Vorwort

Eines Nachmittags Ende Mai 2013 klingelte das Telefon. Ich war eben aus Beirut nach Hause zurückgekehrt, nach einer zweiwöchigen Reise in die syrische Stadt Yabrud, nordöstlich von Damaskus. Die Fahrt endete dramatisch, als Kampfflugzeuge des syrischen Regimes über der Stadt auftauchten. Die Bomben trafen unser Viertel und zerschmetterten die Fenster unserer Unterkunft. Mein Fotograf und ich beschlossen, Syrien über die libanesische Grenze zu verlassen.

Wir hatten der drohenden Gefahr getrotzt und tagelang ohne Pause gearbeitet. Nun waren wir total erschöpft. Nicht nur die Bomben machten uns nervös, sondern auch die syrischen Rebellen, die vielen verschiedenen Gruppen in der Region angehörten. Wir trauten ihnen nicht. Wir wussten, dass ein französischer Fotograf etwas weiter südlich gefangen gehalten wurde. Zudem hatte sich die Stimmung in Yabrud deutlich verändert, seitdem ich vor einigen Monaten dort gewesen war, und ich war vorsichtig gegenüber jedem, den wir trafen.

Als der Anruf kam, lag ich ausgestreckt auf dem Sofa und versuchte, meine Batterien aufzuladen. Am anderen Ende meldete sich der versierte Kriegsfotograf Jan Grarup. Er bat mich, unser Gespräch streng vertraulich zu behandeln. Ich setzte mich auf, als er berichtete, der dänische freie Fotograf Daniel Rye, sein Assistent, sei in Nordsyrien entführt worden.

„Kennen Sie jemanden, der Kontakte zu Scharia-Gerichten hat?“, fragte er.

„Nein, ich glaube nicht – auf die Schnelle fällt mir niemand ein“, antwortete ich.

Den wenigen Informationen zufolge stand eine Gruppe islamistischer Extremisten hinter Ryes Entführung und er würde sich wohl vor einem Scharia-Gericht verantworten müssen. Jan kannte nur wenige Einzelheiten. Ich fühlte mich machtlos, weil ich nichts tun konnte, um zu helfen. Meine ersten Gedanken galten Ryes Eltern. Ich hatte immer befürchtet, mir könne etwas Ähnliches passieren. Dann müssten meine Eltern am meisten leiden, weil sie nur herumsitzen und warten könnten, ohne zu wissen, wo ich war. Ein unerträglicher Gedanke.

Die Nachricht von Ryes Entführung war nur eines von mehreren Ereignissen, die bewiesen, dass Journalisten ernstlich bedroht waren. Mehrere ausländische Kollegen waren in Syrien entführt worden. Es war ein viel diskutiertes Thema, weil das Risiko uns Angst machte. Im Prinzip waren wir alle potenzielle Geiseln. Das bedeutete, dass es für uns zunehmend schwieriger wurde, die wichtigen Berichte über den Krieg und die syrische Tragödie zu liefern.

Im folgenden Jahr wurden immer mehr Ausländer gekidnappt. Unter den Journalisten im Nahen Osten und in den geschlossenen Kreisen, in denen wir über die Entführungen diskutierten, breitete sich Panik aus. Menschen, die wir kannten, wurden für unbestimmte Zeit gefangen gehalten. Als ich im September und November 2013 und im Juni 2014 nach Syrien zurückkehrte, fühlte ich mich beklommen.

Die islamistische Terrororganisation, die sich ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) nannte, schrieb vor, wohin wir gehen durften. Selbst wenn der ISIS aus einem Gebiet verschwand, das er beherrscht hatte, reichten seine Tentakel weit in die syrische Gesellschaft und in die syrischen Seelen hinein. Die Bewaffneten, die ich im Juni 2014 in Nordsyrien traf, waren wild und unberechenbar. Auch mein freundlicher Fahrer war ISIS-Kämpfer gewesen. „Aber jetzt nicht mehr, Madame“, versicherte er mir.

