Cover

Hartmut Rosa • Wolfgang Endres

Resonanzpädagogik

Wenn es im Klassenzimmer knistert

2. Auflage

mit einem Nachwort von Reinhard Kahl

Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Direktor des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt und langjähriger Akademieleiter der Deutschen SchülerAkademie.

Wolfgang Endres ist Pädagoge und Referent in der Lehrerfortbildung. Er hat 1973 das »Studienhaus am Dom« in St. Blasien gegründet und ist seit 1996 Programmplaner und Koordinator der BeltzForum-Bildungskongresse.

Mit der Welt in Beziehung treten,
sich Welt anverwandeln.
Auch in der Lernwelt Schule.

Inhalt

Vorwort

»Da werden Scherben zur Vase …«

Von der Zeit- zur Resonanzforschung

Pädagogische Resonanz auf den Punkt gebracht

Momente des Mitschwingens im Unterricht

Schule als Resonanzraum

Motivation durch Resonanzbeziehungen

Feedback – Akzeptanz durch Resonanz

Kompetenz und Resonanz in Dissonanz

Vertrauen schafft Resonanzzonen

Ein »Resonanzkompass« als Orientierungshilfe

Beziehungsbildung im Smartphone-Zeitalter

Humor als Indikator für Resonanzverhältnisse

Eigene Resonanzerfahrungen des Resonanzforschers

Dank als Resonanz

Bildnachweis

Glossar

»Einen Kopf größer« – oder: die Grammatik des Gelingens

Expeditionen zu pädagogischen Resonanzfeldern

Literaturnachweise / Anmerkungen

Vorwort

»Da werden Scherben zur Vase …«

Eine Kollegin von Hartmut Rosa beschreibt dessen Schaffen: »[…] als würde er Scherben in die Luft werfen und am Schluss steht eine Vase auf dem Tisch.« Das wäre auch ein treffendes Bild, wie sich die einzelnen Facetten der Resonanzpädagogik von Kapitel zu Kapitel zu einem Ganzen zusammenfügen.

Von Performanz und Kompetenz zur Resonanz

Aber der Reihe nach: Was ist an dieser Resonanzpädagogik das Besondere, »das Neue«? Führt der Weg von Performanz und Kompetenz zur Resonanz? Dazu ein kurzer Rückblick: Den Begriff Performanz hat John L. Austin in den 1960er-Jahren geprägt und bezeichnete damit ein beobachtbares Verhalten. Schüler sollten nicht nur Können erwerben, sondern das Können auch zeigen. 20 Jahre später rückte Noam Chomsky, der renommierte Sprachwissenschaftler, die Kompetenz als Gegenstück zur Performanz ins Blickfeld. Von da an werden Performanz und Kompetenz als Komplementärbegriffe gesehen. »Kompetenzen werden im Modus der Performanz erlernt und evaluiert […]. Die dem schulischen Fächerkanon zugrundeliegenden Modi der Welterschließung eröffnen dabei unterschiedliche Perspektiven der Weltwahrnehmung […].«1

Hartmut Rosa geht einen Schritt weiter. Er beschreibt Welterschließung nicht durch Kompetenzerwerb, sondern durch Resonanz: »Kompetenz und Resonanz sind zwei ganz verschiedene Dinge. Kompetenz bedeutet das sichere Beherrschen einer Technik, das jederzeit Verfügen-Können über etwas, das ich mir als Besitz angeeignet habe. Resonanz dagegen meint das prozesshafte In-Beziehung-Treten mit einer Sache. […] Resonanz enthält ein Moment der Offenheit und der Unverfügbarkeit, das sie von Kompetenz unterscheidet. Kompetenz ist Aneignung, Resonanz meint Anverwandlung von Welt: Ich verwandle mich dabei auch selbst.«

Zentrale Begriffe der Resonanzpädagogik

In der Resonanzpädagogik geht es nicht darum, Performanz und Kompetenz gegen Resonanz auszutauschen oder auszuspielen, sondern eine andere Sichtweise auf das Lehren und Lernen in Resonanzbeziehungen einzunehmen. »Anverwandlung« ist dabei ein Begriff, der Ihnen auf den folgenden Seiten immer wieder begegnen wird. Wenn Sie sich einen Überblick über zentrale Begriffe verschaffen möchten, finden Sie auf den Seiten 124 ff. ein Glossar. Dort erfahren Sie kurz und präzise etwas über dispositionale Resonanz oder den Unterschied zwischen Resonanzachse und Resonanzdraht bis hin zu dem sperrigen Begriff »demokratisch-deliberativer Auto-Paternalismus«.

