Liebe Leser, im Englischen gibt es ein Sprichwort:
Stock und Stein brechen mein Gebein,
doch Worte bringen keine Pein.

 

Worte müssen nicht wehtun.

Dieses Buch ist für euch.

1 Worte

Manche Leute glauben, ein einzelnes Wort könne nicht viel bewirken.

Da liegen sie falsch.

Klar, manche Worte müssen von anderen Worten umgeben sein, damit sie einen Sinn ergeben. Sie müssen sich in einem Buch zusammentun oder in einem Songtext oder einer SMS, weil einem sonst nichts anderes übrig bleibt, als ratlos den Kopf zu schütteln und zu denken: Hä? Was soll das denn jetzt?

Aber manche Worte brauchen keine anderen. Sie haben ganz für sich allein eine große Bedeutung.

Niemand weiß das so gut wie ich.

Als es darum ging, dass ich dieses Jahr auf die Middle School kommen würde, war es genau so. Mom meinte, es würde anders werden. Dr. Patel sagte, es würde eine Herausforderung. Und Dad sagte, es würde wunderbar.

Sie brauchten alle bloß ein Wort, um zusammenzufassen, wie ein ganzes Jahr für mich werden würde … Und bis jetzt haben sie alle drei recht behalten.

Ein Wort, das keinem von ihnen eingefallen war? Mysteriös.

Und das war jetzt, in diesem Augenblick, das wichtigste Wort von allen.

Ich griff in meine Tasche und wühlte so lange darin herum, bis ich den zusammengefalteten blauen Zettel wiederfand. Vielleicht war es ein Brief von einem geheimen Verehrer oder ein Gutschein vom Suppen-Paradies, auch bekannt als bester Ort auf der ganzen Welt.

Vielleicht hatte es auch einfach gar nichts zu bedeuten.

Nein, unmöglich. Auf dem Zettel stand schließlich mein Name und er war an mein Schließfach geklebt worden. Ich konnte es nicht abwarten, ihn aufzufalten, aber selbst wenn es mir irgendwie gelingen würde, ihn heimlich zu lesen – Miss Sigafiss würde es bestimmt merken und den Zettel allen vorlesen oder ihn zerreißen oder was weiß ich. Vorausgesetzt, dass sie in guter Stimmung war.

Ich schaute mich im Raum um und einzelne Worte gingen mir durch den Kopf.

Anders.

Herausfordernd.

Wunderbar.

Mysteriös.

Es waren bloß Worte, aber sie konnten mein ganzes Leben verändern.

Genau genommen, hatten sie das schon getan.

2 Herzgehüpfe

Wenn es jemanden gab, der mich dazu brachte, all die Worte und mysteriösen Briefe für einen Moment zu vergessen, dann war es Liam. Der dumme, hübsche, schreckliche, fabelhafte Liam. Vielleicht war ich ja emotional ein bisschen durch den Wind, aber eins wusste ich genau: Wenn er den Klassenraum betrat, genügte ein rascher Blick in seine grün-bräunlichen Augen, und schon vergaß ich alles andere. Außerdem begann mein Herz immer, wie wild zu klopfen und herumzuhüpfen, was mir wirklich gar nicht in den Kram passte. Musste das wirklich jedes Mal passieren, wenn ich ihn sah? Schnell zog ich mir meinen Schal mit den großen, rosa Punkten übers Gesicht, damit niemand die krasse Röte sehen konnte, die meistens auf das Herzgehüpfe folgte. Kein idealer Look für die Schule.

Wie schon in den letzten Tagen versuchte ich, an irgendetwas zu denken, das kein Gehüpfe wert war. Wie wir in Chicago immer im Stau standen, um zu Dr. Patels Praxis zu kommen. Wie wir dann in Dr. Patels Praxis ankamen. Dann dieser Unterricht. Langweilig, langweilig, langweilig.

Na also. Perfekt.

Doch dann warf mir Jeg vom Platz neben mir einen Blick zu, und Liam fing an, mit Läster-Ami zu reden. Schon wieder machte mein Herz einen Sprung, und was für einen. Aber nicht etwa aus großer Freude oder so. Eher auf so eine Das-gefällt-mir-kein-bisschen-Weise.

Ich erwiderte Jegs Blick. »Das nervt total«, flüsterte ich.

»Aber echt«, sagte sie.

»Ruhe!« Miss Sigafiss ließ ihr Lineal auf den Lehrertisch knallen.

Normalerweise finde ich sie total gruselig, aber in diesem Augenblick war sie für mich die Heldin des Tages. Jeder, der es schaffte, Liam und Läster-Ami davon abzuhalten, miteinander zu reden, war automatisch eine grandiose Person, selbst wenn es sich um jemanden handelte, der immer etwas mit Rüschen trug und pausenlos schlechte Laune hatte.

»Für die letzten zehn Minuten der Stunde holt ihr bitte eure Hefte heraus und schreibt an der Aufgabe weiter, die ihr gestern angefangen habt«, sagte sie.

Ich nahm meinen Stift und tat mein Bestes, um mich auf die Seite vor mir zu konzentrieren. Aber sie war eben viel weniger blau und mysteriös als der Zettel, den ich mir unbedingt anschauen wollte. Und sie war auch viel weniger grün-bräunlich als diese grandiosen/miesen Liam-Augen, die ich mir auch gerne angesehen hätte, auch wenn ich das wohl lieber bleiben lassen sollte.

