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Inklusion praktisch

 

Herausgegeben von

 

Stephan Ellinger und
Traugott Böttinger

 

Band 1

Traugott Böttinger

Inklusion

Gesellschaftliche Leitidee und schulische Aufgabe

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-031797-0

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-031798-7

epub:    ISBN 978-3-17-031799-4

mobi:    ISBN 978-3-17-031800-7

 

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Vorwort zur Reihe Inklusion praktisch

 

 

Inklusion ist nicht nur eine der schönsten pädagogischen Visionen überhaupt, sondern auch eine gesellschaftliche Vorstellung, die vor allem auf humanistischen Werten und Normen beruht. Im Vordergrund stehen Begriffe wie Gleichheit, Gerechtigkeit, Selbstwert, Teilhabe und Partizipation.

Aktion Mensch hat im Rahmen ihrer Inklusionskampagne 2013 einen kurzen Animationsfilm mit dem Titel Inklusion ist … entworfen, der aufzeigt, mit welchen Hoffnungen der Begriff verbunden ist.

Inklusion ist …

…  wenn alle mitmachen dürfen.

…  wenn keiner mehr draußen bleiben muss.

…  wenn Unterschiedlichkeit zum Ziel führt.

…  wenn Nebeneinander zum Miteinander und Ausnahmen zur Regel werden.

…  wenn anders sein normal ist.

Anders ausgedrückt: Bei Inklusion geht es also darum, die auf der gesetzlich-strukturellen Ebene formulierten Bestimmungen im täglichen Zusammenleben in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar und wirksam werden zu lassen.

Inklusion ist Utopie, Weg, Wertbegriff, Methode und Zielvorstellung zugleich und weckt vielfältige Wünsche und Hoffnung auf Veränderungen und gesellschaftliche Entwicklung. Dabei beschränkt sich Inklusion keinesfalls auf Schule. Dies verdeutlicht der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Inklusion, der Bildung als eines von zwölf verschiedenen Handlungsfeldern (u. a. Arbeit und Beschäftigung, Bauen und Wohnen oder Kultur und Freizeit) behandelt.

Viele Autoren verbinden mit Inklusion weitreichende Vorstellungen und Hoffnungen, die sich auf verschiedenen Ebenen lokalisieren lassen.

Auf gesellschaftlicher Ebene ist das Ziel eine solidarische und sozial gerechte, diskriminierungs- und barrierefreie Gesellschaft ohne Ausgrenzung, die Diversität als Normalität ansieht. Chancengerechtigkeit für Menschen mit Behinderung soll unter anderem ermöglicht werden, indem keine Unterscheidungen zwischen behinderten und nicht behinderten Menschen vorgenommen werden und Behinderung als Zuschreibung und Kategorisierung erkannt wird.

Innerhalb des Bildungssystems soll eine chancen- und bildungsgerechte und weniger selektionsorientierte Schule für ausnahmslos alle Schüler entstehen. Inklusiver Unterricht ist kultur-, sprach- und gendersensibel und begreift Heterogenität nicht als Belastung, sondern als Chance und Bereicherung.

Personenbezogen steht Inklusion für den Versuch, Abhängigkeiten und Barrieren zu reduzieren und so u. a. Teilhabe und Partizipation sowie einen gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt zu erreichen.

Dem geneigten Leser wird schnell deutlich, welch anspruchsvolle und zum Teil idealistische Vorstellungen an Inklusion herangetragen werden. Möglicherweise handelt es sich dabei sogar um eine Aufgabe, die eigentlich nicht zu erfüllen ist: Inklusion soll einen Umbruch, eine gesellschaftliche Transformation bzw. Emanzipation oder gar einen Neuanfang des menschlichen Zusammenlebens markieren, der in eine noch nie vorhandene Dimension vorzustoßen vermag und dabei die zahlreichen Verfehlungen in der Geschichte vergessen macht.