Perspektive und Resonanz

Wenn Lehrer das Lernen aus der Schülerperspektive sehen, ergeben sich neue Sichtweisen. Das gilt auch für die Schüler. Ein anschauliches Beispiel lieferte der unvergessene Robin Williams als Mr. Keating in dem Film »Der Club der toten Dichter«, als er in jener legendären Szene seine Schüler auf die Tische steigen lässt und sie eindringlich beschwört: »Gerade, wenn man glaubt, etwas zu kennen oder zu wissen, ist es so wichtig, es aus einer anderen Perspektive zu betrachten – selbst wenn es einem albern vorkommt oder unnötig erscheint.«2 Perspektive macht Lernen sichtbar. Resonanz macht Lernen regelrecht hörbar. Das meint Hartmut Rosa damit, »wenn es im Klassenzimmer knistert.«

Weltoffen und heimatverbunden

Es war jedes Mal ein Erlebnis, diesem renommierten Wissenschaftler bei seinem engagierten Schaffen zuzuschauen. Ob im Hörsaal an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, in der SchülerAkademie Braunschweig oder in der Diskussion mit dem Bundespräsidenten vor 10 000 Besuchern in der Martin-Schleyer-Halle Stuttgart. Genauso war ich beeindruckt, wie er einer kleinen Schülergruppe den Sternenhimmel erklärte. Er holt junge Menschen nicht immer da ab, wo sie sind, sondern ein paar Schritte weiter: dort, wo sie noch nicht sind. Er selbst ist international gefragt, ist ein Pendler zwischen den Kontinenten. Dabei bleibt Grafenhausen im Schwarzwald sein Bezugspunkt und Inspirationsort. Er nennt sein Heimatdorf eine Resonanzoase. Hier müsse er nicht in erster Linie funktionieren, hier werde er nicht instrumentell gefragt, sondern fühle sich auf andere Weise Dingen verbunden.

25768_P_Rosa_Abb_028.jpg

Wenn seine Gedanken zur Resonanzpädagogik für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, zunächst nur »Scherben« wären, so soll am Ende doch eine schöne Vase auf dem Tisch stehen – mit Blumen für Ihren Resonanzraum Schule. Das wünsche ich Ihnen – auch ganz im Sinne von Hartmut Rosa.

Wolfgang Endres

St. Blasien, im November 2015

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir suchen nach wie vor nach der passenden Genderschreibweise: Lehrer_innen, LehrerInnen oder Lehrer/innen? Oder generell Lehrerinnen und Lehrer? Analog dazu auch Schülerinnen und Schüler? Oder sollen wir besser umschreiben mit Lehrpersonen, Lehrenden und Lernenden? Oder erwähnen, dass wir mit Lehrerinnen immer auch Lehrer meinen? Wir haben viel und lange diskutiert. Trotz einiger kreativer Vorschläge haben wir keine überzeugende Lösung gefunden, mit der alle Bedenken ausgeräumt wären. So schließen wir uns dem gängigen Hinweis an, dass wir in jeder Schreibweise, ob männlich oder weiblich, immer beide wertschätzend ansprechen.

Von der Zeit- zur Resonanzforschung

25768_P_Rosa_Abb_001.jpg

Die eingesparte Zeit ist im Eimer.

Wenn mit dem Zeitverhältnis etwas nicht stimmt, ist es mit dem Weltverhältnis vermutlich ebenso.

Hartmut Rosa hat die Bedeutung und die Ausprägungen von Resonanzbeziehungen durch seine Zeitforschung entdeckt. Der Soziologe hat Zeitverhältnisse und Beschleunigungstendenzen untersucht und bringt eine seiner Erkenntnisse wie folgt auf den Punkt: »Die eingesparte Zeit ist im Eimer.«

Hartmut, wie ist Deine Aussage als Zeitforscher zu verstehen?

