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Doron Rabinovici
Andernorts

Roman









Suhrkamp Verlag

ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Suhrkamp Verlag Berlin 2010
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Von Luise Söhle sind 2007 unter dem Titel andernorts
Gedichte bei TRIGA – Der Verlag Gerlinde Heß erschienen.
www.suhrkamp.de
eISBN 978-3-518-74370-6

Für Schoschana und
David Rabinovici


In Erinnerung an
Joseph Ortner

1956-2009

ojfn vejg stejt a bojm, stejt er ajngebojgn
ale fegel fun dem bojm senen sich farflojgn
tswej kajn misrach, draj kajn marev und der rest kajn dorem
und der bojm gelost alejn hefker far dem storem
sog ich tsu majn mamen harz: solst mir nor nit steren
wel ich, mame, ajns und tswej, mir a foigl wern
ich wel sitsn ojfn bojm und wel im farvign
ibern winter ihm a trest mit a schejnem nign

Itzig Manger, 1901 (Czernowitz, Österreich-Ungarn)
bis 1969 (Gedera, Israel)

1

Sie hoben ab. Er wurde in den Sitz gepreßt. Die Maschine stieg steil empor und zog eine Kurve. Er blickte hinaus über den Nachbarn hinweg. In der Tiefe tauchte die Stadt auf und die Flachdächer, kalkweiß oder pechschwarz, darauf Wassertonnen mit Sonnenspiegeln, ein Funkeln im Gegenlicht. Das Gestrüpp aus Antennen und Stromleitungen. Die Silhouette der Hochhäuser, die Diamantenbörse, die griechische Synagoge in Muschelform, der Platz vor dem Rathaus, Kikar Jizchak Rabin, die Alleen voller Bäume und Bauhaus und dann mittendrin ein Rumpf aus Altstadt samt Minarett und Uhrturm, jener Keil aus Vergangenheit, der ins Meer ragt. Tel Aviv und Jaffa, der Strand und danach nichts als Wasser, und das Kind, das er gewesen war, streckte mit ihm den Hals nach dem Land, auf das damals Vater und Mutter hinuntergezeigt hatten, als er, vier Jahre alt, zum ersten Mal abgeflogen war von hier.

Heimweh oder Reisefieber, was war es, das ihn überfiel? Er war im Höhenrausch, und zwischen Mutter und Vater sitzt der Bub, der er war, hockt in Ethan Rosen, Dozent am Wiener Institut für Sozialforschung, und Ethanusch, Tuschtusch, Ethanni, wie ihn seine Mutter rief, der kleine Etepetete, wie sein Vater scherzte, sieht die Pantomimen der Stewardessen. Ein Ballett für den Ernstfall. Die kurzen Röcke, die Häubchen im aufgesteckten Haar, ihre dunklen Strumpfhosen, und der kleine Ethanni in Knisterhöhe der Nylonbeine starrt auf den exotischen Tempeltanz, der von der samtenen Monotonie einer weiblichen Stimme begleitet wird. Abgehoben.

Nichts erinnerte jetzt noch an das Zeremoniell jener Hohepriesterinnen aus seiner Kindheit, nichts an die fein abgestimmten Bewegungen, die aus einer fernen Welt über den Wolken kommen mußten. Ein Kurzfilm mit Sicherheitsanweisungen, abgespielt auf heruntergeklappten Monitoren. Aus den Düsen der Klimaanlage strömte es trockenkalt. Er wußte, der Teint der letzten Tage, mehr lachsrot als goldbraun, würde in Schuppen abblättern. Er würde wieder als Bläßling ankommen. Seine Augen juckten. Die Lippen brannten. Nichts half gegen die Migräne des Soziologen Ethan Rosen, der Schmerz nahm zu, der Schädel wurde ihm eng. Bis drei Uhr früh war er an seiner Arbeit gesessen, hatte auf deutsch einen Aufsatz über Transkulturalität in der hebräischen Literatur geschrieben und danach in Ivrit einen Kommentar für eine israelische Zeitschrift, eine Polemik gegen jegliche Legitimierung von Folter. Solche journalistischen Artikel verfaßte Rosen in kaltem Zorn. Er sonderte diese Texte wie kleine Pakete voll Sprengstoff ab oder wie eine Batterie von Knallfröschen. Fünfzehn Minuten für fünftausend Zeichen. Während er die wissenschaftlichen Studien trocken anging, schäumte er in seinen Glossen auf, pulverte dort an Emotionen hinein, was er sich als Forscher versagte.

Rosen war dafür bekannt, Deutsch, Hebräisch, Englisch und Französisch geschliffen zu formulieren. Nicht wenige waren beeindruckt, daß er Italienisch und Spanisch las und Arabisch verstand. Manche munkelten, seine Thesen und Theorien seien in Wirklichkeit nichts als Übersetzungen der vielen Gedanken, die er da oder dort aufschnappte. Er betreibe Importexportgeschäfte mit akademischen Ideen. Er profitiere davon, zwischen den Kontinenten und Kontinuitäten, zwischen den Regionen und Religionen umherzugeistern. Aber es war kein freundliches Interesse für die Welt, das ihn trieb. Seine Eingebungen und Ahnungen wurden von Angst gespeist. Ethans Mißtrauen galt den Zivilisationen und Ideologien. Er schrieb an den Bruchlinien entlang.

Nicht zufällig war er gebeten worden, einen Nachruf auf Dov Zedek zu verfassen. Zuerst von Katharina, der vierzigjährigen Freundin des Alten. Seit seinem Tod entwikkelte sie eine Leidenschaft, die Ethan nie an ihr bemerkt hatte, solange Dov noch am Leben gewesen war. Auch Fred Sammler, der Redakteur einer Wiener Zeitung, hatte ihn in Tel Aviv angerufen. Wenn er schon nach Israel gereist sei, um den alten Freund zu bestatten, werde er doch ein paar persönliche Worte für eine Würdigung finden, meinte Sammler. Einen Abschied von Dov Zedek für die österreichischen Leser.

