Über die Autorin

Kathi-Wallace

 

Kathi (Kathleen) Wallace hatte bereits in ihrer Kindheit ein so ausgeprägtes Faible für Literatur, dass sie früh selbst zu schreiben begann.

Sie sagt: „Schreiben ist für mich wie eine Sucht. Ich stehe bereits morgens um 2:30 Uhr auf, ganz leise, damit mein Mann nicht aufwacht, mache mir eine Tasse Kaffee und beginne zu schreiben ... Die Befriedigung, die ich dadurch erlebe, dass ich eine komplette Welt mit allem Drum und Dran erfinde, ist mit nichts sonst zu vergleichen... Und wenn ich dann das fertige Buch in den Händen halte ... das ist zugegebenermaßen das Größte.“

Ihr erstes Jugendbuch „Assiniboin Girl“ wurde 2008 von Deena Fisher im Verlag Drollerie Press veröffentlicht, ihr zweites „Keeper of Memories“ 2010 von Dindy Robinson im Verlag Swimming Kangaroo.

 

Webseite (englischsprachig): http://kathi430.livejournal.com/

 

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Kapitel 10

 

Mary blinzelte verschlafen in das Morgenlicht, als sie aus dem Schlafzimmer kam.

Großmutter saß am Küchentisch und trank Tee. „Heute“, kündete sie ihr an, „wirst du eine Schwitzhütte bauen.“

Mary blieb der Mund offen stehen. „Was?“

„Ich habe letzte Nacht geträumt.“ Großmutter suchte sich eine bequemere Sitzposition und bedeutete ihr, sich auf den anderen Stuhl zu setzen.

Mary setzte sich, stützte ihr Kinn mit beiden Händen und machte sich auf längeres Zuhören gefasst.

„Ich sah einen Krieger auf einem großen weißen Pferd. Er kam zu mir und sagte: `Alte Frau, du machst dir Sorgen wegen eines Mädchens.´ Ich sah ihn an, und dann sein Pferd, und mir kam der Gedanke, dass ihn vielleicht Weiße Büffelfrau geschickt hatte. `Es ist wahr, was du sagst´, sagte ich ihm. `Mein Herz ist in Sorge. Dieses Mädchen ist zwar eine unseres Volkes, aber sie ist wie ein kleines Kind, das von nichts Ahnung hat´.“

Mary bewegte sich unruhig auf ihrem Stuhl. Großmutter hatte ausgerechnet die beiden Dinge erwähnt, über die sie mit Sue gestern gesprochen hatte: „Träumen“, und „Weiße Büffelfrau“. Sie hatte den Mund noch nicht ganz offen, als Großmutter die Hand hob. So schluckte Mary ihre Fragen wieder herunter und lehnte sich zurück, um weiter zuzuhören.

„Dann sprach der Krieger wieder. `Dieses Mädchen weiß nichts über ihr Volk. Ihr Geist ist gefangen.´ Ich wusste, dass er recht hatte. Ich sagte dem Krieger: `Wie kann der Geist in diesem Mädchen befreit werden?´`Sie muss beten. Lass sie eine Schwitzhütte bauen. Sie muss diese Schwitzhütte alleine errichten, damit Wankan Tanka sieht, dass sie stark ist, wenn er ihre Versprechen hört. Gib ihr heiligen Tabak, wenn sie betet, so dass der Rauch den Klang ihrer Gebete durch den Himmel zu Wankan Tanka trägt. Dann wird er ihren Geist befreien´.“

Großmutter klatsche einmal scharf in die Hände. Sie sah Mary erwartungsvoll an. Die wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und platzte mit dem ersten heraus, was ihr in den Sinn kam. „Dieses Mädchen? Weißt du, ich habe auch einen Namen!“

Großmutter runzelte die Stirn. „Genau das meine ich. Du hast keine Ahnung von deinem Volk und unserer Lebensweise. Es wäre für einen jungen Mann extrem unhöflich, den Namen eines Mädchens zu sagen. Der Krieger weiß das. Außerdem“, die alte Frau stand auf, „ist Mary nicht dein wahrer Name.“

