65.800.ebook.jpg

Informelles Lernen

Wie Kinder zu Hause lernen

Alan Thomas und Harriet Pattison

Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Kern

Für Mary und Aled, die zur Schule gingen, und für Tom, Meada und Hope, die es nicht taten.

Vorwort

Alle Kinder lernen zu Hause. Von Geburt an erforschen sie die sie umgebende Welt und entdecken dabei schrittweise alles Mögliche über ihre materielle und gesellschaftliche Umgebung und die Kultur, der sie angehören. So beiläufig und ungerichtet ihr Lernen auch ist, sind Säuglinge und Kleinkinder doch in der Lage, in den ersten Monaten und Jahren ihres Lebens eine erstaunliche Menge an Wissen zu erwerben. Allerdings erwarten wir nicht, dass dies sehr lange so weitergehen könnte. Wenn Kinder mit der Schule beginnen, ändert sich die Weise, auf die sie unserer Vorstellung nach lernen sollen, dramatisch. Das informelle Lernen im Leben zu Hause »wie und wann es kommt« wird durch Lehrpläne, Stundenpläne, festgelegten Unterricht, Lernziele, Überprüfungen und Beobachtungen ersetzt, weil diese für fortgesetztes ausreichendes Lernen als notwendig erachtet werden. Dennoch gibt es jetzt eine zunehmende Anzahl von Kindern, die entweder nie mit der Schule beginnen oder irgendwann während der nächsten elf Jahre1 aussteigen. Viele dieser Kinder setzen einfach das informelle Lernen, das ihnen in der frühen Kindheit so dienlich war, fort oder nehmen es wieder auf. Dieses Buch handelt von diesen Kindern und ihrer Art des Lernens.

Wir kamen auf unterschiedlichen Wegen zur gemeinsamen Arbeit an der in diesem Buch beschriebenen Forschung. Alan Thomas ist Entwicklungspsychologe und interessierte sich ursprünglich für individualisierten Unterricht, den er anhand von Kindern, die sich zu Hause bilden, untersuchen wollte. Sein erster Kontakt mit Bildung zu Hause entstand mit einer Familie, an deren Leben er eine Woche lang teilnahm. Zufällig war es eine Familie mit einem vollkommen informellen Ansatz. Anstelle des individualisierten Unterrichts, den er zu sehen erwartete, schien – zumindest oberflächlich gesehen – nichts zu geschehen, das irgendein erkennbares Resultat gehabt hätte. Die Kinder im Alter von neun und dreizehn Jahren verfolgten ihre Interessen – darunter auch Lesen – womit sie in dieser Woche zeitweise beschäftigt waren. Sie gingen alle viel ins Freie weil das Wetter schön war. Eines der Kinder ging mit seiner Trompete zum Üben mit einer Musikgruppe, das andere half der Nachbarin mit ihrem Baby. Sie redeten viel mit ihrer Mutter und mit allen anderen, die ins Haus kamen. Und das war’s. Kein Unterricht, keine Übungsaufgaben, keine Belehrung. Alan war fasziniert und entschloss sich, informelles Lernen genauer zu betrachten.

Harriet Pattison hat Sozialanthropologie und Wissenschaftsphilosophie studiert und interessiert sich daher sowohl dafür, was Wissen und Erkenntnis ausmacht, als auch dafür, wie einzelne Menschen und die Kultur einander beeinflussen und erschaffen. Wie bei so vielen anderen auch, entstand ihr Interesse an Bildung zu Hause durch die eigenen Kinder. Frühe unangenehme Erfahrungen im Kindergarten wurden zum Auslöser für die Erkundung alternativer Bildungsmöglichkeiten und aus dem ursprünglich vorgesehenen Jahr zu Hause wurden bald viele Jahre. Informelle Bildung zu Hause wirft viele Fragen auf, aber für Harriet überragte eine alle anderen: Woher um Himmels Willen wissen sie das denn? Unser Buch versucht, einige Antworten auf diese Frage zu finden.

Informelles Lernen festzuhalten fühlte sich oft so an wie der Versuch, einen Sonnenstrahl zu fangen oder einen Schatten in eine Kiste einzusperren – unsere Einsichten erwiesen sich oft als ebenso flüchtig und ungreifbar wie die Sache selbst. Die in diesem Buch beschriebene Untersuchung war eine Forschungsreise und unser eigenes Abenteuer mit informellem Lernen. Unsere Führer auf diesem Weg waren die Familien, die sich die Zeit nahmen, mit uns zu sprechen und ihre Erfahrungen und Überlegungen mit uns zu teilen. Wir sind ihnen für die Zusammenarbeit bei unserer Suche nach einem besseren Verständnis des informellen Lernens zu tiefem Dank verpflichtet.

Wir möchten auch denen danken, die uns halfen, mit Familien in Kontakt zu kommen, bei denen Bildung auf informelle Weise von zu Hause aus stattfindet: Susan Wight und dem Tasmanian Home Education Advisory Council (tasmanischer Beirat für Bildung zu Hause) in Australien; Leonie Baldwin und Andrew Lloyd in Irland; David Hill, Claire Fairall und Leslie Barson in Großbritannien.

Dr. Dorothy Faulkner, Nick Gudge und Professor Judy Ireson sind wir dankbar für ihre Anmerkungen zu einem Arbeitspapier, das die Grundlage für Kapitel 3 dieses Buches war.

Und schließlich bedanken wir uns bei Christina Garbutt vom Continuum Verlag2 für ihre Unterstützung und ganz besonders für ihre Toleranz.


1 Anmerkung des Übersetzers (A. d. Ü.): In Großbritannien besteht eine Bildungspflicht (aber keine Schulbesuchspflicht) im Alter von fünf bis sechzehn Jahren, also elf Jahre lang.

2 A. d. Ü.: Die englische Originalausgabe erschien 2007 bei Continuum International Publishing Group, London.

Kapitel 1: Einführung

Im Lauf der vergangenen zwanzig Jahre ist Bildung zu Hause – insbesondere in Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland – rasch gewachsen. Ein zunehmendes Forschungsinteresse hilft uns jetzt, ein deutlicheres Bild dieser Entwicklung darzustellen. Bisher lag der Schwerpunkt des Interesses vor allem auf Bereichen wie der historischen Entwicklung, der Verbreitung, den Motiven der Eltern für Bildung ihrer Kinder zu Hause, den rechtlichen und politischen Fragen und dem Umgang mit Schulbehörden und Experten. Während sich im Hinblick auf schulische Leistungen im Allgemeinen günstige Ergebnisse gezeigt haben (Lines, 2001; Meighan, 1995; Rothermel, 2002), erfuhr die Frage, wie Eltern an die Bildung ihrer Kinder zu Hause tatsächlich herangehen, sehr wenig Aufmerksamkeit.

