Cover

Dem Leben Antwort geben

Inhalt

Die Eltern

Meine Kindheit

Verstand …

… und Gefühl

Über den Witz

Hobbys

Schulzeit

Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse

Psychiatrie als Berufswunsch

Der Einfluss des Arztes

Philosophische Fragen

Glaube

Begegnung mit der Individualpsychologie

Die Anfänge der Logotherapie

Theorie und Praxis: Jugendberatungsstellen

Lehrjahre eines Arztes

Der »Anschluss«

Widerstand gegen die Euthanasie

Das Ausreisevisum

Tilly

Konzentrationslager

Deportation

Auschwitz

Über »Kollektivschuld«

Rückkehr nach Wien

Über das Schreiben

Resonanz auf Bücher und Aufsätze

Begegnung mit bedeutenden Philosophen

Vorträge in aller Welt

Über das Altern

Audienz beim Papst

Der leidende Mensch

Nachbemerkung

Philosophie und Psychotherapie

Anhang

Anmerkungen zur Autobiografie

Bildnachweis

Weitere Werke von Viktor E. Frankl

Dank

Die Eltern

Meine Mutter stammte aus einem alteingesessenen Prager Patriziergeschlecht – der Prager deutsche Dichter Oskar Wiener1 (dessen Gestalt in Meyrinks Roman Der Golem verewigt wurde)2 war ihr Onkel. Ich sah ihn, als er längst erblindet war, im Lager Theresienstadt zugrunde gehen. Zu ergänzen wäre, dass meine Mutter von Raschi,3 der im 12. Jahrhundert gelebt hat, abstammt, aber auch vom »Maharal«,4 dem berühmten »Hohen Rabbi Löw« von Prag. Und zwar wäre ich die 12. Generation nach dem »Maharal«. Das geht alles aus dem Stammbaum hervor, in den Einblick zu nehmen ich einmal Gelegenheit hatte.

Zur Welt gekommen wäre ich beinahe im berühmten Café Siller in Wien. Dort bekam meine Mutter die ersten Wehen, an einem schönen Frühlingssonntagnachmittag des 26. März 1905. Mein Geburtstag fällt mit dem Todestag Beethovens zusammen, wozu ein Schulkamerad einmal boshaft gemeint hat: »Ein Unglück kommt selten allein.«

Meine Mutter war ein seelensguter und herzensfrommer Mensch. Ich kann also eigentlich nicht verstehen, warum ich als Kind so »sekkant« war, wie man mir gesagt hat. Als Kleinkind schlief ich immer nur ein, wenn sie mir »Lang, lang ist’s her« als Wiegenlied gesungen hat – der Text spielte keine Rolle. Sie hat mir erzählt, dass sie immer wieder gesungen hat »So sei doch schon ruhig, du elendiger Kerl – lang, lang ist’s her, lang, lang ist’s her« usw. Die Melodie musste auf jeden Fall stimmen.

An das Elternhaus war ich so emotional attachiert, dass ich furchtbar unter Heimweh litt während der ersten Wochen und Monate, ja Jahre, in denen ich in diversen Krankenhäusern, an denen ich angestellt war, übernachten musste. Zuerst wollte ich noch jede Woche einmal, dann jeden Monat einmal und schließlich an jedem meiner Geburtstage zu Hause übernachten.

Nachdem mein   Vater in Theresienstadt gestorben und ich mit meiner Mutter allein geblieben war, habe ich es mir zum Prinzip gemacht, wo immer ich ihr begegnete und wann immer sie von mir Abschied nahm, sie zu küssen, so dass eine Garantie bestand, dass, wenn uns irgendetwas trennen sollte, wir im Guten voneinander gegangen sind.

Und als es dann so weit war und ich mit meiner ersten Frau Tilly nach Auschwitz abtransportiert wurde und mich von meiner Mutter verabschiedete, bat ich sie im letzten Moment: »Bitte, gib mir den Segen.« Und ich werde nie vergessen, wie sie mit einem Schrei, der ganz aus der Tiefe kam und den ich nur als inbrünstig bezeichnen kann, gesagt hat: »Ja, ja, ich segne dich« – und dann gab sie mir den Segen. Das war etwa eine Woche, bevor sie selbst ebenfalls nach Auschwitz und dort direkt ins Gas gekommen ist.