„Nicht mein wahrer Name? Was soll denn das schon wieder heißen?“

„Ich weiß noch nicht, was dein wahrer Name ist. Dein wahrer Name sagt, was du tatsächlich bist,“ – die alte Frau lehnte sich über den Tisch und tappte Mary auf die Brust – „was du da drinnen, tief in dir selbst, bist." Sie legte den Kopf schief und sah Mary an. „Du glaubst doch wohl nicht, dass der Name Mary wirklich deinem inneren Selbst entspricht, oder? Und nun steh auf. Der Morgen ist schon halb vorbei.“

Mary sah die alte Frau beunruhigt an. „Warum? Was müssen wir tun?“

„Hast du mir nicht zugehört?“ Großmutter sah verblüfft aus. „Du wirst eine Schwitzhütte bauen.“

„Was ist das?“

„Ein Ort, an dem du schwitzen und beten wirst. Nur so kannst du deinen wahren Namen erfahren. Nun komm schon, steh endlich auf!“

„Ich hab keine Ahnung vom Bauen“, murrte Mary und zog sich missmutig hoch.

„Genau deshalb werde ich dich begleiten“, sagte die alte Frau ernst. Sie ging zum Ausgang. Vor den beiden Eingangsstufen hielt sie kurz inne, um sich eine schmale Axt zu nehmen, die an der Seite des Wohnwagens lehnte.

Offensichtlich blieb ihr keine Wahl. Mary trottete hinter ihr her und fragte sich, was die alte Frau wohl mit einer scharfen Axt anfangen wollte.

Die Frage bekam sie schnell genug beantwortet. Großmutter hielt geradewegs auf eine kleine Gruppe junger Bäumchen zu. Für jemand, der schon so alt ist, bewegt sie sich verflixt schnell, dachte Mary und unterdrückte ein Gähnen. Aber ich hätte einiges darum gegeben, wenn sie mit dieser Aktion bis nach dem Kaffee gewartet hätte.

„Heute wirst du nichts essen“, sagte Großmutter. „Und zu trinken gibt es nur Wasser. In dir darf nichts sein außer deinen Gedanken.“

Wieder hatte Mary den unheimlichen Eindruck, dass die Frau ihre Gedanken lesen konnte. Vielleicht war sie ja doch eine Hexe.

Die Bäumchen waren weiter weg, als es ausgesehen hatte. Sie brauchten eine Viertelstunde, um sie zu erreichen.

Mary hätte sich gerne ein paar Minuten ausgeruht, um wieder zu Atem zu kommen, aber Großmutter ließ keinerlei Ermüdungserscheinungen erkennen. Sie summte und untersuchte dabei einen Schössling nach dem anderen. In einige der Stämmchen schlug sie eine Markierung mit der Axt. Das Holz leuchtete hell unter der Rinde hervor. Nachdem sie acht Stämmchen derart gekennzeichnet hatte, überreichte sie Mary die Axt.

„Die musst du fällen.“

Mary nahm die Axt mechanisch, ohne nachzudenken. Die alte Frau ging ein Stückchen weg, setzte sich unter einen Baum und kramte Pfeife und Tabak aus ihrer Tasche. Als sie merkte, dass Mary zu ihr herübersah, winkte sie ungeduldig mit der Pfeife. „Fällen! Du musst sie fällen!“

Mary schüttelte verständnislos den Kopf und hob zögernd die Axt. „Ich hoffe nur, dass ich mir damit nicht ins Bein schlage,“ murmelte sie. Sie bückte sich leicht, packte ein Stämmchen und schlug mit der Axt zu. Der Schlag erschütterte ihren ganzen Arm bis hinauf zu ihrem Kopf, so dass ihre Zähne zusammenschlugen. Am Stämmchen war nur eine winzige Kerbe zu sehen. Mary sah aus den Augenwinkeln zu Großmutter herüber. Die alte Frau nuckelte zufrieden an ihrer Pfeife und würdigte sie keines Blickes. Mary biss die Zähne zusammen und versuchte es ein zweites Mal. Dieses Mal biss sich die Axt tief ins Holz. Das machte ihr Mut. Fünf weitere Hiebe, und das Bäumchen war gefällt. Sie richtete sich zufrieden auf. War doch nicht so schlimm, dachte sie und wandte sich dem nächsten Bäumchen zu.

