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Brennpunkt Politik

 

Herausgegeben von Gisela Riescher, Hans-Georg Wehling, Martin Große Hüttmann und Reinhold Weber

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Herausgeber

Professorin Dr. Gisela Riescher lehrt Politische Ideengeschichte an der Universität Freiburg, Professor Dr. Hans-Georg Wehling lehrt Politische Wissenschaft an der Universität Tübingen, Dr. Martin Große Hüttmann lehrt als Akademischer Oberrat Europapolitik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen und Professor Dr. Reinhold Weber ist Honorarprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Tübingen und Publikationsreferent bei der Landeszentrale Baden-Württemberg.

Marcus Höreth

Die komplexe Republik

Staatsorganisation in Deutschland

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-026333-8

 

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026334-5

epub:    ISBN 978-3-17-026335-2

mobi:    ISBN 978-3-17-026336-9

 

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Inhaltsverzeichnis

 

  1. 1     Einleitung: Die komplexe Republik
  2. 2     Die Strukturprinzipien in der Einzelbetrachtung
  3. 2.1 Das republikanische Prinzip
  4. 2.2 Das Demokratieprinzip
  5. 2.3 Das Rechtsstaatsprinzip
  6. 2.4 Das Bundesstaatsprinzip
  7. 2.5 Das Sozialstaatsprinzip
  8. 3     Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse im Gesamtensemble: Die sechs Rahmenordnungen deutscher Politik
  9. 3.1 Das „magische Viereck“ der Republik
  10. 3.2 Der demokratische Verfassungsstaat
  11. 3.3 Die föderale Demokratie
  12. 3.4 Der föderale Rechtsstaat
  13. 3.5 Der soziale Bundesstaat
  14. 3.6 Der soziale Rechtsstaat
  15. 3.7 Die soziale Demokratie
  16. 4     Fazit: Regieren in der komplexen Republik
  17. 5     Literaturhinweise

 

 

„Der Hauptausschuss (des Parlamentarischen Rates, M.H.) schlägt Ihnen den Namen ‚Bundesrepublik Deutschland‘ vor. In diesem Namen kommt zum Ausdruck, dass ein Gemeinwesen bundesstaatlichen Charakters geschaffen werden soll, dessen Wesensgehalt das demokratische und soziale Pathos der republikanischen Tradition bestimmt: nämlich einmal der Satz, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, weiter die Begrenzung der Staatsgewalt durch die verfassungsmäßig festgelegten Rechte der Einzelperson, der Gleichheit aller vor dem Gesetz und der Mut zu den sozialen Konsequenzen, die sich aus den Postulaten der Demokratie ergeben.“

(Carlo Schmid 1949)

1          Einleitung: Die komplexe Republik

 

Stellt man sich die Frage nach den zentralen Eigenschaften des deutschen Staates, so ist zunächst ein Blick in das Grundgesetz angeraten. Die Organisation der Staatlichkeit hängt in Deutschland von den fünf Strukturprinzipien ab, wie sie in den Artikeln 20 und 28 niedergelegt sind. Aus ihnen geht hervor, dass die Staatsorganisation in Deutschland republikanischen, demokratischen, rechtsstaatlichen, bundesstaatlichen und schließlich sozialstaatlichen Charakter haben muss. Doch der Blick in das Grundgesetz und sein „Paragraphengespinst“ alleine reicht nicht aus, um zu verstehen, was den Staat der Bundesrepublik wirklich ausmacht. Das Grundgesetz ist ohnehin „keine Staatsbibel, aus der man eine widerspruchsfreie Botschaft entnehmen könnte“ (Anter 2015: 490). Vielmehr ist es entscheidend, wie sich diese fünf „Formprinzipien der Verfassungsordnung“ (Böckenförde 2004: 485) in der politischen Praxis der Bundesrepublik entwickelt haben und – noch wichtiger – in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.

Von den Prinzipien der Staatsorganisation gehen jeweils spezifische Handlungsimperative für Politik und Verwaltung aus, die in der Regel um ein kohärentes Staatshandeln bemüht sind. In einer Perspektive, nach der diese verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen als „Optimierungsgebote“ an die Politik aufgefasst werden (Alexy 1985: 75 f.), zeigt sich jedoch schnell, dass die Beziehungen zwischen den Prinzipen der Staatsorganisation und den von ihnen ausgehenden Imperativen für politisches Handeln von vielfältigen Wechselwirkungen gekennzeichnet sind und schon deshalb nicht völlig spannungsfrei sein können. Um ein genaueres Bild der deutschen Staatlichkeit zu gewinnen, ist es daher unerlässlich, diese Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse zwischen den Prinzipien der Staatsorganisation – so wie sie bereits im Grundgesetz angelegt sind und so wie sie sich historisch in der politischen Praxis herausgebildet haben – zu identifizieren und zu analysieren. Folgende Fragen stehen dabei im Zentrum: Welche Prinzipien der Staatsorganisation und der ihnen zu entnehmenden politischen Handlungsimperative sind gleichgerichtet, welche sind einander entgegengesetzt, welche Prinzipien bedingen einander und welche der Prinzipien balancieren sich wechselseitig aus?

