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Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen

 

Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne

Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

 

Berater der Herausgeber

Ulrich Moser

Henri Parens

Christa Rohde-Dachser

Anne-Marie Sandler

Daniel Widlöcher

Cord Benecke

Hermann Staats

Psychoanalyse der Angststörungen

Modelle und Therapien

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022614-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030751-3

epub:    ISBN 978-3-17-030752-0

mobi:    ISBN 978-3-17-030753-7

 

Geleitwort zur Reihe

 

 

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungs-psychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

 

Die Herausgeberinnen und Herausgeber

Cord Benecke, Lilli Gast,

Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

 

Inhalt

 

 

 

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. Vorwort
  3. 1 Einleitung
  4. 2 Angst und Angststörungen
  5. 2.1 Funktionale und dysfunktionale Aspekte von Angst
  6. 2.2 Klassifikation von Angststörungen und Kriterien nach ICD und DSM
  7. 2.1.1 Panikstörung und Agoraphobie
  8. 2.1.2 Soziale Phobie
  9. 2.1.3 Generalisierte Angststörung
  10. 2.1.4 Spezifische Phobien
  11. 2.1.5 Hypochondrische Störungen und Krankheitsängste
  12. 2.1.6 Körperliche Erscheinungsformen von Angst
  13. 2.3 Risikofaktoren, Epidemiologie und Komorbidität
  14. 2.4 Psychoanalytische Klassifikationen
  15. 2.4.1 Angst in den Psychologien der Psychoanalyse
  16. 2.4.2 Klassische psychoanalytisch beeinflusste Diagnosen
  17. 3 Psychoanalytische Modelle der Angststörungen
  18. 3.1 Konflikt, Struktur und Trauma
  19. 3.2 Konflikt und Struktur als zwei Perspektiven
  20. 3.3 Kindliche Ängste und ihre Entwicklung
  21. 3.4 Angststörungen und psychische Struktur
  22. 3.4.1 Ängste bei gut integrierter Struktur
  23. 3.4.2 Ängste bei mäßig integrierter Struktur
  24. 3.4.3 Ängste bei gering integrierter Struktur
  25. 3.4.4 Ängste beim Übergang zur strukturellen Desintegration
  26. 3.5 Beziehungsmuster und interpersonelle Konflikte bei Patienten mit Angststörungen
  27. 3.6 Intrapsychische Konflikte bei Angststörungen
  28. 3.7 Neurobiologische Grundlagen von Angststörungen
  29. 4 Therapie der Angststörungen
  30. 4.1 Nicht-psychoanalytische Ansätze und ihre Verbindungen zu psychodynamischen Konzepten
  31. 4.1.1 Kognitive Verhaltenstherapie, humanistische und systemische Ansätze
  32. 4.1.2 Suggestive Therapien und Entspannungsmethoden
  33. 4.1.3 Sport und Lebensführung
  34. 4.1.4 Pharmakotherapie
  35. 4.2 Allgemeine Aspekte psychoanalytisch orientierter Therapien bei Ängsten
  36. 4.2.1 Entwicklungsniveau, Struktur und Konflikt
  37. 4.2.2 Behandlung von vorwiegend konfliktbedingten Störungen
  38. 4.2.3 Behandlungsstrategien bei strukturellen Störungen und Traumafolgestörungen
  39. 4.2.4 Gruppenanalytische Ansätze bei Angst
  40. 4.2.5 Diagnostik, Probatorische Sitzungen und Indikationsstellung
  41. 4.3 Manualisierte Psychodynamische Kurztherapien
  42. 4.3.1 Panik-Fokussierte Psychodynamische Psychotherapie
  43. 4.3.2 Psychodynamische Therapie bei Patienten mit Generalisierter Angststörung
  44. 4.3.3 Psychodynamische Psychotherapie bei Patienten mit Sozialen Phobien
  45. 4.3.4 Wirksamkeit Psychodynamischer Psychotherapie bei Angststörungen
  46. 4.4 Psychoanalytische Langzeitbehandlung von Patienten mit Angststörungen
  47. 4.4.1 Manual-ähnliche Beschreibungen und Konzepte
  48. 4.4.2 Analytische Psychotherapie bei Patienten mit Angst- plus Persönlichkeitsstörungen
  49. 4.4.3 Wirksamkeit psychoanalytischer Langzeitbehandlungen von Angst
  50. Literatur
  51. Sachregister

 

Vorwort

 

 

Angst ist ein für die psychoanalytische Theorie und Praxis zentraler Affekt. Dennoch sind Angststörungen bisher empirisch wenig mit psychoanalytischen Konzepten untersucht worden. Dieses Buch versucht, psychoanalytische Konzepte und empirische Ergebnisse mit Gewinn für die therapeutische Praxis nutzbar zu machen.