In Bagdad konnte ich dem ISIS ebenfalls nicht aus dem Weg gehen. Im Frühjahr 2014 griff er ein Stadion an, in dem sich mehrere Tausend Männer, Frauen und Kinder anlässlich der Wahlveranstaltung einer schiitischen Partei versammelt hatten. Ich wollte darüber berichten. Als die erste Bombe explodierte, verlor ich mein Gehör und verbarg mich hinter einer Kühltruhe in einer improvisierten Verkaufsbude. Während überall Kugeln abgefeuert wurden, rannte ich über die Straße, auf der kurze Zeit später ein Selbstmordattentäter fuhr. Ich war mit knapper Not entkommen und spürte noch die Wucht der Explosion im Rücken. Mehr als vierzig Menschen starben an diesem Tag. In diesem Frühjahr gab es nur eine erfreuliche Nachricht: Mehrere europäische Geiseln, auch Daniel Rye, waren gegen Lösegeld freigelassen worden.

Eines Abends im August 2014, als ich mich in einem Hotelzimmer im Irak aufhielt, wurde bei YouTube ein Video hochgeladen. Es zeigte die Ermordung des amerikanischen Journalisten James Foley. Er kniete in einer orangefarbenen Gefängnisuniform in der syrischen Wüste vor seinem ISIS-Henker. Eine amerikanische Kollegin, die ich an diesem Abend bei einem Bier treffen sollte, schrieb mir, sie befinde sich in einem Schockzustand. Wir sagten das Treffen ab. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen. Es war so unsagbar tragisch für James Foley und seine Familie und es war ein brutaler Angriff auf den Journalismus. Angesichts dieser neuen Entwicklungen genügte es nicht mehr, sich und seine Angehörigen darauf vorzubereiten, dass Kugeln und Bomben jeden treffen konnten, der über einen Krieg berichtete.

Jetzt war ich vor allem ein Ziel, ein potenzielles und wertvolles Werkzeug, das man benutzen konnte. Diese Taktik war gewiss nicht neu; doch nun war die Drohung für mich als Journalistin zum ersten Mal extrem nah, fast persönlich. Trotzdem war es mein drängendster Wunsch, zur ISIS-Hochburg nach Rakka zu reisen und über die Islamisten und das Leben der Zivilisten dort zu berichten. Ich wollte die Milizionäre genauer erforschen und herausfinden, wer sie wirklich waren. Weil ich so weit weg war, erwog ich aus purer Frustration ernsthaft, mich von Kopf bis Fuß schwarz zu kleiden und mit einem vertrauenswürdigen Einheimischen hinzufahren.

Stattdessen beschloss ich, meine journalistischen Fähigkeiten zu nutzen, um zu schildern, was mit meinen Kollegen geschehen war, und anhand ihrer Geschichten dem Kern des ISIS ein wenig näherzukommen. Daniel Rye war zusammen mit James Foley als Geisel gehalten worden; also schrieb ich ihm über einen gemeinsamen Bekannten und fragte ihn, ob er mit mir über seine dreizehnmonatige Gefangenschaft in den Händen des ISIS reden wolle. Er antwortete auf Facebook: „Hallo, Puk. Mein Name ist Daniel Rye. Sie haben wahrscheinlich von mir gehört. Ich ging letztes Jahr ein kleines Berufsrisiko ein, das zum Glück gut ausging.“

Wir trafen uns eines Freitags Anfang Oktober 2014 in einem Kellerrestaurant im Zentrum von Kopenhagen zum ersten Mal und stimmten darin überein, dass Daniels Geschichte erzählt werden musste.

Geisel des IS schildert, wie Daniel Rye eine der aufsehenerregendsten Entführungen der neueren Zeit überlebte – ein Geiseldrama, ausgelöst von islamistischen Extremisten, gegen die viele westliche Länder, auch Dänemark, seit Oktober 2014 Krieg führen.

Vierundzwanzig Geiseln – fünf Frauen und neunzehn Männer – aus dreizehn Ländern endeten im selben Gefängnis in Rakka in Nordsyrien. Eingerichtet hatte es die Terrorgruppe ISIS, die ihren Namen später in IS (Islamischer Staat) änderte. Sie hat große Gebiete im Irak und in Syrien erobert. Daniel Rye war eine dieser Geiseln und, als ich dieses Buch schrieb, der letzte Gefangene, der lebend freigelassen wurde.

Dieses Buch ist ein journalistischer Bericht, der auf zahllosen Interviews und Gesprächen mit Daniel Rye und seiner Familie basiert. Es beschreibt die Bemühungen, Daniel aus den Klauen der brutalsten Terrororganisation der Welt zu befreien. Ich habe zudem mit vielen anderen wichtigen Informanten gesprochen: mit ehemaligen Mitgefangenen, Dschihadisten und Experten in der ganzen Welt, die genau über den Fall und Daniels Entführer Bescheid wissen.

