Kapitel 1 Essen in der Nase

Also, es ist so: Meine Mutter hatte kein besonders großes Glück mit ihren Kindern.

Jetzt denkst du wahrscheinlich: »Oh, okay«, und: »Sei doch nicht so hart zu dir selbst!«, aber es stimmt. Denn erst kam Mikala mit einem Hirnschaden auf die Welt, und sie mussten ständig zu Untersuchungen und Therapien rennen – was sie im Übrigen immer noch tun, obwohl Mikala heute neunzehn geworden ist. Dann machte sich Mikalas Vater Bjarke aus dem Staub und verschwand nach Holland, Mama lernte meinen Vater kennen und schließlich kam Honey, also ich. Mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, unzähligen Operationen, und als ich klein war, blieb mir das Essen immer in der Nase stecken.

Ehrlich gesagt, sah ich aus wie ein Monster. Jedenfalls ganz sicher nicht wie das bezaubernde, niedliche, rosarote Baby, von dem die meisten träumen. Und obwohl ich im Vergleich zu vielen anderen mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte noch glimpflich davongekommen bin, muss man zugeben, dass ich kein sonderlich hübscher Anblick bin. Im Gegenteil. Meine Nase ist flach und schief, meine Oberlippe groß und vernarbt. Schön werde ich in diesem Leben nicht mehr. So ist es einfach.

Irgendwann rund um meinen zweiten Geburtstag machte sich auch mein Vater vom Acker. Vielleicht hat Mama ihn auch rausgeworfen, ich bin mir nicht ganz sicher. Seitdem reden meine Eltern nicht mehr miteinander. An das letzte Mal kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Sie brüllen nur noch.

Papa wohnt in Nørrebro, so wie wir auch, nur ein paar Straßen entfernt.

Ich sehe ihn jedes zweite Wochenende, wenn ich an den Samstagen der ungeraden Wochen bei ihm übernachte, und ab und zu, wenn er vor der Schule auf mich wartet und sagt: »Na, Honey? Wollen wir eine heiße Schokolade trinken gehen?«

Das kommt meistens am Monatsende vor, weil er sich dann Geld leihen will. Nur hundert Kronen bis zum nächsten Tag. Oder was ich halt gerade dabeihabe. Ich darf Mama nichts davon erzählen.

Manchmal bekommt er, was er will. Ab und zu gibt Mama mir eine Handvoll Münzen oder ein paar kleine Scheine, damit ich einkaufen gehen oder mir was zu essen besorgen kann, aber ich gebe selten alles aus. Papa steckt sich das Geld in die Hosentasche, drückt mir einen Kuss auf die Haare und sagt, dass er nicht wüsste, was er ohne mich nur tun sollte.

Meistens setzen wir uns dann einfach auf eine Bank im Park und quatschen ein bisschen, Papa raucht ein paar Zigaretten und wirft mit den Kippen nach Tauben. Vielleicht zeigt er mir ein neues Tattoo, das er sich hat stechen lassen. Heiße Schokolade habe ich noch nie bekommen.

Kapitel 2 Muskeln, Zimtröllchen und andere Sachen

Ich habe schon ein paarmal gehört, wie jemand sagte, mein Vater würde Steroide schlucken. Davon bekommt man große Muskeln. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Ich habe nicht gefragt. Aber falls es wirklich so ist, muss ich sagen, das Zeug wirkt.

Mein Vater hat riesige Oberarme. Gigantische Oberarme. Sie sind so groß, dass sie immer ein Stück vom Körper abstehen, wie bei einer Actionfigur, obwohl er mit Action sonst nicht viel am Hut hat. Einmal hat er als Umzugshelfer gearbeitet, aber dann bekam er Rückenschmerzen und hörte gleich wieder auf. Soweit ich weiß, sieht er ziemlich viel fern. Na, zum Glück kann er ja ein paarmal in der Woche ins Fitnessstudio und Gewichte stemmen.