Alle Vorschulkinder lernen selbstverständlich zu Hause. Das erwarten wir von Geburt an von ihnen. Wenn sie das Schulalter erreichen, haben Kinder – unabhängig von ihren Familienverhältnissen – die Sprache (einschließlich vieler abstrakter Konzepte), Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens, eine Reihe praktischer Fertigkeiten und Allgemeinwissen in beachtlichem Umfang erworben. Der bei weitem größte Teil dieses Lernens geschieht informell im gewöhnlichen Wirrwarr des alltäglichen Lebens. Eltern spielen vermutlich bei der Einführung ihrer Kinder in die Kultur eine grundlegend wichtige Rolle – aber sie sind sich dessen weitgehend nicht bewusst. Jedenfalls findet wenig oder kein bewusster oder geplanter Unterricht statt, oder Aktivitäten und Anstrengungen, wie sie später in der Schule verlangt werden. Eltern erwarten einfach, dass ihre Kinder lernen, während die Kinder selbst sich größtenteils nicht bewusst sind, dass sie lernen. In der Tat sind die Ergebnisse informellen Lernens in diesem Lebensabschnitt, obwohl sie so erstaunlich sind, dennoch so alltäglich, dass sie im Vergleich mit dem späteren wirklichen Lernen in der Schule wenig Anerkennung finden.

Nachdem Kinder mit der Schule beginnen, lernen sie selbstverständlich weiter informell. Während sie ihr Leben außerhalb der Schule leben, nehmen sie alle möglichen Kenntnisse auf und wenden sie an. Die Tatsache, dass unsere Gesellschaft so stark an der Schrift orientiert ist, führt dazu, dass man sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wohnung ständig dem geschriebenen Wort ausgesetzt ist. Der Umgang mit Taschengeld, Brettspiele sowie eine wachsende Vertrautheit mit Tabellen von Sportergebnissen tragen zur Rechenfähigkeit bei. In ihrer freien Zeit schließen sich die Kinder Vereinen an, gehen Hobbys nach und verfolgen alle möglichen Interessen auf unterschiedlichen Niveaus. Aber obwohl Lehrer solches Lernen zur Kenntnis nehmen, wird es doch im Allgemeinen als nebensächlich, bestenfalls als unterstützend für das spezialisierte, strukturierte, in der Schule angebotene Lernen angesehen.

Innerhalb der Home-Education-Bewegung ist dagegen weithin anerkannt, dass diese Art des Lernens als hauptsächliche oder alleinige Bildungsform bis weit in das Alter der weiterführenden Schule hinein fortgeführt werden kann. In Rundbriefen und Zeitschriften über Bildung zu Hause und in einigen längeren Veröffentlichungen (z. B. Bendell, 1987; Dowty, 2000) erscheinen eine Vielzahl von persönlichen Berichten, die diese Art des Lernens in Einzelheiten beschreiben und unterstützen. Hierfür werden unterschiedliche Bezeichnungen verwendet, wie »unschooling« (unbeschultes Lernen) in Nordamerika, »autonomous learning« (autonomes Lernen) und »child-led learning« (vom Kind bestimmtes Lernen) in Großbritannien und »natural learning« (natürliches Lernen) in Australien und Neuseeland. Der Anteil der Eltern, die sich bei der Bildung ihrer Kinder zu Hause auf informelles Lernen verlassen, ist unmöglich zu schätzen. Allerdings fand Alan Thomas in einer der ganz wenigen Untersuchungen zu diesem Thema heraus, dass – obwohl in den Familien, die Bildung zu Hause praktizieren, eine sehr große Bandbreite von Erziehungsstilen und Bildungsformen zu finden war – in diesen Familien eine bedeutsame Verschiebung hin zum informellen Lernen stattfand (Thomas, 1998)1. Viele Eltern begannen mit dem vertrauten strukturierten Ansatz der Schulen, fanden sich aber – ohne den äußeren Zwang, auf diese Art weiterzumachen – zu stärker informellen Methoden hingezogen. Oft wehrten sich die Kinder gegen das Konzept der »Schule zu Hause« und außerdem bemerkten die Eltern, dass ihre Kinder außerhalb der vorbereiteten Lektionen spontan und effektiv lernten. Das Ausmaß, in dem die Familien auf formales Lernen verzichteten, war unterschiedlich. Manche fühlten sich wohler damit, ein bestimmtes Maß an strukturiertem Unterricht beizubehalten, andere gaben formales Lernen vollkommen auf. Dieses Vertrauen auf informelles Lernen stellt eindeutig eine radikale Abkehr von der üblichen Pädagogik dar – und nur wenige ausgebildete Pädagogen würden anerkennen, dass solch eine scheinbar planlose und willkürliche Art des Lernens es Kindern ermöglicht, ihr geistiges Potential zufriedenstellend zu entfalten.

In diesem Buch bemühen wir uns, besser zu verstehen, wie informelles Lernen funktioniert und wie es die Schulpädagogik ersetzen kann. Bei der Untersuchung des informellen Lernens liegen vermutlich sowohl die größte Faszination als auch die größte Schwierigkeit darin, seine vollkommene Alltäglichkeit zu verstehen. Wie deutlich werden wird, bleibt informelles Lernen – so wie in den ersten Lebensjahren – eine banale, alltägliche, unauffällige und dennoch erstaunlich effiziente Art zu Lernen.