Außerdem stützt sich diese Geschichte auf Interviews mit dem Entführungsexperten und Sicherheitsberater Arthur. Er leitete die Suche nach Daniel und seinem amerikanischen Mitgefangenen James Foley, der in Syrien starb. Arthur ist nicht sein richtiger Name; er führt ein sehr unauffälliges Leben, was für seine Verhandlungen mit Geiselnehmern auf der ganzen Welt unerlässlich ist. Normalerweise spricht er nicht über seine Arbeit; trotzdem hat er sich zur Mitarbeit entschlossen, weil er glaubt, dass Daniels Geschichte sehr lehrreich ist. „Wo Leben ist, da ist Hoffnung“, sagte er.

Dieses Buch beschreibt die Wirklichkeit, wie Daniel Rye und die anderen Mitwirkenden sie erlebt und im Gedächtnis behalten haben. Ich habe es mit großem Respekt für die Menschen geschrieben, die ermordet wurden, immer noch gefangen sind oder überlebt haben, und für ihre Familien.

Kairo, September 2015

Alles Gute zum Geburtstag, Jim

Das Flugzeug hatte eben vom Flughafen Heathrow abgehoben und schwebte hoch über den Wolken, als Daniel seine Brieftasche öffnete und ein kleines Stück weiße Pappe herausholte. Stumm musterte er sein mit Bleistift daraufgezeichnetes Gesicht. Auf dem Bild trug er keine Brille, und er hatte einen Bart; aber er war zu erkennen. Er zeigte das Bild Arthur, seinem Reisebegleiter, der neben ihm saß und die langen Beine unter den Sitz vor ihm streckte.

„Eigentlich hatten wir manchmal richtig Spaß“, sagte Daniel und hielt das Miniporträt zwischen den Fingern fest. „Wir spielten unsere eigene Version von Risiko und ich machte mit den anderen Geiseln Gymnastik.“

Die Zeichnung war das einzige Souvenir aus seiner Zeit als Geisel des ISIS in Syrien. Angefertigt hatte sie Pierre Torres, eine der anderen westlichen Geiseln, der sie innen an seinen Ärmel genäht und aus dem Kerker geschmuggelt hatte. Pierre gehörte zu den Glücklichen, deren Freilassung ausgehandelt worden war.

Als Daniel frei war, fürchtete er das Schlimmste. Der Islamische Staat begann, die verbliebenen westlichen Geiseln zu töten. Deshalb flog er nun mit Arthur über den Atlantik nach New Hampshire zur Gedenkfeier für James Foley.

Daniel steckte die Zeichnung in seine Brieftasche zurück und bat um ein Glas Wein zur üblichen Bordverpflegung: „Huhn oder Rindfleisch?“ Nach dem Essen schlief er ein; sein Kopf ruhte auf der immer noch gefalteten und in Plastik verpackten Decke, die er als Kissen benutzte. Seine Haare standen in alle Richtungen ab – eine Folge der statischen Elektrizität – und sein Mund stand offen. Fünf Stunden später wachte er auf, kurz vor der Landung in Boston. Außerhalb des Flugsteigs zündete er sich in der klaren Herbstluft eine Zigarette an und sog den Rauch tief in die Lungen ein. Normalerweise rauchte er nicht. Inzwischen holte Arthur den Schlüssel für den Mietwagen ab und sie fuhren zu ihrem Hotel am Stadtrand.

Am nächsten Morgen fuhren sie zum Haus der Familie Foley in Rochester, New Hampshire. Der 18. Oktober 2014 begann mit wenigen Wolken am Himmel. An diesem Tag wäre James einundvierzig Jahre alt geworden.

Im August 2014 hatte der freie Journalist in der syrischen Wüste sein Leben verloren. Er war die erste westliche Geisel, der ein britischer ISIS-Milizionär namens „Jihadi-John“ die Kehle durchschnitt.

Daniel war dreizehn Monate lang in Syrien festgehalten worden, acht davon hatte er in Gesellschaft von James und anderen westlichen Geiseln verbracht. James blieb stets zuversichtlich, obwohl er seit November 2012 gefangen war. Daniel hatte ihn sehr geschätzt. Sie hatten viel Zeit, einander kennenzulernen und James hatte Daniel von seinen Geschwistern und Eltern erzählt. Nun war er auf dem Weg zu James’ Eltern, um einer Freundschaft, die im Kerker begonnen und geendet hatte, die letzte Ehre zu erweisen.