In manchen begrifflichen Einordnungen der Bundesrepublik Deutschland, wie sie in der politikwissenschaftlichen und staatsrechtlichen Literatur zu finden sind, werden mehrere dieser Prinzipien zusammengefasst und auf einen Begriff gebracht. Wenn etwa von Deutschland als typischem demokratischen Verfassungsstaat die Rede ist, so wird damit ausgedrückt, dass die Demokratie in diesem Land von einem Verfassungsrahmen eingehegt wird. Der Begriff des demokratischen Bundesstaats stellt hingegen darauf ab, dass die zwei Prinzipien der Demokratie und des Föderalismus im deutschen Modell der Staatlichkeit miteinander verwoben sind. Der soziale Rechtsstaat verweist darauf, dass sich der Rechtsstaat darauf verpflichten will, Mindeststandards sozialer Gerechtigkeit zu erfüllen, wie sie nur mit den Mitteln sozialstaatlicher Programme gewährleistet werden können. Obwohl diese – und einige weitere hier diskutierte – zusammengesetzte Begriffe maßgebliche Eigenschaften deutscher Staatlichkeit gut einfangen können, kranken sie alle daran, dass in ihnen wiederum andere Dimensionen der Organisation des Staates in Deutschland ausgeblendet bleiben. Ich möchte hier einen alternativen symbiotischen, weil verschiedene Dimensionen der Organisation von Staatlichkeit zusammenfassenden Begriff vorschlagen, nämlich den der „komplexen Republik“. Weil die Republik für sich alleinstehend nach dem hier zugrunde liegenden Verständnis bereits ein äußerst komplexes Staatsorganisationsprinzip beschreibt, ist die Bezeichnung „komplexe Republik“ ein Pleonasmus wie „kaltes Eis“ oder „runde Kugel“. Dennoch hoffe ich, dass die Bezeichnung „komplexe Republik“ insofern Sinn ergibt, als ich mich dadurch von einem rein formalistischen Republikbegriff abgrenzen kann, der – wie zu zeigen sein wird – weder normativ noch analytisch gehaltvoll ist1.

Republikprinzip

Während in den oben genannten Beispielen Spannungsverhältnisse zwischen verschiedenen Staatsorganisationsprinzipien angelegt sind, erscheint die Entscheidung der Mütter und Väter des Grundgesetzes, Westdeutschland einen republikanischen Charakter zu verleihen, zunächst unproblematisch. Mit dem Bekenntnis zur Republik – so könnte man intuitiv vermuten – ist ja lediglich gemeint, dass das Staatsoberhaupt Deutschlands nicht aus einer Erbmonarchie hervorgehen soll wie noch im Kaiserreich, sondern gewählt werden muss. Diese Grundentscheidung für die republikanische Staatsform hat, obwohl natürlich auch sie mit ganz spezifischen Handlungsimperativen an die Politik verbunden ist, rein formal betrachtet keine nennenswerten Implikationen für die anderen Prinzipien der Staatsorganisation. Sowohl die demokratische Regierungsform, der Rechtsstaat, die bundesstaatliche territoriale Ordnung und schließlich auch das Bekenntnis zum Sozialstaat können theoretisch völlig unabhängig von der Staatsform der Republik betrachtet werden. Rein formal betrachtet, ist dem Republikprinzip verfassungsrechtlich nur wenig zu entnehmen, was nicht schon durch die anderen Prinzipien und ihre nähere Ausgestaltung in einzelnen Regelungen des Grundgesetzes enthalten ist. Allerdings verbirgt sich ideengeschichtlich und auch verfassungstheoretisch hinter dem Bekenntnis zur Republik weit mehr als der erste Blick vermuten lässt. Im Keim war im Republikkonzept, vor allem nachdem dieses auch durch liberale Sätze angereichert wurde, die spätere Ausprägung der Organisation des deutschen Staates als Demokratie, Rechtsstaat, Bundesstaat und Sozialstaat bereits angelegt.

Demokratieprinzip

Hinsichtlich der Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse mit anderen Strukturprinzipien geläufiger und insofern auch bedeutender ist die verfassungsrechtliche Entscheidung für das Demokratieprinzip und seine konkrete politisch-institutionelle „Übersetzung“. Schon wenn das Demokratieprinzip isoliert betrachtet wird, werden gravierende Auslegungsprobleme deutlich. Das in einer Verfassungsurkunde niedergelegte Bekenntnis zur Demokratie sagt noch wenig über den tatsächlichen demokratischen Charakter eines Regierungssystems aus. Auch autoritäre Regime verzichten in der Regel nicht darauf, sich zur „Demokratie“ zu bekennen. Von ganz entscheidender Bedeutung für die gesamte Staatsorganisation ist jedoch die Regierungsform, durch die die normativen Anforderungen erfüllt werden sollen, welche durch das Bekenntnis zur Demokratie gestellt sind. Wenn von echten Demokratien die Rede ist, kommen nur zwei Regierungsformen in Frage: die parlamentarische und die präsidentielle Regierungsform (Steffani 1979). Während jedoch das parlamentarische Regierungssystem sowohl mit der Staatsform der Republik als auch mit der Staatsform der Monarchie kompatibel ist, verhält es sich bei der präsidentiellen Regierungsform mit ihrer geschlossenen Exekutive anders – sie kann nur republikanisch organisiert werden. Der direkt gewählte Präsident ist Regierungschef und zugleich Staatsoberhaupt, neben dem dann naturgemäß kein Platz (mehr) für einen Monarchen existiert.

