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Inklusion praktisch

Herausgegeben von

Stephan Ellinger und

Traugott Böttinger

 

Band 2

Traugott Böttinger

Exklusion durch Inklusion?

Stolpersteine bei der Umsetzung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031793-2

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-031794-9

epub:   ISBN 978-3-17-031795-6

mobi:   ISBN 978-3-17-031796-3

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Vorwort zur Reihe Inklusion praktisch

 

Inklusion ist nicht nur eine der schönsten pädagogischen Visionen überhaupt, sondern auch eine gesellschaftliche Vorstellung, die vor allem auf humanistischen Werten und Normen beruht. Im Vordergrund stehen Begriffe wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Selbstwert, Teilhabe und Partizipation.

Aktion Mensch hat im Rahmen ihrer Inklusionskampagne 2013 einen kurzen Animationsfilm mit dem Titel Inklusion ist … entworfen, der aufzeigt, mit welchen Hoffnungen der Begriff verbunden ist.

Inklusion ist …

… wenn alle mitmachen dürfen.

… wenn keiner mehr draußen bleiben muss.

… wenn Unterschiedlichkeit zum Ziel führt.

… wenn Nebeneinander zum Miteinander und Ausnahmen zur Regel werden.

… wenn anders sein normal ist.

Anders ausgedrückt: Bei Inklusion geht es also darum, die auf der gesetzlich-strukturellen Ebene formulierten Bestimmungen im täglichen Zusammenleben in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar und wirksam werden zu lassen.

Inklusion ist Utopie, Weg, Wertbegriff, Methode und Zielvorstellung zugleich und weckt vielfältige Wünsche und Hoffnung auf Veränderungen und gesellschaftliche Entwicklung. Dabei beschränkt sich Inklusion keinesfalls auf Schule. Dies verdeutlicht der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Inklusion, der Bildung als eines von zwölf verschiedenen Handlungsfeldern (u. a. Arbeit und Beschäftigung, Bauen und Wohnen oder Kultur und Freizeit) behandelt.

Viele Autoren verbinden mit Inklusion weitreichende Vorstellungen und Hoffnungen, die sich auf verschiedenen Ebenen lokalisieren lassen.

Auf gesellschaftlicher Ebene ist das Ziel eine solidarische und sozial gerechte, diskriminierungs- und barrierefreie Gesellschaft ohne Ausgrenzung, die Diversität als Normalität ansieht. Chancengerechtigkeit für Menschen mit Behinderung soll unter anderem ermöglicht werden, indem keine Unterscheidungen zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen vorgenommen werden und Behinderung als Zuschreibung und Kategorisierung erkannt wird.

Innerhalb des Bildungssystems soll eine chancen- und bildungsgerechte und weniger selektionsorientierte Schule für ausnahmslos alle Schüler entstehen. Inklusiver Unterricht ist kultur-, sprach- und gendersensibel und begreift Heterogenität nicht als Belastung, sondern als Chance und Bereicherung.

Personenbezogen steht Inklusion für den Versuch, Abhängigkeiten und Barrieren zu reduzieren und so u. a. Teilhabe und Partizipation sowie einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt zu erreichen.

Dem geneigten Leser wird schnell deutlich, welch anspruchsvolle und zum Teil idealistische Vorstellungen an Inklusion herangetragen werden. Möglicherweise handelt es sich dabei sogar um eine Aufgabe, die eigentlich nicht zu erfüllen ist: Inklusion soll einen Umbruch, eine gesellschaftliche Transformation bzw. Emanzipation oder gar einen Neuanfang des menschlichen Zusammenlebens markieren, der in eine noch nie vorhandene Dimension vorzustoßen vermag und dabei die zahlreichen Verfehlungen in der Geschichte vergessen macht.

In der vor Ihnen liegenden Buchreihe geht es keinesfalls darum, Inklusion oder ihre Idee schlecht zu reden. Vielmehr soll vor überzogenen Ansprüchen gewarnt werden, an denen letztendlich jede große Idee scheitern muss. Zu diesem Zwecke erfolgt zunächst eine grundlegende Beschäftigung mit der Thematik, bevor die weiteren Bände konkrete schulische Felder der Inklusion beleuchten und Umsetzungshilfen für Förder- und Regelschullehrkräfte bereitstellen.