Eine Stunde und sieben Bäumchen später hatte sie Blasen in den Handflächen und zwischen Daumen und Zeigefinger. Außerdem starb sie fast vor Durst. Ihr Haar war klatschnass vor Schweiß, der juckte und brannte, während er ihr langsam über den Rücken lief. Was würde jetzt kommen?

„Säubere die Stämme von den Ästen und bündele sie zusammen.“

Schon wieder dieses Gedankenlesen. Mary seufzte und machte sich an die Arbeit. Dieses Mal ging es sogar recht flott. Sie konnte mittlerweile mit der Axt umgehen, und die dünnen Stämmchen hatten ohnehin nur wenige Äste. Die acht Stämmchen legte sie zu einen wackligen Stapel zusammen. Wahrscheinlich würde sie die auch noch irgendwohin schleppen müssen. Wie oft sie wohl dafür laufen musste?

Großmutter schlug ihre Pfeife rasch und mehrmals gegen den Boden. Was das jetzt wohl gab? Die alte Frau hatte eine kleine Vertiefung in den weichen Boden gedrückt und klopfte nun den Inhalt ihrer Tabakpfeife hinein. Dann schob sie etwas Erde darüber, glättete sie, steckte die Pfeife zurück in ihre Tasche und stand auf. Langsam ging sie zu Mary, die neben den gestapelten Stämmchen wartete, und streckte wortlos die Hand nach der Axt aus. Mary gab ihr die Axt und sah zu, wie Großmutter zwischen die Bäumchen trat. Was machte sie dort bloß? Die alte Frau griff nach etwas auf dem Boden, was Mary nicht erkennen konnte, und zog daran. Endlich kam das etwas in die Höhe und entpuppte sich als eine Art geschlängelte Liane oder Ranke. Großmutter summte, während sie weiter daran zog und zerrte, bis sie ein Stuck von ungefähr zwei Metern Länge freigelegt hatte, und schlug es dann mit der Axt ab. Das Ganze wiederholte sie, bis sie eine ganze Handvoll der zähen Ranken in der Hand hielt. Dann kam sie zurück und band mit diesen Ranken die Stämmchen zusammen, immer an Stellen, an denen Mary Äste abgeschlagen hatte, so dass die Rankenschnur nicht verrutschen konnte. Ein paar Ranken blieben übrig. Daraus flocht sie eine Art Seilring, den sie durch die Ranken zog, die die Stämmchen zusammenhielten. Das offene Ende des Rankenrings hielt sie Mary hin. „Hier, zieh damit“, sagte sie.

Wider Willen war Mary beeindruckt von der Findigkeit der alten Frau. Sie packte das Rankenseil und neigte fragend den Kopf. „Wohin jetzt?“

Großmutter machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Sie marschierte einfach los, allerdings nicht in Richtung des Wohnwagens, wie Mary gedacht hatte. Mary schüttelte irritiert den Kopf. Dann zog sie probehalber an den Bündel Stämmchen. Schwer, aber nicht zu schwer. Sie würde es bewegen können.

 

Es dauerte nicht lange, bis die stechende Sonne sie richtig ins Schwitzen brachte. Schweiß rann ihr in die Augen und brannte in all den kleinen Rissen und Blessuren, die sie sich beim Schneiden der Stämmchen zugezogen hatte. Zwischen ihren Schulterblättern hatte sich ein dumpfer Schmerz eingenistet, und auch ihre Armmuskeln schmerzten. Mary musste mehrere kleine Pausen einlegen, nur kurz, gerade lange genug, um das Rankenseil aus einer Hand in die andere zu wechseln.

Nach einer halben Ewigkeit kamen sie endlich ans Ziel. Mary hatte so intensiv auf den Boden geschaut, um den besten Weg für ihre Last zu finden, dass sie unversehens Großmutter zusammenstieß, als diese anhielt. Ups! Mary stolperte zurück und wäre fast hingefallen, wenn Großmutter nicht ihren Arm geschnappt und sie festgehalten hätte.

„Danke!“, murmelte das Mädchen.

Mikusi schüttelte nur den Kopf, als ob sie sagen wollte, dass sie nichts anderes erwartet hatte als solche Tolpatschigkeit.