In der vor Ihnen liegenden Buchreihe geht es keinesfalls darum, Inklusion oder ihre Idee schlecht zu reden. Vielmehr soll vor überzogenen Ansprüchen gewarnt werden, an denen letztendlich jede große Idee scheitern muss. Zu diesem Zwecke erfolgt zunächst eine grundlegende Beschäftigung mit der Thematik, bevor die weiteren Bände konkrete schulische Felder der Inklusion beleuchten und Umsetzungshilfen für Förder- und Regelschullehrkräfte bereitstellen.

Wir hoffen, Sie als Leserinnen und Leser für eine Auseinandersetzung mit dem Themenfeld der Inklusion begeistern zu können und wünschen Ihnen eine abwechslungsreiche Lektüre!

Würzburg, im Dezember 2015

Prof. Dr. Stephan Ellinger und Dr. Traugott Böttinger

Einzelbände in der Reihe Inklusion praktisch

Band   1:

Inklusion. Gesellschaftliche Leitidee und schulische Aufgabe

Band   2:

Exklusion durch Inklusion? Stolpersteine bei der Umsetzung

Band   3:

Sonderpädagogische Förderung in der Regelschule

Band   4:

Organisationsentwicklung und Leitung in einer inklusiven Schule

Band   5:

Kollegiale Kooperation in inklusiven Settings

Band   6:

Umgang mit Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten in heterogenen Lerngruppen

Band   7:

Konturen eines inklusiven Fachunterrichts Mathematik

Band   8:

Teilhabe durch Grundbildung – Die Förderung Benachteiligter im Sekundarbereich I

Band   9:

Umgang mit Migration in heterogenen Lerngruppen

Band 10:

Lehrergesundheit in inklusiven Settings

Inhalt

 

  1. Einführung: Inklusion als gesellschaftliche Leitthematik
  2. Zielsetzungen dieses Bandes
  3. Inhalt und Aufbau
  4. 1 Inklusion als gesellschaftlicher und schulischer Leitbegriff
  5. 1.1 Inklusion als Leitbegriff
  6. 1.2 Integration oder Inklusion? – Eckpunkte der Begriffsdiskussion
  7. 1.3 Der Umgang mit Behinderung – Von der Exklusion zur Inklusion
  8. 2 Bildungspolitische Meilensteine der schulischen Inklusion
  9. 2.1 Neuausrichtung der Heilpädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1970
  10. 2.2 Bildungspolitische Entwicklungslinien bis 1994
  11. 2.3 Exkurs: Die Entwicklungen in der DDR
  12. 2.4 Die KMK-Empfehlungen von 1994
  13. 2.5 Entwicklungen bis zum Ende des 20.Jahrhunderts
  14. 2.6 Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (2006/2009)
  15. 2.7 Die KMK-Empfehlungen zur inklusiven Bildung 2011
  16. 2.8 Auswirkungen auf Schulgesetze und Lehrpläne – Das Beispiel Bayern
  17. 3 Stand der Umsetzung inklusiver Beschulung in Deutschland
  18. 3.1 Der Stand der Umsetzung inklusiver Beschulung
  19. 3.2 Ein Blick über den Tellerrand – Internationale Perspektiven der Inklusion
  20. 3.3 Bewertung des Umsetzungsstandes in Deutschland
  21. 4 Fazit – Inklusion in einer exklusiven Gesellschaft?
  22. Literatur

Einführung: Inklusion als gesellschaftliche Leitthematik

 

Inklusion ist zu einem gesellschaftlichen Leitthema geworden, über das in Zeitungen und Fernsehshows diskutiert, gestritten, debattiert und verhandelt wird. Es ist auf fast allen Ebenen und gesellschaftlichen Teilsystemen wie Politik, Schule oder Sport vertreten.

Seit Jahren setzen sich nicht nur das Bildungs- und Schulsystem, sondern auch viele weitere Fach- und Wissenschaftsbereiche (z. B. Theologie, Philosophie, Soziologie oder Soziale Arbeit u. a. Bohn 2006; Conradi 2011; Nida-Rümelin 2013; Pemsel-Maier/Schambeck 2014) intensiv mit diesem Thema auseinander.