Wir hoffen, Sie als Leserinnen und Leser für eine Auseinandersetzung mit dem Themenfeld der Inklusion begeistern zu können und wünschen Ihnen eine abwechslungsreiche Lektüre!

Würzburg, im Herbst 2016

Prof. Dr. Stephan Ellinger und Dr. Traugott Böttinger

Einzelbände in der Reihe Inklusion praktisch

Band 1:

Inklusion. Gesellschaftliche Leitidee und schulische Aufgabe

Band 2:

Exklusion durch Inklusion? Stolpersteine bei der Umsetzung

Band 3:

Sonderpädagogische Förderung in der Regelschule

Band 4:

Organisationsentwicklung und Leitung in einer inklusiven Schule

Band 5:

Kollegiale Kooperation in inklusiven Settings

Band 6:

Umgang mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten in heterogenen Lerngruppen

Band 7:

Konturen eines inklusiven Fachunterrichts Mathematik

Band 8:

Teilhabe durch Grundbildung – Die Förderung Benachteiligter im Sekundarbereich I

Band 9:

Umgang mit Migration in heterogenen Lerngruppen

Band 10:

Lehrergesundheit in inklusiven Settings

 

Inhalt

 

  1. Vorwort zur Reihe Inklusion praktisch
  2. Einleitung – Alles inklusiv(e)?
  3. Zielsetzung des Bandes
  4. Inhalt und Aufbau
  5. 1 Die Ebene des Schulsystems
  6. 1.1 Entwicklungsmöglichkeiten für Schule
  7. 1.1.1 Überpunkte eines inklusiven Bildungssystems
  8. 1.1.2 Finanzierungsmodelle inklusiver Beschulung
  9. 1.1.3 Organisationsformen der Inklusion
  10. Ganztagsschulen als mögliche Umsetzungsform
  11. Einrichtung regionaler Kompetenz- und Ressourcenzentren
  12. Strukturelle Organisation der Regelschulsysteme
  13. Weiterentwicklung des sonderpädagogischen Förderzentrums
  14. 1.2 Hindernisse und Schwierigkeiten
  15. 1.2.1 Die Komplexität von Inklusion
  16. 1.2.2 Die Diskussion über Dekategorisierung
  17. 1.2.3 Die Organisation des deutschen Schulsystems
  18. 2 Die Ebene der Lehrkräfte und des Unterrichts
  19. 2.1 Entwicklungsmöglichkeiten für Lehrkräfte und Unterricht – Kooperative Zusammenarbeit und Team-Teaching
  20. 2.2 Hindernisse und Schwierigkeiten
  21. 2.2.1 Die Ausbildung der Lehrkräfte
  22. 2.2.2 Einstellungen zur Inklusion
  23. 2.2.3 Kooperation und gemeinsamer Unterricht
  24. 3 Die Ebene der Schüler
  25. 3.1 Entwicklungsmöglichkeiten für Schüler – Voneinander und miteinander lernen
  26. 3.2 Hindernisse und Schwierigkeiten
  27. 3.2.1 Zusammensetzung der Lerngruppen
  28. 3.2.2 Soziale Ausgrenzung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf
  29. 4 Fazit – Zu Risiken und Nebenwirkungen schulischer Inklusion
  30. Literatur

 

Einleitung – Alles inklusiv(e)?

 

»Inklusion ist die ultimative Integration, sozusagen der Olymp der Entwicklung, danach kommt nichts mehr« (Wocken 2014, 72). Dass das deutsche Schulsystem von diesem inklusiven Olymp momentan noch weit entfernt ist, zeigen Erfahrungen in inklusiven Schulen und in den Mobilen Sonderpädagogischen Diensten. Zudem steht diese Aussage exemplarisch für eine weitere Schwierigkeit des Inklusionsdiskurses: sachlich über diese Thematik zu sprechen, zu schreiben und zu diskutieren.

Die schulische Realität der Inklusion stellt sich aktuell oft anders dar, als von Inklusionsbefürwortern beschworen. Zweifellos gibt es sehr gute Erfahrungen, es finden sich allerdings auch Fälle nicht gelingender Inklusion, die sich quer durch alle Förderschwerpunkte ziehen (u. a. Stein/Ellinger 2015; Walter-Klose 2012).