Themen dieses Buches

Alan Thomas’ bisherige Untersuchungen haben beschrieben, wie Eltern feststellten, dass sie vom strukturierten Lernen und Lehren weg und zum informellen Lernen hin gezogen wurden (Thomas, 1998). Die Frage, warum und wie dies geschieht, wurde zur Grundlage für unsere Arbeit zum besseren Verständnis des informellen Lernens bei Kindern. Im nächsten Kapitel fassen wir seine bisherigen Ergebnisse zusammen. In Kapitel 3 greifen wir eine Reihe von Untersuchungen auf, die sich mit informellem Lernen in allen Altersstufen beschäftigen und als theoretischer Hintergrund für die Studie dienen, der der Rest dieses Buches gewidmet ist. Wir packen auch das Problem an, festzuhalten, was wir genau mit informellem Lernen meinen. Ab Kapitel 4 handelt das Buch von unseren eigenen Untersuchungen, wobei wir in den Kapiteln 4 und 5 mit dem »Was« und »Wie« des informellen Lernens im Schulalter beginnen. Ersteres haben wir den »informellen Bildungsplan« (»the informal curriculum«) genannt, der – einfach ausgedrückt – aus der alltäglichen Umgebung und Lebenswelt der Kinder besteht. Wie sich Kinder tatsächlich mit diesem informellen Bildungsplan beschäftigen, ist Thema von Kapitel 5. Konzeptionell berücksichtigen wir drei Arten des Lernens: Zufälliges (inzidentelles) und beiläufiges (implizites) Lernen – beides Formen, deren Auftreten dem Kind größtenteils nicht bewusst ist – und selbstbestimmtes Lernen, bei dem Kinder eher bewusst etwas zu Themen, die ihr Interesse gefangen haben, in Erfahrung bringen. Wie wir zeigen werden, besteht das Problem darin, dass uns solche Konzepte wenig darüber sagen, auf welche Weise Kinder tagtäglich lernen. Unser Ansatz konzentriert sich deswegen zum großen Teil auf Ereignisse aus dem wirklichen Leben, durch die das Lernen nachvollzogen werden kann. In Kapitel 6 untersuchen wir, welche Rolle Eltern beim Lernen ihrer Kinder spielen: als Vorbilder, Vermittler, Unterstützer, Mit-Lerner und als erfahrenere Angehörige der Kultur. Kapitel 7 ist dem Spiel gewidmet, das für Schulkinder im Allgemeinen als »Auszeit« zur Erholung betrachtet wird, von den Eltern in unserer Untersuchung aber als wichtiges Mittel zum Lernen angesehen wird. Die Kapitel 8 bis 10 sind dem informellen Erwerb von Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten gewidmet.

Die Teilnehmer

Den Untersuchungen in diesem Buch liegt eine einfache Frage zugrunde: Wie lernen Kinder im Schulalter informell? Natürlich hatten wir einige eigene Vorstellungen, die auf früheren Untersuchungen zu Herangehensweisen bei Bildung zu Hause und weiteren Forschungen und theoretischen Überlegungen zum informellen Lernen beruhen – einiges davon wird in den Kapiteln 2 und 3 dargestellt. Dennoch war es unser Vorsatz, sozusagen mit einem unbeschriebenen Blatt auf die Teilnehmer zuzugehen. Wir baten sie, uns ihre Erfahrungen und ihre eigenen Ansichten zum informellen Lernen mitzuteilen. Unser einziges Kriterium für ein Gespräch war, dass sich die betreffenden Eltern selbst als »informell« beschrieben. Dennoch haben wir uns bemüht, sicherzustellen, dass eine große Bandbreite von Familien teilnahm – von welchen mit jüngeren Kindern, deren Bildung seit einigen wenigen Jahren zu Hause stattfand, bis zu solchen mit viel älteren und erwachsenen Kindern, die sich zu Hause gebildet hatten.

Es wurden Gespräche mit den Eltern von sechsundzwanzig Familien geführt und in einigen Fällen nahmen auch die Kinder teil, wenn sie es selbst wollten. Die Bandbreite der Familien reichte von solchen, bei denen Bildung seit ein paar Jahren zu Hause stattfand bis zu solchen mit erwachsenen Kindern, die sich während des größten Teils der Bildungspflichtzeit2 informell zu Hause gebildet hatten. Neunzehn dieser Familien wurden durch unterschiedliche Maßnahmen gefunden: durch eine Anzeige in einer regionalen englischen Zeitschrift für Bildung zu Hause; bei Treffen von Vereinen zur Bildung zu Hause; über Unterstützungsorganisationen für Bildung zu Hause und in einem Fall durch eine zufällige Begegnung an einer Universität. Elternteile von sieben Familien wurden ganz bewusst direkt angesprochen, weil sie in der Bewegung für Bildung zu Hause aktiv waren oder gewesen waren und ihre Erfahrungen deswegen weit über den Bereich der eigenen Familie hinaus reichten. Darunter hatten manche zu Zeitschriften und Rundbriefen zur Bildung zu Hause beigetragen, waren in den Medien aufgetreten und hatten Eltern beraten, die Fragen zu informellem Lernen hatten. Unter den Familien waren drei aus Australien, drei aus Irland und eine aus Kanada. Der Rest war aus Großbritannien. Jede Familie bekam eine Nummer von [1] bis [26], die bei jedem Zitat aus dem Gespräch mit dieser Familie angegeben wird. Grundinformationen über die Familien sind mit den entsprechenden Kennnummern im Anhang angegeben. Eine Familie brachte auch ausführlichere Darstellungen von Lernvorgängen in Form von Fallbeispielen und Tagebuchauszügen ein.

Jede Auswahl von Familien ist selbstverständlich auf diejenigen beschränkt, die zur Teilnahme bereit sind – und das könnte bedeuten, dass uns weniger überzeugte oder abweichende Ansichten zum informellen Lernen nicht mitgeteilt wurden. Einige Familien gehörten derselben Gruppe für Bildung zu Hause an und könnten auf Grund gemeinsamer Überzeugungen und Erfahrungen zusammengefunden haben – was möglicherweise die Bandbreite der Erfahrungen, mit denen wir konfrontiert wurden, eingeschränkt hat.

Die Gespräche

Was die Gespräche betraf, wurde sehr wenig vorgegeben, abgesehen davon, dass wir den Eltern sagten, es sei unsere Absicht, mehr über informelles Lernen zu erfahren. In wenigen Fällen nahmen auch Kinder teil und waren während des gesamten Gesprächs oder nur zeitweise dabei. Zu Beginn und am Schluss jedes Gesprächs wurde klargestellt, dass die Teilnehmer jederzeit aussteigen konnten. Niemand machte von dieser Möglichkeit Gebrauch. Die Gespräche wurden aufgezeichnet und danach wurden Niederschriften an die Teilnehmer gesandt. Diese wurden nicht nur gebeten, die Richtigkeit zu prüfen, sondern auch dazu aufgefordert, nach Wunsch Streichungen, Änderungen oder Ergänzungen vorzunehmen. Dahinter stand die Absicht, einen wohlüberlegten Bericht zu erhalten. Alle Gespräche wurden von uns selbst geführt. Wo Namen verwendet wurden, um die Lesbarkeit langer Gespräche und Berichte zu verbessern, wurden diese geändert.

