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Zwischen Verrat und Hoffnung

Aus der Reihe "Erbe der Sieben Würsten"

Zwei Kurzgeschichten aus der Welt der Bestien

als Sammelband


Helen B. Kraft




©Helen B. Kraft 2016

Machandel Verlag

Haselünne

2016

Cover-Bildquelle: Artem Furman /www.shutterstock.com

sowie eine 3D Illustration

ISBN 978-3-95959-044-0

Der Sturm am Fluss

Nachzudenken war eine gute Idee. Benna verließ das Haus ihres Vaters und ging zu ihrem Lieblingsplatz am Fluss, wo sie über die Dinge grübeln konnte, die sie heute erfahren hatte und die ihr nicht gefielen.

Sie kickte unmutig einen Stein Richtung Wasser, ehe sie sich ans Ufer hockte und dem gleichmäßigen Fließen zusah. Doch anders als sonst half ihr der hypnotische Anblick der Strömung diesmal nicht, ihre Gedanken zu klären.

Ihr Vater wollte sie zu seiner Nachfolgerin ernennen. Jetzt schon. Benna lehnte sich nach hinten, krallte die Finger ins weiche Gras und legte den Kopf zurück.

Sie gehörte nicht zu den Bestienfrauen, die vor Verantwortung davonliefen, aber sie war gerade mal seit einhundert Jahren im Erwachsenenstand. Wie sollte sie da einen Clan führen, der an alten Werten festhielt wie eine Wüstenbestie an Magie?

Wer würde schon auf sie hören wollen, zumal ihr Vater ja noch lebte? Es schien ihr ungerecht, dass er ihr jetzt schon diese Bürde auferlegen wollte, vor allem, weil er es tat, weil er des Lebens müde war. Anstatt seinen Lebenszweck darin zu sehen, die Flussbestien durch die gefährlichen Fahrwasser zu leiten, die seit dem Fall von Crothar-der-Legende jeden Clan bedrohten, wollte er davonlaufen.

Benna seufzte und starrte blind in den Himmel, wo die Drillingsmonde ungerührt auf sie herabblickten. Sie vermisste ihre Mutter ja auch. Ihre tapfere, starke Mutter, die im Kampf gefallen war, als Fürst Cruth sich endlich gegen seinen Vater aufgelehnt hatte, um die Bestien in eine friedvollere Zukunft zu führen. Aber anstatt stolz auf seine Gefährtin zu sein, die ihm und ihrer Tochter einen Weg aus einem nahezu sklavenhaften Leben ermöglicht hatte, verdammte Ildren sie. Und Benna war die Leidtragende.

Sie stand auf und knöpfte ihr Kleid auf. Schwimmen hatte ihr immer schon geholfen, den Kopf klarzubekommen. Wasser beruhigte, und die Bewegungen würden helfen, die aufgestaute Anspannung abzubauen. Außerdem konnte Benna so gleichzeitig auch die Flusskrebsfallen untersuchen, die sie gestern aufgestellt hatte. Es gehörte zwar nicht zu ihren Aufgaben, Essen zu beschaffen, aber sie mochte die Arbeit am Wasser, und ein paar Krebse waren eine wunderbare Ergänzung zu dem sonst üblichen Einerlei.

Ohne sich darum zu scheren, ob jemand sie sah, ging Benna barfuß zum Wasser. In Menschengestalt war sie so zart gebaut, dass jede Nicht-Bestie vermutlich annähme, die ringsum herrschende Kälte würde ihr zusetzen, in Wahrheit jedoch nahm Benna sie kaum wahr. Sobald ihre Zehenspitzen das Wasser berührten, legte sich eine tiefe Ruhe über ihren Geist. Mit schnellen Schritten watete sie in den Fluss hinein und tauchte unter.

Geräusche und Gerüche verblassten unter der Wasseroberfläche, doch Benna störte sich nicht daran. Mit offenen Augen steuerte sie die Reuse an. Sie war noch leer, also tauchte Benna auf und drehte sich auf den Rücken. Sie ließ sich von der Strömung treiben, korrigierte nur hin und wieder die Richtung, wenn sie zu nahe ans Ufer kam.

Als die Strömung ruhiger wurde, schloss sie die Augen, ging noch einmal im Geiste alles durch, was sie mit ihrem Vater besprochen hatte und kam schließlich zu dem einzig vernünftigen Schluss: Sie würde sich fügen müssen.