Als ich jünger war, fand ich das alles ziemlich cool, das mit den Steroiden und den Muskeln. Aber mit der Zeit wurde mir klar, dass es das gar nicht ist. Ich konnte es an der Art erkennen, wie andere ihn ansahen. Die Kinder aus meiner Klasse, ihre Eltern, Leute auf der Straße. Papas Muskeln waren zu viel geworden. So ist es nämlich mit den meisten Dingen. Am Anfang ist alles super und cool, aber sobald eine gewisse Grenze erreicht ist, wird es zu viel, und dann ist es nicht mehr super. Überhaupt nicht mehr.

So war es auch damals mit den Zimtröllchen, die ich in der Frühstücksbox dabeihatte. Mama hatte vergessen, Brot zu kaufen, und Bargeld hatte sie auch keins, aber von den Zimtröllchen hatten wir gleich mehrere Tüten zu Hause auf Lager. Mikala ist verrückt danach.

»Na, du hast heute aber Glück«, sagte Maria, unsere Klassenlehrerin, als sie das sah.

Und ich grinste glücklich und mampfte mein Frühstück.

Doch schon am nächsten Tag, als Mama immer noch kein Brot gekauft hatte, aber nach wie vor jede Menge Zimtröllchen da waren, konnte ich an Marias Gesicht ablesen, dass ich wohl schon nicht mehr ganz so viel Glück hatte. Ganz zu schweigen vom dritten und vierten Tag. Auch die Kinder fingen an zu tuscheln. Und am fünften Tag, es war ein Freitag, rief Maria abends meine Mutter an und sagte, dass es in der Schule so etwas wie eine Essenspolitik gibt. Mamas Wangen glühten, als sie auflegte. Die Zimtröllchen waren zu viel geworden.

Und genauso ist es mit einer Menge anderer Dinge. Eigentlich sogar mit den meisten, wenn man darüber nachdenkt. Es geht immer darum, sich innerhalb der Grenzen zu bewegen. Nicht zu viel zu tun oder zu wenig, sondern exakt genug.

Auf diese Weise entgeht man den Blicken der Leute. Und den Tuscheleien. In der Klasse oder auf dem Schulhof oder wenn man auf den Bus wartet. Das nennt man reinpassen und darin bin ich richtig gut geworden. Die Beste in meiner Familie.

Nach mir kommt meine Mutter, Mikala und Papa sind die Schlusslichter, sie sind echt schlecht darin.

Kapitel 3 Abendessen

Meine Mutter arbeitet in Harrys Hackenbar, das ist ein Geschäft, in dem Schuhe repariert werden, die kaputtgegangen sind oder neue Sohlen brauchen, weil die alten zerschlissen sind. Außerdem kann man sich Nieten und Löcher in Gürtel machen lassen und Schuhcreme, Schnürsenkel, Schlüsselringe oder Türschilder kaufen.

Tatsächlich hat Mikala die Türschilder gemacht. Sie arbeitet zusammen mit anderen geistig Behinderten in einer Werkstatt. Dort malen sie »WC« in hübschen, verschnörkelten Buchstaben auf Holzschilder, die dann in verschiedenen Geschäften verkauft werden. Die Schilder sind superschön. Besonders Mikalas, die ein bisschen perfekter sind als die der anderen. Sie hat es wirklich drauf. Bei uns zu Hause hängen ihre WC-Schilder an sämtlichen Türen.

Harrys Hackenbar schließt um sechs Uhr abends, aber bis Mama nach Hause kommt, wird es oft halb acht, deshalb essen Mikala und ich meistens ohne sie zu Abend.

Mikala ist nicht so für Neues zu haben, sie will am liebsten jeden Tag Fischfrikadellen, Leberwurstbrote oder Tiefkühlpizza. Na ja, außer sie hat sich schon an Zimtröllchen satt gegessen.

Eigentlich kann ich ganz gut kochen. Ab und zu mache ich Knorr-Lasagne. Dann freut sich Mama, wenn sie nach Hause kommt.

Ein typisches Abendessen läuft bei uns folgendermaßen ab:

Mikala und ich haben uns gerade an den Küchentisch gesetzt und uns Milch eingeschenkt.

Mikala: »Ich muss mal.«

Ich: »Das dachte ich mir.«

Mikala: »Kommst du mit?«

Ich: »Nee.«

Mikala: »Doch!«

Ich: »Okay.«

Mikala pinkelt, ich lehne vor dem Badezimmer an der Wand.