Ethan hatte sich geweigert. Totenredner wollte und konnte er nicht sein. Er war nicht einmal zu einem Geburtstagsständchen bereit. Auf dem Friedhof hatte er Katharina umarmt. Verweinte Gesichter um ihn herum, er war zu keiner Regung und keinen Tränen fähig. Im Schlaglicht der Mittagssonne – inmitten des Gräberfeldes – schien die Trauergemeinde zu schrumpfen. Es war ihm, als verdorre jeder, der sich hier eingefunden hatte. Dieser Platz strahlte nichts von christlichen Kirchhöfen aus, die schattige Orte der Einkehr sein wollten. Nichts war hier versöhnlich. Anders als bei katholischen Bestattungen boten hier weder Blumen noch Kränze Trost, waren keine Kapelle und kein Orchester zu hören, wartete keine imposante Familiengruft auf Besuch.

Der Gesang des Rabbiners erinnerte an ein Wehklagen. Die Leiche war nicht in einem Sarg versteckt, sondern nur von einem schwarzen Tuch bedeckt. Darunter schien Dovs Körper, der immer so mächtig gewesen war, nun klein und schmächtig. Für einen Moment dachte Ethan, da liege ein anderer.

Er war bloß vier Tage in Israel gewesen und gleich nach der Ankunft zum Begräbnis nach Jerusalem gefahren, wo Dov die letzten zwei Jahrzehnte gelebt hatte. Schiwe in Dovs Wohnung. Die vielen Diskussionen und Streitereien hier zwischen Dov und ihm waren ihm nicht aus dem Kopf gegangen. Am nächsten Morgen hatte er die Gelegenheit genutzt, einen Kollegen an der Hebräischen Universität aufzusuchen. Gespräche über mögliche Kooperationen. Am dritten Tag erst der Aufbruch nach Tel Aviv. Der Besuch bei den Eltern. Die Mutter hatte ihn beiseite gezogen, um mit ihm zu reden, aber sein Vater war dazwischengegangen. Er wolle jetzt aufbrechen in sein Stammlokal. Beim Abschied dann ihr Laserblick, bewährt seit der Kindheit. Vater werde übermorgen im Krankenhaus gründlich untersucht.

Während des Rückfluges wollte er eine Dissertation lesen. Die Müdigkeit machte ihn zittrig, ihm war, als bleiche sie ihn aus, löse ihn auf. Nicht nur der Körper, auch sein Denken verlor an Konsistenz. Hinzu kam der Eindruck, alle könnten ihm ansehen, wie es ihm ging, müßten ihn durchschauen, denn er fühlte sich gläsern, hatte die letzten Tage durchgearbeitet und in dieser Nacht weniger als drei Stunden geschlafen. Gleichzeitig schämte er sich dieses Gedankens. Er wußte, daß alle um ihn herum mitten in der Nacht aufgestanden waren. Wer war hier nicht übernächtigt? Sie hingen in den Gurten. Alles war in der Schwebe. Abgehoben.

Stunden vor dem Start waren die Passagiere schon im Flughafen eingetroffen. Vorgestern erst der Anschlag in der Innenstadt. Das Lokal hatte er flüchtig gekannt. Die Einsatztruppe, die gefilmt wurde, als sie Fleischfetzen und Leichenteile vom Boden klaubte, von Wänden schabte, in Plastikbeutel steckte.

Links neben ihm eine Frau, Mitte Siebzig, mit wachsweiß geschminktem Gesicht, eine Echse mit Krokodilledertasche, das Haar platinblond. An der Rechten ein Brillantring, der im Anhänger ihrer Halskette sein Pendant fand. Sie trug ein karminrotes Damastkostüm mit stumpfgoldenen Knöpfen, eingewebt in den Seidenstoff glänzten Blumengirlanden. Ethan Rosen fühlte sich an chinesische Tapetenmuster in Versailles erinnert. Die geheime polnisch-jüdische Mame des Sonnenkönigs Louis Quatorze, die Mutter aller absolutistischen Mächte. Als er kurz zu ihr hinüberschaute, fing sie seinen Blick auf. Sie nickte ihm zu, als kenne sie ihn.

Rechts von ihm ein dicker Orthodoxer. Der bückte sich gerade nach einer Tasche, holte sein Samtetui hervor, in dem Gebetsbuch und Gebetsriemen aufbewahrt waren.

Warum mußte gerade er neben diesem Wiedergänger sitzen, dachte Ethan, neben einem Wiederkäuer der Schrift, der ihn mit seinen Schläfenlocken, dem wolligen Haar und dem langen Bart an ein Schaf erinnerte. So einer wollte nichts als beten, würde sich während des ganzen Fluges hin- und herwälzen. Wie sollte er da arbeiten? Vor einer Woche, auf dem Weg von Wien nach Tel Aviv, war er auch an der Seite eines Frommen gesessen, ohne daß ihn das Zeremoniell gestört hätte. Im Gegenteil. Beide waren sie in ihrer je eigenen Welt versunken gewesen. Was unterschied diesen Gläubigen von dem anderen? Damals hatte er auf das jüdische Original geschaut, hatte ein Auge auf ihn geworfen, bereit, ihn gegen jeden scheelen Blick zu verteidigen, jedem entgegenzutreten, der über den schwarzen Kaftan und den breitkrempigen Hut die Nase rümpfen würde. Jetzt, in der Gegenrichtung, von Ost nach West, bemerkte er den muffigen, süßlichen Geruch dieses Mannes, der zu warm angezogen war, und der Mief erinnerte ihn an den Friedhof, an den Rabbiner und den Kantor, die er an Dovs Grab gesehen hatte, an die Gebete und Klagelieder, die sie angestimmt hatten. Nun war er es, der scheel auf den Betenden blickte, der beobachtete, wie er sich die speckigen Lederriemen um die Linke und um den Kopf band. Das Aufblättern des Buches, das Gebrummel, der Versuch, vor- und zurückzu wippen, sich zu wiegen. Aber da war kein Platz. Der Körper schien im Fett eingeschlossen und erinnerte Ethan an eine riesige Raupe, die sich nicht entpuppen, nicht zum Falter entwickeln wollte, solange der Messias nicht erschienen war.