Die Flussbestien benötigten einen starken Anführer, und wenn Benna auch jung war, ließ sie es sich nicht nehmen, ihre Stärke deutlich zu zeigen. Sie konnte sich verteidigen, war nicht auf den Mund gefallen und bislang hatte es kaum jemand gewagt, ihr offen zu trotzen. Dennoch würde es ein hartes Stück Arbeit werden, sich denselben Respekt zu verdienen, den ihr Vater besaß. Jede Flussbestie liebte Ildren - wie sie auch seine Gefährtin geliebt hatten.

Benna drehte sich auf den Bauch, schwamm mit kräftigen Zügen, ehe sie wieder in Rückenlage ging und das Problem von einer anderen Seite zu analysieren versuchte.

Die übrigen Clans konnten ein Problem werden. Sie trauten dem Frieden, den Fürst Cruth geschaffen hatte, nicht vollständig. Viele sahen darin sogar eine Beschneidung ihrer Rechte. Territorialkämpfe waren keine Seltenheit, wenngleich der Flussclan bislang verschont geblieben war. Die Friedensverträge mit den Nachbarn hielten, zumindest unter Ildrens Anführerschaft. Benna war sich sicher, dass ihr Vater das berücksichtigt hatte, dennoch konnte es nicht schaden, sich selbst auch Gedanken darum zu machen.

Um sich herum fühlte Benna die Strömung stärker werden. Sie drehte sich herum, um nicht zu weit abzutreiben, als etwas haarscharf an ihrem Kopf vorbei ins Wasser flog. Überrascht tauchte sie unter und sah gerade noch einen Pfeil, der abgetrieben wurde. Sofort erwachte die Bestie, und noch ehe ein zweiter Pfeil an ihr vorbeizischte, hatte sich Benna verwandelt. Sie schnellte durchs Wasser und sprang ans Ufer, wo sich ihre Klauenfüße in das weiche Erdreich gruben. Sie atmete schnell, nicht von der Anstrengung des Wandelns, sondern vor Angst. Jemand griff sie an, ohne provoziert worden zu sein!

Hektisch blickte sie sich um, die Säbelzähne und Klauen ausgefahren, bereit, jeden zu zerfetzen, der sich ihr entgegenstellte.

Doch da war niemand.

Keine hundert Schritt entfernt lag ein Wäldchen, das sie mit Blicken absuchte. Obwohl die Bäume dicht standen, vermochten es die Bestienaugen, auch das kleinste Tier zu erspähen, das zwischen oberirdischen Wurzeln hin und her sprang. Am Rand des Flusses wuchsen hohes Gras und einige Sträucher sowie Wildblumen mit weißen, violetten und grauen Blüten.

Sie blähte die Nüstern, drängte den Geruch des Wassers, der Wiese und des Waldes beiseite. Wenn ihre Nase keinen Angreifer wahrnahm, musste dieser unter dem Wind stehen, der jetzt um Bennas Körper spielte und die Feuchtigkeit trocknete, die als dünner Film in ihren Fellbüscheln festhing. Wenn das ein Kinderstreich gewesen sein sollte, würde sie die Kurzen eigenhändig übers Knie legen. Sie hatte sich vollständig verwandelt, sodass eine Rückwandlung sie für mindestens einen Tag außer Gefecht setzen würde. Wie sollte sie das ihrem Vater erklären? Und vor allem, wie, dass sie keine Rüstung trug, sondern nackt umherlief, wodurch jeder Bestienmann auf ihre Reize aufmerksam werden könnte?

»Komm raus, Feigling«, knurrte sie und suchte weiterhin den Wald nach verdächtigen Bewegungen ab.

Weil sie immer noch nichts finden konnte, machte sie einen Schritt nach vorn, hielt aber jäh inne, als ein dritter Pfeil direkt vor ihren Füßen landete. Der Schaft bebte vom Aufprall und die Federn sangen einen leisen Ton.

Jetzt gab es für ihre Bestie kein Halten mehr. Sie warf den Kopf in den Nacken und brüllte. Niemand griff sie auf ihrem Grund und Boden an. Wusste derjenige denn nicht, dass sie Ildrens Tochter war? Oder konnte es womöglich jemand sein, der ihr die Führung streitig machen wollte?

Benna wusste, dass der kleinste Hinweis auf den Aufenthaltsort ihres Angreifers ihrer Bestie genügte, dass diese endgültig losbrach und angriff.