Die Bäume entlang der Old Rochester Road verneigten sich einladend. Diese schmale, alte Landstraße windet sich durch ganz New England. Hellrote Ahornbäume überragten die grünen Kiefern und gelbe, orangefarbene und braune Blätter hingen an den Ästen wie ein letzter Atemzug vor dem Wintereinbruch. Der Duft des nahen Winters vermischte sich mit dem Rauch aus Daniels und Arthurs Zigaretten. Daniel scrollte durch die Musik auf seinem iPhone und spielte das melancholische Lied „Add Ends“ der dänischen Gruppe When Saints Go Machine. Diesen Song hatte er seit James’ Ermordung unzählige Male gehört.

Große, gepflegte Häuser schmiegten sich zwischen die Bäume und man sah Kürbisse mit fröhlichen geschnitzten Gesichtern und sternförmigen Augen. Manche allerdings schienen bedrohlich zu kreischen. Diese Kürbislaternen hielten auf dem Rasen und an den Einfahrten Wache. Selbst das Lebensmittelgeschäft des Ortes war so üppig mit ihnen geschmückt, dass sie fast den Eingang versperrten.

Als sie in die Straße zum Haus der Foleys einbogen, wechselte das Orange zu Schwarz. Sie fuhren an einem großen Gebäude vorbei, dessen Tür ein Skelett mit Kapuze bewachte. Die Straße kurvte um vereinzelte Häuser und amerikanische Fahnen, die im Gras neben dem Asphalt steckten. Das ganze Viertel trauerte angesichts der Tragödie, die über die Familie in dem weißen Haus am Ende der Straße hereingebrochen war.

Der ausgedehnte Rasen vor dem Grundstück war dicht und glänzte und Licht fiel durch die Fenster auf die Einfahrt, wo ein paar Autos parkten. Daniel ging zielstrebig zur Haustür, gefolgt von Arthur. Er klopfte und trat ein, als er Stimmen hörte. Diane und John Foley, James’ Eltern, begrüßten die beiden schon auf der Matte, auf der „Willkommen“ stand. Diane umarmte Daniel lange und mütterlich; ihr volles dunkles Haar streifte sein Gesicht, als sie ihn an sich zog. Sie drückte seinen Arm und führte ihn in die überfüllte Küche, um ihn der Familie vorzustellen. Über der Tür zwischen der Küche und dem Wohnzimmer waren die Worte gemalt: „Verbreitet mit Gottes Segen Liebe und Lachen in diesem Haus.“ Es roch nach Kaffee, Parfüm und Toast.

„Das ist Daniel“, sagte Diane mit Dankbarkeit und Schmerz in der Stimme.

Nach einem Jahr in Gefangenschaft hatte Daniel endlich das Gefühl gehabt, bald freigelassen zu werden. James bat ihn, seiner Familie eine Nachricht zu überbringen, traute sich aber nicht, einen Brief zu schreiben. Hätte man den gefunden, hätte seine Familie ihn wohl nie bekommen und Daniels Freilassung wäre gefährdet gewesen. Also setzten sie sich in der Zelle nebeneinander und James diktierte die Worte, die Daniel so lange wiederholte, bis er sich im Schlaf an sie erinnerte.

Kaum war Daniel frei und wieder in Dänemark, rief er Diane an und wiederholte James Botschaft Wort für Wort am Telefon. Es war der einzige und letzte Gruß, den die Familie von ihrem gefangenen Sohn erhielt. Diane schrieb James’ Worte auf, um sie nie zu vergessen.

Für die Gedenkfeier hatte sie die Worte drucken lassen, damit die Gäste und die ganze Welt sie ebenfalls lesen konnten. Der Titel lautete: „Ein Brief von Jim“. Auch eine Nachricht an seine Großmutter war dabei:

„Oma, bitte nimm deine Arzneien, geh spazieren und hör nicht auf zu tanzen. Ich möchte dich ins Margarita ausführen, wenn ich nach Hause komme. Bleib stark, denn ich brauche deine Hilfe, damit ich mein Leben zurückfordern kann.“

„Danke, Daniel“, sagte James’ Großmutter in der Küche, als sie ihm die Hand drückte. Die schmächtige Dame mit den Perlohrringen trocknete sich die Augen und es schien, als werde sie unter der Last ihrer Sorgen gleich zusammenbrechen.