Mary ignorierte die unterschwellige Beleidigung und sah sich um. Gott, war es schön, das Rankenseil fallen lassen zu können! Geistesabwesend rieb sie ihre wunden Finger, nur um sofort innezuhalten. Sie hatte gar nicht realisiert, wie viele wunde Stellen sie dort hatte. Sie inspizierte ihre Hände und bewegte die Schultern, um die verkrampften Muskeln etwas zu lockern. Dann runzelte sie die Stirn. Vorn irgendwoher hörte sie leises Wasserplätschern. Mary schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die grelle Sonne ab und sah umher, um die Quelle dieses Plätscherns zu finden. Die Gegend hier war ziemlich flach und uniform. Nur zu ihrer Linken konnte sie eine auffällig dichte Ansammlung von Bäumchen sehen. Sofort erinnerte sie sich an Sues Worte: „Daran wirst du immer erkennen können, wo Wasser ist. Nur am Wasser wachsen sie so dicht beisammen.“

„Wir sind nahe am Fluss!“, sagte sie, ausgesprochen zufrieden mit sich selbst.

„Sehr gut!“ Großmutter nickte anerkennend. „Du lernst bereits.“

Mary überlegte kurz, wo jetzt der Wohnwagen sein musste, und drehte sich in die Richtung. Ja, dort hinten reflektierte das Aluminiumgehäuse die Sonne.

Großmutter berührte sie am Arm und deutete auf die Bäume. „Trink!“

„Wo?“, fragte Mary verblüfft und sah sich suchend um. Hatte Mikusi irgendwo bei den Bäumen eine Wasserflasche deponiert?

„Vom Fluss“, sagte Großmutter geduldig. „Wo sonst?“

„Vom Fluss?“, wiederholte Mary ungläubig. „Das soll wohl ein Scherz sein? Die Fische scheißen dort hinein!“

Die alte Frau hob lediglich ihre Augenbrauen, bevor sie in Richtung der Bäume weiterging, und bemerkte trocken: „Dann bleibst du eben durstig. Ich bin heute lange gelaufen und denke, ich will jetzt etwas trinken.“

Mary trottete hinterher und fragte sich, ob Mikusi wirklich aus dem Fluss trinken wollte, oder ob das irgendein Trick war.

Aber es war kein Trick. Hinter den Bäumen lief tatsächlich der Fluss entlang. Vor ihren Augen kniete die alte Frau sich am Flussufer nieder und schöpfte mit der einen Hand Wasser, während sie sich mit der anderen abstützte. Mikusi schien den Trunk ausgesprochen angenehm zu finden und schöpfte noch einige Male mehr. Mary schluckte. Das Wasser funkelte in der Sonne. Es sah herrlich erfrischend aus. Sie schob sich näher heran. Alleine zuzusehen, wie jemand trank, machte ihren eigenen Durst fast unerträglich.

Großmutter stand auf, wischte sich mit der Hand über den Mund und schaute dann zum Himmel hinauf, während sie etwas auf Nakota sagte.

„Was machst du da?“, fragte Mary, deren Neugier den Durst übertönte.

„Ich danke Wankan Tanka dafür, dass er dieses gute Wasser dorthin gelenkt hat, wo ich es brauchte.“ Ein listiger Blick trat in die Augen der alten Frau. „Es ist sehr gutes Wasser aus den Bergen, kalt und frisch.“

Mary musste wieder schlucken. Dann gab sie ihrem Durst nach, ignorierte Großmutters Schmunzeln und ging rasch ans Ufer. Vermutlich werde ich mir Parasiten einfangen, aber zumindest sterbe ich nicht vor Durst.

Das Wasser war wirklich kalt. Mary reinigte erst einmal ihre Hände. Das leichte Stechen darin ging rasch zurück, als das Wasser darüber strömte. Dann schöpfte sie mit den hohlen Händen Wasser und trank, bis sie das Gefühl hatte, ihr würde gleich der Bauch platzen. Das Wasser schmeckte überraschend gut. Mary hatte irgendwie eher einen schalen oder modrigen Geschmack erwartet.