Der Inklusionsdiskurs verfügt u. a. aufgrund gesetzlicher Entwicklungen und Verankerungen über eine starke Legitimation und große Deutungsmacht, wenn es darum geht, themenspezifischen Aussagen und Standpunkten Gewicht zu verleihen: Inklusion ist en vogue und zugleich eine moralische Verpflichtung. Andererseits ist Inklusion – vor allem in Bezug auf die Form seiner Umsetzung – umstritten.

Im Jahr 2014 ging der Fall von Henri durch die Presse (u. a. Die Zeit, Spiegel, FAZ). Henri, ein Schüler mit Trisomie 21, besuchte zu dieser Zeit eine Regelgrundschule. Nach der vierten Klasse wollte er zusammen mit seinen Freunden auf das örtliche Gymnasium wechseln.

In Zeiten der Inklusion eigentlich kein Problem. Oder doch? Das Gymnasium verweigerte nach Protesten von Lehrkräften und Eltern die Aufnahme des Schülers und verwies darauf, dass Henri für eine inklusive Beschulung die Gemeinschaftsschule besuchen könne.

Inklusionsbefürworter kritisierten die Entscheidung scharf, für sie war dieser Einzelfall ein weiteres Beispiel offener Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung. Andere Meinungen verwiesen darauf, dass weiterführende Schulen noch nicht auf inklusive Beschulung vorbereitet seien, weshalb Henri zwar mit seinen Freunden in einer Klasse sitzen, aber dem Unterricht nur schwerlich folgen könne. Deshalb sei ihm mit einer Beschulung auf dem Gymnasium nicht unbedingt geholfen.

Henri selbst wiederholte nach der Absage die vierte Klasse der Grundschule. Durch Änderungen im Schulgesetz Baden-Württembergs wird er ab dem Schuljahr 2015/16 doch noch inklusiv unterrichtet. Allerdings nicht an dem Gymnasium, das seine Schulfreunde besuchen, sondern an einer Regelrealschule.

 

Zielsetzungen dieses Bandes

 

Die Geschichte von Henri ist ein Beispiel, das auch am Ende dieses Buches hätte stehen können, zeigt es doch exemplarisch eines seiner Vorhaben: Verständnis dafür zu schaffen, dass Inklusion niemals getrennt von Schule und Gesellschaft gedacht werden kann. Inklusion stellt zum einen eine konkrete Zielsetzung dar, ist zum anderen aber auch schulische Aufgabe und gesellschaftliche Leitidee.

Der erste Band der Buchreihe Inklusion praktisch fungiert als Einführung in die Thematik und ist den praktischen schulischen Handlungsfeldern, die in den folgenden Bänden behandelt werden, vorgeschaltet.

Dabei ist es notwendig, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Rolle Inklusion auf gesellschaftlicher und schulischer Ebene einnimmt, wie sich Inklusion im geschichtlichen Rückblick in Deutschland entwickelt hat und wie es um die momentanen Umsetzungsbemühungen bestellt ist.

Ziel der Lektüre ist, ein Bewusstsein anzubahnen, dass Inklusion zum einen nichts Neues ist (schon gar nicht im Bildungssystem) und zum anderen nicht ohne Exklusion gedacht werden kann. Inklusion bewegt sich immer in einem gesellschaftlichen und schulischen Spannungsfeld zwischen inklusiven Ansprüchen (Stichwort: moralisches Inklusionsgebot) und exkludierenden Tendenzen (Stichwort: Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen). Dieser Umstand ist einer der Gründe, warum über Inklusion so leidenschaftlich diskutiert wird.

 

Inhalt und Aufbau

 

Das erste Kapitel beschäftigt sich mit Inklusion als gesellschaftlichem und schulischem Leitbegriff. Neben der Betrachtung seiner Mehrdimensionalität erfolgt der Versuch, Inklusion zu definieren und deren pädagogische und systemtheoretische Dimension darzustellen (image Kap. 1.1). Kapitel 1.2 geht auf den Begriffsstreit zwischen Integration und Inklusion ein, wirft einen Blick in den englischsprachigen Raum (Stichwort: diversity) und macht Vorschläge, wie der deutschsprachige Inklusionsbegriff differenzierter verwendet werden kann. Der Umgang mit Behinderung in der Gesellschaft und im Bildungswesen ist Teil von Kapitel 1.3, dargestellt wird die Stufenentwicklung von der Exklusion bis zum Ziel der Inklusion.