Es muss betont werden, dass wir versuchten, etwas zu verstehen, dass als sehr schwer greifbares Phänomen beschrieben wird – informelles Lernen. Wir hatten kein Programm und nur wenige Erwartungen, außer solchen, die mit der bisherigen Forschung zusammenhingen oder auf dem beruhten, was wir gelesen hatten. In unserer Auswertung zeigen wir Leitthemen auf, die durch individuelle Anmerkungen und Beobachtungen ergänzt werden, wo diese unser Verständnis voranbringen. Ein faszinierender Aspekt informellen Lernens ist, dass jede Familie, jedes Kind und jeder Bildungsweg einzigartig ist. Wir wollten weder die Erfahrungen als einheitlich darstellen noch irgendeine Art verbindliche Anleitung aufstellen. Wir wollten einfach einen Anfang bei der Enthüllung einer verblüffenden und faszinierenden Art des Lernens machen.


1 Alan Thomas: Bildung zu Hause – Eine sinnvolle Alternative. tologo verlag 2007 (englisches Original 1998)

2 A. d. Ü.: In den Ländern, aus denen die Teilnehmer dieser Untersuchung stammen, besteht (wie auch in Österreich und einigen Schweizer Kantonen) eine Bildungspflicht, die durch den Besuch einer Schule, aber auch auf andere Weise erfüllt werden kann. Im Gegensatz dazu besteht in Deutschland (und in Teilen der Schweiz) eine Schulbesuchspflicht.

Kapitel 2: Hinwendung zum informellen Lernen

In seinem Buch »Bildung zu Hause – Eine sinnvolle Alternative« (Thomas, 1998) untersuchte Alan Thomas die Bildungsansätze von hundert Familien in Großbritannien und Australien, deren Kinder zu Hause lernten. Einer der wichtigsten Befunde dieser Untersuchung war, dass zwar viele Familien zu Beginn erwarteten, ihre Kinder auf die altbewährte Weise zu belehren, durch sorgfältig geplanten Unterricht auf Grundlage strukturierten Lehrmaterials, aber nur wenige diesen Ansatz über längere Zeit aufrecht erhielten. Statt dessen nahm die Bildung zu Hause eine sehr viel freiere, weniger geplante und hauptsächlich informelle Form an. In diesem Kapitel greifen wir diese frühere Untersuchung noch einmal auf, weil sie zeigt, wie Eltern zu einem mehr und mehr informellen Ansatz kommen und sich in manchen Fällen von jeglichem strukturierten Lernen abwenden. Die zunehmende Dominanz des informellen Lernens und das zunehmende Vertrauen darauf bilden den Hintergrund für die Untersuchung, die den Hauptteil dieses Buches bildet.

Selbst formales Lernen zu Hause ist nicht wie Schule

Für Eltern, die ihre Kinder aus der Schule genommen haben, begann die Bildung zu Hause sehr oft so, wie man sie sich im Allgemeinen vorstellt: als Nachahmung der Schule, wobei die Kinder eine dem Schultag entsprechende Zeit arbeitend am Schreibtisch oder Küchentisch verbringen und Unterricht erhalten, den ihre Lehrer-Eltern für sie vorbereitet haben. Eltern übernehmen die Lehrerrolle, indem sie ihre Kinder zur Arbeit anhalten, ihnen Fragen stellen um ihr Verständnis zu überprüfen, sie prüfen, korrigieren und benoten – genau wie in der Schule. Dennoch ergibt sich zu Hause unvermeidlich eine größere Flexibilität, sogar wenn die Eltern grundsätzlich das Gefühl behalten, dieser Bildungsweg sei »der Richtige«. Ein Stundenplan wird im Allgemeinen als unnötig empfunden und oft vollkommen fallen gelassen. Eltern können die Zeiten nutzen, zu denen ihre Kinder am aufnahmefähigsten sind, einschließlich der Abende und Wochenenden. Andererseits kann der Unterricht, wenn ein Kind aus welchem Grund auch immer offenkundig nicht lernt, auf eine andere Zeit verschoben werden.

Zu Hause ist der Unterricht in der Regel konzentriert und intensiv. Das liegt hauptsächlich an der zusätzlichen individuellen Aufmerksamkeit und auch daran, dass sehr wenig Zeit für Nebentätigkeiten wie Verwaltungsaufgaben und Klassenführung aufgewandt wird, die in der Schule viel Zeit einnehmen. Folglich verkürzt sich nicht nur der Unterricht, sondern die gesamte tägliche Arbeitszeit, die im Allgemeinen auf einen Teil des Vormittags begrenzt ist.

Der bei weitem wichtigste Unterschied zwischen eher formalem, strukturiertem Lernen zu Hause und in der Schule ist jedoch, dass Lernen zu Hause zu einem individualisierten und interaktiven Prozess wird. Eltern verweisen oft darauf, dass sie das Eisen schmieden können, solange es heiß ist, dass Probleme sofort bei ihrem Auftreten behandelt werden können und dass man nicht im Stoff weitermachen muss, bevor notwendige Vorkenntnisse oder Vorstellungen erworben wurden. In der Schule gibt es kaum gemeinsames Lernen – und sei es nur, weil der größte Teil des Unterrichtsstoffs vom Lehrer vorher sorgfältig vorbereitet wird. Den Stoff zu beherrschen ist sogar ein Kennzeichen guten Unterrichts, wogegen bei Bildung zu Hause gemeinsames Lernen zum Alltag gehört, besonders wenn die Kinder älter werden und zu Themen vordringen, über die ihre Eltern wenig wissen oder die sie seit ihrer eigenen Schulzeit vergessen haben. Das würde in der Schule nicht funktionieren, aber zu Hause steigert es vermutlich den Wert des Lernens. Dadurch werden Kinder eher aktive Partner im Lernprozess statt passive Empfänger von Wissen, das von Erwachsenen verwaltet wird. Manchmal eilen Kinder ihren Eltern in einem neuen Gebiet sogar voraus, wodurch sie sowohl Vertrauen in ihr eigenes Lernvermögen gewinnen als auch erfahren, dass es für einen Erwachsenen akzeptabel ist, etwas nicht zu wissen. Das Ausmaß, in welchem gemeinsames Lernen auftritt, wird an der Zahl der Eltern deutlich, die sagen, dass die Bildung ihres Kindes zu Hause ihr eigenes Wissen erweitert hat und in manchen Fällen geholfen hat, Konzepte vollständig zu erfassen, die sie in ihrer eigenen Schulzeit nur halb verstanden hatten.

