner.

 

Tag 92

Der Wecker klingelte. 5:32 Uhr. Ich stellte ihn ab.

»Lass uns noch schlafen«, sagte ich verschlafen zu Caro, die im Zelt neben mir aufwachte. Seit unserer Abfahrt war es das erste Mal, dass ich den Wecker gestellt hatte. Für diesen Luxus schleppte ich täglich zwei Kilogramm auf dem Rücken. Es war auch das erste Mal seit der Abfahrt, dass ich durch den akustischen Alarm auf meinem Handy geweckt wurde. Ich hasse diesen Ton mehr als alles andere. Es ist lange her, dass ich meine eigene Definition von Lebensqualität fand: Je seltener mich ein Alarm weckt, desto besser ist mein Leben.

»Komm, steh auf!« Sie war entweder fest entschlossen oder einfach weniger faul und verwöhnt als ich. »Lass uns den Sonnenaufgang sehen. Wer weiß, wann du das nächste Mal die über dem Ozean aufsteigende Sonne sehen wirst.«

Zögernd gehorchte ich, wusch mein verschlafenes Gesicht und folgte ihr zum Strand.

Wir waren auf einem Campingplatz, etwa zwanzig Kilometer von Puri entfernt, bei einem der wenigen aktiven Couchsurfer in diesem Teil des Landes. Die Entscheidung hierherzukommen ist eine Geschichte für sich. Während wir noch in Nepal waren, fanden wir eine Karte von Indien, auf der nur eine einzige Ortschaft mit Bleistift eingekreist war: Puri. Wir wussten nicht, wem diese Karte gehörte oder warum derjenige gerade Puri markiert hatte, doch wir sahen es als Zeichen und kauften uns Fahrkarten in den tausend Kilometer entfernten Ort im Osten Indiens.

Diesen Ort mochte ich von Anfang an. Abgelegen, fast unbewohnt und ruhig, nur knapp fünfzehn Minuten zu Fuß von einem endlosen Sandstrand entfernt, an dem nur gelegentlich eine herumirrende Kuh oder eine tote Schildkröte auftauchte ‒ sonst nichts. Wir waren nicht die Einzigen, die sich zu dieser Zeit auf dem Campingplatz aufhielten. Eine bunte Gesellschaft hatte sich dort zusammengefunden, Menschen aus den USA, Italien, Ungarn, Schweden, Spanien und natürlich aus Indien. Sie organisierten ein Surfer-Festival, das für diesen Monat geplant war.

Es passierte nicht viel. Die Tage gingen vorüber, die Zeit verbrachten wir am Lagerfeuer mit Geschichten und Gras, das im staatlichen Bhang shop in Puri zu kaufen war. Das Gras war hier legal und unheimlich billig.

Alles in allem – es gab mehr als genug Gründe, um diesen Ort zu lieben.

»Es ist wunderschön, deine aufgehende Sonne zu sehen«, raunte ich Caro spöttisch zu, als wir am Strand ankamen. Denn wegen des dichten Nebels konnten wir keinen einzigen Sonnenstrahl sehen.

Da ich das Morgengrauen am Strand doch noch nutzen wollte, zog ich meine Unterhose aus und stürzte mich ins Meer. Nach nicht einmal zehn Sekunden warf mich eine riesige Welle wieder zurück an den Strand.

»Man sieht, dass du noch nie im offenen Meer geschwommen bist«, rief mir meine Begleiterin lächelnd zu und zog ihren Badeanzug aus.

»Dem Ozean und seinen Wellen sollte man mit großem Respekt begegnen«, begann sie ihren Schwimmunterricht. Wir tauchten nun unter den anrollenden Wellen hindurch, passierten den höchsten Punkt, an der sie sich brachen, und konnten schließlich etwa dreißig Meter von der Küste entfernt sicher schwimmen. »Überall auf der Welt flößt der Ozean den Küstenbewohnern Angst und Schrecken ein. Sie wissen nicht nur, dass sie ihm jedes Mal, wenn sie sich auf ihn einlassen, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, sondern auch, dass sie im Falle eines Kampfes niemals als Sieger hervorgehen würden. Der Ozean hat immer das letzte Wort.«

Ich mochte ihre Worte, weil sie sich auf das Leben im Allgemeinen übertragen ließen. Die meisten Menschen haben diese Einstellung ihrem Leben gegenüber. Sie haben wahnsinnige Angst, in ihrem Leben etwas zu riskieren, weil sie überzeugt sind, dass sie im Falle eines Konflikts verlieren würden. Meistens bleibt man in den geregelten Bahnen.