Leserinnen und Leser treffen daher sowohl auf die aktuellen diagnostischen Manuale als auch auf klassische psychoanalytische Diagnosen; sie lernen psychoanalytische Modelle der Angststörungen vor dem Hintergrund empirischer Befunde kennen und können Verbindungen zu weiteren therapeutischen Konzepten entdecken. Für psychoanalytische Behandlungen wird ein manualisiertes Vorgehen vorgestellt, das Bezug auf den reichen Schatz psychoanalytischer Theorien nimmt und damit individuell zu gestaltenden Freiraum für Therapeuten und Patienten lässt.

Unser Buch lebt von der Verbindung eigener Praxiserfahrungen mit der Lehre an Hochschulen und Ausbildungsinstituten und regionalen und überregionalen Forschungsprojekten zu Angststörungen. Viele Menschen haben daher mit zu seinem Entstehen beigetragen. Wir danken unseren Patientinnen und Patienten, von denen wir gelernt haben; unseren Supervisandinnen und Supervisanden, die uns helfen, Gedanken und Konzepte zu klären; unseren Lehrern – insbesondere Karl König und Rainer Krause – und Kolleginnen und Kollegen; und unseren Studierenden, die mit ihren Fragen und Anmerkungen zur Entstehung dieses Buches beigetragen haben. Stellvertretend für viele Studierende und Ausbildungskandidaten sollen hier Pamela Bier und Alena Vjatlev genannt werden. Von den vielen offenen, nach Verstehen und Klarheit suchenden Diskussionen und Gesprächen hoffen wir mit diesem Buch etwas weitergeben zu können.

 

Kassel und Potsdam, Mai 2016

Cord Benecke und Hermann Staats

 

1          Einleitung

 

 

»Angst … (ist das) … Grundphänomen und Hauptproblem der Neurose«

Sigmund Freud (1926)

Angst ist im psychoanalytischen Denken ein zentraler Faktor bei der Entstehung psychischer Störungen. Theorien zum Verstehen von Angst wurden weiterentwickelt, kontrovers diskutiert und aufgrund neuer Befunde oder Theorien verworfen. Zur Beschreibung der individuellen Psychodynamik eines Patienten gehören fast regelhaft Hypothesen zu bewussten und nicht bewussten Ängsten und den mit ihnen verbundenen Beziehungsproblemen, Abwehrmechanismen und Bewältigungsversuchen.

Freud (1916–17) beschreibt Angst an vielen Stellen als die Ursache neurotischer Erkrankungen, weil »psychische Krankheitssymptome überhaupt nur gebildet werden, um der sonst unvermeidbaren Angstentwicklung zu entgehen« (S. 419).

Auch zur Behandlung von Patienten mit Angststörungen gibt es zahlreiche Konzepte mit einem aus der Behandlungspraxis erwachsenen klinisch empirischen Hintergrund. Die lebendige theoretische Diskussion um das Verstehen von Ängsten und die Behandlung von Menschen mit Angststörungen steht in einem Widerspruch zu der vergleichsweise geringen Anzahl von empirischen Untersuchungen psychodynamischer Therapien, die den Anforderungen der evidenzbasierten Medizin genügen. Hier will dieses Buch ansetzen. Es nutzt Ergebnisse aus eigenen Untersuchungen zur psychodynamischen Behandlung von Angstpatienten (Benecke, 2006), Manualisierungen von Therapien für Patienten mit Angststörungen (z. B. Hoffmann, 2008; Leichsenring et al., 2008a; Leichsenring et al., 2015; Leichsenring & Salzer, 2014; Leichsenring et al., 2005b) und die aktuelle S3-Leitlinie zur Behandlung von Angststörungen (Bandelow et al., 2014). Diese Daten, Konzepte und Empfehlungen diskutieren wir mit ihren Verbindungen zu psychoanalytischen Theorien. Psychodynamische Ansätze zur Behandlung von Patienten mit Angststörungen stellen wir in ihrer Entwicklung und in Verbindung mit weiteren therapeutischen Ansätzen dar. Fallbeispiele und die praxisnahe Darstellung therapeutischer Vorgehensweisen sollen zu einer empirisch informierten, störungs- und strukturspezifisch angelegten psychodynamischen Therapie von Patienten mit Angststörungen beitragen.