Schreib einfach, sagte ich mir. Du musst. Nun mach schon. Also tat ich es schließlich.

Hey, zukünftiges Ich:

 

Heute ist der erste Donnerstag der sechsten Klasse. Ich sitze gerade im Englischunterricht und versuche, das hier zu schreiben, aber ich kann nicht aufhören, an den zusammengefalteten Zettel zu denken. Ich wünschte, er wäre mir früher aufgefallen, dann hätte ich ihn noch vorm Unterricht lesen können. Jetzt sind mir leider die Hände gebunden. Es kann aber gut sein, dass ich explodiere, wenn ich nicht bald rausfinde, was da draufsteht. Aber nein, ich muss Geduld haben und abwarten. Und das werde ich auch. (Ich werde mich zumindest bemühen. Das ist doch schon mal viel wert.)

Ich soll hier meine Ziele für dieses Jahr aufschreiben, und ich nehme an, Miss Sigafiss meint meine Ziele in Sachen Englischunterricht – zum Beispiel, dass ich fünftausend Bücher lesen und immer gut zuhören und alle Kommas an die richtigen Stellen setzen will – so Schulkram halt.

Mir sind diese Sachen auch total wichtig – lesen und zuhören und Kommas –, aber es gibt ja noch andere Sachen im Leben. Hier folgen nun also meine wirklichen Ziele!

Ich will:

 

Aufhören, an den zusammengefalteten Zettel zu denken, bis ich ihn nach dem Ende der Stunde in Ruhe lesen kann.

Aufhören, von morgens bis abends über Liam nachzudenken. Der will nämlich nichts mehr von mir wissen.

Stattdessen lieber von morgens bis abends über Jungs wie den netten Andy nachdenken. Der scheint mich nämlich echt zu mögen.

Aufhören, über den zusammengefalteten blauen Zettel nachzudenken, bis es Zeit ist, ihn aufzumachen. (Aber diesmal ernsthaft, denn beim ersten Mal hat das so überhaupt gar nicht funktioniert. Also: Hast du jetzt endlich aufgehört?)

 

Außerdem, liebes zukünftiges Ich, muss ich eins unbedingt wissen – ist Jeg immer noch deine beste Freundin? Hat Dad in letzter Zeit mal über irgendwas mit dir gesprochen, das wirklich wichtig ist? Hat Dr. Patel endlich eine Heilungsmethode gefunden? Hast du die sechste Klasse geschafft? Das will ich doch hoffen. Wir werden hier nicht zwei Jahre hintereinander abhängen. Auf gar keinen Fall. Aber hey – fühl dich nicht unter Druck gesetzt.

 

Dein

September-Ich

 

PS: Ach ja – was war denn nun mit diesem kleinen blauen Zettel??

Die Glocke ertönte genau in dem Augenblick, als ich mit meinem Brief fertig wurde. Ohne eine Sekunde zu verschwenden, steckte ich mein Heft in den Rucksack, sprang von meinem Platz auf, huschte an Liam und seinen grandiosen/miesen Pupillen vorbei und raste auf den Flur hinaus.

Endlich. Ich hatte die Stunde hinter mich gebracht, und nun war es endlich, endlich so weit. Mir kam’s vor, als hätte ich die gesamten zwölf Jahre meines Lebens darauf gewartet, nicht bloß die letzten fünfundvierzig Minuten. Denn genau so lange war es in Wirklichkeit her, seit ich den Zettel von meinem Schließfach abgerissen hatte – genau in dem Augenblick, als die Du-wirst-so-was-von-zu-spät-kommen-Glocke läutete.

Ich atmete tief ein, griff in meine Tasche, holte den blauen Zettel hervor und faltete ihn auseinander.

Ach. Du. Heiliger. High Heel.

3 Der Junior-Reiseleiter

Bevor ich auch nur ein Wort lesen konnte, schlich sich jemand von hinten an mich heran und riss mir den Zettel aus der Hand.

»Geht’s noch?«, fragte Jeg und grinste. »Soll man sich so was nicht mit seiner allerbesten Freundin anschauen?«

Erwischt.

»Ich hab auf dich gewartet! Ich hab ihn nur schon mal aufgefaltet – zur Vorbereitung und so. Du musstest schließlich noch mit allen reden und es erst mal hier rausschaffen.« Jeg war mit allen befreundet, aber sie war nur meine beste Freundin. Wir hatten zum Beweis die passenden Freundinnen-Ketten und alles.

»Komm, wir lesen den Zettel auf dem Klo«, sagte sie. »Man weiß ja nie, wer uns hier beobachtet oder heimlich zuhört. Es könnte gefährlich sein.«

Ich verdrehte die Augen. »Du machst mich echt fertig«, sagte ich.

Genau genommen, machte mich der Flur fertig. Er war brechend voll mit Schülern, und alle bewegten sich so langsam, als versuchten sie absichtlich, nicht vom Fleck zu kommen. In dieser Geschwindigkeit würden wir es niemals bis aufs Klo schaffen.

»Warum lassen sich denn alle so viel Zeit?«, fragte ich.

»Ähm, hallo …« Jeg deutete auf die Wände.

Oh.

OH.