Im zweiten Kapitel erfolgt ein historischer Rückblick auf die bildungspolitischen Meilensteine der schulischen Inklusion seit dem Zweiten Weltkrieg. Dazu gehören die Neuausrichtung der Heil- und Sonderpädagogik bis 1970 (image Kap. 2.1) und die bildungspolitischen Entwicklungen bis 1994, die vor allem durch die Kontroverse zwischen dem deutschen Bildungsrat und der Kultusministerkonferenz (KMK) geprägt waren (image Abb. 2.2). Dem Exkurs über den Ausbau des Sonderschulwesens in der DDR in Kapitel 2.3 folgt eine vertiefte Betrachtung der KMK-Empfehlungen von 1994, die aufgrund ihrer weitreichenden Bedeutung in einem eigenen Unterkapitel 2.4 behandelt werden. Der rote Faden setzt sich über die Entwicklungen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts (u. a. Salamanca-Erklärung 1994) in Kapitel 2.5, die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) in Kapitel 2.6 und die KMK-Empfehlungen zur inklusiven Bildung 2011 (image Kap. 2.7) fort und findet seinen Abschluss, indem die Auswirkungen der vorangegangenen Entwicklungen auf Schulgesetze und Lehrpläne am Beispiel des Bundeslandes Bayern aufgezeigt werden (image Kap. 2.8).

Einen Überblick über die Umsetzung inklusiver Beschulung gibt das dritte Kapitel. Zum einen wird der Umsetzungsstand in Deutschland für das Schuljahr 2014/15 bzw. 2015/16 dargestellt (image Kap. 3.1). Zum anderen wird ein Blick über den Tellerrand geworfen und anhand der Beispiele Italien und Schweden auf zwei internationale Schulsysteme fokussiert, die Inklusion bereits seit Jahrzehnten umsetzen, aber unterschiedliche Ansätze im Umgang mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufweisen (image Kap. 3.2). Kapitel 3.3 versucht sich unter Einbezug der Bewertungen internationaler Gremien (u. a. das Komitee zur Überwachung der Rechte von Kindern der Vereinten Nationen) an einer Bewertung des Umsetzungsstandes in der BRD und fragt danach, was das deutsche Schulsystem aus einem internationalen Vergleich lernen kann.

Abschließend konzentriert sich das vierte Kapitel darauf, ob Inklusion in einer exklusiven Gesellschaft gedacht werden kann. Dabei geht es hauptsächlich um zwei Fragen: Ist die Umsetzung der Gesetzesaufgabe Inklusion überhaupt gesellschaftlicher Konsens? Oder bleibt das moralische Inklusionsgebot in einer eher exklusiv geprägten Gesellschaft wirkungslos und führt lediglich zu einer Art ›Leuchtturminklusion‹?

 

Ich wünsche Ihnen eine spannende und anregungsreiche Lektüre!

 

Würzburg, im Dezember 2015,

 

Dr. phil. Traugott Böttinger

Anmerkung

Konsequente Inklusion enthält auch die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, vor allem auf sprachlicher Ebene. Diesem Umstand ist sich der Autor durchaus bewusst. Dennoch wurde im Text durchgehend die männliche Sprachform verwendet, da so eine bessere Lesbarkeit gewährleistet werden kann.

 

 

 

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Inklusion als gesellschaftlicher und schulischer Leitbegriff

 

Der Begriff der Inklusion hat spätestens seit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2009 im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs in Deutschland den Status eines Schlagwortes erhalten. Zum Teil inflationär verwendet, steht Inklusion exemplarisch für die Bemühungen, Menschen mit Behinderungen und Personen, die von Behinderung bedroht sind, eine bessere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Die Begrifflichkeit wird nicht immer wertfrei gebraucht, häufig ist eine implizite, aber klare moralische Botschaft enthalten. Wer sich negativ über die Realisierungsmöglichkeiten von Inklusion äußert, zieht schnell Kritik auf sich oder wird als Inklusionsgegner bzw. als rückschrittlich bezeichnet (siehe auch Ahrbeck 2014, 119 f.; Dollase 2014, 64).