Wir beginnen mit einer kurzen Darstellung der Angststörungen in den aktuell gültigen Klassifikationen (ICD-10, DSM-5). Epidemiologische Daten und Komorbiditäten (innerhalb der Angststörungen und mit weiteren psychischen Störungen) werden berücksichtigt und klassische psychoanalytische Konzeptualisierungen von Angsterkrankungen (z. B. »Angstneurose«, »Angsthysterie«, »phobischer Charakter«) vor diesem Hintergrund so diskutiert, dass Unterschiede und Gemeinsamkeiten zur ICD/DSM sowie Vorzüge und Nachteile der unterschiedlichen Klassifikationssysteme deutlich werden.

Ausführlicher werden dann – ausgehend von Freuds Angsttheorien und deren Veränderungen – die klassischen psychoanalytischen Modelle zu Angststörungen mit ihren Verbindungen zu aktuellen Modellen und Behandlungsformen dargestellt. Dabei werden empirische Befunde der Affektforschung, der Psychotherapieforschung, der Entwicklungspsychologie sowie, kurzgefasst, der Neurobiologie einbezogen.

Der zweite Teil des Buches beschreibt vor dem Hintergrund dieser Modelle und Theorien die Behandlung von Patienten mit Angststörungen. Therapeutische Ansätze aus der Verhaltenstherapie, den humanistischen Verfahren, psychopharmakologische und suggestive Therapien sowie weitere für die Behandlung von Angststörungen genutzte Vorgehensweisen werden mit ihren Verbindungen zu psychodynamischen Verfahren skizziert. Dann stellen wir die derzeit vorliegenden psychoanalytischen Behandlungskonzepte ausführlicher dar, und zwar sowohl manualisierte Kurztherapien als auch analytische Langzeitbehandlungen bei Angststörungen. Bei Langzeittherapien gehen wir besonders auf die Behandlung von Patienten ein, bei denen Angststörungen gemeinsam mit affektiven Störungen oder Persönlichkeitsstörungen auftreten. »Reine« Angststörungen sind selten, Komorbiditäten der Regelfall (image Kap. 2.3).

Die Indikationsstellung wird anhand von konflikt- und strukturbezogenen Merkmalen so diskutiert, dass Entscheidungen innerhalb einer breit angelegten Matrix von Informationen getroffen werden können. Dabei wird auch die empirische Befundlage bezüglich der Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Behandlung von Angsterkrankungen dargestellt.

 

2          Angst und Angststörungen

 

 

Einführung

Angst kann verstanden werden als Ergebnis einer Einschätzung der Größe einer Gefahr im Vergleich mit der Einschätzung der eigenen Kompetenzen. Sie tritt damit je nach Situation, vorangegangenen Erfahrungen und erworbenen Kenntnissen in interindividuell ganz unterschiedlicher Stärke auf. Als evolutionär verankerte psychische und somatische Reaktion erfüllt sie überlebensnotwendige Funktionen, indem sie den Organismus in die Lage versetzt, Gefahrensituationen adaptiv zu bewältigen (ausführlich zu Emotionen in dieser Buchreihe: Benecke & Brauner, i. Vb.).

Ohne die Fähigkeit, mit Angst reagieren zu können, wären wir in hohem Maß gefährdet. In Bezug auf Angststörungen braucht es daher Kriterien, um zwischen normaler Angst und pathologischer Angst zu unterscheiden. Angst, auch wenn sie auf einen Beobachter »übertrieben« wirken mag, ist nicht notwendigerweise ein Hinweis auf eine Erkrankung. Dies gilt auch für Ängstlichkeit als ein überdauerndes Persönlichkeitsmerkmal. Angst kann erregend wirken, als lustvoll erlebt und aktiv aufgesucht werden – als Angstlust oder »Thrill« (Balint, 1959). Ein aktives Bewältigen ängstigender Situationen erhält und stärkt Kompetenzen. Bei der Betrachtung von Angst werden wir daher in der Regel auf ein Gefüge von miteinander interagierenden Faktoren stoßen, die im Alltag zu einem mehr oder weniger leicht störbaren Gleichgewicht von Ressourcen, Herausforderungen und Aktivitäten führen.