Sie fühlte eine sanfte Berührung an der Schulter. Es war Großmutter. „Du musst ein wenig ausruhen, damit das Wasser in dir sich beruhigt.“ Mikusi schaute mit amüsiert funkelnden Augen auf Mary herab. „Das war eine ganze Menge Wasser.“

Mary sah der alten Frau nach, als sie ein Stückchen weiter ging, und schüttelte verwundert den Kopf. Sie hat mich richtig hereingelegt, dachte das Mädchen, und gleichzeitig begriff sie, dass es ihr nichts ausmachte. Sie grinste und legte sich gemütlich ins Ufergras. Eine Hand tauchte sie in das strömende Wasser.

Ob meine Familie auch hierher gekommen ist? Entgeistert schoss Mary wieder hoch. Sie hatte tatsächlich nicht mehr an ihre Eltern gedacht, seit ... schnell überlegte sie – seit sie aufgewacht war! Das war die längste Zeit seit dem Unfall, die nicht von ihrem Trauma überschattet worden war. Irgendwie fühlte sie sich gleichzeitig erleichtert und schuldig deswegen. Sie blieb eine ganze Weile an Ort und Stelle sitzen, zusammengesunken, überwältigt von plötzlicher Trauer, kaum fähig, die Tränen zurückzuhalten. Ihre Gefühle standen in starkem Kontrast zu diesem fröhlichen Ort, der von Wasserplätschern und Vogelgesang erfüllt schien. Mit diesen Geräuschen waren ihre Eltern aufgewachsen. Plötzlich begriff Mary, dass ihre Eltern nicht gewollt haben konnte, dass sie sich so in ihrer Trauer vergrub. Sie hatten ihre Tochter zu Lebzeiten immer fröhlich sehen wollen. Was sollte sich daran geändert haben?

So viele Leute hatten ihr genau das gesagt, selbst Steve, aber bis jetzt waren diese Worte für sie nicht mehr als leere Phrasen gewesen, von der Art, wie Leute sie benutzen, wenn sie wollen, dass du aufhörst zu trauern. So, als ob sie befürchten, deine Trauer könnte auf sie abfärben. Aber an diesem Ort waren ihre Eltern aufgewachsen, hatten gelacht, waren vermutlich schwimmen gegangen, hatten hier gespielt. Da bekam die Bemerkung, dass sie ihre Tochter bestimmt nicht unglücklich sehen wollten, eine vollkommen neue und andere Bedeutung.

Irgendwie war ihr das alles plötzlich zuviel. Mary schob diese Gedanken zurück, um sie zu späterer Stunde in Ruhe noch einmal zu überdenken, beugte sich vor und kühlte sich mit dem Flusswasser ihr überhitztes Gesicht.

Ein paar Minuten später ging sie zu Großmutter, die geduldig gewartet hatte. Nach einem prüfenden Blick in Marys Gesicht nickte die alte Frau. „Hier kannst du's bauen“, sagte sie, drehte sich dann um und ging zurück in Richtung Wohnwagen.

Mary starrte ihr verdutzt hinterher. Wieso wurde sie jetzt alleingelassen?

„Warte!“

Sie machte einen Satz und erwischte die alte Frau am Ärmel. „Was soll das? Ich soll bauen? Einfach so?“

Großmutter hielt inne und sah Mary an. „Danke, dass du mich daran erinnerst.“

Sie lehnte sich vor und flüsterte Mary ins Ohr: „Es wird schneller und einfacher gehen, wenn du ein Ende der Stämmchen etwas anspitzt, bevor du sie in den Boden steckst.“

Dann trottete die alte Frau unter wildem Kichern davon. Genau wie eine Hexe, dachte Mary.

Spirit Girl

Kathleen Wallace


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Copyright © 2009 Kathleen Wallace

Zuerst veröffentlicht durch Kettlestitch, einem Imprint der DrolleriePress, 2009

1.deutsche Auflage: Assiniboin Girl, Machandel Verlag 2014

Neuauflage unter geändertem Titel Spirit Girl, Machandel Verlag 2016

ISBN 978-3-95959-039-6


Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Erlaubnis der Autorin darf nichts aus diesem Buch vervielfältigt und anderweitig verbreitet werden.