Die linke Armstütze von der Frau und die rechte vom Gläubigen okkupiert. Rosen kauerte zusammengepreßt, ein Vierjähriger zwischen Mutter und Vater. Das Signal ertönte, das Anschnallzeichen erlosch, die Schnappverschlüsse der Gurte klickten, und wie auf Befehl stand ein Teil der Passagiere auf. Er kannte dieses Ritual seines Volkes, als folgten sie einem Gebot des Unaussprechlichen, einem Gesetz ihrer Natur, dem Instinkt einer ewigen Unrast, und schon bat der Fromme neben ihm hinauszudürfen, weshalb auch Ethan, dann die ältere Dame aufstehen mußten, um ihn vorbeizulassen. Der Religiöse stellte sich an den Paravent, der die Business Class vom Rest der Maschine trennte, umschloß mit einer Hand sein Kompendium, hielt sich mit der anderen an der Kabinenverkleidung fest und begann zu schaukeln, als wolle er dem Flugzeug mehr Schwung verleihen, um schneller ans Ziel zu gelangen. Die Gebetskapsel auf seinem Kopf verstärkte den ungestümen Eindruck, wirkte wie ein Horn, das seinem Schädel entsprang, ein Überbleibsel aus früheren Zeiten. Ethan kannte die jüdischen Mystiker, hatte als Soziologe in verschiedenen Ländern Chassiden beobachtet, aber noch nie war er einem Mann begegnet, der sich mit solcher Inbrunst in die Schrift versenkte. Es schien, als rüttle er an dieser Welt, um hinter ihre Fassade zu kommen.

Ethan griff nach seinem Laptop und schaltete ihn ein, dann öffnete er die Dateifassung der Dissertation und begann zu lesen. Eine Untersuchung über die Darstellung von Migranten im österreichischen Film.

Sie kenne ihn, sagte mit einemmal die Dame zu seiner Linken, sie kenne ihn gut. Er sei doch der kleine Dani, so habe sie ihn früher gerufen, als Bub, und Ethan stimmte zu, denn viele hatten die mütterliche Koseformel Ethanni zu Danni verkürzt, weil das im Deutschen eingängiger klang. Sie sei mit seinen Eltern eng befreundet gewesen. Als er ihr versicherte, von Anfang an geahnt zu haben, ihr bereits begegnet zu sein, winkte sie ab: »Ersparen Sie uns das.« Sie griff in ihre Handtasche und holte einen Tablettenspender hervor, in dem die Kügelchen, Dragees und Kapseln in einzelne Fächer für je einen Wochentag aufgeteilt waren. Das werde ihr Frühstück. Sie zog ein seidenweißes Taschentuch hervor, breitete es aus und arrangierte die Medikamente, als seien es Steine in einem Brettspiel. Ob sie an einer Krankheit leide? »Nein. An mehreren.« Sie sah sich um. Nicht einmal im Flugzeug, meinte sie, könne ihr gemeinsamer Stamm, diese masochistische Internationale, einen Moment stillsitzen. Selbst in den Lüften seien sie ein Nomadenvolk. Die Männer erfasse, vielleicht seit der Beschneidung, eine Unruhe, als litten sie unter einem Jucken in den Beinen, ein Fluchtreflex, der im Schtetl eventuell nützlich gewesen sein mochte.

In der Reihe vor ihm wienerische Laute. Wortfetzen drangen durch das Vibrieren der Maschine. Einer berichtete vom Tauchen im Roten Meer. Rochen, Haifisch, Muränen. Der andere, ein Pilger im Falsett, über Via dolorosa, Grabeskirche, Kapernaum.

Der Orthodoxe wippte vor und zurück, federte in den Knien und begann mit einem Headbanging, als gehöre er einer Hard-Rock-Band an, auch wenn seine herumhüpfenden Schläfenlocken eher an die Dreadlocks der Rastafaris erinnerten. Und dann sang er wie einer, der über Kopfhörer Musik hört und, ohne es zu merken, laut mitträllert. Die Passagiere um ihn herum glotzten ihn an. Hätte ein Liebespaar es hier vor aller Augen getrieben, wäre ihnen nicht mehr Aufmerksamkeit gezollt worden. Eine Flugbegleiterin sprach ihn an, er solle nicht den Durchgang zur Business Class blockieren. Er wolle nur sein Gebet abschließen. Er hielt sich an der Gardine fest, als wäre sie der Vorhang eines Toraschreins, als stünde er vor dem Aron Hakodesch. Er müsse hier beten.

Eine zweite Stewardeß näherte sich von hinten mit einem Trolley. Er möge sich doch endlich setzen, rief Ethans Nachbarin. Wieso sie sich denn einmische, fragte der Orthodoxe. Ob sie heute schon gebetet habe? Und ob der da, er zeigte auf Ethan, bereits seinen Pflichten nachgekommen sei und die Tefillin angelegt habe. Sei er etwa kein Jude?

Er sei es durchaus und um nichts weniger als einer, der rabenschwarze Kleider und eine polnische Pelzmütze trage, sagte Ethan Rosen, und er habe die Gebetsriemen an diesem Morgen nicht umgebunden, ebensowenig wie am gestrigen, und er werde sich auch in den nächsten Tagen keine umschnallen. Er stehe nicht auf Leder.