Wenn etwas »im Eimer ist«, ist es nutzlos geworden, es wurde weggeworfen. Außerdem sprechen wir von unnütz vertaner oder verlorener Zeit. Ich hatte damit angefangen, mich zu fragen: Wo ist andererseits die wertvolle Zeit, die ich doch immerzu spare, durch schnellere Technologien, durch beschleunigtes Machen und Tun? Es müsste doch folglich eingesparte Zeit geben, die irgendwo sein und mir als ungeheurer Reichtum zur Verfügung stehen müsste? Bei diesem Fragen und Suchen ist mir aufgefallen, was die Moderne insgesamt kennzeichnet: Wir sparen bei fast jeder Tätigkeit viel Zeit ein. Aber wo ist sie? Wo kommt sie uns in irgendeinem Sinne als ein Asset, als ein Vermögen, als etwas Positives entgegen? Als Antwort darauf habe ich gefunden: Die eingesparte Zeit ist im Eimer. Doch mit dieser lapidaren Feststellung wollte ich mich nicht zufrieden geben. So bin ich zu meinem Zeitthema gekommen.

Die Ergebnisse Deiner Untersuchungen waren für viele überraschend, zum Teil auch erschreckend.

Bei der Analyse der »wahnsinnigen« Wachstums- und Beschleunigungstendenzen in unserer Gesellschaft kam viel Entlarvendes zum Vorschein. In meinem Beschleunigungsbuch3 habe ich sehr ausführlich dargelegt, was alles im Umgang mit der Zeit nicht stimmt. Und ziemlich schnell hat es mir dann gedämmert: Wenn mit dem Zeitverhältnis etwas nicht stimmt, dann stimmt vermutlich auch mit dem Weltverhältnis etwas nicht. Das Erspüren dieses Zusammenhangs war für mich die Initialzündung für mein neues Resonanzbuch.4

Sind Deine Untersuchungen zur Resonanz also eine in sich stimmige Fortsetzung Deiner Forschungen zum Thema Beschleunigung?

Ja. Und ich glaube, diesen Zusammenhang hat schon Heidegger gemeint, als er sein Buch »Sein und Zeit« nannte.5 Zeitverhältnisse und Seinsverhältnisse sind intrinsisch verknüpft. Und wenn uns modernen Menschen die Zeit dermaßen abhandenkommt, dass sie im Eimer ist, dann stimmt möglicherweise etwas nicht mit unserer Art des In-der-Welt-Seins beziehungsweise mit unserer Art des In-die-Welt-gestellt-Seins. So bin ich auf die Soziologie der Weltbeziehung gekommen.

Wie genau gehören das Zeitverhältnis mit den Beschleunigungstendenzen und das Weltverhältnis mit den Resonanzbeziehungen zusammen?

Das Resonanzthema hat sich fast organisch aus dem Zeitthema entwickelt. Meine Suche nach einer Antwort auf das Beschleunigungsproblem hat mich zu den Resonanzfragen gebracht. Und dort wiederum stieß ich als Erstes auf das Entfremdungsthema. Denn ich wollte sagen, dass Beschleunigung nicht per se etwas Schlechtes ist, sondern nur dort, wo sie zu Entfremdung führt.

Spielt also die Beschleunigungsthematik weiterhin eine wichtige Rolle?

Eine sehr große sogar, aber nicht mehr die alleinige. Ich habe das Gefühl, mein Denken entwickelt sich stufenförmig. Zuerst war ich lange Zeit von Charles Taylors Werk und seiner Idee starker Wertungen gefesselt, ich wollte unser Leben und unseren Alltag damit erklären. Dann habe ich entdeckt, dass dabei auch die Zeitverhältnisse eine wichtige Rolle spielen, und so habe ich jahrelang fast monomanisch überall Phänomene der Be- und Entschleunigung gesehen. Schließlich habe ich bemerkt, dass für unser Weltverhältnis Erfahrungen von Resonanz und Entfremdung von großer Bedeutung sind, und dass sie durch Beschleunigung beeinflusst werden. Jetzt ist das mein zentraler Fokus geworden.

Ist es nicht problematisch, wenn Gedanken einen so gefangen nehmen?