 

1.1       Inklusion als Leitbegriff

 

Seit den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK) 1994 hat sich bei den Leitbegriffen der Sonderpädagogik eine Entwicklung vollzogen. Die Pluralität, die durch die nebeneinanderstehenden Begriffe Förderbedarf, Diagnostik und Integration zum Ausdruck kam, wurde von einer Singularität abgelöst. Als aktueller, singulärer Leitbegriff kann die Inklusion betrachtet werden.

Dabei handelt es sich um einen mehrdimensionalen Begriff, der bei weitem nicht nur die Bildungspolitik (Stichwort: gemeinsamer Unterricht als Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule) umfasst.

Im Bereich der Behindertenpolitik ist Inklusion Mittel und Zweck, um die Rechte beeinträchtigter Menschen zu verwirklichen. Aus sozialpolitischer Perspektive dreht sich Inklusion um den Umgang mit sozialer Benachteiligung und Armut, Zielsetzungen sind Teilhabe an Arbeit und Wohlstand. Mit Blick auf die Migrations- und Flüchtlingsthematik besteht Inklusion in der Überwindung der Angst bzw. Ablehnung gegenüber Fremden und in der Aufgabe, Menschen mit Migrationshintergrund Zugang zum Arbeitsmarkt und Partizipationschancen zu eröffnen.

Seine Herkunft hat der Inklusionsbegriff zum einen in der Soziologie (u. a. Kronauer 2002). Dort wurde in den 1970er Jahren der Begriff der Exklusion für gesellschaftliche Schichten eingeführt, die von sozialer und gesellschaftlicher Ausgrenzung betroffen waren (Randgruppen). Um auch das Gegenteil beschreiben und terminologisch bestimmen zu können, nutzte man parallel den Begriff der Inklusion.

Zum anderen spielte der Warnock-Report aus dem Jahr 1978 eine Rolle, der dafür sorgte, dass das Schulsystem in Großbritannien grundlegend reformiert wurde. Entscheidend war der Begriff der ›special educational needs‹, der sich auf besondere Förderbedürfnisse von Schülern bezog. Darunter fielen allerdings nicht nur Behinderungen, sondern auch ein Bedarf an schulischer Förderung bei Lernschwierigkeiten, im Bereich der Sprache und der emotionalen und sozialen Entwicklung (Warnock Report 1978, image Kap. 3). Damit verbunden war die Vorstellung einer ›school for every pupil‹, die die gemeinsame Beschulung aller Kinder und Jugendlichen unabhängig von einer Behinderung vorsah. Diese pädagogischen Vorstellungen, die bereits deutliche Parallelen zum heutigen Verständnis schulischer Inklusion aufwiesen, waren schließlich bei der Ausarbeitung der Salamanca-Erklärung 1994 leitend (image Kap. 2.5), in deren Folge sich der Begriff der Inklusion endgültig durchsetzen konnte.

Es ist nicht einfach, eine trennscharfe Begriffsbestimmung von Inklusion zu formulieren, da der Begriff in verschiedenen Kontexten und je nach Ausrichtung inhaltlich unterschiedlich verwendet wird. Er ist gleichzeitig Prozess, Ziel, Methode, pädagogische Implikation oder Konzept (z. B. Index für Inklusion von Booth/Ainscow 2003) und transportiert darüber hinaus bestimmte Einstellungen und Werte.

Grundlegend bedeutet Inklusion, »eingebunden zu sein, nicht zum Sonderfall erklärt und mit allen Stärken, Schwächen, Eigenheiten und Interessen akzeptiert zu werden« (Schöler 2013, 2).