Im Lager dachte ich sehr viel an meine Mutter, aber wann immer ich daran dachte, wie es sein würde, wenn ich sie wiedersehe, drängte sich mir unabweislich die   Vorstellung auf, das einzig Angemessene wäre, wie es immer so schön heißt, in die Knie zu sinken und den Saum ihres Kleides zu küssen.

Wenn ich gesagt habe, dass meine Mutter ein seelensguter und herzensfrommer Mensch gewesen sei, dann war mein   Vater charakterologisch eher das Gegenteil. Er besaß eine spartanische Lebensauffassung und eine ebensolche Vorstellung von Pflicht. Er hatte seine Prinzipien und er blieb ihnen treu. Auch ich bin Perfektionist und von ihm dazu erzogen worden. Mein (älterer) Bruder und ich wurden am Freitagabend von unserem   Vater gezwungen, ein Gebet hebräisch vorzulesen. Und wenn wir, wie es meistens der Fall war, einen Fehler machten, dann wurden wir keineswegs gestraft, aber es gab keine Prämie. Eine solche gab es nur, wenn wir den Text absolut perfekt herunterlesen konnten. Dafür gab es zehn Heller, aber dazu kam es nur ein paarmal im Jahr.

Meines Vaters Lebensauffassung hätte man nicht nur als spartanisch, sondern auch als stoisch bezeichnen können, wenn er nicht auch ebenso zum Jähzorn geneigt hätte. In einem Anfall von Jähzorn zerbrach er einmal einen Spazierstock oder Bergstock, während er mich damit verprügelte. Trotz alledem habe ich in ihm immer die Personifikation der Gerechtigkeit gesehen. Hinzu kam, dass er uns immer Geborgenheit vermittelte.

Im Großen und Ganzen bin ich eher meinem  Vater nachgeraten. Die Eigenschaften, die ich aber von meiner Mutter geerbt haben mag, dürften zusammen mit denen meines  Vaters in meiner Charakterstruktur eine Spannung erzeugt haben. Einmal testete mich ein Psychologe von der psychiatrischen Universitätsklinik in Innsbruck mit dem Rorschach-Test und behauptete dann, so etwas habe er noch nie gesehen, eine solche Spannweite zwischen extremer Rationalität einerseits und tiefgreifender Emotionalität andererseits. Erstere habe ich vermutlich von meinem  Vater geerbt, Letztere von meiner Mutter – nehme ich an.

Mein  Vater stammte aus Südmähren, das damals zu Österreich-Ungarn gehörte. Als mittelloser Sohn eines Buchbindermeisters hungerte er sich bis zum Absolutorium durch das Studium der Medizin, musste dann aber aus finanziellen Gründen aufgeben und in den Staatsdienst eintreten, wo er es im Ministerium für soziale Verwaltung bis zum Direktor brachte. Bevor er im Lager Theresienstadt Hungers starb, wurde der Herr Direktor einmal dabei angetroffen, wie er aus einer leeren Tonne den Rest von Kartoffelschalen herauskratzte. Als ich selbst später vom Konzentrationslager Theresienstadt über Auschwitz nach Kaufering gekommen war, wo wir schrecklich hungern mussten, konnte ich meinen Vater verstehen: Dort war ich es selbst, der einmal aus dem vereisten Erdboden ein winziges Stückchen Karotte herauskratzte – mit den Fingernägeln.

Eine Zeitlang war mein Vater Privatsekretär bei Minister Joseph Maria von Baernreither.5 Dieser verfasste damals ein Buch über Strafvollzugsreform und seine persönlichen Erfahrungen, die er dazu in Amerika gemacht hatte. Auf seinem Gut oder Schloss in Böhmen diktierte er meinem  Vater, der zehn Jahre lang Parlamentsstenograph gewesen war, das Buchmanuskript. Einmal fiel ihm auf, dass mein  Vater immer auswich, wenn er zum Essen eingeladen war, bis er ihm eines Tages die Frage stellte, warum er das tue. Mein Vater erklärte ihm, dass er nur rituelle Kost zu sich nehme – das hat unsere Familie bis zum Ersten Weltkrieg tatsächlich getan. Daraufhin veranlasste Minister Bärnreither, dass seine Kutsche jeden Tag zweimal in ein nahe gelegenes Städtchen hinunterfuhr und koscheres Essen für meinen Vater heraufholte, damit er nicht weiterhin nur von Brot, Butter und Käse leben musste.