Ob die nicht aufhören könnten, fragte hierauf der Taucher aus der vorderen Reihe, er wolle jetzt in Ruhe sein Bier trinken. Sein Nachbar, der Pilger, nickte. Der Fromme beachtete die zwei gar nicht, hob statt dessen die Hand, und die beiden Wiener und die Flugbegleiterinnen verstummten. Er sah zu Ethan Rosen, als hätte er das ganze Ritual nur begonnen, um ihn zu provozieren, als wäre es seit Anbeginn der Zeiten nur darum gegangen, diese jüdische Seele zu retten. »Was aber«, sprach er, »wenn jetzt hier, aus der Business Class, unser Vater Abraham hervorkommt und dich fragt: Sag, hast du heute früh schon Tefillin gelegt?«

Die Flugbegleiterin hinter ihm sagte: »Das zählt nicht, daß Ihr Herr Vater in der Business Class sitzt. Sie haben ein billigeres Ticket? Dann nehmen Sie bitte Platz.«

Unmittelbar vor der Abtrennung erhob sich ein Mann mit Glatze. Sie könnten tauschen. Er habe keine Lust mehr, hier zu sitzen, vor seiner Nase ein wippender Hintern. Der Rabbiner könne da vorn alleine swingen oder tun, was er wolle.

Der Mann setzte sich zu Ethan. Ein Israeli Anfang Dreißig, Jeans, ein wolfsgraues Sakko und darunter ein weißes T-Shirt. Seinen blankrasierten Kopf zierte im Nakken ein Strichcode. An einem Handgelenk trug er einen goldenen Armreifen und an dem anderen eine Sportuhr aus Edelstahl mit großem Zifferblatt und drei kleineren Zeigerwerken. Der bringe noch das ganze Flugzeug zum Absturz, wenn er so schaukle, sagte er auf englisch zu Ethan. Und obszön sehe das aus, ein Gerammel, als wolle der Kerl sich an dem ganzen Flieger vergehen. Dieses Geschojkel gehe ihm schon in Israel auf den Geist, das halbe Land wippe hin und her, als wäre der ganze Staat eine Heilanstalt, und jene Zwangsneurotiker des Glaubens, jene Fetischisten der Stammesrituale benähmen sich, als litten sie an Hospitalismus.

Ethan tat, als höre er nicht, und sah nur auf seinen Bildschirm. Die Flugbegleiterin bot Getränke an. »Stilles Wasser«, sagte die ältere Dame und steckte die erste Tablette, eine kleine himbeerrote Kugel, in den Mund. Ethan bestellte Tomatensaft. Sein Nachbar wollte ein Bier, rückte Flasche und Glas dicht an den Laptop. Ob Ethan mit dem Gerät zufrieden sei?

Das Flugzeug begann zu wackeln. Die Durchsage des Piloten. Die Passagiere mögen sich bitte anschnallen. Die Frau verschüttete ein wenig Wasser auf ihr Damastkostüm. Zwei Pillen kullerten zwischen ihre Beine. Der Mann hielt Flasche und Glas fest. Ethan, den Tomatensaft in einer Hand, klappte mit der anderen den Rechner zu, packte ihn weg.

Ob er geschäftlich im Land gewesen sei?

Er sei Israeli, sagte Ethan. Der Nachbar streckte sich ein wenig und streifte Schuhe und Socken ab, als könne er nun alle Vorsicht fahrenlassen. Dann können sie ja hebräisch reden. Weshalb er ihm das denn nicht von Anfang an gesagt habe? Warum er zulasse, daß er sich die Zunge verrenke?

Ob Ethan in Österreich Urlaub mache? Nein, antwortete der, er arbeite in Wien, an einem Institut, seit drei Jahren.

Das Flugzeug sackte kurz durch, und einige der Passagiere warfen einander nervöse Blicke zu. Ob er sich noch als Israeli empfinde?

»Ich bin Staatsbürger. Willst du den Paß sehen? Was bedeutet denn, sich als Israeli zu fühlen?«

Der andere lächelte und nickte wissend. »Das ist eine typisch jüdische, eine typisch wienerisch-jüdische Frage.« Er nahm einen Schluck von seinem Bier. »Ich soll dorthin. Nach Wien. Meine Firma möchte es.« Er litt unter der alten Angst, ein Jored, ein Abwanderer, zu sein. Als steckten sie wieder in der Pionierzeit.

»Ich will dort nicht bleiben. Höchstens für zwei Jahre«, sagte er, und Ethan verbiß sich die Bemerkung, daß zionistische Vorsätze den Weg in die Diaspora pflastern. Er zog seine Jacke aus, nahm einen Pullover aus seiner Tasche, stand auf und bat die Frau, ihn vorbeizulassen, er müsse auf die Toilette.

Er zwängte sich an einer Traube stämmiger bucharischer Männer vorbei, die sich angeregt auf russisch unterhielten, wich in eine Sitzreihe aus, als ihm ein Trolley nebst Flugbegleiter entgegenrollte, und ging weiter. Ihn grüßte ein Bekannter, dem er einmal bei einer Veranstaltung im Gemeindezentrum begegnet war. Schon beim Einsteigen hatte er den Mann gesehen. Da hatte er noch eine Kippa getragen. Nun war sie schon verschwunden.

Vor dem Klo etliche Leute. Er wartete und hatte das Gefühl, im Stehen einzuschlafen. Ein Bub drängte sich vor und sagte auf hebräisch, er könne nicht warten, weil er noch klein sei.

Auf der Toilette meinte er zu sehen, daß sein von der Sonne gerötetes Gesicht plötzlich wie ausgebleicht war. In Israel ähnelte er immer jenen Touristen, die sich rösten ließen, bis sie verbrannt waren. Er paßte auf, doch seine Haut reagierte beinahe allergisch. Das Haar, vor wenigen Stunden goldbraun, schien ihm nun im Kontrast zu seiner Blässe erdfarben. Diese Verwandlung konnte nicht nur mit dem Neonlicht zu tun haben, das alle Farben in dem kleinen Waschraum löschte. War es Einbildung? Er ließ Wasser in seine Hände rinnen, spritzte es sich ins Antlitz, feuchtete seine Locken an und strich sie nach hinten. Er merkte, daß sich dadurch sein Gesicht noch mehr veränderte. Es wirkte schmaler, seine Züge waren streng. Zudem war seine Uhr naß geworden. Er nahm sie ab und rieb sie mit einem Papierhandtuch trocken.