Mikala: »Rate mal, welche Farbe meine Unterhose heute hat.«

Ich: »Blau.«

Mikala: »Ich habe gar keine blaue. Du sagst immer Blau.«

Ich: »Dann Weiß.«

Mikala: »Rot!« (Sie lacht laut und putzt sich ab.)

Ich: »Okay. Kann ich jetzt wieder in die Küche gehen?«

Hinterher erzählt Mikala, dass sie ihre Rezeptkuverts neu sortiert hat und wie. Das macht sie jeden Tag.

Mikala hat eine riesige Sammlung von Rezeptkuverts. Sie sammelt, seit sie acht Jahre alt ist. Rezeptkuverts sind kleine, alberne Umschläge, die man früher in Apotheken bekam, um Rezepte darin aufzubewahren, falls man sie noch mal brauchen sollte. In manchen Apotheken gibt es solche Umschläge immer noch, und wenn man höflich fragt und ein Sammler ist, so wie Mikala, dann bekommt man einen.

Es gibt unglaublich viele verschiedene Rezeptkuverts mit genauso unglaublich vielen verschiedenen Motiven, und Mikala hat so ungefähr alle, schätze ich.

Mikala interessiert sich primär für zwei Dinge: ihre Rezeptkuverts und Matador, eine Uralt-Fernsehserie, die noch aus der Zeit stammt, als unsere Eltern Kinder waren. Sie hat alle vierundzwanzig Folgen auf DVD, und wenn sie nicht gerade ihre Kuverts sortiert, klebt sie vor dem Fernseher. Ab und zu versucht sie, beides gleichzeitig zu machen.

Kapitel 4 Ausflug in den Freizeitpark

Jedes Jahr vor den Sommerferien arrangieren ein paar Eltern aus meiner Klasse einen Familientag, bei dem auch Geschwister und Eltern dabei sind. Das Ganze findet fast immer an einem Samstag statt und letztes Mal waren wir im Freizeitpark Dyrehavsbakken.

Es war ein warmer Tag, viel wärmer, als zuvor im Fernsehen angekündigt, und wir hatten allesamt viel zu viel an. Alle zogen sich stöhnend die Jacken aus und sagten, die Hitze würde sie umbringen, und dass es vielleicht eine gute Idee wäre, nach dem Mittagessen Wildwasserbahn zu fahren.

Papa war auch mitgekommen, obwohl es der Samstag einer geraden Woche war und ich ihn erst am Wochenende davor besucht hatte. Er lachte mit den anderen Vätern und redete davon, dass es langsam Zeit für ein anständiges Bier wäre. Aber Papa zog nicht nur seine Jacke aus, sondern auch noch T-Shirt und Unterhemd. Er lief als Einziger mit nacktem Bauch herum und lüftete seine großen Tattoos. Ich konnte sofort sehen, dass das zu viel war. Vielleicht auch wegen der Muskeln und Steroide. Wahrscheinlich sogar. Und es wurde auch nicht besser, als sich alle Väter ein Bier kauften. Papa kaufte zwei. Eins für jede Hand.

Bier ist prima, wenn es heiß ist und man als Vater am Schulausflug im Dyrehavsbakken teilnimmt. Aber zwei Bier gleichzeitig sind nicht gleich doppelt prima. Sondern zu viel. Das wusste ich genau.

Mikala war an diesem Tag natürlich auch dabei. Ich hatte zwar vorgeschlagen, dass sie stattdessen einen Ausflug mit Oma in den Schrebergarten machen könnte, aber zu dieser Zeit hatte Oma eine dieser Phasen, in denen sie ein bisschen zu viel Portwein trank und sich immerzu mit Mama stritt. Das ging also leider nicht.

Mikala wird immer wahnsinnig nervös, wenn sie mit vielen Menschen zusammen ist. Das führt dazu, dass sie noch mehr über ihre Rezeptkuverts redet als sowieso schon. Mit jedem. Hat man auch nur ein einziges Mal Interesse gezeigt, ist sie nur schwer wieder abzuschütteln.