Im folgenden Beispiel arbeiteten eine Mutter und ihr elfjähriges Kind gemeinsam an Brüchen. Es handelt sich um einen stark gekürzten Bericht einer Beschäftigung, die sich mindestens über eine Stunde erstreckte. Beide mühen sich ab, um es zu verstehen, aber es entsteht nicht das Gefühl zu versagen. Man bekommt den Eindruck einer Gewissheit, dass sie es letztlich erfolgreich bewältigen werden.

Mutter: Meine Güte! …

[Sie hat Schwierigkeiten mit der Addition von Brüchen; sie scheint letztlich damit zurechtzukommen und bittet ihren Sohn, es ihr unter Verwendung von Dezimalzahlen zu erklären. Er schreibt ½ + ⅓ und erarbeitet mit ihr den Lösungsweg für das Ergebnis in Bruchschreibweise. Sie geht in das andere Zimmer, um mit ihrem anderen Kind zu arbeiten. Er schreibt die Lösung in Bruchschreibweise auf. Sie kommt zurück, um es zu kontrollieren, lobt ihn und geht wieder in das andere Zimmer. Er macht mit der Subtraktion von Brüchen weiter, bittet seine Mutter um Hilfe und sie kommt zurück in den Raum.]

Mutter: Es ist dasselbe Prinzip.

Kind: Nein, ist es nicht.

Mutter: Doch, ist es.

[Sie zeigt es ihm und es scheint, als ob er ihr folgen kann. Dann gehen sie weiter zur Multiplikation. Seine Mutter macht einen erfolglosen Versuch, inspiriert ihn aber, es weiter zu versuchen. Sie geht wieder aus dem Zimmer und er scheint es herauszufinden. Nein, er schafft es nicht. Er geht und holt sie.]

Mutter: Multipliziere die obere Zahl mit der oberen und die untere mit der unteren.

Kind: Geht das immer?

Mutter: Weiß ich nicht.

Kind: Soll ich mal etwas probieren, um es zu sehen?

Mutter: Ja, multipliziere die beiden Nenner miteinander – die unteren Zahlen.

Kind: Was meinst du, sie miteinander multiplizieren?

[Sie machen weiter und überprüfen das Ergebnis rechnerisch. Beide scheinen noch unsicher zu sein.]

Mutter: [zu mir] Ich denke, das war ohnehin genug. [Sie geht aus dem Zimmer]

[Er arbeitet weiter mit der Multiplikation und scheint es zu verstehen. Er geht auf die Suche nach seiner Mutter, die inzwischen auf der Toilette ist.]

Kind: [ruft und schlägt an die Toilettentür] Ich weiß, wie es geht! (Thomas, 1998, S. 106)

Schritte zum informellen Lernen

Ein noch grundlegenderer pädagogischer Umschwung tritt ein, wenn Eltern schrittweise die Möglichkeiten informellen Lehrens und Lernens entdecken. Nichts am Lernen in der Schule deutet darauf hin, wie kraftvoll informelles Lernen sein kann. Es gibt zwei Einflüsse, die Eltern zu informellen Lernformen nötigen. Der erste ist das Ergebnis ihrer eigenen Beobachtungen, der zweite die Reaktion ihrer Kinder auf strukturierte und gezielte Belehrung.

Obwohl Eltern möglicherweise weiterhin dafür sorgen, dass der Unterrichtsstoff in einer Weise abgedeckt wird, die ihrer Annahme nach von den meisten Schulen gebilligt würde, werden sie sich mit zunehmender Erfahrung anderer Möglichkeiten des Lernens bewusst, die in der Schule nur selten anzutreffen sind. Häufig hatte sich ein zunehmendes Bewusstsein entwickelt, wie viel Lernen durch spontane Gespräche stattfindet, sowohl beiläufig als auch gelegentlich sehr tiefgehend (siehe auch Thomas, 1994). Darüber hinaus bemerkten die Eltern, dass ihre Kinder durch das Verfolgen ihrer eigenen Interessen sehr viel zu lernen schienen.

Zuerst war ich sehr streng, reglementierte den Vormittag mit einem Stundenplan. Ich besorgte all die notwendigen Bücher, aber später merkte ich, dass ich die Kinder erdrückte. Ich habe jetzt locker gelassen. Wir haben gemerkt, dass Bildung zu Hause nicht Schule zu Hause ist. Ich musste so viele schulische Ansätze über Bord werfen. Sie beginnen mit einer halben Stunde Klavierspiel und machen dann etwas Mathe und Englisch am Vormittag. Der Rest des Tages ist frei. Aber ich bin immer bei ihnen – greife auf, was auch immer sie gerade machen (S. 118).

Eltern, die den informellen Ansatz ansprechend finden, haben oft das Gefühl, in ein unsicheres Gebiet vorzudringen. Sie möchten einen sinnvollen Ausgleich erreichen, sind aber möglicherweise unsicher, wo sie die Grenze ziehen sollen.

In den ersten Jahren kamen wir ziemlich ins Schwimmen, wir wussten nicht in welche Richtung wir gehen sollten und versuchten einen Ausgleich zwischen locker und stark reglementiert zu finden (S. 120).

Vormittags machen sie ab 10 Uhr Schulaufgaben … Das Ganze ist eher zu meinem Nutzen als zu ihrem. Ich muss mir sicher sein, dass die Grundlagen abgedeckt werden. Ich denke, sie würden sich ohnehin damit beschäftigen … (S. 123)

Es entsteht ein deutliches Dilemma für Eltern, die »zwischen den Stühlen sitzen«, und einerseits den Beitrag informellen Lernens erkennen, aber andererseits befürchten, es könne nicht garantieren, dass Kinder die wesentlichen Grundkenntnisse und Grundfertigkeiten erwerben. In der Schule ist der tägliche Nachweis des Lernerfolgs – meist in Form schriftlicher Arbeiten – ein wesentlicher Teil des Systems. In der Schule werden die Schüler regelmäßig von den Lehrern geprüft und es wird von den Lehrern erwartet, dass sie mit einiger Genauigkeit wissen, was sie unterrichtet haben und was die Schüler gelernt haben. Es erfordert Mut, die Sicherheit dieses hoch professionalisierten Systems zu hinterfragen oder gar zu verlassen. Dennoch wurden Eltern oft durch ihre eigenen Beobachtungen dazu gedrängt, genau dies zu tun.

Der Widerstand der Kinder gegen formales Lehren und Lernen

Die meisten Eltern hätten sich wohl kaum weit von der Sicherheit strukturierten Lernens entfernt, wenn sie nicht auch von ihren Kindern beeinflusst worden wären. Weil die Kinder zu Hause sind – mit jemandem, mit dem sie vertraut sind – können sie die Art des Lernens wesentlich stärker beeinflussen.

Eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten, über die Kinder zu Hause verfügen, um ihre Eltern dazu zu bringen, strukturiertes Lehren und Lernen in Frage zu stellen, ist, »abzuschalten«, wenn sie etwas nicht verstehen oder einfach das Interesse verlieren. In der Schule wird von Kindern erwartet, dass sie zumindest äußere Anzeichen von Aufmerksamkeit oder Konzentration zeigen, obwohl dies nicht bedeutet, dass sie aus dem, was sie hören oder tun, irgendeinen Nutzen ziehen. Die Vortäuschung von Aufmerksamkeit auf den Lehrer und Konzentration auf vom Lehrer gestellte Aufgaben ist geradezu zu einer Kunstform geworden. In der Schule können Kinder nicht aus dem Unterricht gehen, wenn sie nicht zuhören oder es nicht schaffen, Arbeiten in der verlangten Weise anzufertigen. Dies wird akzeptiert und es wird stillschweigend eingestanden, dass ein Lehrer wenig Möglichkeiten hat außer Ermutigungen, Ermahnungen, Androhung von Strafen oder Ankündigung von Belohnungen – Tätigkeiten die einen großen Teil der Zeit eines Lehrers in Anspruch nehmen. Aber zu Hause ist es anders. Eltern sind sich genau darüber im Klaren, wenn ihre Kinder nicht mehr zuhören oder sich mit ihren Aufgaben nicht beschäftigen und können ihre eigenen Bemühungen dementsprechend einstellen. Es hat einfach keinen Sinn, weiterzumachen, wenn die Kinder nicht zuhören oder laufend mehr Anstrengung zu fordern, wenn diese nicht darauf eingehen. Zu Hause kann man, im Gegensatz zur Schule, einfach aufhören, etwas anderes tun oder, wenn man will, sich sogar den Tag frei nehmen. Das ist auch sinnvoll – und sei es nur deswegen, weil es nichts so Unergiebiges geben kann wie das Beharren darauf, jemanden zu belehren, der nicht lernt. Allerdings stellten manche Familien fest, dass sich ihre Kinder beständig allem widersetzten, das nach Unterricht »roch«.

Ich fand es gut, eine Art Unterricht zu machen. Ich wollte ihn nicht den ganzen Tag spielen lassen. Eine Weile lang hatten wir eine Zeit festgelegt, zu der er jeden Vormittag für eine Weile arbeitete … Dann kam eine starke Gegenwehr, sehr bestimmt. Wir hörten auf, irgendetwas ersichtlich Formelles zu machen, für neun Monate oder ein Jahr. Es führte zu Streit und Spannungen … Ich fürchtete, es gäbe keine Verständigung mehr (S. 127 f.).

Es ist nicht so, dass Kinder, die zu Hause gelernt haben, sich nicht an die in der Schule vorgefundene Art des Lehrens und Lernens anpassen könnten. Die meisten tun es, wenn sie letztlich zur Schule gehen oder dorthin zurückkehren. Aber zu Hause wehren sich viele dagegen. Eine Mutter, eine Lehrerin, erkannte, dass sich die optimale Pädagogik in der Schule von der zu Hause möglicherweise qualitativ unterscheidet.

Wir machen [zu Hause] Angebote, aber wir verlangen nichts. Ich befürworte [in der Schule] eher formellen Unterricht und den staatlichen Lehrplan, weil das in der Schule am besten funktioniert (S. 127).

Wenn sich Kinder in der Schule gegen das Lernen wehren, dann liegt die Vermutung nahe, dass sie nicht lernen wollen, aus welchen Gründen auch immer. Dies könnte ungerechtfertigt sein, denn in der Schule gibt es nur wenige praktikable Möglichkeiten, etwas anderes zu tun als das, was der Lehrer verlangt. Zu Hause scheinen Kinder den größten Teil ihrer Zeit mit irgendwelchen nützlichen Tätigkeiten neben oder anstatt strukturiertem Lernen zu verbringen.

An den meisten Vormittagen machen wir ein bisschen Mathe, Englisch und Rechtschreibung, aber das heißt immer, dass ich sie bei dem unterbrechen muss, was sie gerade tut, und bisher hat sie immer eine sinnvolle Beschäftigung gefunden (S. 129).

Das folgende Zitat zu den Erfahrungen einer Mutter und ihres Sohnes mit Bildung zu Hause zeigt, wie diese beiden Faktoren, Widerstand und Überlegungen der Mutter, bei der Formung ihrer letztlichen Sichtweisen auf informelles Lernen eine Rolle spielten. Der Vierzehnjährige wurde im Alter von elf Jahren aus der Schule genommen – als letzter Ausweg. Hauptsächlich weil er schikaniert und gemobbt wurde. Aber er war auch seit den ersten Schuljahren den Lehrern ein Dorn im Auge, weil sie ihn nicht dazu bringen konnten, mehr als ein Minimum an Aufgaben zu machen. Sie und seine Mutter waren beide gleichermaßen verblüfft. Er machte mit einem Minimum an Aufwand offensichtlich normale Fortschritte. Nachdem seine Mutter ihn aus der Schule genommen hatte, änderte sich seine Haltung gegenüber formellem Lernen keinen Deut. Er mochte es einfach nicht, belehrt zu werden. Als er aus der Schule kam, versuchte seine Mutter, zu Hause die schulübliche Praxis nachzuahmen – es war die einzige Methode, die sie kannte. Sie dachte, er würde in der Schule nicht mitarbeiten, weil er sich dort nicht wohl fühlte. Sie erwartete, dass er sich, nachdem er draußen war, hinsetzen und arbeiten würde. Aber er verhielt sich ihr gegenüber genauso wie gegenüber den Lehrern.

Letztlich wurden die Arbeiten unter viel Leiden erledigt, mit endlosem Streit, Tränen und Verzweiflung auf beiden Seiten und völliger Verständnislosigkeit meinerseits. Warum tat er überhaupt nichts? Er war immer aufmerksam und stellte Fragen. Aber er machte keine formellen Aufgaben zum Unterrichtsstoff. Zwei oder drei Jahre lang war es die Hölle. Ich drohte ihm ständig mit der Schule: »Wenn du einfach nur aus dem Fenster schaust, kannst du das genauso gut in der Schule tun.« Ich ging soweit, die Schule anzurufen und eine Vereinbarung für seine Rückkehr zu treffen, aber ich wusste, dass das zu meinem Nutzen war. Als es soweit war, war mir bewusst, dass ich, indem ich ihn zu Hause behielt, instinktiv das Richtige tat. Aber ich hatte die Arbeit aufgegeben und er kam uns nicht auf halbem Weg entgegen. Das war sehr schwer zu schlucken.