Rechtsstaatsprinzip

Nach westlichem Demokratieverständnis wird als Demokratie nur anerkannt, wenn diese auch rechtsstaatlichen Charakter hat. Das demokratische Mehrheitsprinzip, das sowohl aus dem Prinzip der Freiheit und Selbstbestimmung als auch aus dem Prinzip der demokratischen Gleichheit folgt, steht indessen mit dem Rechtsstaat und den mit ihm verbundenen Anforderungen an die Politik in einem besonders komplizierten Spannungsverhältnis. Für gewöhnlich wird dieses Spannungsverhältnis dadurch aufgelöst, dass der Rechtsstaat gegenüber den demokratischen Prozessen und den Ergebnissen demokratischer Willensbildung einen Riegel bildet, der nicht verletzt werden darf. Demokratische Mehrheiten dürfen aus rechtsstaatlichen Gründen bestimmte rechtlich definierte Grenzen nicht überschreiten – so bleiben Minderheitenrechte und individuelle Grundrechte der Disposition des mehrheitsbestimmten demokratischen Gesetzgebers entzogen. So einleuchtend diese Erklärung für das Prinzip auf Anhieb ist, so schwierig ist dessen Übersetzung dort, wo es um konkrete Politik geht. Hier muss letztlich immer wieder abgewogen werden, ob die Interessen der Mehrheit, die zu vertreten die in einer Demokratie amtierende Regierung beauftragt ist, mit einer am Gemeinwohl orientierten Staatstätigkeit zu vereinbaren sind.

Das Gemeinwohl ist im demokratischen Verfassungsstaat jedoch keine „fixe und vorgegebene Größe, sondern Produkt des pluralen, nicht interessefreien Prozesses politischer Willensbildung“ (Dreier 2015: Art. 20). Da die Demokratie somit keine Instanz kennt, die wüsste, was dieses Gemeinwohl genau beinhaltet, versucht sie mittels prozeduraler Vorkehrungen wenigstens die Gefahr zu verringern, dass dieses abstrakte Gemeinwohl – aber eben auch das Wohl des einzelnen Individuums – durch demokratische Mehrheiten oder aber durch andere Instanzen verletzt werden könnte. Sie leistet dies schon dadurch, dass die staatlichen Gewalten der Exekutive, Legislative und Judikative sich wechselseitig auszubalancieren vermögen. In parlamentarischen Regierungssystemen, in denen die Regierung mit der parlamentarischen Mehrheit eine Gewaltenfusion bewirkt, kann die dadurch bedingte eingeschränkte Rolle des Parlaments bei der Ausbalancierung der mehrheitsbestimmten Exekutive vor allem durch die Judikative geleistet werden. Deshalb ist die Entscheidung der Mütter und Väter des Grundgesetzes für einen besonders anspruchsvollen Rechts- und Verfassungsstaat auch aus diesem Grund sicher richtig gewesen. Doch die Entscheidung für eine ausgebaute Höchstgerichtsbarkeit, die die exekutiven und legislativen Akte auf ihre Verfassungs- und meist auch Verhältnismäßigkeit hin überprüft, führt selbst wieder zu weiteren tiefgreifenden Problemen, die als counter-majoritarian difficulty (Bickel 1962) typisch sind in demokratischen Verfassungsstaaten. Schon diese wenigen Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, wie wenig gewonnen ist, wenn man das Verhältnis von Rechtsstaat und Demokratie rein statisch betrachtet und dabei die dynamischen Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Staatsorganisationsprinzipien ignoriert.

Bundesstaatsprinzip

Ähnlich dynamisch ist das Verhältnis von Demokratie und Bundesstaat angelegt. Zwar werden dem Föderalismus zuweilen demokratieförderliche Eigenschaften zugeschrieben, weil dem Bürger grundsätzlich mehr Partizipationsmöglichkeiten eröffnet werden. Doch die von einem Bundesstaat ausgehenden normativen Anforderungen an die demokratisch gewählten politischen Entscheidungsträger schränken deren Entscheidungsspielraum in vielerlei Hinsicht ein und durchbrechen bzw. relativieren auf diese Weise das Demokratieprinzip. Ganz offensichtlich wird dies dort, wo die Mehrheitsentscheidungen des parlamentarischen Gesetzgebers der mehrheitlichen Zustimmung der Gliedstaaten bedürfen. In Deutschland muss fast jedes wichtige Gesetz eine Zustimmung durch den Bundesrat erfahren, damit es in Kraft treten kann. Im demokratischen Bundesstaat wird auf diese Weise das Gleichheitsprinzip der Demokratie – one man one vote – gekoppelt mit dem föderalen Prinzip der Staatengleichheit, wenngleich letzteres in der Bundesrepublik nicht absolut eingehalten wird, weil die gemessen an der Bevölkerungsgröße größeren Bundesländer über mehr Stimmen im Bundesrat verfügen als die kleineren Bundesländer.