Lernziele

•  Funktionale und dysfunktionale Erscheinungsformen von Angst kennen und den Kategorien der diagnostischen Manuale zuordnen lernen

•  Das Problem der Komorbidäten bei Angststörungen verstehen – methodisch als ein »Artefakt« deskriptiver diagnostischer Systeme und inhaltlich als einen zentralen Faktor für das therapeutische Vorgehen und den Erfolg von Psychotherapien bei Angststörungen

•  Psychoanalytische Diagnosen von Angststörungen kennen lernen, sie in ihrem Bezug zu den verschiedenen Theorien der Psychoanalyse einordnen und nutzen können

2.1       Funktionale und dysfunktionale Aspekte von Angst

Angst ist mit vielfältigen Reaktionen verbunden. Die Ausschüttung von Hormonen und Veränderungen in der Aktivierung des vegetativen Nervensystems führen zu körperlichen Veränderungen, die sich zunächst grob als Vorbereitung für Kampf- und Fluchtreaktionen beschreiben lassen. Angst hat hier – wie andere Affekte – mehrere Dimensionen:

1.  Sie ist mit mehr oder weniger bewussten Erfahrungen, inneren Repräsentanzen und mit Kognitionen verbunden, die zur Steuerung individuellen Verhaltens beitragen.

2.  Veränderungen der Durchblutung und die Aktivierung und Hemmung körperlicher Funktionen sichern körperliche Voraussetzungen für Kampf oder Flucht.

3.  Über interpersonelle Signale aktiviert sie Unterstützung innerhalb eines sozialen Systems.

Die verschiedenen Dimensionen von Angst sind eng miteinander verbunden. Diese wechselseitige Beeinflussung trägt zur Regulation von Angst bei – das Singen im Wald reduziert die Angst eher als ein vorsichtiges Vermeiden von Geräuschen. So kann Angst auf ganz unterschiedliche Art und Weise reguliert und bewältigt werden. In der Regel spielen dabei sowohl intrapsychische als auch interpersonelle Faktoren eine Rolle. Einige dieser Möglichkeiten werden im Folgenden aufgeführt (vgl. Rudolf, 2000).

•  Angst – beziehungsweise die angstauslösende Situation – kann vermieden werden. Dies ist ein häufiges, naheliegendes und kurzfristig sehr erfolgreiches Verhalten. Langfristig trägt es zum Teufelskreis der Entwicklung von Angststörungen in für viele Störungen charakteristischer Weise bei (image Abb. 2.1). Es geht mit der Rückbildung von anderen Kompetenzen in der Bewältigung von Angst einher und ist oft in interpersonell wirksame Regelkreise der Verhaltensregulation eingebunden.

•  Angst – oder genauer: die angstauslösenden Vorstellungen – können im Interesse der Bewältigung einer Aufgabe verdrängt werden. Dieser Vorgang wird manchmal als »Heldenhaftigkeit« beschrieben. Diese kann durch Interaktionen in Gruppen weiter verstärkt werden.

•  Die Verleugnung von Angst tritt regelhaft auf, wenn in Notfallsituationen Handlungsfähigkeit erhalten bleiben soll. Oft ist der Affekt dann deutlich, wenn die Notfallsituation beendet ist. Der Notfallhelfer bei einem Autounfall handelt überlegt und ruhig, bis der Notarzt da ist; dann bricht er erschüttert und weinend zusammen.

•  Omnipotenzphantasien tragen dazu bei, sich ängstigenden Situationen mit Aussicht auf Erfolge stellen zu können – sie sind etwa in der Adoleszenz häufig zu beobachten und tragen zum Erproben von Grenzen und zum Entwickeln von Kompetenzen bei, können aber auch zu selbstgefährdendem Verhalten führen.

•  Existentielle Konflikte können durch die Betonung einer Seite so reguliert werden, dass bedrohliche und ängstigende Aspekte wenig erlebt werden – manchmal werden diese Erlebensweisen interpersonell dann bei anderen Menschen gesucht oder ausgelöst und dort kontrolliert. Zu diesen Möglichkeiten zählt etwa der Aufbau einer betonten Autonomie, aus der heraus andere beschützt werden, oder der Verzicht auf Selbständigkeit mit der beständigen Suche nach einem Begleiter, der Schutz gibt.

•  Ängstigende innere Motive, Affekte und Impulse können externalisiert werden. Sie werden dann z. B. auf andere Menschen projiziert und dort bekämpft. Dies ist zunächst einfacher als die Auseinandersetzung mit einer inneren, nicht durch Handeln allein zu bewältigenden Gefahr.