In dem Ministerium, in dem mein Vater zu dieser Zeit arbeitete, gab es einen Sektionschef, der ihn zur stenographischen Aufnahme einer Sitzung bat. Mein  Vater lehnte ab mit dem Hinweis darauf, dass an dem betreffenden Tag der höchste jüdische Feiertag war, der »Jom Kippur«. An diesem Tag fastet man 24 Stunden lang, man betet und darf natürlich nicht arbeiten. Der Sektionschef drohte meinem  Vater eine Disziplinaruntersuchung an. Trotzdem lehnte mein  Vater es ab, am jüdischen Feiertag zu arbeiten, und wurde tatsächlich mit einer Disziplinarstrafe belegt.

Im Übrigen war mein  Vater zwar religiös, aber nicht ohne sich kritische Gedanken zu machen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre der erste und führende liberale Jude in Österreich geworden beziehungsweise ein Repräsentant dessen, was später in Amerika als »Reformjudentum« bezeichnet worden ist. Und so wie ich einschränken muss, was ich in Bezug auf Prinzipien gesagt habe, muss ich erweitern, was ich in Bezug auf Stoizismus gesagt habe: Als wir vom Bahnhof Bauschowitz ins Lager Theresienstadt marschierten, hatte er seine letzte Habe in einer großen Hutschachtel verstaut und auf dem Rücken getragen. Während die Leute einer Panik nahe waren, sagte er ein paarmal zu ihnen: »Immer nur heiter, Gott hilft schon weiter.« Lächelnd sagte er das. So viel zu meiner charakterologischen Herkunft.

Was nun die Herkunft meines Vaters anbelangt, so dürften seine Ahnen aus Elsass-Lothringen stammen. Zu der Zeit, als Napoleon auf einem seiner Feldzüge in der Heimatstadt meines Vaters in Südmähren (auf halber Strecke von Wien nach Brünn) einmarschiert war und seine Grenadiere dort einquartiert wurden, trat einer dieser Soldaten auf ein Mädchen zu, fragte sie nach einem bestimmten Namen und sie sagte, das sei ihre Familie. Er ließ sich bei dieser Familie einquartieren und erzählte dann, dass er in Elsass-Lothringen beheimatet sei und seine Angehörigen ihm aufgetragen hätten, nach der Familie des Mädchens Ausschau zu halten und ihr Grüße zu bestellen. Die Auswanderung des betreffenden Ahnen muss etwa um das Jahr 1760 erfolgt sein.

Unter den Dingen, die ich bis ins Lager Theresienstadt schmuggeln konnte, befand sich auch eine Ampulle Morphium. Die spritzte ich meinem  Vater, als ich als Arzt sehen musste, dass ihm das terminale Lungenödem, also das Ringen um Luft unmittelbar vor Eintritt des Todes, bevorstand. Er war damals bereits 81 Jahre alt und halb verhungert. Trotzdem bedurfte es zweier Pneumonien, bis das Leben aus ihm wich.

Ich fragte ihn: »Hast du noch Schmerzen ?«

»Nein.«

»Hast du noch irgendeinen Wunsch ?«

»Nein.«

»Willst du mir noch irgendetwas sagen ?«

»Nein.«

Dann küsste ich ihn und ging. Ich wusste, dass ich ihn nicht mehr lebend wiedersehen würde. Aber ich hatte das wunderbarste Gefühl, das man sich vorstellen kann: Ich hatte das Meinige getan. Ich war der Eltern wegen in Wien geblieben und jetzt hatte ich ihn in den Tod begleitet und ihm unnötige Todesqualen erspart.