Sozialstaat

Isoliert betrachtet ist schließlich auch das Sozialstaatsprinzip in der Bundesrepublik Deutschland normativ unanfechtbar. Doch auch dieses Prinzip ist kontrovers, wenn es im Zusammenhang mit Demokratie oder dem Rechtsstaat betrachtet wird. Wieviel Sozialstaat braucht die Demokratie, um erfolgreich zu sein? Und umgekehrt: Wie demokratisch – im Sinne der Orientierung am demokratischen Mehrheitsprinzip – muss der Sozialstaat sein, um auch für all jene Bürgerinnen und Bürger der Mehrheit anerkennungswürdig zu bleiben, deren Steuern den Sozialstaat maßgeblich finanzieren, von dem nur Minderheiten profitieren? Oder: Wie stark darf der Sozialstaat, beispielsweise durch die Erhebung von Steuern zur Finanzierung einer umfassenden Sozialpolitik, in die Privatautonomie seiner Bürger und die Eigentumsverhältnisse in der Gesellschaft intervenieren, ohne rechts- und verfassungsstaatliche Grenzen zu verletzen? Auch diese schwierigen Fragen lassen sich nicht statisch beantworten, sondern verlangen nach einer permanenten Abwägung der Mehrheits- mit den Minderheitsinteressen, die je nach den gegebenen politischen, ökonomischen und kulturellen Kontextbedingungen ganz unterschiedlich ausfallen kann.

Spannungsfelder und Wechselwirkungen

Im Folgenden möchte ich die wichtigsten Spannungsverhältnisse und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Prinzipien der Organisation des Staates in Deutschland aufzeigen und diskutieren. Im Zentrum steht die Frage, wie sich diese Prinzipien in der politischen Praxis der Bundesrepublik entwickelt haben und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Hierfür werden im ersten Teil des Buches die Strukturprinzipien zunächst im Einzelporträt vorgestellt, indem ihrer Ideengeschichte, ihrer inhaltlichen Konturierung im Grundgesetz und schließlich ihrer Entwicklung in der Staatspraxis nachgegangen wird. Im zweiten Teil des Buches werden die Wechselwirkungen und Spannungsverhältnisse innerhalb des Gesamtensembles der Strukturprinzipien erörtert. Ziel ist es, dem Leser in Grundzügen zu vermitteln, wie die Staatsorganisation der Bundesrepublik (polity) auf politische Entscheidungsprozesse und politischen Wettbewerb (politics) und schließlich auf die Inhalte der Politik (policies) Einfluss nimmt. Bei der Darstellung und Diskussion der Staatsorganisationsprinzipien wähle ich bewusst eine andere Vorgehensweise als die meisten staatsrechtlichen und politikwissenschaftlichen Überblicksdarstellungen. Zwar wird die normative Verankerung der Staatsorganisationsprinzipien im Grundgesetz hier ebenfalls möglichst knapp und konzise aufgezeigt, doch es bleibt nicht bei rein normativ-dogmatischen und deskriptiven Überlegungen. Vielmehr geht es mir darum, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis dieser Prinzipien – und die in diesem Verhältnis festzustellende Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, normativer Vorgabe und Verfassungsrealität – gleichermaßen in den Blick zu nehmen, wodurch sowohl staatstheoretische als auch politikwissenschaftlich-empirische Überlegungen eine prominente Rolle spielen müssen. Dabei geht es mir keineswegs darum, die hehre Verfassung gegen eine als problematisch oder als defizitär empfundene Verfassungsrealität auszuspielen, um anschließend einen umfassenden Reformbedarf der Staatsorganisation zu konstatieren (Hennis 1959). Vielmehr will ich die gerade in Deutschland nicht zuletzt aus der Spannung zwischen „Normativität“ und „Normalität“ der Verfassung resultierende politische Praxis einfangen (Hesse 1959), die sich im Rahmen miteinander konvergierender und zuweilen auch divergierender demokratischer, rechtsstaatlicher, bundesstaatlicher und sozialstaatlicher Handlungsimperative abspielt. Auch die vergleichende Perspektive wird an einzelnen Stellen genutzt, um das Zusammenspiel der Staatsorganisationsprinzipien in Deutschland besser zu konturieren und zu verstehen. Das genauere Studium der von den Staatsorganisationsprinzipien ausgehenden politischen Handlungsmöglichkeiten und Handlungsrestriktionen bietet zudem einen alternativen bzw. ergänzenden Erklärungsansatz bezüglich der Frage, warum in der Bundesrepublik Deutschland nur eine „Politik des mittleren Weges“ (Schmidt 1990) möglich zu sein scheint.