Er wollte nicht an seinen Platz zurückkehren, stand, nachdem er die Toilette verlassen hatte, im Gang herum, als eine Flugbegleiterin mit einem Trolley herankam. Er entdeckte einen freien Sitz, ließ sich nieder, da wurde ihm bereits ein Tablett hingeschoben. Er wollte ablehnen, sah die Frau, die neben ihm saß, nickte ihr zu, und sie schmunzelte, sagte in hebräisch gefärbtem Englisch und in begütigendem Ton, er könne ruhig hier essen, denn ihr Nachbar sei ohnehin seit dem Start verschwunden. Ethan packte die Speisen aus. In der Ablage vor ihm entdeckte er das Wiener Blatt, das ihn um den Artikel über Dov gebeten hatte. Er schlug es auf und stieß auf den Nachruf. Offenbar hatte es jemand anderer übernommen, den Freund zu ehren. Der Autor erzählte zunächst aus Dovs Leben in Wien, wobei von Flucht und Verfolgung nicht die Rede war, sondern immer nur von Emigration. Dov Zedek sei auf der ganzen Welt als Streiter für Frieden und Verständigung bekannt gewesen. Wer Zedeks deutsche Ansprachen, seine jüdischen Witze und seinen Wiener Schmäh gehört habe, könne nicht anders, als ihn für einen Gegner jeglichen Nationalismus zu halten. Dennoch müsse gesagt werden, daß der Kibbuz, den er einst mitbegründet hatte, auf arabischem Boden entstanden war. So dialogfreudig Zedek immer aufgetreten sei, im Grunde seines Herzens habe er für die Vision vom exklusiv jüdischen Staat im Heiligen Land gelebt. Kritisch hatten manche in Israel auch seinen Einsatz für das Gedenken beurteilt, die Fahrten jüdischer Jugendlicher nach Auschwitz etwa, die Zedek initiiert hatte. Vielleicht gelte es, von der Debatte zu lernen, die derzeit unter Juden schwele. Und nun berief sich der Autor des Nachrufs auf einen Artikel in einer hebräischen Zeitung, in der ein bekannter Intellektueller über organisierte Gruppenreisen israelischer Jugendlicher nach Auschwitz herzog. Birkenau sei kein Jugendlager und die Schornsteine der Verbrennungsöfen eigneten sich nicht für Lagerfeuerromantik. Die Kinder mit ihren klingelnden Mobiltelefonen und tönenden iPods sollten den Krematorien lieber fernbleiben. Sie würden bei diesen Reisen bloß lernen, daß die ganze Welt Feindesland sei. Einige von ihnen wären interessiert, manche sensibel, doch im Kollektiv würden sie zu einer ignoranten und voreingenommenen Bande, immer bereit, gegen die anderen, die Polen, die Deutschen, die Nichtjuden, geeint zu sein. Es wäre besser, mit der Jugend einige Kilometer in den Osten zu fahren, in die besetzten Gebiete, um ihnen zu zeigen, was um sie herum geschehe.

Er legte das Blatt zur Seite und blickte zu der Frau hinüber. Auf englisch fragte er, ob er ihr etwa die Zeitung weggenommen habe?

Sie schüttelte den Kopf, bot ihm ihre Ha’aretz an. Ob er denn Hebräisch könne?

Er wollte die Frage nach Herkunft und Identität nicht wieder erörtern, sich nicht noch einmal auf diesem Flug für seinen Wohnort rechtfertigen müssen. Er könne kein Wort Hebräisch, sei zum Urlaub in Israel gewesen. Tauchen in Eilat.

Sie lebe in Wien, stamme aus Jerusalem. Vor Jahren war sie nach Österreich gezogen. Der Liebe wegen. Von dem Mann sei sie längst getrennt. Sie arbeite als freie Grafikerin, übernehme Jobs von unterschiedlichen Auftraggebern aus allen Kontinenten. Sie entwerfe Schrifttypen und Logos, gestalte Zeitungen neu, entwickle auch Webauftritte, derzeit aber präsentiere sie eigene Arbeiten in einer Kunstgalerie. Sie nannte den Namen. Eine renommierte Adresse in der Wiener Innenstadt. Während sie sprach, zeichnete sie mit ihren Händen Skizzen in die Luft. Sie heiße Noa, Noa Levy.

»Johann Rossauer«, sagte er.

Je besser sie sich verstanden, um so grundsätzlicher wurde das Mißverständnis, das er durch seine Lüge provoziert hatte, und mit jedem weiteren Satz vergrößerte sich der Abstand zwischen dem, der er war, und dem, der er zu sein vorgab. Als sie ihm erklärte, einer Familie zu entstammen, die von jeher im Land und bis zum Pogrom im Jahre neunundzwanzig in Hebron gelebt hatte, zeigte er sich verwundert, von Juden zu hören, die das Land nie verlassen hatten. Er spielte überzeugend die Rolle des ahnungslosen Österreichers, und so war es kein Flirt, wenn er mehr über sie und ihr Herkommen wissen wollte, sondern eine Auseinandersetzung jenseits aller Vorurteile. Jedes Schielen ins Dekolleté ein Dialog der Kulturen. Jeder Blick in die Augen ein Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung.

Ein stämmiger kleiner Mann, krauses Brusthaar quoll aus seinem Hemdkragen, unterbrach ihr Gespräch. Dies sei sein Platz. Ethan verabschiedete sich mit einem Nikken. Sie lächelte ihm zu. Er wagte nicht, sie um ein Wiedersehen zu bitten.