Ich erkenne diesen suchenden Blick von Leuten sofort. Diesen Blick, der sagt: »Rette mich!« Dann weiß ich, dass Mikala irgendwo in der Nähe ist und vermutlich gerade bei der Geschichte angelangt ist, wie sie es geschafft hat, eine Serie von vier hübschen Kuverts mit Fachwerkhäusern auf Samsø zu ergattern.

Das wiederum führt dazu, dass ich mich bei solchen gemeinsamen Ausflügen nie so richtig entspannen kann. Zum Glück bekommt Mikala meistens Bauchweh, wenn sie unsicher wird, und verbringt dann ziemlich viel Zeit auf der Toilette. Dummerweise muss ich sie aber immer begleiten. Um vor der Tür Wache zu halten und die Farbe ihrer Unterhose zu erraten. Das wiederum stresst mich, weil ich dann meinen Vater nicht im Auge behalten kann. Mama redet ja nicht mit ihm. Sie versucht lieber, ihn, so gut es geht, zu ignorieren, raucht dabei Kette und lacht lauthals über alles, was die anderen Mütter sagen, ohne zu merken, dass die ihrerseits wie wild mit den Händen wedeln, weil sie nicht von ihr eingeräuchert werden wollen.

Manchmal trinkt Mama auch ein bisschen zu viel. Sie wird dann so lustig-angeheitert, nicht mehr als andere Eltern, aber trotzdem.

An so einem Tag spüre ich, wie die Blicke auf meinem Körper brennen. Papa, der ein Bier nach dem anderen ext und schließlich die Hosen runterlässt, um den Leuten die Umrisse von irgendeinem neuen Wikingermotiv mit Feuer und Schlangen zu präsentieren, das er sich gerade auf den Oberschenkel stechen lässt. Mikala, die die ganze Zeit Dünnschiss hat.

Währenddessen lächele ich, so gut ich kann. Das hilft ein bisschen gegen die Blicke – sie werden dann weniger oder brennen nicht mehr so. Nur ganz weg gehen sie nicht.

Schließlich verschwindet Papa irgendwann. Garantiert. Plötzlich klingelt sein Handy und weg ist er. Er sagt nicht mal Tschüss.

Nach solchen Familienausflügen mit der Klasse bin ich echt fertig. Ich wünschte wirklich, meine Familie würde irgendwann mal lernen, sich innerhalb der Grenzen zu bewegen. Zumindest Mikala und Papa. Immer, wenn sie es nicht tun, passiert etwas, ganz automatisch: Je mehr Raum sie einnehmen, desto weniger bleibt für mich. Es ist unglaublich, wie klein ich werden kann.

Kapitel 5 Lügen und Erdbeerkuchen

Ab und zu erwische ich mich selbst dabei, dass ich Dinge sage, die überhaupt nicht stimmen. Ich lüge. Und ich spreche hier nicht davon, Mama zu erzählen, sie sehe gar nicht müde aus, wenn sie danach fragt – oder Mikala, dass ich es total spannend finde, wie sie ihre Rezeptkuverts sortiert hat. Ich meine größere Sachen. Sachen, die eine Situation total verändern können.

Zum Beispiel, als ich an einem Sonntagmorgen beim Bäcker war.

Wir wechseln uns jeden Sonntag mit dem Brotkaufen ab. Mama, Mikala und ich. An diesem Tag war ich dran und ich hatte über zehn Minuten in der Schlange gewartet. Das Geschäft war proppenvoll.

»Ein halbes Weißbrot mit Kürbiskernen«, sagte ich zu der Verkäuferin.

»Gern«, sagte sie und marschierte schnurstracks auf eine stattliche Erdbeertorte mit Sahne zu und verfrachtete sie sorgsam in eine Pappschachtel, die sie ebenso sorgsam verschloss. »169 Kronen, bitte.«

Ich starrte sie und die Pappschachtel an.

»Äh«, sagte ich und fummelte an dem Zweihundertkronenschein herum, den ich zwischen den Fingern hielt.

»169«, wiederholte sie und lächelte freundlich. »Darf es sonst noch etwas sein?«

»Na ja, also«, murmelte ich, während ich mit flackerndem Blick nach den Kürbiskernbroten Ausschau hielt.