•  Die körperlichen Auswirkungen von Angst können von den angstauslösenden Vorstellungen und Situationen gelöst werden und dann als »Ursache« oder Begründung der Angst erlebt werden. Angst vor einem schwer regulierbaren oder wenig differenzierten Gefühl (etwa einer bei Zurückweisungen auftretenden Wut, die interpersonell nicht erkennbar werden soll) geht mit einem erhöhten Herzschlag einher. Die körperlichen Begleitaspekte dieser Angst (und auch der mit ihr verbundenen Wut) werden dann – unter Verlust des Zusammenhangs mit inneren Bildern und mit sozialen Zusammenhängen – zu einer Angst vor der nicht kontrollierbaren Steigerung des Herzschlags, für die ärztliche Hilfen in Anspruch genommen werden: Angst wird »somatisiert« (image Kap. 2.1.6).

•  Alkohol und andere Drogen können im Sinne einer Selbstmedikation zur Bewältigung von Angst eingesetzt werden. Die Bewältigung sozialer Ängste durch Selbstmedikation geht dann mit dem Risiko einer Abhängigkeitsentwicklung einher.

•  Selbstverletzendes Verhalten kann im Rahmen einer Selbststimulierung zur Bewältigung von Angst eingesetzt werden.

•  In Beziehungen kann es gelingen, sich als Helfer gegenüber anderen Menschen anzubieten, und damit als »sicherndes Objekt« selbst nicht Angst zu empfinden, sondern anderen dabei zu helfen, diese zu bewältigen – eine mögliche Falle für Therapeuten bei der Behandlung von Patienten mit Angststörungen.

Wenn Angst im Sinne der Selbst- und Arterhaltung dazu dient, die eigene Stärke mit der Größe der Gefahr zu vergleichen, wird unmittelbar deutlich, dass sich Selbsttäuschungen fatal auswirken können. Angst ist die Wahrnehmung von etwas Bedrohlichem. Die qualitative Nähe des Erlebens von Angst zur Aggression wird deutlich. Zugleich ist die von Angst ausgelöste Bewegung (weg vom Objekt) anders als in der hin zum Objekt gerichteten Bewegung des »adgredi« (siehe auch Dahl, 1995).

Beide Affekte bleiben im Erleben aber eng miteinander verbunden. Erworbene Dispositionen und erbgenetische Anlage bestimmen als »trait anxiety« zunächst, was als Auslöser von Angst (Stressor) angesehen wird. Mental repräsentierte Erfahrungen, Situationen meistern zu können, reduzieren diese Stressoren oder verknüpfen sie mit anderen Affekten. Angstlust oder »thrill« entsteht, »Funktionslust« wird gesucht und reduziert Angst. Ein Patient mit einer latenten Angststörung beschreibt in diesem Sinn: »Wenn ich nicht jede Woche drachenfliege, bekomme ich Angst«.

Situationen nicht meistern zu können, entmutigt dagegen. Sowohl ein Überbehüten mit fehlenden Gelegenheiten prädisponiert zur Entwicklung pathologischer Angst, als auch eine wiederholte Überforderung, aus der heraus kein Erleben von Sicherheit und der Bemeisterung einer Situation, des Abklingens von Spannung erlebt wird. Das Risiko der Entwicklung von pathologischer Angst steigt dann, wenn Angst erlebt wird, ohne dass es zu einer zielgerichteten Reaktion (Flucht oder Kampf) kommen kann. Eine Situation der Hilflosigkeit kann traumatisierenden Charakter entwickeln. Bei Wiederholungen kommt es dann zunehmend leichter zu weiteren Traumatisierungen. Die zunächst zielgerichtete Reaktion der Angstentwicklung verliert ihre Bedeutung und wird vor dem Hintergrund eines Erlebens von Hilflosigkeit mit etwas verknüpft, das bessere Möglichkeiten der Bewältigung verspricht. Sekundär kann diese Angst sich dann ausbreiten und weiter entdifferenzieren zu einer »Angst vor der Angst«. Phantasie und Vorstellungsvermögen bieten so zunächst die Möglichkeit, die reale Angst durch eine neurotische zu ersetzen. Sie tragen aber auch dazu bei, dass diese neurotische Angst dann stärker als die reale Angst werden kann (siehe etwa Goethes Ballade Erlkönig oder Orwells Roman 1984; Beiträge zum Thema »Neurotische und reale Angst« auch in Rüger, 1984).