Um zu seinem Sitz zu gelangen, mußte er die Dame im Damastkostüm wecken, er stupste sie an und bat sie, ihn vorbeizulassen, aber sie, verschlafen und verwirrt, fuhr auf und sagte: »Das geht nicht. Hier ist schon jemand.«

»Aber erkennen Sie mich nicht? Ich bin es doch. Das ist mein Sakko und das mein Laptop.«

»Unsinn.« Sie wandte sich an den glatzköpfigen Israeli. »Bitte, bestätigen Sie, daß hier bereits ein anderer sitzt.«

Der Mann zögerte, blickte Ethan lange ins Gesicht, und in diesem Moment erinnerte er sich an sein Aussehen auf der Toilette, an seine Blässe, sein bräunliches Haar, daran, daß er die Strähnen nach hinten gekämmt, sich den Rollkragenpullover übergezogen hatte. Er war jetzt wie maskiert, hatte die Kleidung gewechselt, eine neue Frisur gewählt.

»Entschuldigung«, fuhr eine Flugbegleiterin dazwischen: »Sind Sie Herr Rossauer?«

Er wollte bereits verneinen, da dachte er an Noa. »Ja.«

»Sie haben Ihre Uhr vergessen.« Er sah zum Heck, da meinte der israelische Glatzkopf: »Rossauer. Rossauer? You are right. That is not our neighbour«, worauf die Frau sagte: »Nu, sag ich doch.« Die Flugbegleiterin fragte nach Ethans Ticket, und als er sich vorbeugte, um seine Papiere aus seiner Jacke zu fischen, rief seine Nachbarin: »Das ist nicht Ihr Sakko. Es gehört Danni Löwenthal!«

»Sie verwechseln mich. Von Anfang an. Ich bin Ethan Rosen.«

»Erzählen Sie keinen Blödsinn. Ich weiß, wer neben mir saß. Danni Löwenthal. Ich kenne seine Eltern und ihn seit seiner Kindheit. Danni Löwenthal.«

Er hätte die Dame in ihrem Damastkostüm gerne angeschrien, ob sie meschugge sei und daß sie lieber keine Herzpillen, sondern Tabletten für den Kopf nehmen solle. Er wollte den Israeli anbrüllen, aber nun schlug die Müdigkeit zu, schlug auf ihn ein, und ihm schwindelte, er schloß die Augen, weil er fürchtete hinzufallen, und gleichzeitig merkte er, daß sein Schweigen gegen ihn sprach, daß er nun etwas von sich geben mußte, um nicht vollends verdächtig zu wirken.

Heiser wisperte er: »Hören Sie. Ich bin Ethan Rosen, und das ist mein Platz. Mag sein, daß ich diesem Danni Löwenthal ähnlich bin, vielleicht, soll sein, daß ich mich Johann Rossauer nennen ließ, aber mein Name ist und bleibt Ethan Rosen. Verstehen Sie? Ich, Ethan Rosen, arbeite in Wien und war in Jerusalem, weil mein alter Freund Dov Zedek dort begraben wurde. Er ist gestorben. Verstehen Sie? Er ist tot.« Und als er diese letzten Worte sprach, merkte er, daß ihm, der während der ganzen Beerdigung so ungerührt geblieben war, nun die Tränen kamen.

»Verzeihen Sie bitte«, hörte er eine Stimme im Nacken. Es war der Fromme, der aufgestanden war, um zu schukkeln: »Ich weiß nicht, ob der Herr hier Rosen, Rossauer oder Löwenthal heißt, aber Tefillin hat er heute noch keine gelegt. Und wissen Sie, warum?« Er grinste, blickte wie im Triumph in die Runde: »Er steht nicht auf Leder!«

Und plötzlich zweifelte niemand mehr an, wer er war, nicht die Dame im Kostüm, nicht der israelische Glatzkopf und nicht die Flugbegleiterin. Sie erinnerten sich seiner, und es war, als hätten sie alle den Orthodoxen zur höheren Autorität erkoren, die sich von seinem Äußeren nicht täuschen ließ und ihn bis in alle Zeiten unter Tausenden erkennen würde.

2

In Wien angekommen, fuhr er in seine Wohnung, ein kleines Appartement, das ihm vom Institut zur Verfügung gestellt worden war. Er packte den Koffer aus, schaltete den Computer ein und las seine E-Mails. Dann hörte er den Anrufbeantworter ab. Seine Mutter, die er noch am Vortag in Tel Aviv gesehen hatte, bat um Rückruf. Der Ton ihrer Stimme erinnerte ihn an eine Sirene. Dann Esther Kantor. Sie lud am Wochenende zu einem Open House. Es sei ein Fest ohne Anlaß. Alle müßten kommen. Sie redete vom Essen. Humus und Tehina, Pita und Babaganusch, Schinken extra und exquisiter Käse, Tschulent und Zimes, you name it we’ve got it, aber auch Mazzot und Mazzebrei für all jene, denen das ungesäuerte Brot nach dem letzten Pessach nicht mehr aus den Ohren staube. Sie koche. Ray werde am Grill stehen und Würstel braten. Ja, amerikanische Steaks würden auch nicht fehlen.

Seine Mutter erreichte er nicht. Er rief im Institut an, um der Sekretärin mitzuteilen, daß er wieder da war. Dann hinaus, Dissertation, Stift und Schlüssel in der Hand, das Zuschlagen der Tür im Rücken. Er setzte sich ins Café. Es dauerte Stunden, bis er die Arbeit zu Ende gelesen hatte. Danach suchte er nach der Wiener Zeitung, in der jener Kommentar über Dov Zedek erschienen war. Er las den Nachruf noch einmal, aber diesmal, anders als im Flugzeug, verfing er sich in dem Text.