Ein sehr anschauliches Beispiel, das den Einzelfallcharakter schulischer Inklusion betont, ist das Fallbeispiel des Schülers Kai (Bleher et al. 2013, 93 ff.):

Kai verbringt seit seinem neunten Lebensjahr immer wieder längere Zeit in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen. Mit elf Jahren wird er als nicht beschulbar eingestuft und in einem Pflegeheim untergebracht. Als Diagnose wird eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens in Kombination mit Anpassungsstörung, psychosozialen Belastungen (Suizidgefahr) und Beeinträchtigungen in vielen sozialen Bereichen festgestellt. Familiär erlebt der Schüler starke Ablehnung durch seine alleinerziehende Mutter. Der Vater lebt getrennt von der Familie, vonseiten des Jungen besteht ein starkes Kontaktbedürfnis, das allerdings nicht erfüllt wird.

Vor diesem Hintergrund wird Kai in eine Schule zur Erziehungshilfe aufgenommen. Auch dort wird er schnell auffällig, attackiert Mitschüler und stört massiv den Unterrichtsablauf. »Die beiden Lehrerinnen sind zu keinem Zeitpunkt Respektpersonen für ihn« (ebd., 94). Nach mehreren Übergriffen auf die Lehrkräfte wird Kai in die Klasse eines Kollegen versetzt.

Dieser berichtet jedoch von gänzlich anderen Verhaltensweisen. Der Schüler bedroht keinen seiner Mitschüler, arbeitet fleißig und ist bemüht, den schulischen Anforderungen nachzukommen. Allein die Anwesenheit der Lehrperson gibt Kai Kraft, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Auf den krankheitsbedingten Ausfall seiner Bezugsperson reagiert der Schüler mit einem Rückfall in alte Verhaltensweisen. Erst als diese wieder den Klassenunterricht übernimmt, ist eine weitere Beschulung möglich. Zusammenfassend beschreibt der Lehrer seine Erfahrungen:

»Kai hat sich mich als Fels ausgesucht. Sicher liegt es auch daran, dass ich wohl seinem Bild eines Mannes entspreche. Ich denke aber auch, dass er bemerkt hat, dass er sich hinter mich stellen kann und die Wogen und Strömungen mich umspülen und ihn nicht wegspülen. […] Wir sind erst ganz am Anfang unserer gemeinsamen Zeit und Arbeit. Der erste Schritt von ›unbeschulbar‹ bis ›heute greife ich niemanden an‹ war für Kai ein großer« (ebd., 95).

Durch einen Schul- und Klassenwechsel auf eine inklusive Schule ginge die Beziehung zu seinem Klassenlehrer verloren, die die Basis für die Verhaltensänderung des Schülers darstellt. Eine inklusive Beschulung würde sich zu diesem Zeitpunkt kontraproduktiv auswirken.

Zielsetzung des Bandes

Natürlich ist dieses Fallbeispiel kein ›Beweis‹ gegen Inklusion, eine derartige Lehrkraft könnte Kai schließlich auch an anderen Schulen finden. Es soll auch nicht der Eindruck erweckt werden, Inklusion sei abzulehnen oder grundlegend nicht umsetzbar.

Betont werden soll vielmehr die Notwendigkeit, bei Fragen inklusiver Beschulung genau hinzusehen. Diesen Anspruch vertritt auch der zweite Band der Buchreihe Inklusion praktisch und versucht sich an einer sachlichen Deskription der Möglichkeiten und Grenzen schulischer Inklusion.

Nachdem in Band 1 (Inklusion – Gesellschaftliche Leitidee und schulische Aufgabe) ein Blick darauf geworfen wurde, welche Rolle Inklusion auf gesellschaftlicher Ebene spielt und wie sich Inklusion im geschichtlichen Rückblick bis heute entwickelt hat, beschäftigt sich Band 2 (Exklusion durch Inklusion?) damit, wie Schul- und Unterrichtsentwicklung im Rahmen der Inklusion aussehen können und wo mögliche Schwierigkeiten und Hindernisse lauern.