Die sonst so nackten, weißen, und öden Flurwände waren vom Boden bis zur Decke mit allen möglichen Bannern und Plakaten bedeckt, auf denen es um die große Exkursion des sechsten Jahrgangs ging. Sie startete erst im Februar, aber alle wussten, dass es eine gigantische Sache war. Nach vielen Wettbewerben würde der gesamte Jahrgang nämlich einen Junior-Reiseleiter wählen. Der Glückliche wäre dann der Boss für den gesamten Ausflug und berühmt bis in alle Ewigkeit. Mindestens.

Jeg und ich gingen weiter. Wir kamen an Postern von früheren Junior-Reiseleitern vorbei, und überall blieben Leute stehen, um sie sich anzuschauen. Im letzten Jahr war es Cody gewesen, der breit grinste und sein offizielles Zertifikat in den Händen hielt. Auf dem Poster vom Jahr davor trug Jordan eine Krone aus Blättern und strahlte, als wäre sie soeben zur Miss Amerika gewählt worden. Um die Gesichter der Auserwählten herum hatten sich andere Schüler mit Kommentaren verewigt. Endlos viele. Selbst wenn ich den ganzen Tag Zeit gehabt hätte, in der Gegend rumzustehen und sie alle zu lesen, ich wäre niemals fertig geworden.

Cody = bester J. R. L. aller Zeiten!!!

 

Jord, das hast du großartig gemacht. <3

 

Bester Trip von allen!

 

Danke, Gabriela, du bist der Hammer. ☺

So ging es weiter und weiter, bis wir zum aktuellen Poster kamen.

Abgesehen vom Umriss eines Kopfes mit Hals und einem riesigen Fragezeichen in der Mitte, war nichts darauf zu sehen. Die anderen redeten mit lauten, aufgeregten Stimmen und verdrehten die Hälse, um den besten Blick darauf zu bekommen.

»Das wartet nur auf dich!«, sagte Lindsey zu Läster-Ami.

»Wer es wohl werden wird?«, fragte ein Junge, den ich nicht kannte, ein Mädchen, das ich auch nicht kannte.

Wohin ich auch sah, überall machten Leute einen riesigen Wirbel um diese Poster, um die Exkursion und darum, wie fantastisch und wichtig der Junior-Reiseleiter war. Das Ganze machte mich merkwürdig nervös. Vielleicht lag es nur an den vielen Leuten auf dem Flur. In der Grundschule waren die Flure nie so überfüllt gewesen. Da war immer genug Platz gewesen, um in der Gegend herumzulaufen und, na ja, zu atmen. Hier waren mindestens dreimal so viele Leute unterwegs. Manchmal war das aufregend, meistens fühlte ich mich aber nur eingezwängt.

»Komm schon«, sagte Jeg und zog mich am Arm. »Jetzt ist garantiert keiner auf dem Klo. Wir kommen später wieder, dann können wir uns das in Ruhe anschauen.«

Dankbar ließ ich mich wegzerren. Jeg wusste immer, was in mir vorging – ich musste es ihr gar nicht erst sagen.

Doch nur eine Minute später, gerade als ich drauf und dran war, endlich den Zettel zu lesen, kam Läster-Ami ins Mädchenklo stolziert, als würde es ihr persönlich gehören. Ihr Haar – lang, lockig und im perfekten Arielle-Rot – fiel weich über die kleinen Erhebungen ihrer Brust.

»Jeggie!«, sagte sie. »Ich dachte doch, ich hätte dich hier reingehen sehen.« Dann sagte sie: »Oh, hey, Elyse«, mit sehr viel weniger Freude in der Stimme.

»Hi, Ami.« Ich versuchte, nicht darauf zu achten, dass Jeg ihre Aufmerksamkeit dem Spiegel zugewandt hatte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie eilig ein paar Sachen aus ihrem Rucksack zog – Make-up. Es war mir noch nie aufgefallen, dass sie Schminksachen mit sich rumtrug. Ganz bestimmt hatte sie sie noch nie benutzt. Bevor ich wirklich kapieren konnte, was sich hier abspielte, hatte sie eine dicke Schicht roten Lippenstift aufgetragen (seit wann stand Jeg denn auf Lippenstift?) und begonnen, ihr Gesicht mit goldenem Glitzerpuder zu bestäuben.

»Jeggie, du siehst toll aus«, sagte Läster-Ami. »Aber deine Haare wären ohne diese fiesen, rosa Strähnen echt der Hammer. Sie haben so ein schönes Schwarz und wir kriegen es kaum zu sehen. Wir müssen unbedingt mal zusammen zum Friseur gehen und uns darum kümmern.«

»Unbedingt«, sagte Jeg.

Ich schaute sie an, aber sie starrte bloß auf ihre Riemchensandalen, als wären sie viel interessanter als mein mysteriöser Zettel. Glaubte sie, ich wäre sauer, wenn sie so mit Läster-Ami redete? War ich nicht. Nur mein Bauch fühlte sich gerade ein bisschen komisch an.

Läster-Ami lächelte auf ihre typisch arrogante Weise. »Ich geh mir jetzt den Junior-Reiseleiter-Kram angucken. Kommst du mit, Jeggie?«

»Ich, ähm …« Jeg schaute von mir zu Läster-Ami und wieder zurück. »Würde es dir was ausmachen, Elyse? Du könntest ja auch mitkommen.«

»Aber was ist mit …« Ich unterbrach mich, als Läster-Ami sich aufmerksam vorbeugte.