»Und jetzt bringe ich dir bodysurfing bei«, sagte mir meine Begleiterin freudig. »Merk dir: Zeigt dir der Ozean jemals seine Zähne, halt die Luft an und entspann dich einfach. Früher oder später spült er dich wieder an die Oberfläche.«

Sie zeigte mir, wie sich Wellen bilden und erklärte mir, wie wichtig es sei, den richtigen Moment zu erwischen, um zum Ufer loszuschwimmen und wann man unter der Welle sein musste. Sie brachte mir bei, wie man gefährliche Wellen zu seinem eigenen Vorteil nutzen kann und wie man mit ihnen zusammenarbeitet.

»Ja, das ist es«, dachte ich. Nur wenige Menschen respektieren und provozieren den Ozean gleichzeitig. Sie spielen mit ihm. Sie tauchen ab, um im richtigen Moment die Welle zu erwischen, sie suchen nach dem Weg, mit ihr zu verschmelzen. Sie haben Spaß am Surfen. Und sie wissen, dass es oft schiefgeht. Manchmal ist die Welle einfach zu groß, das Timing ist schlecht, und man kommt ein wenig zu spät oder zu früh. Die Welle bestraft jeden Fehler – wie ein Sandkorn spuckt sie einen an der Küste wieder aus. Aber jeder wird es immer wieder versuchen, bis es klappt.

Aber selbst wenn es dir gelingt, darfst du nicht vergessen, wer der Boss ist, wer die Spielregeln und das Tempo vorgibt. Das müssen wir alle selbst herausfinden, aber wir dürfen gleichzeitig unser Ziel nicht aus den Augen verlieren. Es liegt bei uns, sich anzupassen und immer wieder neue Wege zu suchen, um zusammenzuarbeiten und mit vereinten Kräften ein gemeinsames Ziel zu erreichen.

So ist das Leben. Das Leben ist ein Meer.

Puri ist übrigens, zusammen mit Varanasi, Mathura und Kanyakumari, einer der vier heiligsten Orte für Hindu-Pilger in Indien. Vor allem wegen des Jagannath-Tempels, den jeder Hindu, der etwas auf sich hält, mindestens einmal im Leben besuchen muss. Da den Nicht-Hindus der Eintritt verboten ist, besuchten Caro und ich das nahe gelegene Konark, den siebenhundertfünfzig Jahre alten Tempel der Sonne.

Wie schon so oft, war auch hier der Weg zum Ziel fast genauso interessant wie das Ziel selbst, wenn nicht sogar interessanter.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte uns lächelnd ein Motorradfahrer, der neben uns anhielt. Hinter ihm saß noch ein freundlich dreinblickender Typ, und hinter ihnen hielt ein zweites Motorrad an, ebenfalls mit Fahrer und Beifahrer.

»Ja, alles klar!«, antworteten wir. »Wir warten nur auf unsere Mitfahrgelegenheit nach Konark.«

Wir warteten entweder auf den billigen Bus, der alle halbe Stunde fahren sollte, oder auf einen kleineren und etwas teureren Tuk-Tuk. Wir hatten keine Absicht zu trampen, nicht nur weil wir uns die öffentlichen Verkehrsmittel leisten konnten, sondern, ehrlich gesagt, weil wir nicht damit rechneten, dass jemand wirklich anhalten würde.

»Wenn Sie möchten, können Sie mit uns fahren«, antwortete der lächelnde Fahrer und nickte freundlich mit dem Kopf. Als wir das Angebot annahmen und zurücklächelten, wurde sein Nicken noch schneller. Er schickte seinen Freund auf das andere Motorrad und bot uns an, hinter ihm Platz zu nehmen. Mit Wind im Haar und voller Glücksgefühle freute ich mich, dass ich das erste Mal in meinem Leben per Anhalter mit einem Motorrad mitfuhr!