Ich lieh mir Schulbücher, um zu sehen, was Kinder in seinem Alter machen. Bevor ich ihn dazu drängte etwas zu machen, stellte ich sicher, dass ich alles verstanden hatte. Dann hatte ich genug von dem Kampf und sagte: »Geh deinen eigenen Weg.« Er tat das zwei Wochen lang und dann bekam ich wieder Schuldgefühle und hatte den Eindruck, ich würde ihm schaden, wenn ich ihn mit zu wenig erledigten Aufgaben davonkommen lassen würde. Es war so schwierig, wenn er gar nichts tat. Nach einem durchkämpften Tag wollte ich ihn nicht mehr zum Sohn haben.

Er saß da und las Romane und Sachbücher und legte stundenlang Puzzles. Er verbrachte Stunden um Stunden damit, an seinem Fahrrad zu arbeiten und damit zu fahren. Er arbeitete im Garten. Er putzte das Haus von oben bis unten, nachdem ich ihn nur darum gebeten hatte, sein Zimmer sauber zu machen. Er drückte sich nie vor der Arbeit.

Ich konnte den Druck nicht mehr aufrecht erhalten. Es war mir zu viel. Ich fragte ihn, was er am wenigsten gerne machte und wir ließen das weg. Wir kamen überein, nur Englisch und Mathematik und Naturwissenschaften für die GCSE-Abschlüsse1 zu machen und den Rest wegzulassen – die anderen etwa fünf Fächer. Ich sagte: »Ich will, dass du Lesen, Schreiben und Rechnen kannst und etwas über die Welt um dich herum weißt.« Wir begannen uns durch die Letts-Bücher2 zu kämpfen. Er tat es bereitwilliger. Ich konnte mich darauf verlassen, dass er in sein Zimmer ging und er tat es quälend langsam. Er hätte nicht langsam sein müssen. Er war in der Lage, viel schneller zu arbeiten. Ich fand den staatlichen Lehrplan bei Letts gut umgesetzt und fand diese Bücher am brauchbarsten. Es gab mir Sicherheit, die Bücher durchzuarbeiten, aber ich fand einen Großteil der Aufgaben selbst schrecklich langweilig, wie hätte ich dann begründen können, dass sie es für ihn nicht sein sollten?

Aber je mehr ich machte, desto häufiger fragte ich mich: Welchen Sinn hat das? Warum muss man Dinge aufschreiben, nur um sie auf einem Stück Papier zu haben? Es hieß, das sei zur Wiederholung, aber es war sinnlos. Wenn er etwas nachgiebiger gewesen wäre, dann wäre er dazu gezwungen worden. Seine Stärke verhinderte das. Ich beschaffte mir alle Bücher über Bildung, die ich bekommen konnte …

Jetzt habe ich das Gefühl, dass es falsch war, was ich getan habe, was ich versucht habe um ihn zu zwingen. Jetzt würde ich sagen – lass das Kind ein Jahr lang in Ruhe. Lass die Versuche bleiben, Interessen zu wecken oder zu fördern. Ich hatte eine Führung durch die Westminster-Abtei gebucht. Der Führer fragte ihn: »Interessierst du dich für Geschichte?« Er antwortete: »Nein, aber meine Mutter interessiert sich dafür …«

Im Moment machen wir keine Aufgaben zum Unterrichtsstoff. Er hat »Herr der Fliegen« und »Farm der Tiere« gelesen, als er zwölf war. Wir haben sie danach besprochen. Er gab wirklich gute Antworten, aber wenn ich sagte: »Schreib es auf« – nichts.

Ich gab ihm einen Leseverständnis-Test … Er fragte: »Warum? Ich muss nichts über den schiefen Turm von Pisa wissen.« Ich erklärte ihm den Sinn eines Leseverständnis-Tests. Er sagte: »Du weißt, dass ich das kann.« Ich erklärte, das sei das, was in einer Abschlussprüfung verlangt wird, aber das ist kein guter Grund, es zu tun. Der Druck ging von mir aus. Es war für mich sehr schwer zu akzeptieren, dass das, was wir jetzt tun, der beste Weg ist. Ich habe vier Jahre gebraucht, um soweit zu kommen (S. 132–138, gekürzt).

Eine natürliche Weiterführung

Den größten Teil dessen, was Kinder in den ersten Lebensjahren lernen – einschließlich der Grundlagen für Lesen, Schreiben und Rechnen, auf denen viele Bereiche des Grundschul-Lehrplans basieren – erwerben sie informell, vor allem durch die tagtägliche Interaktion mit ihren Eltern und Betreuern. Hinter dem radikalen pädagogischen Wechsel von informellem Lernen zu formaler Belehrung mit Schulbeginn steht keine in der Entwicklung oder der Bildung begründete Logik. Es gibt keinen offensichtlichen Grund, warum diese kulturelle Ausbildung in der frühen Kindheit nicht auf das Grundschulalter und darüber hinaus ausgedehnt werden kann. Manche Eltern empfanden es einfach als die natürliche Weiterführung.

In Erkenntnis der intellektuellen Fortschritte ihrer Kinder während der ersten Lebensjahre setzten diese Eltern das, was sie bisher getan hatten, einfach fort und bauten es aus.

Wir hatten den Eindruck, es gäbe nichts zu verlieren. Warum sollten wir etwas abbrechen, das vor dem Alter von fünf Jahren gut lief (S. 73)?

Schule erscheint unnatürlich. Man versucht mit enormen Kosten, enormem Aufwand und manchmal Schmerz, etwas in die Kinder hinein zu bringen – was ohnehin geschehen würde (S. 259)?

Obwohl sie auf unterschiedlichen Wegen zu derselben Schlussfolgerung kamen, erkannten viele Eltern die Möglichkeiten informellen Lernens und vertrauten darauf, wobei sie sich manchmal absicherten, indem sie ein bestimmtes Maß strukturierten Lernens beibehielten, das normalerweise auf ein oder zwei Stunden pro Tag – aber keinesfalls jeden Tag – begrenzt war. Familienereignisse wie ein Besuch bei den Großeltern oder die Geburt eines neuen Verwandten, ein Ausflug oder einfach ein schöner Tag können Vorrang bekommen. Andere gaben strukturierten Unterricht vollkommen auf, wobei oft dem formalen Weg weiterhin ein Wert zugesprochen wurde.