Sie und ihre Clique (Jeg und ich nennen sie die Kreischmädchen) konnten Geheimnisse auf tausend Meter wittern. Nun, meines sollten sie jedenfalls nicht erfahren.

»Du weißt schon«, flüsterte ich. »Wir wollten doch etwas besprechen? Hier? Jetzt?«

»Ja, ich beeile mich, versprochen. Ich werfe mit Ami bloß einen kurzen Blick auf den Kram im Flur und dann komm ich sofort zurück. Okay?«

»Ähm, ja, okay.«

Läster-Ami hakte Jeg unter.

»Ganz im Ernst, ich bin gleich wieder da«, sagte Jeg. Dann zwinkerte sie mir zu, als wolle sie mir versichern, dass wir immer noch ein ganz wichtiges Geheimnis teilten. Als hätte sie es nicht vergessen. Als würde alles gut werden und als hätte sie nur einen kurzen Anfall von Schminkwahn gehabt, der bald wieder vorbei sein würde. Wie ihr Make-up würde sie ihn heute Abend wegwischen.

»Bleib locker, Dumpfbacke!« Läster-Ami sah mich an, lachte und schubste Jeg zur Tür hinaus.

Ich kratzte meinen Arm durch den Ärmel hindurch. Er juckte wie verrückt. Und sorgte dafür, dass ich mir total erbärmlich vorkam. Vielleicht war ich ja auch ein bisschen erbärmlich.

Jeg war diejenige, die mich vor Worten wie Dumpfbacke beschützen sollte, damit das Jucken gar nicht erst begann. Aber sie hatte gesagt, sie würde zurückkommen, also würde sie das auch tun, und dann würde sie dafür sorgen, dass es wieder besser wurde.

Meine Knie schienen das allerdings nicht zu glauben. Sie fühlten sich ganz wabbelig an, als könnten sie meine Beine nicht mehr tragen. Also ließ ich mich auf eine Bank in der Ecke des Klos fallen und krümmte mich zu einem kleinen Ball zusammen. Meinen Kopf lehnte ich gegen die kalten Kacheln und atmete lange aus. Vielleicht konnte Jeg nichts dafür, vielleicht musste sie sich so merkwürdig verhalten. Wenn Läster-Ami ganz plötzlich auf die Idee käme, ich wäre cool, würde ich wahrscheinlich auch anfangen, mich merkwürdig aufzuführen.

Mir fiel auf, dass ich immer noch den Zettel umklammert hielt, also öffnete ich vorsichtig meine Faust und faltete ihn auseinander. Tut mir leid, Jeg. Ich würde ihr nach der Schule im Chat erzählen, was draufstand.

Hi, Elyse,

stand da in winzigen, ausgedruckten Buchstaben.

Hallo, Zettel.

ich weiß, wer du bist, und ich weiß, womit du zu kämpfen hast. Ich möchte dir helfen.

Ich blinzelte ein Mal. Zwei Mal. Dann drei Mal. Dann tausend Mal.

Wenn du bereit bist, etwas zu ändern, dann zeig es mir, indem du morgen zum Info-Abend kommst, bei dem sich die Kandidaten für den Junior-Reiseleiter treffen. Du würdest eine tolle Reiseleiterin abgeben, weißt du … Und es einfach mal probieren, kann niemals schaden.

So endete die Nachricht. Keine Unterschrift, keine Kontaktinfos, nichts. Ich blinzelte noch ein paar weitere Trilliarden Male, und als ich meine Augen endlich ganz öffnete, war der Zettel immer noch da.

Na gut. So viel zum Thema geheimer Verehrer oder Gutschein für den besten Ort auf der ganzen Welt. (Ein Rabattcoupon wäre übrigens auch nett gewesen.)

Aber trotzdem – interessant.

Ich stopfte die Nachricht zurück in meine Tasche, während Zillionen Gedanken durch meinen Kopf jagten. Wer hatte das geschrieben? Und wann? Und warum?

Als ich zum ersten Mal auf die Sache mit dem Junior-Reiseleiter gestoßen war, hatte eine laute innere Stimme gleich gesagt: Auf keinen Fall. Siesagte: Bleib unscheinbar, Elyse. Es müssen nicht alle einhundertfünfzig Schüler des sechsten Jahrgangs wissen, wer du bist. Aber war nicht durchaus etwas dran an der mysteriösen Nachricht? Anscheinend liebten die Leute ihre Junior-Reiseleiter immer heiß und innig und überschütteten ihn oder sie nur so mit Komplimenten. Wäre ich Reiseleiterin, würden sie bestimmt eine Menge tolle Sachen auf das leere Poster schreiben, und dann könnte ich sie wieder und wieder lesen – bis in alle Ewigkeit. Ich könnte mir eine Kopie davon machen und sie in mein Zimmer hängen. Sie mit auf Ausflüge nehmen. Mit aufs College. Überallhin. Für alle Zeit.

Ich seufzte. Ich war ein bisschen frustriert darüber, dass Jeg nichts davon mitbekommen hatte. Sie hatte es wahrscheinlich einfach nicht geschafft, sich rechtzeitig aus Läster-Amis Umklammerung zu befreien. Außerdem war Jeg nie pünktlich. Erst letzte Woche waren ihre Cousinen aus China zu Besuch in der Stadt gewesen und sie war zu spät zu ihrem gemeinsamen Abendessen gekommen. Sie hatten aus einem anderen Land anreisen müssen – Jeg bloß aus dem Einkaufszentrum.