Pathologische Angst kann damit durch einen oder mehrere der folgenden Aspekte gekennzeichnet sein:

•  Die Angstreaktion tritt in unangemessenen Situationen auf und wird von den betroffenen Personen ungewöhnlich intensiv und häufig erlebt.

•  Die Angstreaktionen treten konsistent und lange anhaltend oder überdauernd auf.

•  Es kommt zu einer Erwartungsangst, der »Angst vor der Angst«.

•  Die betroffene Person verliert die Kontrolle über die Angst und beginnt zu vermeiden und sich zurückzuziehen.

•  Der Leidensdruck der betroffenen Person erhöht sich dermaßen, dass die Lebensqualität negativ beeinträchtigt wird.

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Abb. 2.1: Sogenannter »Teufelskreis« der Angststörungen (in Anlehnung an Schneider & Margraf, 1998, modifiziert und um psychodynamische Faktoren ergänzt).

Krankhafte Angstzustände treten auch als sekundäre Angstsyndrome im Rahmen einer Vielzahl von Erkrankungen auf, sowohl als Folge psychischer Erkrankungen (z. B. bei affektiven Störungen, psychotischen Störungen oder Substanzabhängigkeit) als auch bei somatischen Erkrankungen (z. B. bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit Angina pectoris, bei Hyperthyreose oder neurologischen Krankheiten wie der Chorea Huntington). Diese sekundären Ängste und ihre Behandlungsmöglichkeiten werden im Rahmen dieses Buches nicht dargestellt.

Bei den primären Angstsyndromen, den Angststörungen im engeren Sinne, werden für eine erste Orientierung meist zwei Gruppen unterschieden:

•  Objekt- und situationsunabhängige Ängste: Dazu gehören die sogenannten »frei flottierenden« Angstformen (z. B. die Generalisierte Angststörung oder Panikattacken).

•  Objekt- und/oder situationsbezogene Ängste: Sie sind gegeben, wenn die Angst als Furcht vor bestimmten Objekten und Situationen auftritt, die dann vermieden werden können (z. B. bei spezifischen Phobien oder einer sozialen Phobie). So tritt in einem – eingeschränkten – Alltagsleben keine Angst auf. Die Patienten erfüllen damit auch die Kriterien formalisierter Diagnosesysteme für Angst oft nicht.

Diese Unterscheidung macht zwar phänomenologisch Sinn, ist unter psychoanalytischer Perspektive allerdings nicht haltbar, da sich auch bei den scheinbar »aus heiterem Himmel« auftauchenden Angstzuständen fast immer mehr oder weniger spezifische Auslöser finden lassen. Diese Auslöser können intrapsychisch oder interpersonell verortet werden. Sie sind in der Regel nicht oder nur in Teilen bewusst.

2.2       Klassifikation von Angststörungen und Kriterien nach ICD und DSM

Die Diagnose von Angststörungen kann nach ganz unterschiedlichen Kriterien erfolgen. Wir behandeln im Folgenden zunächst die deskriptiven Kriterien der diagnostischen Manuale ICD-10, DSM-IV (Saß, Wittchen & Zaudig, 2001) und DSM-5 (Falkai & Wittchen, 2014). Schwierigkeiten einer solchen atheoretischen, beschreibenden Zuordnung zeigen sich in der hohen Anzahl von Diagnosen, die den meisten Patienten mit Angststörungen zugeordnet werden. Dieser Befund kann als Problem der »Komorbiditäten« (image Kap. 2.3) beschrieben werden. Es kann aber auch als Ausdruck einer geringen Validität der deskriptiven diagnostischen Kategorien diskutiert werden. Dieser Kritikpunkt kommt psychoanalytischen Konzepten entgegen, die sich nicht allein an beobachtbaren Merkmalen orientieren, sondern psychodynamische Zusammenhänge für diagnostische Zuordnungen berücksichtigen. Werden etwa bei Panikstörungen unbewusste oder durch Abwehr unkenntlich gemachte Gründe für das Auftreten von Angst berücksichtigt, verändert sich das Bild. Die diagnostischen Manuale verlieren dann ihre – vermeintliche – Klarheit. Es erscheint uns auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die im Folgenden beschriebenen Störungsbilder die Sicht auf die Wirklichkeit prägen werden und damit »Realitäten« schaffen. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es notwendig und hilfreich, eine gewisse Distanz zu diesen Diagnosen zu erhalten und sie als – voraussichtlich wieder zu modifizierende – Ergebnisse von Abstimmungsprozessen zu sehen.