Der Eintritt zum Tempel kostet für die Einheimischen zehn Rupien, während die anderen zweihundertfünfzig Rupien zahlen müssen. Das ist nichts Ungewöhnliches in Indien, in anderen Teilen der Welt auch nicht. Aber, ehrlich gesagt, ich wusste nicht, was ich davon halten soll. Ist das eine Form von Diskriminierung? Ist es fair, einen viel höheren Preis zu zahlen, nur weil man reicher beziehungsweise weiß ist? Was ist mit den reichen Indern und den armen Ausländern? Welche Regeln gelten für sie?

Da wir wussten, dass der Tempel der Sonne nicht nur eines der sieben Wunder Indiens, sondern auch ein Teil des Weltkulturerbes ist, zückten wir unsere Geldbörsen und bezahlten unsere Eintrittskarten. Auf zu einem neuen kulturellen Erlebnis!

Wir wurden nicht enttäuscht. Wie der Name schon sagt, ist der Tempel dem Sonnengott Surya geweiht. Die Anlage ist komplett aus Steinblöcken gebaut, die mit unzählige Alltagsszenen verziert sind. Doch was die Aufmerksamkeit eines richtigen Kulturbanausen wie mich erregte, waren die erotischen Szenen von Männern, Frauen, Paaren und vielem mehr. Es war überraschend, eine solche direkte und offene Abbildung von Sexualität in diesem konservativen Land zu sehen.

Doch neben dem schönen Tempel und den erotischen Bildern waren wir hier die größte Attraktion. Fast alle zwei Minuten kamen die Einheimischen auf uns zu und wollten ein Foto machen. Ohne genau zu wissen, warum wir so viel Aufmerksamkeit auf uns zogen, waren wir dennoch bereit, der Aufforderung nachzukommen. So posierten wir jedes Mal mit breitem Lächeln.

In solchen Momenten kann man nachfühlen, wie es berühmten Menschen in der westlichen Welt geht. Wenn dich fast jeder auf der Straße beobachtet, wenn alle untereinander über dich sprechen, dich manchmal auch verurteilen, wenn jeder ein Stück deiner Zeit haben will und erwartet, dass du ständig gut gelaunt bist, mit einem Lächeln im Gesicht.

Jeder, der heute in einer voyeuristischen Gesellschaft lebt, in der Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mitsamt ihrem Privatleben im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen, sollte in diesen Teil der Welt kommen und erleben, wie sich das anfühlt. Vielleicht würden wir dann unser Interesse für nebensächliche Details verlieren. Vielleicht würden wir uns auf wichtigere Themen besinnen und Zeit sowie Energie auf unser eigenes Leben und das unserer Lieben konzentrieren.

Vielleicht würden wir leben, statt nur zu beobachten, was andere tun.

 

Tag 286

»Steig ein, mein Freund!«, rief mir ein über und über tätowierter Kerl aus seinem mit Werkzeug vollbeladenen Pick-up zu. »Ich kann dich aber nur bis zur Stadtgrenze fahren.«

»Genau da will ich hin!«, erwiderte ich lächelnd und stieg ein. Aus einer großen Stadt erst einmal hinauszukommen ist ja immer das größte Problem.

»Wo geht’s denn hin?«, mit dieser üblichen Frage begann er das Gespräch.

»Richtung Norden«, antwortete ich ihm vage.

»Was gibt’s denn im Norden?«, fragte er fröhlich weiter.

»Ehrlich gesagt, keine Ahnung«, antwortete ich genauso fröhlich. »Es ist jedenfalls wärmer als im Süden, und ich dachte, ich könnte mal eine Zeit lang durch das ganze Land trampen.«

»Sei vorsichtig«, sagte er, diesmal weniger fröhlich. »Sicher hast du schon von Ivan Milat gehört.«

Der Name, den die Menschen »Ajvän Milet« aussprachen, verfolgte mich seit meiner Ankunft in Australien, und mit diesem Serienmörder, der ausgerechnet aus Kroatien stammte, endeten fast alle Gespräche, die ich zum Thema Trampen führte.