Also, Pünktlichkeit war nicht gerade ihre Spezialität. Ihre Cousinen hatten ihr verziehen und ich würde es auch tun. Wie immer.

Aber da draußen gab es noch jemanden, dem ich wichtig war, der mich kannte. Und der nicht wollte, dass ich mich jemals wieder wie eine Dumpfbacke fühlte.

Diesen Jemand wollte ich unbedingt kennenlernen.

4 Wunderschön

Es gab noch etwas anderes, das ich tun musste, bevor ich das Mädchenklo verlassen konnte. Nein, nicht das. Eigentlich benutzt keiner in der Middle School ernsthaft das Klo.

Stattdessen schob ich den Ärmel über den Ellbogen. Wie erwartet, da war es: D-U-M-P-F-B-A-C-K-E. Das dicke, dunkle Wort juckte mehr als tausend Mückenstiche. Ich kratzte ausgiebig. Ahhhh. Das Kratzen tat gut, aber nicht gut genug.

Ich atmete ganz tief ein und versuchte, an die gute alte Zeit zu denken, als das Jucken noch kein Problem gewesen war. Aber eigentlich hatte es so eine Zeit in meinem Leben nie gegeben. Laut Mom und Dad kreuzten wir zum ersten Mal in Dr. Patels Praxis auf, als ich nicht mal eine Woche alt war. Mein Kinderarzt riet ihnen damals, mit mir von Indiana nach Chicago zu fahren und ihn zu konsultieren, weil er ein Spezialist war. Ich war bloß ein Baby, das nur in die Windeln kacken und spucken und rülpsen und schlafen konnte, aber ich war auch schon jemand, der einen Spezialisten benötigte.

Das Problem war: Ich war ein wunderschönes Baby, zumindest sagte das der Arzt, der Mom bei der Geburt half. Normalerweise wäre das nichts Schlechtes, aber als sie sahen, wie das Wort WUNDERSCHÖN auf meinem kleinen Babyarm auftauchte, kurz nachdem er es im Kreißsaal ausgesprochen hatte, flippten alle ziemlich aus. Schließlich sollen Babys wunderschön sein, und nicht das Wort auf ihrem Arm stehen haben wie eine seltsame Tätowierung.

Dann kamen die Untersuchungen. Jede Menge Untersuchungen. An mir. An Mom. An dem Wort. Und dann sprach Dr. Patel die drei Buchstaben aus, die mein Leben für immer verändern sollten: C-A-V. CAV. Die Abkürzung für Cognadijvisibilitis. Oder auch: das absurdeste Krankheitsbild aller Zeiten.

Dann sagte er: Hey, ich denke, ihr solltet nach Chicago ziehen, damit ich eure Tochter für immer und bis ans Ende aller Tage behandeln kann. Sie wird mich nämlich bis ans Ende aller Tage brauchen. Weil sie die CAV nie wieder loswird. Also, tauschen möchte ich nicht mit ihr!

Vermutlich hat er das nicht ganz genau so gesagt. Ich weiß es nicht mehr.

Es wäre für mich auch in Ordnung gewesen, wenn da einfach für alle Zeit WUNDERSCHÖN gestanden hätte. Aber nein – die anderen Kinder hatten andere Pläne mit mir und die waren nicht besonders schön.

Meine Gedanken und Blicke kehrten zu der fetten DUMPFBACKE auf meinem Arm zurück. Mir entfuhr ein leises Wimmern, denn ich wusste genau, dass dieses juckende Ding zwei bis vier Wochen brauchen würde, bis es endlich wieder verschwand. Länger, wenn jemand das Wort wiederholte. Und jetzt, wo Läster-Ami in meine Jeg-Zeit hineinplatzte – und nie eine Chance versäumte, ihr Läster-Ich zu zeigen –, war es gut möglich, dass sie diejenige sein würde, von der ich es immer wieder zu hören bekam.

Rasch schob ich meinen Armel wieder hinunter, damit niemand das Wort sehen konnte. Als der Stoff meine Finger erreichte, wurde mir bewusst, dass auch mein anderer Arm ein wenig juckte. Was sollte das denn?

Ich biss mir auf die Lippe. Es ergab keinen Sinn, dass mein anderer Arm juckte. Läster-Ami hatte mich bloß DUMPFBACKE genannt und niemand sonst hatte in letzter Zeit irgendwas Schlimmes zu mir gesagt. Ich wusste, dass es ein schlimmer Ausdruck war, denn nur die schlimmen juckten. Außerdem formten sich die Buchstaben meistens ganz langsam, als würde sie jemand mit einem scharfen Fingernagel in meine Haut ritzen. Aber das war nicht passiert. Oder vielleicht doch, aber ich war zu sehr damit beschäftigt gewesen, über den Zettel nachzudenken, und es war mir schlicht nicht aufgefallen. Möglich war’s.

Ich schaukelte mit dem Oberkörper vor und zurück und rieb mir meine schweißnassen Hände an der Hose ab. Schau einfach nach, sagte ich mir. Wie schlimm kann es schon sein? Außerdem: Wann sind eigentlich meine Hände so schweißig geworden?

Ich schob den Ärmel hoch und mein Herz raste. Die Buchstaben waren horizontal angeordnet, und so sah ich sie auf einen Blick: ERBÄRMLICH.