Zu Hause rief er Fred Sammler an, um ihm mitzuteilen, daß er auf den Artikel antworten wolle. »Ich hatte Sie doch von Anfang an um einen Nachruf gebeten. Sie kannten Dov Zedek schließlich sehr gut.«

Ethan schwieg. Er vertrug keine Trauerreden und keine Festreden. Ihm wurde übel, wenn er eine Ansprache hören mußte. Er verschickte nicht einmal persönlich gehaltene Briefe. Selbst den Frauen, in die er verliebt gewesen war, hatte er immer nur soziologische Analysen oder eine Polemik zugesandt.

»Ich will keinen Nachruf für Dov schreiben, sondern eine Antwort auf Klausinger.«

»Wenn Sie heute noch fertig werden, dann erscheint sie übermorgen.«

Ethan setzte sich an den Computer. Fünfzehn Minuten Zorn. Schreiben im Affekt. Im Geburtsland des Führers, tippte er, kämen einem die Ausführungen irgendeines ungenannt bleibenden Israeli gerade recht, wenn es darum gehe, heimatliche Selbstvergessenheit zu beschönigen. Er schrieb von der Notwendigkeit der Erinnerung und von Tendenzen, ob in Budapest oder Teheran, die Shoah zu leugnen.

Ein Schreiben gegen die Müdigkeit war es. Raserei gegen Erschöpfung. Als er fertig war, den Text durchgelesen und abgeschickt hatte, saß er reglos da, viel zu aufgerieben, um Ruhe zu finden. So verfaßte er das Gutachten über die Dissertation.

In der Nacht träumte er, fand sich im Kreuzfeuer, Granaten der Erinnerung, und er sah Udi, sah wieder den offenen Bauch und das Blut, aber Udi lachte und war unversehens in Dov Zedek verwandelt, und der brüllte: »Ich sterbe«, er schrie: »Ich sterbe, Ethan, ich sterbe vor Lachen«, und Dovs Gelächter, das berühmte Röhren, ging im Applaus unter, in tausendfachen Lachsalven, die überall einschlugen und explodierten.

Den nächsten Tag verbrachte er im Institut und an der Universität. Den Anruf seiner Mutter verpaßte er erneut. Er möge sich doch endlich melden, hatte sie auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, es gehe um Vater. Die Untersuchungen im Spital hätten keine guten Ergebnisse erbracht.

Als er am nächsten Morgen zum Hörer greifen wollte, rief ihn Fred Sammler an. Die Reaktionen auf seinen Artikel seien heftig.

»Ist es wirklich so schlimm?«

Nein, es sei gut. Es gebe eine richtige Debatte, meinte Sammler. Ethan habe sich ins Zentrum einer Auseinandersetzung geschrieben und sei wohl ein wenig zwischen die Fronten geraten. »Klausinger behauptet, das Zitat, das er in seinen Text eingebaut hat, stamme von Ihnen höchstpersönlich.«

»Wie?«

»Ja. Dieser israelische Intellektuelle, den er erwähnt, sollen Sie sein.« Ethan Rosen spürte, wie ihn eine Hitzewelle überrollte. Ihm fiel ein, daß er vor längerer Zeit auf hebräisch gegen die Gruppenreisen nach Auschwitz polemisiert hatte. Kein Generalangriff, aber ein deutliches Statement innerhalb eines längeren Beitrags. Kurz streifte ihn die Erinnerung an einen Alptraum, der ihn nachts immer wieder heimsuchte. Er wurde darin eines längst vergessenen Mordes überführt, einer Schuld, die aus einem anderen Leben zu stammen schien.

»Ich kann es mir auch nicht vorstellen. Klausinger sagte, er hätte Sie nicht genannt, weil ihm Ihr Name bisher kein Begriff gewesen sei. Er wußte nicht, daß Sie auch in Österreich leben.«

»Woher hat er dann das Zitat?«

Sammler nannte eine israelische Zeitung, deren englische Ausgabe im Internet erschien, und nun kam Ethan ins Stammeln und Stottern. Er halte es für möglich, obgleich es verrückt klinge, er sei sich sogar ziemlich sicher, vor fünf Jahren in diesem liberalen Blatt, das in Tel Aviv erscheine, ähnliches geschrieben zu haben. Er könne also nicht ausschließen, jener Intellektuelle zu sein, auf den sich Klausinger berufen habe.

Fred Sammler atmete tief durch. »Also Moment. Nur um recht zu verstehen. Vor fünf Jahren schrieben Sie gegen diese Jugendreisen, also auch gegen das Projekt Ihres Freundes Dov Zedek, regten sich über, wie heißt es noch, Lagerfeuerromantik im Schatten des Schornsteins auf, und nun werfen Sie Klausinger Antisemitismus vor, wenn er dasselbe schreibt?«

»Antisemitismus? Nein, das habe ich explizit nicht getan.«

»Na, aber indem Sie es so explizit nicht taten, machten Sie es implizit doch.«

»Was? Dann hätte ich es Ihrer Meinung wohl explizit tun müssen, um es implizit zu unterlassen?«

»Wen interessiert denn meine Meinung? Ich sammle bloß die der anderen. Wollen Sie sich zu dem Widerspruch in Ihren beiden Texten äußern?«

»Ich sehe eigentlich gar keinen Widerspruch«, flüsterte Ethan.

Um so besser, befand der Redakteur, dann solle er seine Position in einem weiteren Artikel präzisieren. In den nächsten Tagen wolle er zunächst die anderen Standpunkte drucken, doch dann, Anfang nächster Woche, bekäme Ethan wieder Gelegenheit, sich zu äußern.

Nach dem Ende des Gesprächs überwältigte Ethan die Scham. Er flüchtete ins Institut. Er kaufte die Zeitung. Die Straßenbahn ratterte heran. Im Waggon ein Betrunkener. Die Lautsprecherstimme tönte verzerrt, sagte den nächsten Halt an. Er schlug das Blatt auf, suchte seinen Artikel, sah den Titel, sah den Vorspann und erschrak. Tradition der älplerischen Ignoranz. Jedes einzelne der Wörter kam in seinem Kommentar vor, doch nicht in dieser Kombination.