Ein Rascheln. Unweit ihres Standortes fiel ein dunkler Schemen von einem Baum. Benna erkannte eine hochgewachsene, schlanke, menschliche Gestalt, die in grün-braunes Leder gehüllt war, das sie fast mit der Umgebung verschwimmen ließ. Neben einer ledernen Hose trug sie eine Weste, die bis zum Hals geschlossen war und in eine Kapuze überging, die ihr tief ins Gesicht reichte. Ärmel hatte das Kleidungsstück keine, aber wenn Benna richtig sah, konnte man an den Schulterstücken solche ergänzen.

Während sich die Person langsam aufrichtete, drang das Knarren von Leder an Bennas Ohr und auch der Geruch des gegerbten Materials wehte zu ihr herüber. Während sie sich noch fragte, wie ihr dieser Duft hatte entgehen können, kam Benna nicht umhin, festzustellen, dass der Fremde etwas Beunruhigendes an sich hatte. Sie runzelte die Stirn. Sie durfte keine Schwäche zeigen, solange sie die Beweggründe für den Angriff nicht kannte - und dann erst recht nicht.

»Also, wer bist du?« Ihn förmlich anzusprechen, nachdem er sie dreimal zu töten versucht hatte, erschien ihr irgendwie nicht richtig.

»Man nennt mich Wister.« Dunkel und samtig wie warmes Flusswasser umspülten die wenigen Worte Benna. Die Frau, die sich in den Geist der Bestie zurückgezogen hatte, holte erschrocken Luft, während das Tier tief unten in der Kehle grollte.

»Und was gibt dir das Recht, mich auf meinem Land anzugreifen?«

Er legte den Kopf schräg, ohne dass dadurch sein Gesicht besser zu erkennen gewesen wäre. Frustriert, weil sie ihn nicht richtig sehen konnte, ballte Benna die Fäuste.

»Nicht dein Land.«

Das konnte nicht sein. Sie war nicht lange genug geschwommen, um die unsichtbare Grenze in eines der Nachbarreiche zu überschreiten. Benna drehte sich halb herum, um die Spitze des Targs als Referenz zu nehmen. Innerhalb des Territoriums der Flussbestien war der Berg kaum zu sehen, doch als sie jetzt das Felsmassiv erblickte, erkannte sie sogar das Glitzern der seltenen Steine, die es nur dort gab.

Ein Fluch rollte über Bennas Zunge, doch ehe er herausquellen konnte, spürte sie etwas Scharfes an der Kehle.

»Ganz ruhig«, sagte Wister hinter ihr leise.

Bennas Herzschlag verdoppelte sich. Die Bestie wollte sich herumwerfen und den Angreifer vernichten, die Frau dagegen kämpfte um Selbstbeherrschung. Wenn sie sich jetzt drehte, würde die Waffe ihre Schlagader durchtrennen. Keine Option also.

Sie musste mehr über diesen Fremden erfahren, der sowohl Mensch als auch Bestie sein konnte. Da sie seinen Duft nicht erkannte, selbst jetzt, da sie einander so nahe waren, konnte sie nicht sicher erkennen, um was es sich handelte. Außerdem kannte Benna keine Menschen persönlich, wusste nur, dass sie aussahen wie Bestien, die ihre tierischen Merkmale ablegten. Sie wusste schlichtweg nicht, wonach diese rochen. Es bestand immerhin eine, wenn auch kleine Möglichkeit, dass sich ein einfacher Mann durch die Weltportale nach Scáthgard verirrt hatte und nun glaubte, sein eigenes Gebiet zu verteidigen. Wie musste sie da in ihrer Bestiengestalt auf ihn wirken? Sie überlegte kurz. Wäre er ein Mann ihrer Gattung, hätte ihr Anblick ihn womöglich gereizt. Ohne Kleidung verbarg sie kein Detail ihres Körpers.

Warmer Atem streifte Bennas Nacken. Sie fühlte, wie ihre Brustspitzen sich verhärteten. Was eine Reaktion der Angst sein konnte – aber irgendetwas sagte ihr, dass von dem Fremden noch keine echte Gefahr drohte, wenngleich sie nicht wusste, woher sie diese Gewissheit nahm.

Bennas Nüstern blähten sich erneut, wieder ohne Ergebnis.

»Ich muss abgetrieben sein. Ich … hätte schwören können, dass ich noch im Regentschaftsbereich der Flussbestien war.«

»Bist du aber nicht.« Wieder kitzelte sein Atem ihr Ohr.

»Offensichtlich. Wirst du mich töten?«

Er zögerte. Lange. Zu lange für Bennas Geschmack, sodass sie ein Stoßgebet zu den drei Gottheiten schickte.