Dieses Buch ist Fiktion. Namen, Personen, Orte und Begebenheiten entstammen alleine der Fantasie der Autorin. Mögliche Ähnlichkeiten zu realen Organisationen, Ereignissen, Orten und lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig.



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Kapitel 21

 

Als Mary bei dem Wohnwagen ankam, saß Großmutter auf der Couch. Neben ihr auf dem Boden stand ein Koffer,

„Was ist los?“, fragte Mary.

„Wir fahren nach Georgia“, gab Großmutter zurück.

„Jetzt gleich?“

Großmutter schüttelte den Kopf. „Morgen. Frank wird uns zum Flughafen bringen.“ Sie stemmte sich hoch, deutlich mehr wieder ihr altes Selbst als letzte Nacht. Mary war froh darüber. „Ich werde die Nacht allerdings nicht hier in dem Wohnwagen verbringen.“

„Eh?“ Mary war verwirrt. „Wo wollen wir denn hin?“

„Nicht wir, Cinja. Ich.“

„Was meinst du damit?

Großmutter seufzte. „Ich muss ein wenig umhergehen und nachdenken, bevor wir nach Georgia fahren.“

„Aber wirst du dann nicht während der Fahrt müde sein?“

Großmutter lachte kurz auf und verwarf die Bemerkung mit einer Handbewegung. „Ich werde schon bald für immer schlafen. Eine Nacht ohne Schlaf ist für eine alte Frau wie mich keine Schwierigkeit.“

„So darfst du nicht reden!“ Mary legte der alten Frau eine Hand auf den Arm. „Ich brauche dich.“

„Keine Angst. Ich werde dich nicht eher verlassen, als bis du für dich selbst sorgen kannst.“ Großmutter sah Mary mit verschleiertem Blick an. Mary fühlte sich kein bisschen beruhigt. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass die Worte der alten Frau eine unterschwellige zusätzliche Bedeutung hatten.

Großmutter nahm den Stab auf, der an der Wand lehnte, und verließ den Wohnwagen.

„Mary!“

„Ja?“ Mary ging zur Tür. Vielleicht hatte Mukusi ihre Meinung geändert und wollte nun doch ihre Gesellschaft.

„Der Eintopf, der war sehr gut.“

Mary sah ihr nach, als die alte Frau wegstampfte. Sie schüttelte den Kopf, Die Bewegung machte ihr bewusst, dass ihr Kopf schmerzte. Das kommt sicher von all dem Weinen. Vielleicht brauche ich wirklich ein bisschen Schlaf, ganz wie Joseph es gesagt hat. Unwillkürlich fragte sie sich, wie es dem kleinen Jungen wohl ging. Ich hoffe, es war wirklich nur eine Erkältung, dachte sie. Kleine Kinder waren ihr immer noch ein Rätsel, inklusive der diversen Krankheiten, die sie sich immer einfingen. Mary schüttelte den Gedanken ab, ging in ihr Schlafzimmer, ließ sich auf das Bett fallen und schlief prompt ein, obwohl es erst Mittag war.

 

***

 

Am letzten Tag ihrer Reise begann Mapiyas Kopf zu schmerzen. Sie bereute die Tatsache, dass sich nichts von der Weidenrinde für sich zurückbehalten hatte. Selbst wenn man nur die abgeschälten Zweige kaute, half das bereits bei Kopfschmerzen. Aber dann erinnerte sie sich an den Ausdruck in Sa-rahs Augen, und daran, wie sehr das kleine Mädchen sie an Chumani erinnert hatte. So ein bisschen Kopfschmerz kann ich doch aushalten.

Den Abend vorher im Schlafcamp war jedermann unruhig gewesen. Die Männer wollten auf dem Nachhauseweg keine Zeit verlieren, und so hatte es statt Jagd und frisch gekochtem Essen nur Trockenfleisch gegeben. Mapiya stellte sich das leuchtende Gesicht ihrer Mutter vor, wenn sie ihr den wertvollen Kochtopf und die Nadeln präsentierte. Ihr Vater würde seine Zufriedenheit nicht offen zeigen, die Männer zeigten selten starke Emotionen, aber sie wusste, er würde trotzdem froh sein. Und erst ihre kleine Schwester Chumani, wie sie die Süßigkeiten genießen würde!