»Sag, was hast du eigentlich gegen den Kollegen Klausinger?« Professor Wilhelm Marker, Institutsvorstand, Philosoph und Medientheoretiker. Die Frage war sein Gruß. Er kenne Klausinger nicht, antwortete Ethan, aber Marker grinste seifig, als bewundere er den Kollegen für eine freche Lüge.

»Stell dich doch nicht so an. Mir kannst du es ja sagen.« Klausinger habe vor einigen Monaten hier im Institut einen Vortrag gehalten. Es sei um die kulturelle Geographie in Berlin gegangen. Ob Ethan sich nicht erinnere. Klausinger habe mit Henri Lefebvre argumentiert. Er wisse ja, worum es da gehe. Kein Raum sei unschuldig.

»Lefebvre kenne ich, Klausinger nicht. Kein Raum ist unschuldig, aber ich bin es schon, denn ich habe den Vortrag nicht besucht.«

»Ist schon recht«, meinte Marker, er verstehe ja Ethans Standpunkt. Klausinger habe mit seinem Kommentar übers Ziel hinausgeschossen, hätte bei diesem Thema sensibler formulieren müssen, aber in einem Punkt müsse er widersprechen. Klausinger, dafür könne sich Marker verbürgen, sei kein Antisemit.

»Ich habe doch explizit geschrieben, nicht zu behaupten, daß er einer sei.«

Gewiß, meinte Marker, besonders diese Formulierung sei vortrefflich gewesen, denn jene Wendung, mit der explizit nichts gesagt sein sollte, sage implizit alles, und wer, wenn nicht Ethan, dürfe einem österreichischen Gegenüber bei diesem hochsensiblen Thema zunächst einmal unlautere Motive unterstellen. Er profitiere hier von seiner Identität, genieße einen, wie soll er sagen, einen Judenbonus, ja, einen Judenbonus.

»Aber ich habe doch ausdrücklich geschrieben, über seine Motive nicht befinden zu wollen.«

Eben, sagte Marker und lachte kurz, sah sich dann um und meinte, Klausinger sei unter jenen, die sich für die Professur am Institut beworben haben. Zwar nur unter ferner liefen, aber nun sei er doch Ethans Konkurrent. Marker klopfte ihm nach diesen Worten auf die Schulter und wandte sich ab.

Viele sprachen ihn auf den Artikel an, und so wunderte er sich nicht, als auch Esther Kantor anrief, um ihn noch einmal zu ihrem Open House einzuladen und ihm zu versichern, wie sehr sie ihn in seinem Standpunkt gegen Klausinger und jenen Israeli, den er zitiere, unterstütze. Seine Mutter hatte er in all der Aufregung vergessen, dann erreichte er sie zu Hause nicht. Am Abend wählte er endlich ihre Mobilnummer. Sie meldete sich mit einem Flüstern. Sie seien eben zu Besuch bei Bekannten. Es gehe ihnen gut. Vater sitze neben ihr. »Wolltest du etwas von mir?« fragte Ethan. Sie werde am nächsten Tag von sich hören lassen.

Am nächsten Morgen las er Klausingers Replik im Café. Sie war unter dem Titel Zweierlei Rosen erschienen. Klausinger führte darin nicht nur aus, von wem die Zitate in seinem Nachruf stammten. Da er unsicher gewesen war, ob es sich bei dem Autor des hebräischen Artikels um den Soziologen gleichen Namens an dem Wiener Institut handle, und weil er und Ethan sich um dieselbe Stelle beworben hatten, sei es ihm richtiger erschienen, den Namen seines nunmehrigen Kontrahenten nicht zu nennen, um Persönliches nicht mit Inhaltlichem zu vermischen. Nun aber sehe er sich gezwungen, sein Schweigen zu brechen. Rosen vertrete in dem einen Land eine andere Meinung als im zweiten. Vielleicht gehe es ihm gar nicht um Meinungen und Anschauungen, sondern bloß darum, einen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Zum Abschluß führte Klausinger nochmals Ethan an, der in der israelischen Zeitung davor gewarnt hatte, den Vorwurf des Antisemitismus vorschnell und allzu oft zu verwenden. Schön wär’s, meinte Klausinger, hielte sich Ethan Rosen an seine eigenen Ratschläge.

Im Institut sah er Wilhelm Marker in sein Zimmer verschwinden. Später, als er in der Bibliothek nach einem Buch suchte, war ihm, als werde er von den anderen, die zwischen den Regalen saßen, zwei Studenten, einem Assistenten und einer Kollegin, beobachtet. Am Nachmittag rief Sammler an. Die allgemeine Aufregung habe selbst ihn überrascht. Massenweise Kommentare und Leserbriefe seien eingelangt. Ein Germanist weise nach, daß Klausinger traditionelle Begrifflichkeiten des Judenhasses verwende. In einer Reihe von Texten werde dargelegt, wie wichtig Erinnerung und Gedenken seien. Die meisten aber warfen Ethan vor, er schwinge die Antisemitismuskeule gegen Klausinger, gegen Österreich, gegen die Islamisten, gegen die ganze Welt. Und einer fragte, ob Ethan nicht bloß deshalb von der österreichischen Vergangenheit rede, um von der palästinensischen Gegenwart zu schweigen.

Er verließ das Institut früher als sonst. Ein Frühsommerregen hatte eingesetzt. Menschen rannten an ihm vorbei, drückten sich an Wänden entlang, flüchteten in Hauseingänge und unter Arkaden. Er trottete durch die Tropfen. In einer Ecke, von einem Baugerüst beschirmt, saß eine Frau, eine Osteuropäerin im derben weiten Rock,