Eine Frau schob mich zur Seite, um bessere Sicht auf die Brötchen hinter der Theke zu haben. Ein Mann hustete mir direkt in den Nacken.

»Ach herrje«, sagte die Verkäuferin da. »Hätte es etwa doch der kleine Erdbeerkuchen sein sollen?« Sie legte den Kopf schief und sah mich forschend an. »Ja, oder?«

Ich war ganz bestimmt nicht wegen Kuchen hier, deshalb hätte ich die Dame wohl am ehesten auf ihren Irrtum aufmerksam machen müssen. Aber ich stand vor einer Frau, die offenbar Probleme mit dem Gehör hatte, wofür sie ja nichts konnte, noch dazu in einem Raum, der bis zum Rand mit ungeduldigen Zuschauern vollgestopft war. Gleichzeitig spürte ich ganz deutlich, wie ich langsam den Augenkontakt zu ihr verlor, weil ihr Blick zu einem Punkt zwischen meiner Nase und meiner Oberlippe wanderte.

»Nein, nein«, antwortete ich und gab ihr das Geld »Das ist genau richtig. Wir lieben Torte.«

Mama war alles andere als begeistert, als ich nach Hause kam. Sie hatte sich auf ein Käsebrot gefreut und außerdem war da natürlich noch die Sache mit dem Preis. Aber Mikala war total glücklich und schließlich entspannte sich Mama.

»Also, dann müssen auch noch Kerzen drauf«, sagte sie und angelte die Dose mit der Kuchendekoration vom obersten Regalbrett im Küchenschrank. »Was für ein festlicher Sonntag.«

Kapitel 6 Noch mehr Lügen und die Sache mit dem Zirkel

Ein andermal log ich, weil ich meinen Zirkel im Klassenzimmer vergessen hatte. Als ich ihn brauchte, um eine Matheaufgabe für den nächsten Tag zu erledigen, blieb mir nichts anderes übrig, als nachmittags mit dem Bus zurückzufahren und ihn zu holen.

Zum Glück war die Schule nicht abgeschlossen, ich kam problemlos rein. Aber als ich die Tür zu unserem Klassenzimmer öffnete, war der Raum voller Menschen. Da saßen so ungefähr zwölf bis fünfzehn Leute und hörten einer Frau zu, die irgendetwas erklärte und dabei auf eine Weltkarte zeigte, die vor der Tafel hing.

Mein Zirkel lag auf einem Tisch in der hintersten Ecke, aber ich brauchte ihn wirklich dringend, also dachte ich mir, ich könnte ja klammheimlich reinschleichen und ihn mir einfach schnell schnappen.

Aber als ich ungefähr in der Mitte des Raums war, sagte die Frau an der Tafel plötzlich: »Ah, du bist bestimmt Karen?«

Erst da wurde mir bewusst, dass mich alle ansahen, und ich blieb stehen.

»Äh, ja«, sagte ich aus irgendeinem Grund.

Vielleicht erschien es mir in diesem Moment leichter, das letzte Stück bis zum Zirkel zurückzulegen, wenn ich Karen hieß und nicht Honey.

»Setz dich einfach hin, Karen«, sagte die Frau. »Wir haben gerade erst angefangen.«

Es stellte sich heraus, dass ich in einem Abendkurs »Chinesisch für Anfänger« gelandet war. Alle anderen Teilnehmer waren erwachsen, und sie waren wahnsinnig nett zu mir, weil ich so jung war und trotzdem so sprachinteressiert, wie sie sagten.

In zweieinhalb Stunden lernte ich, »Guten Tag« zu sagen (ni hao) und »wie heißt du?« (ni jiao shenme mingzi?). Wir übten, die Wörter richtig auszusprechen, was echt nicht einfach war.

Hinterher erklärte uns die Lehrerin ein paar chinesische Sprichwörter und Redewendungen. Zum Beispiel gab es den Ausdruck »mama huhu«, was eigentlich so viel wie »Pferd, Pferd, Tiger, Tiger« heißt, aber die Chinesen verwenden es, wenn etwas nicht so richtig gut ist, aber trotzdem schlimmer sein könnte. Mama huhu. Ich schrieb es auf einen Zettel, weil mir der Ausdruck gefiel.