Mapiya lächelte, als sie an ihre kleine Schwester dachte und daran, wie sehr sie sie vermissen würde, wenn sie heiratete und von zu Hause auszog. Nicht das erste Mal dachte sie, wenn ihr Zukünftiger ein guter Jäger und Versorger wäre, könnte sie ihn fragen, ob er Chumani als Zweitfrau nehmen würde, wenn sie ihre Zur-Frau-werden-Zeremonie hinter sich hatte. Dann würden sie für immer zusammenleben können. Der Gedanke erfreute ihr Herz, und Mapiya rückte ihr Bündel zurecht, senkte ihren schmerzenden Kopf und ging weiter.

 

Etliche Stunden später kamen die Tipis endlich in Sicht. Einer der kleinen Jungen begrüßte sie mit lautem Ruf. Sofort rannte ihnen eine ganze Horde Kinder entgegen, tanzte um sie herum und löcherte die Reisenden mit Fragen.

Mapiya hielt den Kopf gesenkt. Er schmerzte jetzt sehr, und sie befürchtete zudem, Fieber zu haben. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob nicht vielleicht ein böser Geist den Körper des kleinen Mädchens im Fort besessen hatte. Möglicherweise ist dann der Geist in mich gefahren, als ich das Mädchen berührt habe! Als ihr die Erinnerung an die eiternden Schwären kam, lief es ihr kalt über den Rücken.

Ihre Mutter stand draußen vor dem Tipi und hielt sich eine Hand schützend über die Augen, um die näherkommende Gruppe gegen die Sonne sehen zu können. Chumani quietschte vor Freude und rannte zu Mapiya. Sie sprang ihr förmlich in die Arme, absolut sicher, dass ihre ältere Schwester sie auffangen würde. Mapiya umarmte sie fest und knuddelte sie. „Ich hab dich vermisst, Cinja, als ich weg war“, sagte sie ihr.

„Mapiya, du bist heiß!“ Chumani löste sich aus der Umarmung und sah in das Gesicht ihrer älteren Schwester hinauf, „Und was ist das?“ Sie berührte einen kleinen roten Flecken auf Mapiyas Lippen.

Mapiya setzte ihre Schwester schnell ab und zog den halblangen Ärmel ihres Kleides hoch, um panisch ihren Arm zu begutachten, auf dem noch mehr Flecken zu sehen waren. Mapiyas Eltern kamen herüber. Auf beider Gesichter stand Sorge. Takchawee nahm die Hand ihrer Tochter. „Mein Kind, was fehlt dir? Was sind das für Flecken an dir? Und wie fiebrig du bist!“

 

Der böse Geist war in das Dorf gekommen.

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Kapitel 1

 

Mary Two Dogs drückte ihre Bücher fester an sich und zog den Kopf ein. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte. Ob sie sich noch aus dem Staub mache konnten, bevor die beiden sie sahen? Und wenn nicht, dann musste sie eben auf etwas Glück hoffen. Vielleicht kam sie ja wenigstens diesmal ungeschoren davon.

Wie sehr hatte sie gehofft, dass sie wenigstens in den Schulferien von ihren Peinigern verschont blieb. Tja, das war wohl ein Irrtum gewesen.

„Riechst du das auch, Amber?“

Die verhasste Stimme ließ ihr das Herz in die Hosen sacken.

„Irgendwie riecht es hier plötzlich nach Hundescheiße!“

Der schäbige, vielfach geflickte Gehweg fühlte sich rau an unter ihren Füßen. Schlaglöcher, aus denen kleine Steinchen quollen, drückten gegen die dünnen Schuhsohlen. Tränenblind setzte sie ihren Fuß auf eine unebene Stelle. Der Splitt rutschte weg, und sie verlor das Gleichgewicht. Instinktiv streckte sie die Hände aus, um sich abzufangen. Die Bücher flogen in hohem Bogen durch die Luft und prallten mit einem unheilvoll reißenden Geräusch auf den Boden. Ihre rechte Hand landete mit voller Wucht in einer Glasscherbe. Ein stechender Schmerz raste durch ihren Handballen. Mary japste entsetzt auf.