Zum Gebiet der Schulentwicklung zählen mit Sicherheit konkrete Organisationsformen gemeinsamen Unterrichts. Selbige sind an dieser Stelle allerdings nicht Kern der Betrachtungen, nachdem in Band 1 bereits das Beispiel des Bundeslandes Bayern vorgestellt wurde: Dort finden sich Kooperationsklassen, Partnerklassen, Offene Klassen der Förderschulen, Einzelinklusion, Schulen mit dem Schulprofil Inklusion und Unterstützungsleistungen durch den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) als Formen kooperativen Lernens zur Verwirklichung schulischer Inklusion.

Inhalt und Aufbau

Ziel des zweiten Bandes ist es, Impulse und Verbesserungsvorschläge für die gemeinsame Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit und ohne sonderpädagogischem Förderbedarf zu formulieren.

Dazu fokussiert Kapitel 1 auf die Ebene des Schulsystems und erörtert als mögliche Entwicklungen (image Kap. 1.1) Überpunkte eines inklusiven Schulsystems, mögliche Finanzierungsmodelle und Organisationsformen der Inklusion (z. B. Weiterentwicklung des Sonderpädagogischen Förderzentrums). Als Hindernisse (image Kap. 1.2) werden u. a. die Reduktion der Komplexität von Inklusion, die Diskussion um Dekategorisierung sowie die früh selektierende Struktur des Schulsystems diskutiert.

Kapitel 2 konzentriert sich auf die Ebene der Lehrkräfte und des Unterrichts. Entwicklungschancen (image Kap. 2.1) bieten sich vor allem bei der kooperativen Zusammenarbeit von Regel- und Förderschullehrkräften und beim Team-Teaching. Gleichzeitig finden sich hier auch Hindernisse gemeinsamer Beschulung (image Kap. 2.2): die Ausbildung der Lehrkräfte, deren Einstellungen zur Inklusion und Schwierigkeiten in der Gestaltung schulischer Kooperation.

Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Ebene der Schüler. Inklusion kann hier vor allem zu vermehrter sozialer Integration von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, zum Abbau von Vorurteilen und zu sozialen Lernprozesse führen (image Kap. 3.1). Problematisch wirken sich jedoch die Zusammensetzungen der Lerngruppen in inklusiven Settings und soziale Ausgrenzungsprozesse von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf aus (image Kap. 3.2).

Abschließend versucht Kapitel 4 die verschiedenen Ebenen inklusiver Schul- und Unterrichtsentwicklung miteinander zu verbinden und formuliert zehn Forderungen für eine gelingende Inklusion.

Ich wünsche Ihnen eine spannende und anregungsreiche Lektüre!

Würzburg, im Oktober 2016

Dr. phil. Traugott Böttinger

Anmerkung

Konsequente Inklusion enthält auch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, vor allem auf sprachlicher Ebene. Diesem Umstand ist sich der Autor durchaus bewusst. Dennoch wurde im Text durchgehend die männliche Sprachform verwendet, da so eine bessere Lesbarkeit gewährleistet werden kann.

 

 

 

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Die Ebene des Schulsystems

1.1       Entwicklungsmöglichkeiten für Schule

1.1.1     Überpunkte eines inklusiven Bildungssystems

Ein inklusives Bildungssystem ermöglicht nicht nur uneingeschränkten Zugang zu Bildungsinstitutionen, sondern auch Teilhabe und größtmögliche Partizipation für Menschen mit Behinderung durch Überwindung vorhandener Barrieren.

Die Monitoring-Stelle des Deutschen Instituts für Menschenrechte (DIM), die von den Vereinten Nationen mit der Beaufsichtigung der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) beauftragt wurde, gibt deutliche Empfehlungen in diesem Bereich ab. Folgt man der DIM, sind vier Überpunkte für ein inklusives Bildungssystem besonders bedeutsam: Verfügbarkeit, Zugänglichkeit, Akzeptierbarkeit und Adaptierbarkeit (DIM 2012, 14).

Zielsetzung der Verfügbarkeit ist ein flächendeckendes Angebot inklusiver Bildungsmöglichkeiten. Neben der Schule gilt das Prinzip für alle weiteren Bildungsbereiche wie die Erwachsenen- und Hochschulbildung oder die Elementarpädagogik.