Wir gehen daher in Kapitel 2.4 auch auf klassische psychoanalytisch geprägte Diagnosen von Angststörungen ein. Hier finden wir einen engen Bezug zu theoretischen Konzepten, die auch in Therapien handlungsrelevant sind. Zugleich wird deutlich, dass sich mit Veränderungen der Theorien auch hier Kategorisierungen ändern. Viele der klassischen Diagnosen sind nur gut mit einer Kenntnis der Theorieentwicklung verständlich. Wir behandeln daher ausführlich in Kapitel 3 die mit psychoanalytischen Diagnosen verbundenen psychodynamischen Modelle.

Leserinnen und Leser werden auf die deutlichen Unterschiede der Betrachtungsweisen stoßen. In den diagnostischen Manualen ICD-10 und DSM-IV wird noch eine ausgesprochen breite Palette psychischer Störungen unter den Angststörungen zusammengefasst. Das DSM-5 zieht die Grenzen jetzt enger: Die große Gruppe der Zwangsstörungen und der Traumafolgestörungen wird nicht mehr zu den Angststörungen gezählt. Wir folgen hier dieser neuen Einteilung, die auch mit psychoanalytischen Konzepten eher übereinstimmt, und beschränken uns auf die im engeren Sinn als Angststörungen aufzufassenden Diagnosen Panikstörungen und Agoraphobie, Soziale Phobie, Generalisierte Angststörung und spezifische Phobien. Auf Angst, die überwiegend körperlich empfunden wird und dann als somatoforme Störung diagnostiziert wird, gehen wir ebenfalls ein. Bei einigen weiteren Diagnosen, die aus psychodynamischer Sicht mit Angst verbunden sind – zum Beispiel die Hypochondrie und die Dysmorphophobien – verweisen wir auf die Abgrenzungen zu den klassischen Angststörungen.

Übergreifend für viele dieser Störungen lassen sich zwei Merkmale von Angsterkrankungen beschreiben:

1.  Panikattacken als ein wichtiges Symptom vieler Angststörungen und

2.  das Vermeiden potentiell angstauslösender Situationen.

Zu 1. Das Hauptmerkmal einer Panikattacke ist eine abgrenzbare Periode der intensiven Angst und des Unbehagens, begleitet von somatischen und kognitiven Symptomen. Eine Panikattacke beginnt abrupt, d. h. ohne Vorwarnung, und erreicht innerhalb von 10 Minuten oder weniger ihre maximale Ausprägung mit einer Dauer von durchschnittlich ca. einer halben Stunde. Die Attacke ist meistens von einem Gefühl drohender Gefahr oder drohenden Unheils und einem starken Drang zur Flucht verbunden. Panikattacken werden in der ICD-10 (F 41.0) und im DSM IV und DSM-5 ähnlich beschrieben. In der ICD-10 sind als Zeichen plötzlich auftretendes Herzklopfen, Brustschmerzen, Erstickungsgefühle, Schwindel, Entfremdungsgefühle (Depersonalisation und Derealisation), die Furcht zu sterben, Angst vor Kontrollverlust und eine Angst, wahnsinnig zu werden, genannt. Das DSM (Saß, Wittchen & Zaudig, 2001; Falkai & Wittchen, 2014) ergänzt körperliche Symptome wie Schwitzen, das Auftreten von Übelkeit oder von Magen-Darm-Beschwerden, Hitzewallungen, Kälteschauer sowie Missempfindungen wie Taubheitsgefühle oder Kribbelparästhesien. Die Panikattacke als solche ist keine kodierbare psychische Störung. Als Diagnose kodiert wird die Störung, innerhalb der die Panikattacken auftreten.

Zu 2. Das Vermeiden einer angstauslösenden Situation ist zunächst eine adäquate Reaktion auf den Affekt der Angst. Sie führt zu einem Rückgang von Angst und Erregung, der als Erleichterung erlebt wird. Durch diesen Effekt wird das vermeidende Verhalten gefördert. Für die Entwicklung von Angststörungen bekommt das Vermeiden potentiell gefährlicher Situationen eine hohe Bedeutung, da es zur Rückbildung von Kompetenzen in der Bewältigung von interpersonellen und intrapsychischen Konflikten führt.