Als meine Mutter in Trauer war, wurde sie vom tschechischen Rabbiner Ferda, der meinen Vater gut gekannt hatte, besucht. Ich war anwesend, als Ferda, der ihr Trost zusprach, meinte, mein Vater sei ein Zaddik gewesen – das heißt »ein Gerechter«. Also hatte ich doch Recht, wenn ich als Kind spürte, Gerechtigkeit sei ein Charakteristikum meines Vaters. Sein Gerechtigkeitssinn muss aber in einem Glauben an die göttliche Gerechtigkeit verwurzelt gewesen sein. Anders wäre es nicht denkbar, dass er sich die Worte, die ich wiederholt aus seinem Munde hören konnte, zum Wahlspruch genommen hatte: »Wie Gott will, ich halt still.«

Meine Kindheit

Zurück zum Ausgangspunkt, zu meiner Geburt. Ich bin in der Czerningasse Nummer 6 geboren, und wenn ich mich richtig erinnere, erzählte mein  Vater einmal, dass auf Nummer 7, also schräg gegenüber, eine Zeitlang Dr. Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, gewohnt habe. Der Geburtsort der Dritten Wiener Richtung, der Logotherapie, ist also nicht allzu weit entfernt von dem der Zweiten Wiener Richtung, Adlers Individualpsychologie.

Man braucht nur ein kleines Stück auf die Praterstraße weiterzugehen, also auf die andere Seite desselben Häuserblocks, und man befindet sich in dem Haus, in dem die inoffizielle österreichische Nationalhymne, der Donauwalzer, komponiert wurde, und zwar von Johann Strauß.

Die Logotherapie ist also in meinem Geburtshaus geboren. Die Bücher aber, die von mir erschienen sind, sind bereits in der Wohnung entstanden, in der ich seit meiner Rückkehr nach Wien lebe. Und da mein Arbeitsraum einen halbkreisförmigen Erker besitzt, habe ich ihn einmal, weil in ihm meine Bücher unter Wehen diktiert werden, in Anlehnung an das Wort Kreißsaal als »Halbkreißsaal« bezeichnet.

Es mag sein, dass mein    Vater es gerne sah, dass ich bereits im Alter von drei Jahren entschlossen war, Arzt zu werden. Die Ideale, die zu meiner Zeit in beruflicher Hinsicht in Schwang waren, nämlich Schiffsjunge oder Offizier zu werden, verschmolz ich zwanglos mit meinem Ideal des Arztseins, indem ich einmal Schiffsarzt werden wollte, ein anderes Mal Militärarzt. Aber über die Praxis hinaus muss mich auch die Forschung frühzeitig interessiert haben. Zumindest sehe ich mich heute noch, wie ich im Alter von vier Jahren zu meiner Mutter sagte: »Ich weiß schon, Mama, wie man Medikamente erfindet: Man lässt sich Leute kommen, die sich das Leben nehmen wollen und zufällig krank sind, und gibt ihnen alles Mögliche zu essen und zu trinken – sagen wir Schuhwichse oder Petroleum. Kommen sie aber mit dem Leben davon, dann haben wir für ihre Krankheit das richtige Medikament entdeckt.« Und da werfen mir meine Gegner vor, ich sei zu wenig experimentell ausgerichtet !

Mit vier Jahren muss es auch gewesen sein, dass ich eines Abends kurz vor dem Einschlafen aufschreckte, und zwar von der Einsicht aufgerüttelt, eines Tages würde auch ich sterben müssen. Was mir aber zu schaffen machte, war eigentlich zu keiner Zeit meines Lebens die Furcht vor dem Sterben, vielmehr nur eines: die Frage, ob nicht die   Vergänglichkeit des Lebens dessen Sinn zunichtemache. Und die Antwort auf die Frage, die Antwort, zu der ich mich schließlich durchzuringen vermochte, war die folgende: In mancherlei Hinsicht macht der Tod das Leben überhaupt erst sinnvoll.  Vor allem aber kann die    Vergänglichkeit des Daseins dessen Sinn aus dem einfachen Grunde nicht Abbruch tun, weil in der   Vergangenheit nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen ist. Im Vergangensein ist es also vor der  Vergänglichkeit sogar bewahrt und gerettet. Was immer wir getan und geschaffen, was immer wir erlebt und erfahren haben – wir haben es ins Vergangensein hineingerettet, und nichts und niemand kann es jemals wieder aus der Welt schaffen.