Erbärmlich?

Ich legte meinen Kopf schief und ging noch mal den ganzen Tag durch. Nein, Läster-Ami hatte mich nicht erbärmlich genannt. Jeg und Liam und Miss Sigafiss auch nicht und auch sonst keiner.

Dann richtete ich mich ganz gerade auf und schlug mir die Hände vors Gesicht, weil mir etwas Entscheidendes einfiel. Es gab jemanden, der mich erbärmlich genannt hatte: ich selbst.

Einen Augenblick lang kam ich mir vor, als sei ich auf der Bank festgewachsen. Ich konnte keinen Muskel rühren, nicht denken, nicht mal atmen. Die Welt stand vollkommen still. Das war kein übliches Symptom. Das wusste ich. CAV bedeutete juckende schlimme Worte und beruhigende gute Worte. Es bedeutete, dass ich aufpassen musste, mit wem ich meine Zeit verbrachte, damit ich mehr Gutes als Schlechtes zu hören bekam. Es bedeutete, immer darauf zu achten, wie andere über mich sprachen.

Es hatte noch nie bedeutet, dass ich darauf achten musste, wie ich über mich selbst sprach.

Heilige. High. Heels.

Dr. Patel würde begeistert sein. Ich konnte schon die Schlagzeile sehen: »Neues CAV-Symptom entdeckt! Immer noch keine Heilungsmethode in Sicht. Keine Hoffnung für Elyse.«

Ich starrte vor mich hin, während ich meinen Ärmel hinunterschob. Das Klo sah genauso aus wie vor ein paar Minuten, aber alles hatte sich verändert. Ich hatte einen geheimen Zettel bekommen und ein neues Symptom und beides noch vor der zweiten Stunde.

Das würde ein langer Tag werden.

5 Kackbirne

Ich konnte Mom und Dad nichts von dem neuen Symptom erzählen, auch wenn es mich total verrückt machte, es für mich zu behalten. Aber total verrückt zu werden, war immer noch besser, als in einem Affenzahn zu Dr. Patel gekarrt zu werden, denn genau das hätten meine Eltern getan, wenn sie Bescheid gewusst hätten. Sie würden komplett durchdrehen und eine komplett Durchgedrehte in der Familie war mehr als genug. Ich würde es wahrscheinlich eh allein geregelt kriegen. Zumindest hoffte ich das.

Nach dem Essen am nächsten Abend ging ich mit Mom in mein Zimmer, denn sie wollte mir dabei helfen, meine Haare für die große Versammlung in Bestform zu bringen. Bei jedem Bürstenstrich hätte ich am liebsten losgeplappert: Weißt du schon das Neueste? Jetzt tauchen auch noch die Worte, mit denen ich mich selbst beschimpfe, auf meinen Armen und Beinen auf! Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein? Doch zum Glück fing Mom an zu reden, bevor ich mich in Schwierigkeiten bringen konnte.

»Die Tochter von meiner Freundin Veronika war auch mal Junior-Reiseleiterin«, sagte Mom. »Es war eine großartige Erfahrung für sie. Ganz egal, was passiert, ich bin stolz auf dich, weil du es probierst, Schätzchen. Denk immer dran: Stock und Stein brechen mein Gebein …«

Sie musste das Sprichwort nicht zu Ende führen, denn ich kannte es wirklich in- und auswendig. Sie hatte es mir seit meiner frühesten Kindheit jeden Abend vor dem Schlafengehen eingeschärft. Stock und Stein brechen mein Gebein, doch Worte bringen keine Pein.

Mir brachten Worte aber durchaus Pein. Na ja, sie juckten. Das reichte schon.

Ich schauderte beim Gedanken an die Worte, die mich gerade quälten, und an alle, die mich früher gequält hatten. Dann kicherte ich ein wenig vor mich hin, weil ich an die erste schlimme Beschimpfung denken musste, die man mir an den Kopf geworfen hatte. Sie hatte alles verändert.

Es passierte im Kindergarten. Mom blieb an meinem ersten Tag die ganze Zeit bei mir, hielt meine Hand und erlaubte es nur bestimmten Kindern, in meine Nähe zu kommen. Aber in dem Augenblick, als sie doch einmal kurz die Klasse verließ, kam Max Iverson auf mich zu und knallte mir das schlimmste Schimpfwort an den Kopf, das in der Vorschule existierte: Kackbirne. Mehr war nicht nötig.

Als Mom zurückkam, war ich umgeben von Kindern und Lehrern und brüllte mir die Seele aus dem Leib. Das Wort KACKBIRNE bedeckte einen Großteil meines Unterarms. Es juckte. Und wie. Ganz, ganz, ganz, ganz, ganz schlimm. Das einzig Gute war, dass Jeg sich direkt neben mich setzte und daran herumkratzte, als wäre es ein lustiges Spiel. Als wäre es völlig normal, wenn Worte auf der Haut von anderen Kindern auftauchten – und sogar noch normaler, sich direkt neben ihnen hinzuhocken und daran herumzukratzen. Mom hob mich gleich hoch, zog mich aus der Menge, warf mich über ihre Schulter und schleppte mich zum Arzt, bevor ich mich von meinen neuen Freunden verabschieden konnte. (Oder es diesem unverschämten Max hätte heimzahlen können.)