Im Schul- und Vorschulbereich sollen zu diesem Zweck keine weiteren Förderschulen geschaffen und bestehende sonderpädagogische Förderzentren zu Kompetenzzentren ohne eigene Schüler zur Unterstützung der Regelschulen umgewandelt werden (image Kap. 1.1.3). Entscheidend ist ein konsequenter »Personal-, Finanz- und Sachmitteltransfer in den Regelschulzusammenhang« (ebd.). Die in den Förderschulen vorhandenen Ressourcen müssen flexibel organisiert und im Regelschulsystem verteilt werden, damit allen Schülern der Besuch einer allgemeinen Schule ermöglicht werden kann.

Sonderpädagogen allein können Inklusion nicht bewältigen. Deshalb muss mit besonderer Verantwortung der Hochschulen und Fachdidaktiken die Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Pädagogen und Lehrkräfte in Richtung Inklusion vorangetrieben werden (image Kap. 2.2.1). Als positives Beispiel kann ein 2014 gestarteter Fortbildungslehrgang der evangelischen Schulstiftungen (u. a. in Mitteldeutschland) dienen. Bei dieser Weiterbildungsmaßnahme werden etwa zwanzig Lehrkräfte aus allen Schularten in einem bundeslandübergreifenden Projekt zu Inklusionsbeauftragten ausgebildet. Ihre Aufgabe liegt in der verstärkten Beratung und Unterstützung von Schulen, Lehrkräften, Schülern und Eltern auf dem Weg zu inklusiven Schulen.

Zugänglichkeit setzt Verfügbarkeit voraus und erweitert diesen Anspruch um einen barrierefreien Zugang zu Bildungsinstitutionen. Bauliche Veränderungen zur Gestaltung von Gebäuden werden als Voraussetzung für Zugänglichkeit erachtet, sind aber nicht deren Kern. Entscheidend ist ein rechtlicher Anspruch auf »eine inklusive, wohnortnahe und hochwertige allgemeine Bildungseinrichtung« (ebd., 15). Die Wahlmöglichkeit zwischen Regelschul- und Förderschulsystem wird lediglich als Übergangslösung betrachtet, die sich nicht verfestigen darf. Die Möglichkeit des Ressourcenvorbehalts von Bildungsinstitutionen soll überwunden werden, indem diese verpflichtet werden, angemessene Vorkehrungen zu treffen, um Menschen mit Behinderung die Wahrnehmung ihrer Rechte zu ermöglichen. Der Elternwille muss gestärkt werden, damit keine Beweislast für die Integrations- bzw. Inklusionsfähigkeit eines Kindes besteht.

Der konkrete Inhalt inklusiver Bildung wird im Punkt der Akzeptierbarkeit behandelt. Gefordert wird eine Weiterentwicklung von Lehrplänen, Lehrmethoden, Inhalten und Bildungszielen. Vermittelt werden müssen vor allem die Akzeptanz von Menschenwürde und -rechten und die Wertschätzung menschlicher Freiheit und Vielfalt. Als Lehrmethode ist ein ziel- sowie binnendifferenzierter Unterricht zu wählen, der sonderpädagogische Fördermaßnahmen enthält.

Inklusion setzt Adaptierbarkeit voraus, indem das Bildungssystem an Menschen mit Behinderungen angepasst wird. »Die Kultusministerien sollten die Anpassung des Systems durch die Vermittlung guter Praxisbeispiele befördern« (ebd., 18). Dazu sollen Modellversuche verwirklicht und Grundlagenforschung zu inklusiver Bildung betrieben werden. Die wissenschaftliche Begleitung von inklusiven Bildungsinstitutionen ist wichtig, da nur so Entwicklungen mit Zwischenzielen versehen und diese ausgewertet werden können, um eventuelle Anpassungen vorzunehmen.

1.1.2     Finanzierungsmodelle inklusiver Beschulung

Ein neuralgischer Punkt der Inklusion ist ihre Finanzierung und die Finanzierung des Schulsystems. Die Antwort auf die Frage, wie der Mehraufwand an schulorganisatorischen Änderungen (z. B. Einrichtung von Kompetenzzentren, Barrierefreiheit von Schulen), sonderpädagogischen Lehrkräften, Förder- und Therapieangeboten oder Materialien finanziert werden soll, ist umstritten.