Als Bub habe ich mich darüber gekränkt, dass mir vor allem durch den Ersten Weltkrieg zwei Herzenswünsche nicht in Erfüllung gegangen sind: Ich wäre gerne Pfadfinder geworden und ich hätte gerne ein Fahrrad besessen. Dafür ist mir etwas in Erfüllung gegangen, das zu wünschen ich gar nicht gewagt hätte: Ich habe unter den Hunderten von Buben, die den Stadtpark und dessen Spielplätze bevölkerten, den anerkannt Stärksten im Ringkampf »gelegt«, und zwar indem ich ihn »im Schwitzkasten« hielt.

Als ganz junger Mensch wollte ich immer eine Kurzgeschichte schreiben. Inhalt sollte sein, wie jemand fieberhaft nach einem verlorengegangenen Notizbuch fahndet. Endlich wird es ihm zurückgebracht, aber der redliche Finder möchte gerne wissen, was die komischen Eintragungen bedeuten, die sich im Kalenderteil befinden. Und es stellt sich heraus, dass es sich um Stichworte handelt, mit denen sich der Besitzer des Notizbuches an bestimmten Tagen, die er zu seinen »Privatfeiertagen« ernannt hat, an besondere Glücksfälle erinnern möchte. So heißt es etwa am 9. Juli, »Brünner Bahnhof«. Was das bedeutet ? Es war an einem 9. Juli gewesen, als er als Kind von etwa zwei Jahren auf dem Brünner Bahnhof für wenige Sekunden von den Eltern nicht beaufsichtigt vom Bahnsteig auf die Schienen hinuntergeklettert war und knapp vor dem Rad eines Waggons auf einer Schiene Platz genommen hatte. Erst als das Abfahrtssignal ertönte und die Eltern nach ihm Ausschau hielten, entdeckten sie, was passiert war. Der    Vater riss ihn von der Schiene weg, und der Zug setzte sich in Bewegung. Glück muss man haben ! Gott sei Dank hatte ich es gehabt, denn das »Kind« war in Wirklichkeit – ich selbst !

In der Kindheit wurde mir ein Gefühl der Geborgenheit selbstverständlich nicht durch philosophische Überlegungen und Erwägungen geschenkt, sondern vielmehr durch die Umgebung, in der ich lebte. Ich muss fünf Jahre alt gewesen sein, als ich – und ich halte diese Kindheitserinnerung für paradigmatisch – an einem sonnigen Morgen in der Sommerfrische Hainfeld erwachte. Während ich die Augen noch geschlossen hielt, wurde ich von dem unsäglich beglückenden und beseligenden Gefühl durchflutet, geborgen, bewacht und behütet zu sein. Als ich die Augen öffnete, stand mein  Vater lächelnd über mich gebeugt.

Noch ein paar Bemerkungen zu meiner sexuellen Entwicklung. Ich war ein kleiner Bub, als mein älterer Bruder und ich auf einem Familienausflug im Wienerwald ein Paket fanden, das Ansichtskarten mit lauter pornographischen Fotos enthielt. Wir waren weder überrascht noch entsetzt. Wir konnten nur nicht verstehen, dass meine Mutter uns die Fotos so eilig aus der Hand riss.

Später – ich muss da etwa acht Jahre alt gewesen sein – wurde alles Sexuelle allerdings mit dem Flair des Geheimnisvollen umgeben. Schuld war unser fesches, ja tolles Dienstmädchen, das sich meinem Bruder und mir teils gemeinsam, teils gesondert sexuell darbot – wir durften sie am Unterleib entblößen, entkleiden und mit ihrem Genitale spielen. Zu diesem Zweck stellte sie sich z.  B. auf dem Fußboden liegend schlafend, um uns zu solchem Spiel zu animieren. Dabei schärfte sie uns Buben immer wieder ein, post festum, dass wir den Eltern nichts sagen dürften, vielmehr müsse alles ein Geheimnis zwischen uns dreien bleiben.