Ich kann mich nur vage daran erinnern. Ich weiß bloß noch, dass Dr. Patel mich untersucht hat und es mir vorkam, als würde es Stunden dauern. Nachdem er mich gepikt und gestupst und ein gequältes Gesicht gemacht und oft gestöhnt hatte, sagte er: »Mach dir keine Sorgen, Elyse. Mit der Zeit wird es leichter.«

Aber das stimmte nicht. Es wurde schwerer.

Doch etwas Gutes hatte es: Als ich am Tag nach dem Kackbirnen-Vorfall in den Kindergarten zurückkehrte, traf die extrem schlaue, vierjährige Jeg eine Entscheidung: Von nun an würde sie mein persönlicher Bodyguard sein und verhindern, dass mich weitere schmerzhafte Bemerkungen trafen.

Mom hat noch jede Menge lustige Videos von ihr. Meistens trug sie einen Schlapphut und ein Tutu über einer Seidenschlafanzughose mit Prinzessinnen drauf. Sie baute sich direkt vor mir auf, ihre kleinen Hände in die Hüften gelegt, und blickte angriffslustig in die Gegend. Wenn jemand mit mir spielen wollte, fragte sie immer: »Versprichst du, dass du nur nette Sachen sagen wirst?« Und dann mussten die anderen Kinder bei ihren Stofftieren schwören, dass sie sich daran halten würden.

Nach dem Kackbirnen-Vorfall ging Mom jeden Morgen mit mir zum Kindergarten und wartete, bis Jeg auftauchte. Und erst wenn Jeg sich ihre Jacke ausgezogen hatte und in den Bodyguard-Modus übergegangen war, verabschiedete sie sich.

Als wir dann auf die Grundschule gingen, zwang Jeg die anderen nicht mehr, bei ihren Stofftieren zu schwören, aber sie passte immer noch auf mich auf.

Meistens jedenfalls.

Als Mom ein Gummiband über meinen Pferdeschwanz schob, schob ich meine Erinnerungen beiseite. Sie ließ mich allein, damit ich mich für den Info-Abend umziehen konnte, und ich musste wieder an den blauen Zettel denken. Wer immer ihn geschrieben hatte – er oder sie hatte durchaus einen wichtigen Punkt getroffen: Junior-Reiseleiterin zu sein – und all die wunderbaren Komplimente zu bekommen, die damit verbunden waren –, wäre fantastisch für mich. Der- oder diejenige irrte sich aber auch in einer Hinsicht: Es könnte durchaus schaden, es zu versuchen. Es könnte wehtun.

Aber ich wollte es trotzdem versuchen.

6 Auf die falsche Art verrückt

Ich ließ mir Zeit beim Umziehen, wollte ganz sichergehen, dass mein Outfit so perfekt wie möglich war. Ich schlüpfte in meine gemütlichsten Socken, die pinkfarbenen mit den silbernen Sternen, und probierte dann jede Menge Accessoires, bevor ich mich für das silberne Armband mit dem Glücksbringer und die Beste-Freundinnen-Kette entschied, die Jeg mir zum zehnten Geburtstag geschenkt hatte. Natürlich hatte sie selbst das passende Gegenstück. Es gehörte zur berühmten Kollektion ihrer Eltern, die Schmuckdesigner waren, und zwar ziemlich abgefahrene. Sie waren so abgefahren, dass sie angefangen hatten, ihre Tochter Jeg zu nennen statt Jenny, wie sie eigentlich hieß, weil die Jeggins damals gerade in Mode gekommen war. Sie sah übrigens sensationell aus in Jeggins. Es hätte kein Name besser zu ihr passen können, deshalb ist er auch an ihr kleben geblieben.

Ich legte also die Kette an und rieb den Glücksbringer zwischen meinen Fingern. Es stand nicht bloß Beste oder Freunde darauf, wie auf den meisten Anhängern von Freundschaftsketten, sondern er stellte ein ausgefallenes Peace-Zeichen dar, das echt cool aussah, auch wenn man nur die eine Hälfte trug. Es gehörte zu den wertvollsten Dingen, die ich besaß.

Dann gönnte ich mir einen Spritzer von meinem fruchtigen Lieblingsparfüm. Als ich es auf die Kommode zurückstellte, fiel mir etwas anderes ins Auge – ein kleines Stückchen Kaugummi. Ein Geschenk von Liam. Igitt. Das hätte ich schon vor Monaten wegschmeißen oder wenigstens kauen sollen, solange es noch genießbar gewesen war. Nun war es bestimmt bloß noch ein ekliger, verrotteter Klumpen, genau wie mein Herz.

Als Liam und ich Ende der fünften Klasse angefangen hatten, miteinander zu gehen, hatte er mir all diese total abgefahrenen Sachen über sich erzählt, die sonst keiner wusste. Dass er zum Beispiel immer noch sein Kuscheltier mit ins Bett nahm (Mr Koala-Snuggles) und eine Zeit lang ein Stück Kaugummi in einem Glasgefäß als Haustier namens Chewy gehalten hatte. (Deswegen hatte er mir auch das Kaugummi geschenkt: nicht, damit für meinen frischen Atem gesorgt war, sondern für den Fall, dass ich mir ein Haustier wünschte.) Außerdem backte er in seiner Freizeit Kuchen aus Käse-Popcorn, Cornflakes und Pommes, nur um zu sehen, was passierte, wenn er all das zusammen in den Ofen schob. So abgefahren. So irre. So irre abgefahren.