Diese Akzeptanz ist Voraussetzung für jegliches Inklusionsverständnis und bezieht sich auf ausnahmslos alle Menschen innerhalb der Gesellschaft. Inklusion bemüht sich, alle Facetten von Heterogenität (z. B. Herkunft, Religion, Weltanschauung, Fähigkeiten) zu erfassen und sie als selbstverständlich zu erachten. Sie richtet sich gegen dichotome Vorstellungen (Gegensatzpaare wie behindert und nicht behindert), die Menschen in Gruppen einteilen und zu Vorurteilen, bestimmten Fähigkeitszuschreibungen und Abwertungen führen. Gleichzeitig wird versucht, Stigmatisierungen zu vermeiden. Zum Abbau von Diskriminierungen existiert eine Vielzahl an inklusiven Konzepten, z. B. das Diversity-Konzept mit einem Schwerpunkt auf der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht (Gender), das Konzept ›teaching for social justice‹, das sich gegen soziale Benachteiligung wendet oder die ›citizenship education‹, die vor allem Menschen- und Bürgerrechte zum Thema hat. Mit diesen und ähnlichen Programmen soll ein Bewusstseinswandel in Gang gesetzt werden, damit die Akzeptanz menschlicher Vielfalt Normalität wird und nicht länger Teil von Ausgrenzungsprozessen bleibt.

Pädagogische und systemtheoretische Dimensionen von Inklusion

Beim Versuch, den Inklusionsbegriff konkreter zu fassen, bietet sich die Unterscheidung einer pädagogischen und einer systemtheoretischen Dimension an (Schmidt/ Dworschak 2011).

Die pädagogische Dimension konzentriert sich bevorzugt auf die lückenlose Gleichstellung aller Menschen und stützt sich auf Erklärungen und Gesetzgebungen zu Menschenrechten und -würde (aufbauend auf der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948). Inklusion ist ein Menschenrecht, das hauptsächlich in Institutionen innerhalb des Bildungs- und Erziehungswesens umgesetzt werden muss. Einschränkungen von Menschen mit Behinderung werden nicht biologistisch-individualistisch an die einzelnen Individuen gebunden, vielmehr spielen verstärkt soziale Ursachen eine Rolle. Behinderung ist nicht determiniert, sondern Folge von gesellschaftlichen und sozialen Barrieren, ergo veränderbar und in Teilen aufhebbar. Diese Barrieren zu entdecken und zu beseitigen, ist primär Aufgabe der Heil- und Sonderpädagogik.

Problematisch ist, dass Behinderung »vielfach immer noch als gesundheitsbezogener Zustand und als persönliches, nicht aber soziostrukturelles (Folge-)Problem wahrgenommen wird« (Wansing 2013, 17). Das biologistisch-individualistische Verständnis, das Behinderung als natürlich und unabänderlich ansieht, wird nur langsam durch die soziale Dimension von Behinderung im Sinne von ›behindert werden‹ ergänzt. Doch nur so können Diskriminierung und Benachteiligung als soziale Probleme erkannt und thematisiert werden. Ihre Lösung muss dementsprechend auf sozial-gesellschaftlicher Ebene erfolgen.

Systemtheoretisch gesehen »geht es bei Behinderungen immer um eine Belastung der Kommunikation innerhalb sozialer Systeme« (Schmidt/Dworschak 2011, 274). Kommunikative Einschränkungen führen zu beeinträchtigten Interaktionen innerhalb eines Systems und werden in Folge dessen als problematisch wahrgenommen. Wird die Belastung der Kommunikation zu groß, droht ein System zu kollabieren.

Ist beispielsweise eine Regelschule als soziales System mit der Aufnahme schwer lernbeeinträchtigter und verhaltensauffälliger Schüler überfordert und kann diese nicht entsprechend ihrer Bedürfnisse beschulen, liegen eine eingeschränkte Kommunikation und Interaktion vor. Zur Selbsterhaltung werden Maßnahmen ergriffen, die den Fortbestand des Systems sicherstellen sollen. Die Schule muss entscheiden, wie die Beschulung in Zukunft gestaltet werden kann, um den Unterricht in den Klassen (soziale Funktionssysteme) nicht zu gefährden.

Im Umgang mit Menschen mit Behinderung haben sich diese Maßnahmen häufig als exklusiv erwiesen, z. B. durch die Bildung von Teilsystemen oder der Exklusion aus einem Funktionssystem (image Tab. 1).