Manchmal denke ich, wir sollten etwas tun, aber meistens passieren die Sachen einfach … Sie geht oft zu einer Freundin und manchmal spielen sie den ganzen Tag nur – Rollenspiele und Gesellschaftsspiele – und basteln – Puppen und Handpuppen und Perlenarbeiten. Ich habe formeller begonnen, mit Aufgaben, aber ich habe es aufgegeben, weil sie anfing sich zu langweilen … Ich denke immer noch, dass sie etwas tun sollte, aber meistens geschehen die Sachen einfach (S. 124).

Wir versuchen die Gewohnheit aufrecht zu erhalten, montags und dienstags je eine Stunde zu machen, aber wir müssen Glück haben, um es einhalten zu können (S. 125).

Für diese Familien vermischten sich Lernen und Alltagsleben untrennbar miteinander, wodurch es sehr schwierig wurde, festzustellen, was im Hinblick auf Bildung geschieht.

Zuerst sagte sie, wir sollten vorbeikommen und [der Schulleiterin] die Arbeiten zeigen, und das taten wir auch, aber wir ließen es bald wieder sein. Ich hatte irgendwie das Gefühl, ich würde ihr etwas vorspielen … Ich hatte Sachen extra für sie vorbereitet und es ihnen ausführlich erklärt, aber jetzt nicht mehr … Jetzt sehe ich es eher so, dass wir gemeinsam weiterleben, als dass ich »für ihre Bildung sorge« (S. 124).

Und diese Antwort einer Mutter dürfte bei den meisten Lehrern und Eltern von Kindern in der Schule Anstoß erregen:

Manchmal vergehen Tage, ohne dass etwas Besonderes passiert (S. 145).

Der Versuch, informelles Lernen zu erfassen

Informelles Lernen ist nicht auf die Kindheit beschränkt. Im Lauf unseres Lebens nehmen wir ständig beiläufig und zufällig Wissen auf – im Zusammenhang mit alltäglichen Tätigkeiten, bei der Arbeit, bei geselligen Treffen und zu Hause – wobei uns oft nur in geringem Maß bewusst ist, dass wir tatsächlich etwas lernen. Wir können auch sehr viel lernen, indem wir gezielt einem Interesse oder einem Hobby nachgehen. Informelle Bildung zu Hause ermöglicht uns einen kleinen Eindruck, wie leistungsfähig diese beiden Arten des Lernens sein können.

34

Themen tauchen oft auf, weil sie durch irgendetwas angestoßen werden, zum Beispiel gingen sie zu einer Veranstaltung, wo sie sich als Bauern der Tudor-Periode5 verkleideten und das führte zu einem Projekt über die Stuarts6, das monatelang anhielt (S. 160).

Nun, wie weit sind wir gekommen?

Informelles Lernen kann für alle Kinder während der ersten Lebensjahre und für die hier betrachteten Kinder auch nach Erreichen des Schulalters als eine Art unbefristete kulturelle Lehrzeit beschrieben werden. Indem Kinder am Familienleben teilnehmen, sind sie auf recht natürliche Weise den in ihrer Kultur üblichen Tätigkeiten und den für das Funktionieren in dieser Kultur notwendigen Fertigkeiten und intellektuellen Einsichten ausgesetzt. In einem gewissen Sinn stellen die Familie und die allgemeine Kultur einen »informellen Bildungsplan« bereit, dessen intellektuelle Inhalte – im Gegensatz zur Schule – weitgehend unstrukturiert sind. Wir werden uns mit diesem informellen Bildungsplan in Kapitel 4 beschäftigen.

Die nächste Frage ist, wie diese kulturelle Lehrzeit in der Praxis funktioniert. Kinder brauchen Möglichkeiten, sich mit ihrer Umgebung zu beschäftigen und sie zu verstehen und sie müssen in der Lage sein, neue Erfahrungen mit ihrem bereits vorhandenen Wissen in Einklang zu bringen. Mit anderen Worten: Sie müssen die Möglichkeit haben, den informellen Bildungsplan mit ihrer eigenen Abfolge zu versehen. Tatsächlich könnte eine der Stärken des informellen Lernens darin bestehen, dass die Kinder diese Möglichkeit haben und nicht mit dem Problem konfrontiert werden, neues Wissen zu verdauen, das nicht zu dem passt oder auf dem aufbaut, was sie bereits kennen, oder nicht ihre Neugier oder ihre Motivation weckt. Beim informellen Lernen muss der Lerner selbst, ob bewusst oder unbewusst, entscheiden, wann er sich konzentriert, wann er etwas Schwieriges in Angriff nimmt oder etwas zum wiederholten Male durchgeht, um es zu festigen. Die der Reihenfolge eines Bildungsplans zugrunde liegende Logik mag aus Sicht der Erwachsenen vernünftig sein, sie muss aber nicht zwangsläufig den sich entwickelnden Vorkenntnissen des Kindes entsprechen. Letztere werden sowohl durch die komplexe und dynamische Wechselwirkung zwischen kindlichem Wissen, Interesse, Motivation usw. als auch durch die Möglichkeit direkter oder indirekter Einflüsse anderer Menschen oder der Umgebung bestimmt. In welcher Weise sich diese auswirken, wird in Kapitel 5 untersucht.


1 A. d. Ü.: In Großbritannien werden Abschlüsse für jedes Fach einzeln erworben; wer in einzelnen Fächern durchfällt oder schlecht abschneidet, kann diese später getrennt nachholen oder verbessern – oder es auch sein lassen, wenn er sie für seine spätere Tätigkeit nicht braucht. Die einzeln zu erwerbenden GCSE – General Certificate of Secondary Education – entsprechen etwa dem Niveau des deutschen mittleren Bildungsabschlusses.

2 A. d. Ü.: Von dem Verlag »Letts Educational Ltd.« werden in Großbritannien unter dem Markennamen »Letts« Bücher zur Prüfungsvorbereitung herausgegeben.

3 A. d. Ü.: Regierungssystem einer parlamentarischen Demokratie nach englischem Vorbild (Der Westminster-Palast ist der Sitz des englischen Parlaments).

4 A. d. Ü.: Oliver Cromwell regierte 1653 bis 1658 in England als Lordprotektor.

5 A. d. Ü.: Das Königshaus der Tudors regierte England von 1485 bis 1603.

6 A. d. Ü.: Das Königshaus der Stuarts regierte England (in Nachfolge der Tudors) von 1603 bis 1648 und von 1660 bis 1688 in einer absoluten Monarchie sowie von 1688 bis 1714 in einer konstitutionellen Monarchie.