Das ist kein Problem, solange ich mir eigene Gedanken mache. Und im Moment hat die Resonanzthematik sogar etwas Befreiendes für mich. Ich stecke Hals über Kopf da drin und erschließe mir die Welt und auch die Phänomene, die mir im Alltag begegnen, über Resonanz- und Entfremdungsbeziehungen. Das bedeutet aber nicht, dass ich die Beschleunigungsthematik vergessen habe. Im Gegenteil. Sie ist weiterhin eine der Grundlagen für die Resonanzforschung.

Pädagogische Resonanz auf den Punkt gebracht

25768_P_Rosa_Abb_002.jpg

Mit der Welt in Beziehung zu treten heißt, sich Welt anzuverwandeln.

Auch in der Lernwelt Schule. Unterricht gelingt, wenn es im Klassenzimmer knistert.

Knistern im Klassenzimmer!? Meint das, dass da etwas spannend ist oder bezieht sich der Ausdruck auch auf eine angespannte Atmosphäre, auf »dicke Luft«?

In der Tat beides. Wenn es dem Lehrer gelingt, die Aufmerksamkeit seiner Schüler so zu fesseln, dass es im Klassenzimmer »knistert«, entstehen Momente des wechselseitigen geistigen Berührens und Berührtwerdens. Auch wenn es knistert, weil ein Konflikt im Klassenzimmer zu spüren ist oder weil es Meinungsverschiedenheiten gibt und sich eine spannende Diskussion entwickelt.

Knistern erzeugt Resonanz?

Ja, weil dann etwas da ist, für das ich Feuer und Flamme bin. Doch damit ich das bin, braucht es erst einmal einen Funken – den Funken, der überspringt. Wenn aber mein Bemühen ohne Resonanz, ohne Widerhall bleibt, wenn nichts zurückkommt, wenn ich das Gefühl habe, »ins Leere zu reden«, wenn es also keinen Resonanzraum gibt, bleiben Interaktionsbeziehungen stumm.

Dann heißt es, »der Rest ist Schweigen«?

Bis hin zum eisigen Schweigen. In einem Hohlraum von Desinteresse friert es mich. Lebendiges Lernen dagegen entfaltet sich in einem Klima, das mich dazu beflügelt, auf eine bestimmte Weise mit der Welt in Beziehung zu treten. Ich will Weltausschnitte zum Sprechen bringen. Ich erlebe Weltbeziehung durch Anverwandlung.

»Weltbeziehung durch Anverwandlung« – das klingt zauberhaft. Ist das, auf Schule bezogen, aber nicht ein bisschen weltfremd? Allein schon der Begriff »Anverwandlung«?

Anverwandlung klingt nicht nur zauberhaft, sondern ist es auch. Anverwandlung bedeutet, sich eine Sache so zu eigen zu machen, dass sie mir nicht nur gehört, sondern dass sie mich existenziell berührt oder tendenziell sogar verändert. Es genügt nicht, die Dinge zu erwerben, sie zu beherrschen, mit ihnen umzugehen. Erst wenn ich sie zum Sprechen bringe, kann ich sie mir anverwandeln.

Und wie kann ein Schüler im Unterricht »die Dinge zum Sprechen bringen«?

Indem er sich einen Weltausschnitt genau so zu eigen macht, dass es ihn transformiert. Er erlebt in diesem Prozess eine Form von Beziehung, die ihn verändert.

Wie kann Unterricht ein Weltausschnitt für ihn sein, der ihn verändert?

Der Schüler sieht zunächst nur das Unterrichtsfach. Doch wenn er anfängt, für sich mehr daraus zu machen, entdeckt er in Musik, Sport, Englisch oder Mathematik einen Ausschnitt der Welt so, dass dieser Ausschnitt für ihn zum Klingen gebracht wird. Er sagt sich, dass er jetzt mehr daraus machen will. Zum Beispiel aus dem Unterrichtsfach Politik heraus entwickelt er sich mehr und mehr zu einem politischen Menschen. Er begibt sich in einen neuen Resonanzraum. Das kann auch die Theater-AG sein, die Schulband, eine Punk-Gruppe oder die Öko-Radikalen oder eine religiöse Gruppierung.

Was mich in seinen Bann zieht, kann ich mir also anverwandeln. Doch was, wenn ich mir die Dinge nur aneigne? Wäre das in der Schule nicht genug? Immerhin wäre allein das schon sehr erfreulich.