»Dreh dich um.« Er hob seine Stimme nicht. Dennoch folgte sie dem Befehl, als habe er sie lautstark dazu aufgefordert. Dabei vermerkte sie sehr wohl, dass er darauf achtete, sie nicht mit dem zu verletzen, womit er sie bedrohte. Sie schielte nach unten und entdeckte, dass er einen Pfeil gegen ihren Hals drückte, wobei er den Schaft dicht vorne an der Spitze hielt. Wäre er eine Bestie, hätte er sie mit einer Kralle bedroht, dass er es nicht tat, beunruhigte Benna fast noch mehr. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Menschen, hier? Soweit im Landesinneren? Das dürfte eigentlich nicht möglich sein.

»Greifst du mich an, wenn ich den wegnehme?« Seine Hand mit dem Schaft ruckte kurz, und die Spitze schrammte über ihre Haut. Es tat weh, verletzte Benna aber nicht ernsthaft, weswegen ihre Bestie nur warnend grollte und nicht angriff.

»Nein.«

Offenbar glaubte Wister ihr, denn er steckte den Pfeil mit einer fließenden Bewegung in den Köcher auf seinem Rücken. Das Spiel seiner Armmuskeln bewies, dass Schlankheit nichts mit Kraftlosigkeit zu tun hatte. Bennas Mund wurde trocken, die Bestie dagegen schnaubte verächtlich.

»Du hast mir deinen Namen noch nicht verraten.« Noch immer zeigte er keinerlei Anzeichen von Nervosität angesichts ihres Aussehens. Aber das konnte auch gespielt sein. Wenn sie doch nur sein Gesicht sehen könnte! Jedes Mal, wenn sie ihr Gewicht verlagerte, um unter die Kapuze zu spähen, glich er ihre Bewegung aus.

»Zeig mir zuerst dein Gesicht«, verlangte sie schließlich frustriert.

Ein kurzes Beben ging durch seinen Körper, dann drang sein dunkles Lachen an Bennas Ohr. Es klang ein wenig arrogant, aber durchaus sympathisch.

»Nein.«

Sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, wohl wissend, dass es ihrem Äußeren einen brutalen Anstrich verlieh. Sollte der Mensch sie fürchten, zu respektieren schien er sie ja offenbar nicht.

»Dein Name.« Er blieb unerbittlich, aber Benna würde nicht umsonst Regentin ihres Hauses werden. Sie schwieg. Als er allerdings ein Bitte hinterhersetzte, fühlte sie sich, als habe er sie in den Magen getreten. Er musste ein Mensch sein. Bestien baten nicht.

»Benna.«

»Hm.«

»Ist das alles, was dir dazu einfällt?« Sie verschränkte gespielt gelangweilt die Arme vor der Brust und tippte mit den Fingern auf. Wo die Klauen die Hornplatten ihrer Oberarme trafen, klackte es leise.

»Gibt es denn noch mehr?«

Seine enervierende Ruhe machte sie wahnsinnig. Wer oder was hinderte sie eigentlich daran, ihm die Kapuze vom Kopf zu schlagen und einfach nachzusehen?

Als ob er ihre Gedanken erraten hatte, trat er einen Schritt zurück. Er hob den Bogen, deutete eine schwungvolle Verbeugung an und machte Anstalten zu gehen.

Benna machte einen Schritt nach vorn, um ihn aufzuhalten. Etwas Spitzes bohrte sich in ihre Fußsohle. Sie schüttelte es ab, ohne nachzusehen. Sie wollte Antworten und Wister würde sie ihr geben müssen. Sie streckte einen Arm aus, um ihn festzuhalten, aber noch bevor sie ihn berührte, verschwamm alles vor ihren Augen und sie fiel in ein bodenloses Loch.

*

Benna erwachte mit dem Gefühl, auf einem Schiff zu sein, das sich in einem Sturm befand. Auf und ab ging der Wellengang, hob ihren Magen und peitschte ihr das Haar ins Gesicht.