Die Idee zu diesem Buch basiert auf Erfahrungen, die ich bei meinen Einführungsvorlesungen an der TU in Kaiserslautern zum Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland gemacht habe2. Es erschien mir als Politikwissenschaftler immer ungenügend, mich im staatsorganisatorischen Teil vorrangig auf verfassungsrechtliche Literatur stützen zu müssen. In den meisten bekannten Lehrbüchern der Politikwissenschaft zum Thema wird zwar – zu Recht – dem parlamentarischen Regierungssystem, dem Parteiensystem und schließlich einigen zentralen Politikfeldern besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Staatsorganisationsprinzipien hingegen werden dort jedoch eher stiefmütterlich und knapp abgehandelt – zu Unrecht. Gerade in der Bundesrepublik wirken diese verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen massiv auf die Formen und Inhalte politischer Willensbildung und die Staatstätigkeit allgemein ein. Sie stellen den Rahmen dar, in dem sich politische Akteure in der deutschen Politik auf ihrem „mittleren Weg“ bewegen. Das Studium der entsprechenden staatsrechtlichen Literatur hilft für das Verständnis dieses Sachverhalts indessen nur bedingt weiter, werden dort doch die „Staatsfundamentalnormen“ vor allem dogmatisch auf ihre verfassungsrechtlichen Implikationen hin überprüft, während der Blick auf die Realität des Regierens in der „komplexen Republik“ kaum gewagt wird. Häufig wird in der verfassungsrechtlichen Literatur das „Regieren“ in der Bundesrepublik Deutschland tendenziell so dargestellt, als sei es bloßer Verfassungsvollzug. Insofern ist diese kleine Abhandlung ein Versuch der Vermittlung zwischen normativer und ideengeschichtlicher Analyse der fundamentalen verfassungsrechtlichen Prinzipien des Staatswesens einerseits und politikwissenschaftlicher Beschreibung ihrer konkreten Umsetzung in der Verfassungs- und Regierungspraxis andererseits. Ein solches Vorgehen verlangt jedoch nach thematischer Eingrenzung und inhaltlichen Kompromissen. Dieses doppelte Problem versuche ich dadurch zu lösen, dass ich zentrale Aspekte des Regierens in der Bundesrepublik – insbesondere auf der Akteursebene (Parteien, Verbände), aber auch hinsichtlich der einzelnen Funktionen der zentralen Institutionen des Regierungssystems sowie der zunehmenden Europäisierung – nur am Rande behandele. Gleichermaßen erfährt auch die seit Jahren intensiv geführte Groß-Debatte, inwieweit die Demokratie im Zuge globaler und gesellschaftlicher Transformationsprozesse durch postdemokratische Tendenzen gefährdet ist (Crouch 2008), hier eine eher stiefmütterliche Behandlung. Man möge mir das nachsehen.

Zur Lektüre dieser kleinen Abhandlung sollen sich Studierende der Politikwissenschaft und des öffentlichen Rechts gleichermaßen eingeladen fühlen. Mögen erstere mir verzeihen, dass vom Staat und Recht häufiger die Rede sein wird als in politikwissenschaftlichen Abhandlungen sonst üblich; letztere mögen mir nachsehen, dass ich verfassungsrechtlich-dogmatische Probleme freier behandele, als es die Verfassungsrechtswissenschaft üblicherweise verlangt. Dessen ungeachtet können beide Lesergruppen hoffentlich davon profitieren, zu erfahren, wie die jeweils andere Disziplin das Problem der Staatsorganisation betrachtet. Insofern ist dieses Buch Ausdruck meiner tiefen Überzeugung, dass erst die „Zusammenschau“ beider Disziplinperspektiven das wissenschaftliche Studium der demokratischen, rechtsstaatlichen, föderalen und sozialen Republik in Deutschland interessant und lohnenswert macht.

1     Den Versuch, gleich eine ganze „Republiklehre“ (Schachtschneider 1994) zu schreiben, habe ich gleichwohl nicht unternommen.

2     Beim Erstellen des Buchmanuskripts haben mir viele Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen weitergeholfen, denen ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen will. Allen voran danke ich Léa Roger, Matthias Busch und Georg Wenzelburger, alle TU Kaiserslautern, sowie Jared Sonnicksen, TU Darmstadt, und Daniel Kuhn vom Kohlhammer-Verlag Stuttgart.

2          Die Strukturprinzipien in der Einzelbetrachtung

2.1       Das republikanische Prinzip

Anknüpfung an Weimar: Das Bekenntnis zur Republik

Auf den ersten Blick ist die Festlegung der Mütter und Väter des Grundgesetzes, wonach sich Deutschland als „Republik“ konstituiert (Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 28 GG), ebenso selbstverständlich wie unproblematisch – und einer der klarsten Anknüpfungspunkte zur Weimarer Republik (Art. 1 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung). Es sind Philipp Scheidemann und Karl Liebknecht gewesen, die am 9. November 1918 nach dem Sturz der deutschen Fürstenhäuser die Republik ausgerufen und damit den Bruch mit der Monarchie als Staatsform endgültig besiegelt haben. „Mit den alten Königen und Fürsten von Gottes Gnaden ist es für immer vorbei“, sekundierte ihnen der spätere erste Staatspräsident Friedrich Ebert in seiner Eröffnungsrede in der Weimarer Nationalversammlung am 6. Februar 19193. Die staatsphilosophische Begründung für die Absage an jenen an gleicher Stelle von Ebert so gescholtenen „Kaiserismus“ lieferte wenig später Hugo Preuß nach, der Vater der Weimarer Reichsverfassung:

„Dass nach den Novemberereignissen nur eine rein demokratische Republik möglich war, liegt auf der Hand. Die länger als sonstwo in kritikloser Gewöhnung aufrecht gebliebene Herrschaft des Gottesgnadentums, des Königtums aus eigenem Recht, und mit ihm die obrigkeitliche Staatsstruktur von oben nach unten war zusammengebrochen“ (Preuß 1923: 10).