Das ist eine Fehlübersetzung von Beziehungsbegehren in Objektbegehren. Unter Aneignung verstehe ich ein Begehren nach dem Haben eines Dings: So, das habe ich jetzt. So kann ich mir auch Kompetenzen aneignen. Ich kann das Gedicht interpretieren und habe das richtige Reimschema erkannt. Oder ich kann in Mathematik oder Physik eine Formel anwenden. Aneignung ist also eine Art von Bereicherung im Sinne von Kompetenz- und Ressourcenerweiterung. Ich verfüge dann über eine Ressource, vielleicht eine Wissensressource oder eine materielle Ressource, die ich instrumentell einsetzen kann. Anverwandeln bedeutet hingegen, ich mache mir eine Sache so zu eigen, dass sie mich verwandelt. Ich bin danach ein anderer.

Ein frommer Wunsch. Doch wirkt er in der Wirklichkeit?

Nehmen wir ein Gedicht: Wenn ich es interpretiere, verändert es sich für mich. Bei einer mathematischen Formel ist das etwas schwieriger zu sehen. Aber selbst hier kann man sagen: Wenn ich sie mir anverwandelt habe, dann setze ich sie für Dinge ein, für die sie ursprünglich vielleicht gar nicht gedacht war. Oder ich assoziiere von dieser Formel weg in Bereiche, für die sie nicht vorgesehen war. So gesehen ist Anverwandlung ein aktiver Prozess der Aneignung.

Und dazu braucht es das Knistern im Klassenzimmer?

Genau das ist die Interaktion zwischen den dort Beteiligten, zwischen den Peers, also den Schülern untereinander und miteinander, aber auch zwischen Schülern und Lehrern. Hier vollzieht sich transformative Weltbeziehung. Das bedeutet, sich auf eine Resonanzbeziehung einzulassen. Konkret heißt das, offen dafür zu sein, dass mir etwas Neues oder anderes begegnet, wovon ich berührt, ergriffen oder bewegt werde, also zuzulassen, dadurch verändert zu werden. Und das geht immer auch mit einer gewissen Verletzlichkeit einher. Schule kann und soll einen Schutzraum dafür bilden.

Sind damit die Resonanzbeziehungen im »Resonanzraum Schule« gemeint?

Ja und nein. Die Schule ist nicht per se ein Resonanzraum. Sie sollte und kann einer sein – ein Raum, in dem sich Beziehungen bilden. Bildung ist ein essenzieller Prozess, in dem sich Weltbeziehungen entwickeln und herausbilden können. Bildung gelingt dort, wo wir für einen jungen Menschen einen Ausschnitt unserer Welt, der geteilten sozialen Welt oder überhaupt der Lebenswelt, zum Sprechen bringen. Die Idee von Bildung ist, Welt für die Subjekte zum Sprechen zu bringen oder in Resonanz zu versetzen. Bildung bedeutet also weder Welt-Wissen zu erwerben, noch bedeutet es, sich selbst zu bilden, sondern Bildung ist Weltbeziehungs-Bildung.

Wie soll ich mir das vorstellen: »Welt für die Subjekte zum Sprechen bringen«?

Indem junge Menschen den Bildungsraum Schule durchlaufen, sollen sie in eine Disposition geraten, die sie neugierig macht auf Welt, auf ihr Leben in der Welt. Sie sollen einen Modus finden, sich in Anverwandlungsprozesse zu begeben. Ich nenne das dispositionale Resonanz.

Wie könnte ein Klassenzimmer zu einem solchen Resonanzraum werden?

Im Geschichtsunterricht, zum Beispiel, würde mir die Epoche der Griechen oder Römer nicht als eine Aneinanderreihung von Fakten und Zahlen begegnen, sondern als eine Zeit, die mir etwas sagt, die mich anspricht, weil ich etwas mit ihr zu tun habe. Sie ist ein Ausschnitt meiner Welt. Ohne diesen Weltausschnitt wäre ich nicht da, wo ich bin, wäre ich nicht der, der ich bin. In Deutsch könnten zum Beispiel Gedichte so etwas bei mir initiieren. Ich erwerbe nicht nur die Kompetenz, das Reimschema, den Rhythmus und das Versmaß zu erkennen, etwas über den Dichter und die Epoche zu wissen – das ist alles zwar schön und gut für die Note, genügt mir aber nicht. Ich suche mehr. Und plötzlich sagen mir Rilke oder Benn oder Eichendorff etwas, das ich so noch nie gehört, noch nie erlebt habe. Das Gedicht macht etwas mit mir.