Grundlegend ist die Berechnung des benötigten finanziellen Gesamtvolumens schwierig. Verteilte Zuständigkeiten, unterschiedliche schulische Träger und eine fehlende zentrale Erfassung der Mittel zur sonderpädagogischen Förderung sorgen dafür, dass keine exakten Berechnungen, sondern lediglich Schätzungen und ungenaue Kalkulationen vorliegen.

Seit geraumer Zeit werden drei Konzepte zur Steuerung finanzieller Ressourcen diskutiert: das Input-, das Throughput- sowie das Output-Modell (Meijer/Soriano/Watkins 2003).

Input-Modelle stellen der Empfängerschule Ressourcen je nach vorhandenem Bedarf zur Verfügung. Dieser kann zum Beispiel über sonderpädagogische Gutachten (= Förderquote) oder andere Parameter (z. B. Anzahl sozial benachteiligter Schüler) bestimmt werden. Je mehr Bedarf nachgewiesen werden kann, desto mehr Ressourcen werden der Schule zugewiesen.

Vorteil der Input-Modelle ist eine passgenaue Bestimmbarkeit individueller Unterstützungsbedürfnisse, theoretisch erhält jedes Kind die sonderpädagogische Hilfe, die es laut Gutachten benötigt. In der Praxis jedoch zeigen sich zwischen den Bundesländern deutliche Differenzen bezüglich der Förderquoten, was zu ungleicher Mittelverteilung führt. Dafür verantwortlich ist unter anderem das bei Input-Modellen auftretende Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma, das zu einer erhöhten Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf führt, da so eine Schule vermehrte Ressourcen zugewiesen bekommt.

Eine Throughput-Finanzierung »bezieht sich nicht auf den Bedarf, sondern eher auf die Dienste, die von der Schule, Gemeinde oder Region angeboten werden« (ebd., 23). Die Höhe der Ressourcen errechnet sich aus einem Indikator, z. B. der Gesamtschülerzahl im Einzugsbereich der Schule, die Zuweisung erfolgt nach einem festgelegten Vergabeschlüssel. Die differenzierte Verteilung auf die einzelnen Klassen bleibt den Einzelschulen überlassen. So erhält jeder Schüler ein Grundkontingent an Unterstützung, unabhängig vom Vorhandensein eines sonderpädagogischen Förderbedarfs. Für eine vermehrte Mittelzuweisung sind Schüleretikettierungen nicht mehr zwingend notwendig. Allerdings kann es vorkommen, dass die vergebenen Ressourcen nicht ausreichend sind, wenn es sich um eine kleine Schule (= weniger Mittel) handelt, die allerdings einen hohen Unterstützungsbedarf abdecken muss.

Output-Modelle vergeben Finanzmittel nur dann, wenn bestimmte Zielindikatoren erreicht werden. Häufig werden niedrige Klassenwiederholungsquoten oder gute Prüfungsergebnisse als Indizes gewählt. Ein mehrwertorientiertes Output-Modell stellt umso mehr Ressourcen in Aussicht, je höher ein erwünschter Indikator ansteigt (z. B. Anzahl inklusiv beschulter Kinder). Umgekehrt können Finanzmittel verteilt werden, wenn ein unerwünschter Indikator besonders niedrig ausfällt (z. B. Schüler, die die Abschlussprüfung nicht bestehen).

Vorteil derartiger Modelle ist die direkte Belohnung erwünschter Ergebnisse. Nachteilig ist die in der Praxis auftretende Fokussierung auf einen einzelnen Indikator (z. B. Teaching to the Test). Bei konsequenter Output-Orientierung kann eine Überweisung schwacher Schüler an andere Schulen (Mittelschule, sonderpädagogisches Förderzentrum) die Folge sein, um ein positives Gesamtergebnis und daran gekoppelt finanzielle Unterstützung zu gewährleisten bzw. nicht zu gefährden.