An diese Erkenntnisse knüpfte nach der nationalsozialistischen Diktatur auch der Parlamentarische Rat nahtlos an. Die dort stattgefundenen Diskussionen drehten sich vornehmlich nur noch um die richtige Platzierung und Formulierung des republikanischen Prinzips im Zusammenhang mit den anderen Staatsfundamentalnormen, während die Ablehnung der Monarchie völlig außer Frage stand. Insoweit ist die Republik vor allem schlicht als Gegensatz zur Monarchie zu interpretieren, die sich aus dem Griechischen abgeleitet (monos kratein) als Alleinherrschaft versteht. Gemeint ist mit dem Bekenntnis zur Staatsform „Republik“ aus dieser Sicht zunächst einmal lediglich, dass das monarchische Prinzip, wonach das Staatsoberhaupt aus einer Erbmonarchie entspringt (oder aber in einer Wahlmonarchie auf Lebenszeit gewählt wird), abgelehnt wird. Demzufolge muss es für eine begrenzte Zeitspanne demokratisch gewählt werden. Da das Staatsoberhaupt aus der Gesamtheit des Volkes kommen und vermittelt über die demokratische Wahl durch das Volk legitimiert sein muss, ist eine enge Verwandtschaft des Republikprinzips mit dem Prinzip der Volkssouveränität unabweisbar, wenngleich beide Begriffe keineswegs deckungsgleich sind. Historisch war jedoch für viele Verfassungsstaaten, eben auch für Deutschland, der Übergang zur Republik mit einer durchgreifenden Demokratisierung verknüpft – mit der Folge, dass neben dem sich durchsetzenden Demokratieprinzip der Republikbegriff allmählich zum „verfassungsrechtlichen Fossil“ (Isensee 1981: 1) wurde.

Das Republikprinzip im Grundgesetz

Damit muss zum republikanischen Prinzip jedoch längst nicht alles gesagt sein. Auf der Suche nach einer tiefergehenden Bedeutung lohnt sich zunächst ein zweiter Blick in das Grundgesetz. Hier findet sich der Begriff „Republik“ u. a. in den Artikeln 20 Absatz 1, 21 Absatz 2 und in Artikel 28 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz. Im zuletzt genannten Artikel wird festgelegt, dass auch die verfassungsmäßige Ordnung der Länder den Grundsätzen des republikanischen Rechtsstaats entsprechen muss. Etwas versteckt, gleichwohl ein wichtiger „republikanischer Textbaustein des Grundgesetzes“ (Gröschner 2004: 406), ist die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ der Artikel 10 Absatz 2, 11 Absatz 2, 18 und 21 Absatz 2 Grundgesetz. Das Wort „freiheitlich“ steht an diesen – und anderen4 – Stellen für sich und ist nicht etwa mit „demokratisch“ untrennbar verbunden. Denn sie gewinnt hieraus eine eigenständige Bedeutung als „freiheitliche Ordnung“, welche nur die Republik bieten kann. Freiheit und Ordnung bleiben im republikanischen Verständnis in dem Sinne aufeinander bezogen, dass „alle Ordnung einen Freiheitsaspekt und jede Freiheit einen Ordnungsaspekt hat“ (Gröschner 2004: 411). Die republikanisch interpretierte Freiheit ist somit auf einen freiheitssichernden Ordnungsrahmen angewiesen; zugleich aber auch einschränkbar dort, wo es vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls verlangen. Diese vernünftigen Erwägungen orientieren sich keineswegs an einer positiven Bestimmung des Gemeinwohls (das keiner genau definieren kann), vielmehr im Sinne einer „regulativen Idee“ (Fraenkel 1960: 61) z. B. an der Gefahr, die von einer exzessiven Wahrnehmung individueller Freiheiten für „überragend wichtige Gemeinschaftsgüter“ ausgehen kann5. Worum es also beim Republikprinzip des Grundgesetzes geht, ist nichts weniger als die Optimierung des Komplementärverhältnisses zwischen (individueller) Freiheit und (gemeinsamer) Ordnung.

Der Bedeutung dieser Zweckbestimmung des Republikprinzips entspricht es jedenfalls, dass es zu den grundlegenden „Staatsstrukturnormen“ gehört, die nach der „Ewigkeitsgarantie“ in Artikel 79 Absatz 3 Grundgesetz sogar gegen eine Abschaffung durch den verfassungsändernden Gesetzgeber geschützt werden. Insofern gehört das Republikprinzip also zum Kern der verfassungsrechtlichen und politischen Selbstdefinition Deutschlands. Das Bewusstsein für diese grundlegende Bedeutung geht verloren, wenn es im engeren formalen Sinne so interpretiert wird, dass das Republikprinzip lediglich ein demokratisches Staatsoberhaupt (auf Zeit6) verlangt, welches – im speziellen Fall der Bundesrepublik – das Gemeinwesen vor allem repräsentieren muss und ansonsten nur wenig politische Macht besitzt. Von Relevanz ist die Beschäftigung mit der Staatsform aus dieser Perspektive lediglich dann, wenn das republikanische Staatsoberhaupt nicht auf rein zeremonielle Funktionen beschränkt bleibt, es also zu institutionellen Besonderheiten bei der Organisation der doppelten staatlichen Exekutive kommt. In den parlamentarischen Monarchien ist diese Beschränkung immer gegeben, während in den Staaten mit republikanischem Staatsoberhaupt dieses auf die Regierungspolitik mehr oder weniger starken Einfluss nehmen kann. Entscheidend ist dann die Regierungsform der Republik – vor allem die Organisation der doppelköpfigen Exekutive. So steht z. B. die Republik Frankreichs für ein Regierungssystem mit einem äußerst mächtigen Präsidenten, während in der Bundesrepublik die Kompetenzen des Staatsoberhauptes aufgrund der Weimarer Erfahrungen weitgehend beschnitten worden sind. Aus dem Bekenntnis zum republikanischen Prinzip alleine kann also nicht gefolgert werden, wie die Exekutive organisiert und wie deren Verhältnis zur Legislative ausgestaltet ist.