Dann zeigte ich ihm meine Worte. Wie alle anderen bei uns in der Grundschule wusste er davon, aber er gehörte zu den ganz wenigen, die sie tatsächlich gern aus der Nähe sahen. Und er wollte mehr über sie erfahren. Andauernd stellte er mir Fragen.

»Wie hast du das bekommen?«

»Das weiß keiner. Hat irgendwas mit einem blöden Gen zu tun, das Mom mir vererbt hat.«

»Wie viele Leute haben das?«

»Keine Ahnung. Ich weiß von keinem anderen. Dr. Patel meint, es wäre eine der seltensten Krankheiten der Welt.«

»Warum tauchen die nur an deinen Armen und Beinen auf? Warum sind manche groß und andere klein?«

»Ist halt so. Ich weiß nie, wo das nächste zum Vorschein kommt oder wie groß es sein wird.«

Ich hatte keine guten Antworten auf seine Fragen, denn Dr. Patels Forschungen waren noch lange nicht abgeschlossen. Er verbrachte viel Zeit damit, aber in Wahrheit konnte er nicht viel tun, um die Lage zu ändern oder dafür zu sorgen, dass es mir besser ging. Hauptsächlich redeten wir bloß und durch ihn fühlte ich mich etwas weniger wie ein Fall für die Klapsmühle. Das erzählte ich auch Liam, aber er fragte trotzdem weiter. Er fand das alles interessant.

Genau wie ich war er nicht wirklich normal.

Es war fantastisch.

Am sechsten und letzten Tag, an dem wir miteinander gingen, schlug mein Herz besonders laut, als ich ihn sah, und ich wusste nicht, warum. Es war mehr als mein übliches Oh-mein-Gott-er-ist-so-süß-und-auf-gute-Art-abgefahren-und-ich-komm-gar-nicht-mehr-klar-Herzgehüpfe. Ich hatte eher das Gefühl, mein Herz würde mir gleich aus dem Körper rausspringen, quer über die Straße laufen und nie zurückkommen.

»Das ist heute das letzte Mal, dass wir abhängen«, sagte Liam. Er verschränkte die Arme, und ich fühlte mich, als hätte mir jemand all meine Innereien aus dem Körper getreten. Als wäre ich bloß noch ein großer, leerer Haufen Nichts.

»Im Herbst kommen wir auf die Middle School«, sagte er, als würde ich das nicht wissen. Dabei wusste ich das nur zu gut. Genau genommen, malte ich mir ständig aus, wie wir ganz romantisch Hand in Hand über die Flure spazieren würden, wie das die Leute in der Middle School eben so machten. Liam würde vorangehen, den Leuten meine Worte zeigen und genauso auf mich aufpassen wie Jeg. Mit zwei so fantastischen Bodyguards an meiner Seite würden alle Worte auf meiner Haut gewiss nur noch wunderbar sein, und das rund um die Uhr.

»Ja … Middle School. Und?« Meine Stimme zitterte.

»Also …« Er wand sich. »Da kann ich’s mir nicht mehr erlauben, mit so was …« Er fuchtelte vor mir mit den Händen herum. »Da kann ich mich nicht mehr mit deinem verrückten Kram abgeben. Es ist zu verrückt. Aber es war total interessant, mit dir abzuhängen.«

VERRÜCKT tauchte auf und juckte genauso stark, wie ich es erwartet hatte. Doch als sich INTERESSANT formte, spürte ich kaum etwas. Vielleicht war sich meine CAV nicht ganz sicher – genau wie ich –, ob das nun ein Kompliment oder eine Beleidigung sein sollte. Solche Worte spürte ich meistens kaum.

»Es ist bloß, in der Middle School, dieser CAV-Kram, das ist nicht … Ich kann das nicht. Mein Bruder hat mir gesagt, dass dann alles anders wird. Und ich will im Sommer sowieso mehr Zeit zum Fußballspielen haben und für Kevin und die Jungs. Wir können immer noch Freunde sein. Ich schreib dir. Vertrau mir, du willst nicht wirklich mit mir zusammen sein.«

Ich war mir eigentlich ziemlich sicher, dass ich genau das wollte.

Mehr sagte er nicht. Er ging einfach weg und ließ mich stehen, sodass ich nur noch am VERRÜCKT herumkratzen und mich fragen konnte, was ich falsch gemacht hatte.

Jeg war an diesem Tag mit einer anderen Freundin unterwegs und konnte mir nicht dabei helfen, an dem Wort herumzukratzen. Sie hätte auch nicht verhindern können, dass es überhaupt entstanden war.

Liam hatte verrückt eigentlich immer für eine coole Sache gehalten …

Ich machte mich auf den Nachhauseweg, auf dem mich eigentlich Liam begleiten sollte. Als ich an der Oak-Park-Stadtbücherei vorbeikam, musste ich eine Pause machen, mich auf eine Bank setzen und kratzen. Als ich aufschaute, sah ich einen ganzen Haufen Schüler, die ich nicht kannte. Sie sahen aus, als wären sie etwa in meinem Alter, aber sie kamen wohl von einer anderen Grundschule.

Und nach der ganzen Aufregung darüber, dass Liam mich verlassen hatte, und nach dem ganzen Heulen und Kratzen und Jucken und Ausflippen starrten sie mich jetzt an, als wäre ich reif fürs Irrenhaus.

Irgendwer.