Jahre hindurch zitterte ich, wenn ich etwas angestellt hatte – ich meine, etwas Nichtsexuelles angestellt hatte –, denn das Dienst-mädchen warnte mich, indem sie den Zeigefinger hob und sagte: »Vicki, sei brav oder ich verrate der Mama das Geheimnis !« Diese Worte genügten, um mich bedingungslos in Schach zu halten, bis ich eines Tages mit anhörte, wie meine Mutter sie fragte: »Was ist denn nun eigentlich das Geheimnis ?«, und das Dienstmädchen ihr antwortete: »Aber gar nichts Besonderes, er hat Marmelade genascht.« Ihre Vorsicht hinsichtlich der Möglichkeit, ich könnte etwas ausplaudern, war ja nicht ganz grundlos.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich eines Tages zu meinem Vater sagte: »Nicht wahr, Papa, ich habe dir nicht gesagt, dass die Marie gestern mit mir Ringelspiel fahren gegangen ist, im Prater.« Auf diese Art und Weise wollte ich meine Diskretion unter Beweis stellen. Man stelle sich vor, ich hätte eines Tages gesagt: »Nicht wahr, Papa, ich habe dir nicht gesagt, dass ich gestern mit dem Genitale von Marie gespielt habe ?«

Über kurz oder lang wurden mir natürlich die Zusammenhänge zwischen Sex und Ehe klar, und zwar noch bevor mir der Zusammenhang zu Bewusstsein gekommen war zwischen Sex und Fortpflanzung. Ich dürfte schon in der Untermittelschule gewesen sein, als ich mir vornahm, sobald ich einmal heiraten würde, alles daranzusetzen, dass ich nachts nicht einschlafe oder zumindest nicht allzu schnell, denn ich wollte etwas nicht versäumen: das, was man den Beischlaf nannte. Sind die Leute denn blöde, dachte ich mir, wenn sie sich den Genuss von etwas so Schönem entgehen lassen, indem sie dabei schlafen ? Ich werde es wach genießen, nahm ich mir vor.

In einer anderen Sommerfrische, Pottenstein, gab es eine Erzieherin, die mit meinen Eltern befreundet war und deshalb viel mit uns Kindern zusammenkam. Mich pflegte sie als den »Denker« zu apostrophieren – wahrscheinlich weil ich ihr unaufhörlich Fragen stellte. Ständig wollte ich von ihr etwas wissen, immer mehr wissen. Allein, ich glaube nicht, dass ich jemals wirklich ein großer Denker war. Eines mag ich gewesen sein: ein konsequenter Zu-Ende-Denker.

Ich weiß nicht, ob man es Grübeln nennen kann, man könnte es vielleicht ebenso gut als Selbstbesinnung in der besten Tradition von Sokrates bezeichnen, wenn ich Jahre hindurch als junger Mensch das Frühstück, besser gesagt den Kaffee im Bett zu mir nahm und im Anschluss daran immer mindestens ein paar Minuten lang im Bett blieb und nachdachte über den Sinn des Lebens und im Besonderen über den Sinn des kommenden Tages, besser gesagt dessen Sinn für mich.

Dabei fällt mir ein, was im Konzentrationslager Theresienstadt passiert ist: Ein Prager Dozent hatte ein paar Kollegen auf ihren Intelligenzquotienten hin getestet, und bei mir war ein überdurchschnittlicher IQ herausgekommen. Damals war ich darüber eigentlich sehr traurig, denn ich dachte mir, andere könnten mit einem solchen Intelligenzquotienten etwas anfangen, wogegen ich wohl keine Chance mehr hätte, aus dem Intelligenzquotienten etwas zu machen, sondern im Lager umkommen würde.

Da wir gerade von Intelligenz reden: Es hat mich immer belustigt, wenn ich draufgekommen bin, dass andere eine Idee, die ich bereits gehabt hatte, erst viel später hatten. Das hat mich wenig geniert, weil ich mir dachte, die anderen mussten sich plagen und etwas publizieren, wogegen ich ohne mich plagen zu müssen das Bewusstsein hatte, dass ich das genauso herausgefunden hatte wie die anderen, die durch ihre Publikationen berühmt geworden sind. Eigentlich würde es mir nicht einmal etwas ausmachen, wenn jemand für meine Ideen den Nobelpreis bekommen sollte.

Verstand …