Warum die Republik mehr bedeutet als „Nicht-Monarchie“

Weitere Bedeutungen des republikanischen Prinzips erschließen sich, wenn es im weiteren Sinne, d. h. hier von seiner materiellen Seite her, mit Verfassungsstaatlichkeit oder freiheitlicher Demokratie gleichgesetzt wird und darüber hinaus noch die soziale Dimension von (demokratischer) Staatlichkeit in den Blick genommen wird. Lädt man den Begriff der Republik mit diesen Inhalten auf, verliert er zwar an Konturenschärfe gegenüber anderen Staatsorganisationsprinzipien und auch gegenüber den ihnen jeweils zugrundeliegenden spezifischen Denktraditionen der politischen und rechtlichen Ideengeschichte. Staatsrechtlich-dogmatisch mag der Begriff dann tatsächlich wenig hergeben (Böckenförde 2004: 492), als komplexes verfassungstheoretisches Konstrukt verweist er jedoch auf eine sehr gehaltvolle Tradition und Verpflichtung derer, die in einem politischen Gemeinwesen Verantwortung tragen. Dieser republikanischen Verpflichtung waren sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes offensichtlich voll bewusst, denn im Plenum des Parlamentarischen Rates brachte Carlo Schmid als Generalberichterstatter die vorangegangenen Ausschussberatungen zum Namen, den der neue zu schaffende deutsche Weststaat bekommen soll, wie folgt auf den Punkt:

„Der Hauptausschuss schlägt Ihnen den Namen ‚Bundesrepublik Deutschland‘ vor. In diesem Namen kommt zum Ausdruck, dass ein Gemeinwesen bundesstaatlichen Charakters geschaffen werden soll, dessen Wesensgehalt das demokratische und soziale Pathos der republikanischen Tradition bestimmt: nämlich einmal der Satz, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, weiter die Begrenzung der Staatsgewalt durch die verfassungsmäßig festgelegten Rechte der Einzelperson, der Gleichheit aller vor dem Gesetz und der Mut zu den sozialen Konsequenzen, die sich aus den Postulaten der Demokratie ergeben“ (Parlamentarischer Rat 1949: 172).

Mit einem rein formalistischen, lediglich auf die Staatsform im äußeren Sinne abstellenden Republikverständnis hat diese Äußerung Carlo Schmids, in der offensichtlich ein breiter Konsens der im Parlamentarischen Rat vertretenen politischen Positionen zum Ausdruck gebracht wurde, wenig gemein. Jedenfalls macht Carlo Schmids Zitat deutlich, dass die Republikfrage nicht mit der bloßen Ablehnung der Monarchie bereits beantwortet ist, sondern sich als politisches Ordnungsproblem erst richtig stellt. Gesucht wird also nach einem „großen empathischen Republikbegriff“ (Morlok/Michael 2013: 132), dem deutlich mehr Bedeutungsdimensionen zugeschrieben werden können als lediglich die formale Abkehr von der Monarchie.

Ideengeschichtliche Wurzeln

Die republikanische Tradition verweist zunächst auf die Herkunft des Begriffs der Republik, der aus dem Lateinischen (res publica) kommt und sich auf die „öffentliche Sache/Angelegenheit“ bezieht. Marcus Tullius Cicero (106 v. Chr.–43 v. Chr.) hat in seinem an den politischen Realitäten der römischen Republik angelegten Werk De re publica (Über den Staat) das Gemeinwesen zur Sache des Volkes gemacht (res populi, res publica) und das Gemeinwohl als wichtigstes Staatsziel definiert: Salus populi suprema lex esto – „das Wohl des Volkes sei das höchste Gesetz“. Gemeinwesen und Gemeinwohl sind ein Begriffspaar, das in der Idee der Republik bereits seit Aristoteles‘ (384 v. Chr.–322 v. Chr.) Plädoyer für die gemischte Verfassung untrennbar zusammengehört. Der republikanischen Interpretation einer Herrschaft für das Volk durch Ciceros Republiktheorie ist jedoch eine demokratische Deutung im Sinne einer Herrschaft durch das Volk noch völlig fremd (Isensee 1981: 3). So gesehen unterscheidet sich das Republikprinzip bei Cicero vom Demokratieprinzip noch sehr deutlich. Und doch ist der gedankliche Sprung vom republikanischen Appell an das Volk, sich die öffentliche Sache des politischen Gemeinwesens zu Eigen zu machen, zur Volkssouveränität nicht allzu weit. Die begriffliche Verbundenheit liegt jedenfalls auf der Hand (Hübner 1919: 18), wenn unter „Republik“ ein „Freistaat“ verstanden wird, „der die Staatsgewalt an die Verfassung bindet und auf der Volkssouveränität beruht“ (Schmidt 2011: 28). Nicht ohne Grund führten die meisten Länder des Deutschen Reiches von 1919 – das sich zwar offiziell nicht Republik nannte, sich als solche in Artikel 1 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung aber charakterisierte –, „Freistaat“ in ihrem Namen. Zwar wird hier der Begriff der Republik mit Bedeutungen aufgeladen, die gegenwärtig eher im Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip verortet werden. Dass alle Staatsgewalt vom Volke auszugehen habe, wird in aller Konsequenz nur vom Demokratieprinzip formuliert. Der Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür hingegen wird nach heutigem Verständnis vor allem vom Rechtsstaatsprinzip garantiert. Warum das alles aber auch so sein soll, kann – zumindest ideengeschichtlich – möglicherweise das Republikprinzip am besten erklären, denn es ist dieses Prinzip, das die Gemeinwohlverträglichkeit dieser demokratischen und rechtlichen Errungenschaften zugleich begründet und verlangt.