An seine jüngere Schwester Katie, die Frau mit dem langen, glatten Haar, hatte James diese Worte gerichtet:

„Katie, ich bin sehr stolz auf dich. Du bist die Stärkste von uns allen! Ich weiß, wie hart du arbeitest, um als Krankenschwester Menschen zu helfen. Ich bin so froh, dass wir uns kurz vor meiner Entführung gesimst haben. Ich bete, dass ich zu deiner Hochzeit kommen kann.“

James’ Brüder Mark, John und Michael standen ebenfalls in der Küche. Alle trugen dunkle Anzüge und hatten die braunen Augen unter weiten dunklen Brauen und ein breites Lächeln mit James gemeinsam. Daniel hatte das Gefühl, sie seit Langem zu kennen, weil James sie sehr vermisst und daher ausführlich von ihnen erzählt hatte. Er wusste auch, dass die Brüder sich nach guten Nachrichten von James gesehnt hatten. Seine Botschaft hatte ihnen für kurze Zeit neue Hoffnung gegeben:

„Ich habe gute und schlechte Tage. Wir sind dankbar, wenn jemand freikommt, aber wir sehnen natürlich auch unsere Freiheit herbei. Wir versuchen einander zu ermutigen und Kraft zu geben. Man gibt uns jetzt besseres Essen, sogar täglich. Wir haben Tee und manchmal Kaffee. Ich habe fast so viel zugenommen, wie ich voriges Jahr abgenommen habe … Wenn ich an die vielen schönen Zeiten mit der Familie denke, fühle ich mich nicht mehr als Gefangener … Ich spüre euch besonders, wenn ich bete. Ich bete dafür, dass ihr stark bleibt und glaubt. Wenn ich bete, habe ich wirklich das Gefühl, dass ich euch berühre, sogar in dieser Dunkelheit.“

James war nun endlich von seinen Qualen erlöst und die Familie versuchte, der Dunkelheit zu entfliehen. Mark und seine Frau Kasey erwarteten ihr erstes Kind.

„Er soll James Foley heißen“, sagte Kasey voller Stolz auf ihren ungeborenen Sohn, als sie in Hausschuhen in der Küche stand und ihren Bauch streichelte.

Der Gottesdienst sollte um zehn Uhr beginnen. Alle leerten ihre Kaffeetassen und zogen die Schuhe und Mäntel an. Kasey behielt ihre Pantoffeln an, als die Familie zum Auto ging. Diane bestand darauf, auf dem Rücksitz neben Daniel Platz zu nehmen und hielt seine Hand, während John stumm zur Kirche fuhr.

Die Kirche Unserer Lieben Frau vom Heiligen Rosenkranz in Rochester war mit Angehörigen und Freunden gefüllt. Vor dem Altar stand ein Bild von James Wright Foley. Er zeigte sein charmantes schiefes Lächeln, das ihm dem Vernehmen nach bei Frauen große Erfolge beschert hatte. Gelbe und rote Blumen umrahmten sein Gesicht. Die Augen ließen erahnen, was für ein warmherziger Unruhestifter er gewesen war.

Es gab keinen Sarg. James’ Leichnam war bereits irgendwo in Syrien bestattet worden. Seine Familie brachte es nicht übers Herz, das letzte Bild zu betrachten, das die Welt von ihm gesehen hatte. Es zeigte die auf dem Bauch liegende Leiche in einer orangefarbenen Gefängniskluft mit den Armen an den Seiten. Zwischen den Schulterblättern lag der Kopf.

Die meisten Medien hatten das IS-Propagandavideo über James’ Ermordung nicht gezeigt. Daniel hatte es nur angeschaut, weil er sicher sein wollte, dass James endlich Frieden gefunden hatte. Viele andere Bilder von James hatten sich in sein Gedächtnis eingegraben und zogen an ihm vorbei, als er auf einer der vorderen Bänke saß und geradeaus starrte. Sein weißes Hemd leuchtete wie der Mond zwischen den vielen dunklen Mänteln in der Kirche.

Er dachte an den 18. Oktober 2013 zurück, als sie zusammen gefangen gewesen waren. Spät am Abend hatte James beiläufig erwähnt, dass dies sein vierzigster Geburtstag war. Daniel und die anderen Gefangenen hatten ihm gratuliert und ihm einen schöneren Geburtstag im kommenden Jahr gewünscht.

Jetzt saß Daniel vor einem Foto von James, während Michael unter Tränen von seinem herzlichen, liebevollen großen Bruder erzählte, der für eine bessere Welt gekämpft hatte.