2.1.1     Panikstörung und Agoraphobie

» Ich habe Angst vor der Angst«

Panikstörung und Agoraphobie werden im DSM-IV (Saß, Wittchen & Zaudig, 2001) und im ICD-10 als zusammengehörig betrachtet. Die Auffassung darüber, wo in dieser Kombination die primäre Störung liegt, ist dabei in den beiden Manualen unterschiedlich. Konsequenterweise und äthiopathogenetisch zu psychodynamischen Konzepten passend gibt das DSM-5 (Falkai & Wittchen, 2014) das Postulat einer Verknüpfung der beiden Störungsbestandteile auf. Beide Störungsbilder werden jetzt als unabhängig voneinander gesehen:

•  Eine Panikstörung ist gekennzeichnet durch spontan, wiederholt und überraschend auftretende Panikattacken. Eine Panikattacke per se ist keine psychische Störung.

•  Eine Agoraphobie wird diagnostiziert, wenn Angst an und vor Orten auftritt, die nicht selbständig verlassen werden können, an denen im Fall einer Panikattacke keine Hilfe zur Verfügung steht oder aus denen eine Flucht nur mit dem Erleben von Beschämung möglich ist. Solche Orte und die mit ihnen verbundene Situationen werden vermieden.

Die Panikstörung ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die Angst und auftretende Panikattacken nicht auf eine spezifische Situation beschränken. Das Auftreten von Angst ist dadurch nicht vorherzusehen. Es ist oft verbunden mit der Furcht zu sterben oder der Angst davor, die Kontrolle zu verlieren oder wahnsinnig zu werden. Symptome einer Panikstörung können auch im Zusammenhang mit depressiven Störungen auftreten. Panikstörungen sollten dann nicht als Hauptdiagnose verwendet werden. Sie werden besser als sekundäre Folge einer depressiven Störung verstanden und diagnostiziert (siehe Hauptkriterien der Panikstörung (F 41.0) in der ICD-10 sowie im DSM-IV und DSM-5).

Oftmals beginnt die Panikstörung mit einer plötzlichen Panikattacke, die von den meisten Patientinnen und Patienten als ein schwer belastendes Erlebnis oder als »traumatisierend« beschrieben wird. Die Betroffenen entwickeln daraufhin eine anhaltende Furcht vor dem möglichen Wiederauftreten einer Panikattacke. Fast immer treten Vorstellungen auf, schwer krank zu sein, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren oder sterben zu müssen. Diese Befürchtungen werden meist als noch belastender erlebt werden als die Angst während der eigentlichen Panikattacke. Sie sind im DSM-5 in die Beschreibung der Panikstörung eingegangen: Die Hauptkriterien der Panikstörung (F 41.0) in der ICD-10 und im DSM-IV werden im DSM-5 daher noch durch diese anhaltenden Befürchtungen (vor weiteren Panikattacken, vor mit den Symptomen verbundenen möglichen Krankheiten oder vor körperlicher Belastung oder unbekannten Situationen) ergänzt. Mindestens eine dieser Sorgen muss vorliegen, wenn die Diagnose einer Panikstörung gestellt werden soll.

Auch die Agoraphobie (F 40.0) wird in der ICD-10 und dem DSM-5 etwas unterschiedlich beschrieben. Hauptkriterien der Agoraphobie im ICD-10 sind Phobien mit Befürchtungen, das Haus zu verlassen, Geschäfte zu betreten, in Menschenmengen und auf öffentlichen Plätzen zu sein, alleine mit Bahn, Bus oder Flugzeug zu reisen. Eine Panikstörung kommt als häufiges Merkmal bei gegenwärtigen oder zurückliegenden Episoden vor. Depressive und zwanghafte Symptome sowie soziale Phobien sind als zusätzliche Merkmale gleichfalls häufig vorhanden. Die Vermeidung der phobischen Situation steht oft im Vordergrund. So können Menschen mit Agoraphobie relativ angstfrei leben, wenn sie ängstigende Situationen durchgängig meiden.

Im DSM-5, anders als noch im DSM-IV, muss eine Person ihre Angst nicht mehr selbst als übertrieben oder als unbegründet erkennen. Beschrieben werden als Kriterien ausgeprägte Ängste in zwei oder mehr der folgenden fünf Situationen: Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel; Besuch offener Plätze; Aufenthalt in geschlossenen Räumen; Warten beim Schlangestehen und der Aufenthalt in einer Gruppe unbekannter Menschen; allein an einem unvertrauten Ort (»außer Haus«) sein.