Unter dem Banner der Republik sind einige politische Theorien entwickelt worden, die sich sowohl von ihrer Problemstellung her als auch hinsichtlich ihrer Inhalte deutlich voneinander unterscheiden. Eine bis heute nachwirkende Deutung des Republikbegriffs stammt von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778). Der französische Philosoph hat die Bedingungen postuliert, die erfüllt sein müssen, damit der Staat dem Schutz der individuellen Freiheit dient. Seine Idee einer freien Gesellschaft gründet in der Voraussetzung, dass alle als Bürger den republikanischen Zusammenschluss wollen und ihre privaten Interessen den Forderungen des Gemeinwohls, dem Gemeinwillen, unterordnen (Rousseau 1762/1977). In der deutschen Geistesgeschichte hat Immanuel Kant (1724–1804) den Republik-Begriff als Gegenbild zur Despotie verwendet, um den Staat als „Freistaat“ und damit als Angelegenheit der Allgemeinheit und des Volkes herauszustellen. Kant verbindet im Übrigen in seiner Moralphilosophie die von aller Empirie gereinigte Idee einer solchen Republik mit der postulierten Freiheit vernünftiger Wesen, sich selbstgegebenen moralischen Gesetzen zu unterwerfen (Kant 1781/1998). Ähnlich wie bei Kant bildet später bei Konrad Hesse die Republik „den wahrhaften und freien Staat im Gegensatz zur Despotie, in der es nichts anderes gibt als die Willkür der Machthaber“ (Hesse 1995: 56).

Wohl zum ersten Mal in der politischen Ideengeschichte unternahm James Madison (1750–1836) im berühmten Paper No. 10 in den Federalist Papers (1788/2007) den Versuch, den Begriff der Demokratie von dem der Republik klar abzugrenzen. Nach seinem Verständnis könne eine „reine Demokratie“, verstanden als kleinteilige Versammlungsdemokratie, kein Mittel gegen das Übel der „Parteiung“ (faction) aufbieten, die Republik verstanden als eine (föderale) Regierungsform mit ausgebautem repräsentativen System hingegen schon. Sein Hauptargument lautet:

„Entweder muss verhindert werden, dass dieselben Leidenschaften oder Interessen zugleich bei einer Mehrheit entstehen, oder von solch gemeinsamen Antrieben beherrschten Mehrheiten muss es durch ihre große Zahl und die geographische Lage unmöglich gemacht werden, zu einer Einigung zu kommen und ihre Unterdrückungsabsichten in die Tat umzusetzen“ (Federalist Papers 2007: 97).

Sein Plädoyer für die großflächige und durch Interessenpluralismus gekennzeichnete Republik speist sich also aus der Sorge, dass die – kleinteilige – Demokratie zu leicht homogene Mehrheiten hervorbringt, die „Minderheiten unterdrücken und ihnen damit sowohl den Gebrauch der Freiheit wie den Anspruch auf politische Gleichheit streitig machen“ (Steffani 1980: 17 f.). Nach Madison wird jener Schutz der Freiheit des Individuums, zu dem sich seiner Auffassung nach vor allem die Republik eignet, noch durch das föderale Prinzip besonders gefördert.

Zwei Aspekte müssen aus heutiger Sicht bei Madisons Plädoyer für die Republik und gegen die Demokratie freilich beachtet werden: Zum einen entspricht Madisons Bild von der Demokratie zeitbedingt nicht dem modernen Verständnis von rechtsstaatlicher Demokratie. Zum anderen entspringen die von ihm postulierten konstitutionellen Beschränkungen der Staatsgewalt und der Schutz der Bürgerrechte vor der staatlichen Gewalt vorrangig doch eher der liberalen Denktradition. Zwar unterscheidet sich diese von der republikanischen Tradition in einigen wichtigen Punkten, doch erst in ihrer Verbindung mit dem Republikanismus zeichnet sich die politische Praxis funktionsfähiger westlicher Demokratien aus (Bellamy 2007). Mit den Federalist Papers hat jedenfalls der Republikbegriff – gerade durch die dort erfolgte Anreicherung höchst liberaler Ideen eines John Locke (1632–1704) – einen starken Bedeutungswandel erfahren, der bis heute nachwirkt. Vor allem sollte die weitere historische Entwicklung zeigen, dass Demokratie und Republik weit mehr verbindet als trennt, wenn das rechtsstaatliche Moment hinzutritt.

Demokratische und rechtsstaatliche Republik

Die Verbindung zwischen den später noch genauer zu untersuchenden Staatsorganisationsprinzipien „Demokratie“ und „Rechtsstaat“ ist aus der Perspektive eines normativ gehaltvollen – und wenn man so will: modernen – Republikanismus nicht von der Hand zu weisen bzw. wird erst aus dieser Perspektive klar erkennbar: Die Republik als „Freistaat“ muss, wenn sie das Bekenntnis zur Freiheit ernst nimmt, mit dem Demokratie- und mit dem Rechtsstaatsprinzip gleichermaßen untrennbar verbunden