Verwirrt runzelte sie die Stirn, weil sie sich nicht bewegen konnte. Nur mühsam gelang es ihr, die Lider zu öffnen. Ein Kampf, der viel mehr Kraft zu kosten schien als eine Verwandlung. Benna war vollkommen erschöpft, als sie es geschafft hatte, doch im nächsten Augenblick wünschte sie, sie hätte es nicht, weil sie nur wenige Handbreit vor ihrer Nase zwei Pferdebeine ausmachen konnte und einen Schotterweg, der unter ihr entlanghuschte. Im nächsten Augenblick verkrampfte sie sich vor Panik, weil sie begriff, dass sie wie ein Sack Getreide bäuchlings auf dem Rücken eines Pferdes lag, an Händen und Füßen gefesselt. Ein weiterer Blick verriet ihr, dass sie sich offenbar in ihrer Bewusstlosigkeit in ihre Menschengestalt zurückgewandelt hatte, denn die Stricke, die sie hielten, waren fest um menschliche Handgelenke geschlungen. Würde sie sich erneut verwandeln, um einen Befreiungsversuch zu wagen, könnte sie sich damit Hände und Füße abtrennen. So schnell Bestien auch heilten, abgetrennte Körperteile wuchsen nicht mehr nach.

Nun bemerkte sie auch den üblen Geschmack im Mund und wusste, warum ihr Entführer sie nicht geknebelt hatte. Vermutlich zierte ihr Erbrochenes ein gutes Stück des Weges. Vielleicht sollte sie dankbar für den fehlenden Knebel sein, nur wollte ihr das angesichts der Fesseln nicht gelingen.

Das Pferd wurde angehalten und Füße in festen Stiefeln tauchten in Bennas Sichtfeld auf. Sie knurrte, doch es klang eher wie das hilflose Grummeln eines Welpen.

»Du bist wach.« Wister beugte sich vor, wodurch die Kapuze verrutschte, und strich ihr beinahe zärtlich das Haar aus dem Gesicht, sodass er sie besser sehen konnte.

Zum ersten Mal erkannte Benna deutlich seine Züge und wurde angenehm überrascht. Aristokratisch war das erste, was ihr dazu einfiel, als sie seine hohen Wangenknochen, die energische Kinnlinie mit dem Bartschatten und die gerade, leicht falkenartige Nase erkannte. Der nächste Gedanke war nicht mehr so freundlich. »Binde mich los, Arschloch!«

Wister schnaubte und richtete sich auf. Benna musste sich den Hals verdrehen, um sehen zu können, was er tat.

Er sah sich nur um, dann wies er auf eine Stelle unweit ihrer Position. »Dort drüben ist ein guter Rastplatz, dort werde ich dich losmachen.«

Sie wollte jetzt befreit werden, nicht wie ein Sack Mehl transportiert und abgeladen werden, doch für weiteren Protest fühlte sie sich nicht stark genug. Was auch immer Wister mit ihr getan hatte, es war gründlich gewesen.

Während er das Pferd zu der Stelle führte, auf die er gezeigt hatte, überdachte Benna ihre Situation. Entweder war Wister ein Mensch, der hoffte, mit einer Bestie als Beute könnte er viel Gold verdienen, oder er war geschickt worden, um die künftige Regentin des Flussclans zu entführen, um Lösegeld zu erpressen. Andere Möglichkeiten schienen ihr zu abwegig, um sie überhaupt in Erwägung zu ziehen.

Am Rastplatz angekommen, band Wister die Fesseln sorgfältig los. Als Bennas Blutzirkulation wieder in Gang kam, brannte und juckte es gleichermaßen, sodass sie schmerzerfüllt aufstöhnte.

»Keine Sorge, gleich kannst du dich ausruhen.« Wister hob Benna vom Pferderücken, als sei sie nichts weiter als eine Feder. Dann umfasste er ihre Handgelenke und rieb sachte darüber, bis das unangenehme Gefühl vertrieben war. Erst jetzt bemerkte sie, dass er eine Decke über sie gelegt und sie nicht nackt herumgeschleppt hatte. Vielleicht war er also doch nicht so schlimm, wie sie eingangs gedacht hatte.

Vorsichtig setzte er sie auf einen umgestürzten Baumstamm und versicherte sich, dass die Decke sie vollständig einhüllte, ehe er wieder zum Pferd ging und sich an den Taschen zu schaffen machte. So umsorgt hatte sich Benna zuletzt von ihrer Mutter gefühlt. Das verwirrte sie und warf Fragen auf, die sie noch mehr aus dem Gleichgewicht brachten.

»Ich mache ein Feuer, dann gehe ich jagen. Ruh dich aus. Ich versorge dich mit Blut, dann geht es dir bald besser.«

»Warum?«

Er legte den Kopf schräg, während er umliegende Steine einsammelte und im Kreis anordnete. »Du bist in einen Rabenkern getreten. Dein Glück, dass ich in der Nähe war, sonst hättest du dort vielleicht tagelang gelegen. Das Gift hätte dich vermutlich umgebracht.«