Zudem stellt sich die Frage, was geschehen soll, wenn die gesetzten Indikatoren nicht erreicht werden. Die in diesem Fall vorgesehene Mittelkürzung bestraft die betroffenen Schulen doppelt, da es in der Folge noch schwieriger wird, die Anforderungen zu erfüllen.

Alle drei Finanzierungsmodelle haben Vor- und Nachteile. Nach deren Abwägung erscheint das Throughput-Modell im Rahmen der Inklusion am sinnvollsten.

Zum einen vermeidet es erfolgreich zusätzliche Kategorisierungen von Schülern mit Beeinträchtigungen und macht diese nicht zu einem Berechnungsfaktor für die Verteilung von Unterstützungsangeboten. Zum anderen kann die zum Teil unzureichende pauschale Ressourcenvergabe durch eine Einführung von sozialen Indizes korrigiert werden. Dabei wird jede Schule über eine Throughput-Finanzierung mit einer sonderpädagogischen Grundausstattung versorgt. Eine ungleiche oder nicht ausreichende Versorgung wird ausgeglichen, indem die Zusammensetzung der Schülerschaft im Einzugsgebiet der Schule analysiert wird. Durch die errechneten Indizes erfolgt eine Anpassung der Ressourcen. Ohne Indizes würden einer Schule mit einer kleinen Schülerschaft nur geringe Ressourcen zuteil. Ergibt die Analyse innerhalb des Einzugsgebiets allerdings eine erhöhte Anzahl an Schülern mit Unterstützungsbedarf, können zum Ausgleich mehr finanzielle Mittel bereitgestellt werden.

Durch Throughput-Finanzierung können auch Schwankungen der Förderquoten in den einzelnen Bundesländern nivelliert werden, da nicht mehr primär ein sonderpädagogisches Gutachten über Finanzmittel entscheidet.

Bei einer Umverteilung der Ressourcen von Förderschulen an allgemeine Schulen und der Aufteilung unter verschiedenen Regelschulen besteht die Gefahr, dass der jeweilige Umfang an Einzelschulen so gering wird, dass Aufwand und Wirkung der Unterstützungsmaßnahmen nicht mehr in Relation stehen können. In diesem Zusammenhang ist auf die regionalen Kompetenzzentren (siehe später in diesem Kapitel) zu verweisen, die eine Lösung für dieses Problem darstellen können.

1.1.3     Organisationsformen der Inklusion

Ganztagsschulen als mögliche Umsetzungsform

Zur Umsetzung inklusiver Beschulung bietet sich die Form der Ganztagsschule an.

Neben dem gesellschaftlichen Auftrag der Erziehung und Bildung lässt sich vor allem soziales Lernen zum Abbau von Vorurteilen wirkungsvoller umsetzen, wenn die Schüler nicht nur vormittags im Unterricht miteinander aktiv sind. Zusätzlich können Kinder aus sozioökonomisch prekären Lebensverhältnissen, Jugendliche in erschwerten Lebenssituationen oder Schüler mit Migrationshintergrund stärker gefördert werden, um ihre soziale Integration zu erleichtern.

Ein bis zum Nachmittag reichender Schultag bietet die Möglichkeit, außerschulische Kooperations- und Unterstützungspartner einzubinden. Gerade Kindern mit erhöhtem Bedarf nach Pflege oder Therapie kann so besser entsprochen werden.

Eine inklusive Schule ermöglicht allen Schülern ein eigenes Lerntempo. Konsequenterweise kann eine solche Differenzierung und Individualisierung innerhalb eines über den Tag verteilten Zeitplanes besser verwirklicht werden.

Aus diesen Gründen scheint eine erfolgreiche Inklusion vor allem im Rahmen einer gebundenen Ganztagsschule umsetzbar (Ellinger 2013a, 148).

Die StEG-Studie untersuchte von 2005 bis 2009 die Entwicklung von Ganztagsschulen. Positive Resultate konnten vor allem bei der Entwicklung des Sozialverhaltens festgestellt werden. Bei dauerhafter Teilnahme an den Angeboten kam es zu weniger gewalttätigem Verhalten und weniger Unterrichtsstörungen, die Schüler übernahmen vermehrt soziale Verantwortung (Fischer 2011, 29).