25768_P_Rosa_Abb_003.jpg

Könnte auf diese Weise nicht nur das Klassenzimmer, sondern die Schule insgesamt zu einem Resonanzraum werden?

Ja, Schule wird zum Resonanzraum, wenn es gelingt, die Resonanzachse zwischen Schülern und Lehrern zu öffnen. Und das geht über Sozialbeziehungen. Zunächst durch einen Lehrer, von dem ich mich als Schüler gern an die Hand nehmen lasse, der mir einen Weltausschnitt aufschließt, der mir vorher nichts gesagt hat. Beide, Lehrer wie Schüler, müssen sich vom Stoff entzünden lassen.

Was aber, wenn eine von beiden Seiten sich verschließt?

Dann verschließt sich meist auch die andere. Wir sprechen dann von repulsiven Weltbeziehungen oder Indifferenzbeziehungen. Letzteres sind Beziehungen, bei denen Lehrer und Schüler das Gefühl haben, dass sie sich nichts zu sagen haben. Repulsion greift sogar noch weiter, dann heißt es sogar: Den mag ich nicht, oder der mag mich nicht. Das steht sehr oft in einer Wechselwirkung. Dann wird Schule zur Entfremdungszone. Dort ist mir alles zuwider: Lehrer, Mitschüler und das ganze »Unterrichtszeug«.

Damit Schule nicht eine Entfremdungszone wird oder bleibt, braucht es eine andere pädagogische Ausrichtung, eine »Resonanzpädagogik«?

Das genau ist meine Idee. Der neue Begriff meint Pädagogik als das Verstehen eines Bildungsgeschehens, das viele Dimensionen hat. Darin spielen auch die räumlichen Aspekte im Schulgebäude eine große Rolle und wie die Menschen sich darin bewegen. Resonanz ist immer auch ein leibliches Phänomen. Das ist schon an der Körperhaltung zu sehen, an den Begegnungen und Interaktionen sowohl im Klassenzimmer als auch im Lehrerzimmer. Wenn hier dicke Luft herrscht oder wenn es zwischen Direktion und Kollegium nicht nur knistert, sondern knirscht, dann bildet sich das Gegenteil von dispositionaler Resonanz aus. Kurz und gut, da es um ein umfassendes Konzept geht, Bildungsprozesse zu überdenken, Resonanzachsen besser zu verstehen und zur Orientierung einen Resonanzkompass zu entwickeln, nenne ich die Ausrichtung Resonanzpädagogik.

Resonanzpädagogik mit der Betonung von Resonanzbeziehungen – drängt sich da nicht der Verdacht auf, hier präsentiert sich eine neue Form von »Kuschelpädagogik«?

Das wäre ein falscher Verdacht. Ich glaube sogar, Resonanzpädagogik ist das Gegenteil von Kuschelpädagogik. Denn Kuschelpädagogik hat im Grunde nichts mit Resonanz zu tun, sondern eher mit einer Echo-Beziehung. Mit dem Begriff »Kuschelpädagogik« wird ja gemeinhin eine Pädagogik bezeichnet, die darauf aus ist, eine gute Harmonie oder reinen Einklang herzustellen, um niemandem weh zu tun und möglichst nur positive Rückmeldungen zu geben. So jedenfalls wird es ihr nachgesagt. Bei einer solchen Pädagogik geht dem Kind die Resonanz gerade verloren. Es bekommt stattdessen bestenfalls ein Echo.

Aber es kommt wenigstens etwas zurück, wenn auch nur in den Bahnen, die ich vorgegeben habe.

Genau deshalb möchte ich Echo und Resonanz klar voneinander trennen. Beim Echo wird zurückbestätigt, was gerufen wurde. Das ist nicht Resonanz. Resonanz ist das Hören einer anderen Stimme. Und dazu gehört, dass das Andere mir als Anderes entgegentritt. Da muss es immer etwas geben, was ich vielleicht nicht verstehe, was sogar nicht anverwandelbar ist.

Die Resonanzpädagogik lässt also ausdrücklich Raum für Widerspruch?