„James starb für das, woran er glaubte“, sagte er.

Daniel erkannte James in Michael. Er beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf die Knie. Sein breiter Rücken bebte. Der Mann, den Michael den Gästen beschrieb, war der James, den Daniel gekannt hatte, der immer für andere dagewesen war – selbst als alle wussten, dass er vielleicht in Gefangenschaft sterben würde.

Daniel nahm seine Brille ab und schluchzte. Er konnte seine verzweifelten Klagelaute nicht unterdrücken, während sein Magen sich verkrampfte. Zum ersten Mal seit August, als Arthur ihn von James’ Tod unterrichtet hatte, brach sein Kummer aus ihm heraus. Mit beiden Händen wischte er die Tränen weg und entblößte dabei die roten Narben an seinen Handgelenken. Sie waren wie tätowierte Armbänder in seine Haut gekerbt. Dann setzte er die Brille wieder auf und schaute mit geröteten Wangen zum Altar.

„Alles Gute zum Geburtstag, Jim“, schloss der Pfarrer und die Gemeinde sprach ein Gebet für alle Flüchtlinge der Welt und für die Syrer, die seit drei Jahren in einem blutigen Kriegsgebiet lebten. Zum Schluss sangen sie „Ich bin das Brot des Lebens“.

Draußen vor der Kirche rauchte Daniel noch eine Zigarette.

„Ein Dämon hat gerade meinen Körper verlassen“, sagte er zu Arthur, ehe er laut in die Herbstluft schrie: „James, du Blödmann! Ich vermisse dich! Warum zum Teufel musstest du gehen und sterben?“

Die Familie fuhr hinaus zum Friedhof. Ein flacher grauer Grabstein lag im Gras, umringt von Ahornblättern und gelben Blumen. Diane legte ihrer Mutter den Arm um die Schultern, während alle einen Halbkreis bildeten und still beteten. Der Himmel klarte auf und die Sonne schien auf die Grabstätte. Daniel betrachtete den Grabstein und die Inschrift: „Ein Mann für andere.“

„Schaut, da kommt die Sonne. Es wird doch noch ein heller Tag“, meinte Diane.

Nach der Zeremonie ehrte die Familie James mit einem Empfang in der Kirche. Sein ehemaliges Kindermädchen bemerkte, er sei im orangefarbenen Anzug des Lebens gestorben, während sein Mörder die schwarze Robe Satans getragen habe. Pfarrer Paul erinnerte an einen der letzten Abende, an denen er mit der Familie zu Abend gegessen hatte, bevor James nach Syrien gereist war.

„Ich sagte ihm, seine Geschwister seien nicht begeistert von seinem Entschluss, nach Syrien in den Löwenkäfig zu gehen. Er antwortete: ‚Herr Pfarrer, ich muss zurückgehen und vom syrischen Volk berichten. Es lebt unter einem Diktator, der über alle Menschen hinwegtrampelt wie über Gras.‘ Wir haben Essen auf dem Tisch, aber wir wissen nicht, was die Syrer durchmachen. Ich weiß, dass James’ Mission von Herzen kam.“

Diane stand mehrere Stunden auf demselben Platz und nahm Beileidsbekundungen der Gäste in Empfang. Die Kondolierenden bildeten eine Schlange, die sich um den ganzen Raum wand.

Am nächsten Morgen kaufte Daniel spontan einen Pullover mit New Hampshires Motto aus dem Unabhängigkeitskrieg: „Lebe frei oder stirb.“ Arthur und er kauften zudem einige Flaschen Bier, etwas Wasser und Kekse in dem kleinen Lädchen, das eine alte Dame unterhielt, und fuhren dann zu dem riesigen Wald, der den Winnipesaukee-See säumt. Dort hatte James als Kind gespielt.

Daniel zog den burgunderroten neuen Pullover an und schlenderte mit Arthur stundenlang die feuchten Waldwege entlang. Dabei verirrten sie sich zwischen kahlen Baumstämmen und rostbraunen Blättern. Daniel holte tief Luft. Es war so still, wie es bisweilen in der Gefangenschaft gewesen war – oder auf dem Feld neben dem Haus in Hedegård, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Er wusste, wie es ist, wenn man sich mehr nach dem Tod als nach dem Leben sehnt. Zwischen den Baumstämmen, im Schlamm, der an den Schuhen haftete, schrie er: „Das ist von heute an mein Motto: Lebe frei oder stirb!“