„Ja, Cissy, ich kann`s auch riechen!“ Mehrstimmiges Gekicher. „Ich glaube, das kommt von dieser tollpatschigen Töle, die da drüben auf dem Boden liegt.“

Mary richtete sich mit ihrer unverletzten Hand auf. Sie wagte nicht, den Kopf zu heben, als sie verstohlen nach ihren Büchern Ausschau hielt. Ignorier sie, sagte sie sich selbst. Ignorier sie einfach. Such die verdammten Bücher, und dann verschwinde von hier, so schnell wie möglich.

Schritte kamen näher. Ein roter Tennisschuh schob sich in ihr Blickfeld.

Mary hob langsam den Kopf. Im Stillen verfluchte sie die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Von ihrer Hand tropfe Blut, sie konnte hören, wie es mit einem satten „Plopp“ zu Boden fiel.

Direkt vor ihr standen zwei Mädchen mit langem blonden Haar, die blauen Augen funkelnd vor Bosheit. Die eine, Cissy, stieß Mary hart eine Hand in die Rippen. „Hey, Rothaut! Warum weinst du? Es heißt doch, ein Indianer kennt keinen Schmerz!“

Ihre Mittäterin riss die Augen in gespielter Überraschung auf, hielt die Hand vor den Mund und kicherte hämisch.

„Oh, ich vergaß ganz. Das gilt natürlich nur für Krieger. Squaws sind wehleidiger, nicht wahr?“, höhnte Cissy. Ganz offensichtlich machte es ihr einen Riesenspaß, Mary zu quälen.

Das zweite Mädchen, Amber, hatte genug. Sie versuchte, ihre Freundin wegzuziehen. „Lass gut sein, Cissy. Sieh doch, sie ist verletzt. Lass sie in Ruhe!“

Mary fühlte, wie ihr die Tränen erneut hochstiegen, diesmal aber vor Dankbarkeit. Amber war längst nicht so schlimm wie Cissy und ihre zweite Freundin. Irgendwie hatte Mary immer das Gefühl gehabt, dass Amber die ganzen Gemeinheiten nur mitmachte, weil die anderen beiden sie dazu anstifteten.

„Blödsinn“, sagte Cissy kalt. „Mein Dad sagt immer, die fühlen nicht dasselbe wie normale Menschen. Sind halt nur dreckige, stinkende Indianer.“

Mary hatte das dringende Verlangen, den Kopf zu schütteln, um den Klang dieser hasserfüllten Worte aus den Ohren zu bekommen. Sie wandte den Blick ab. Ah! Da lagen ja ihre Bücher!

Vorsichtig schob sie sich in die Richtung. Sofort versperrte Cissy ihr den Weg. „Was glaubst du eigentlich, wohin du gehst, Rothaut?“

Mittlerweile war Amber richtig nervös geworden. Sie zerrte an Cissys Ärmel. „Lass sie doch endlich! Sie blutet!“

Mary starrte Cissy in die Augen. Ihr Magen verknotete sich vor Angst. Eigentlich wollte sie sich verteidigen, aber wie immer, wenn sie sich fürchtete, war ihr Mund staubtrocken und ihr Hirn unfähig, einen brauchbaren Satz zu formulieren. Unsicher trat sie einen Schritt zurück.

Cissys Hand schoss vor und schlug hart gegen ihre Schulter. Mary stolperte zurück, versuchte wild fuchtelnd das Gleichgewicht zu halten. Ein paar Bluttropfen von dem Schnitt in ihrer Hand flogen dem blonden Mädchen genau ins Gesicht.

„Ekelhaft!“ Cissy wischte sich mit angewiderter Miene das Gesicht ab und funkelte sie drohend an. Amber kramte hastig in ihrer Schultasche und holte ein Taschentuch heraus. „Hier!“, sagte sie und reichte es Cissy.

Mary nutzte den günstigen Augenblick, umrundete das Paar und schnappte sich ihre Bücher. Natürlich waren ein paar Seiten zerrissen, wie konnte es auch anders. Mary stöhnt auf. Jetzt würde sie zu allem Überfluss auch noch die Bücher bezahlen müssen. Sie hielt die Bücher mit der unverletzten Hand, streckte die andere von sich weg, um nicht noch mehr Blut auf ihre Kleidung zu kriegen, und machte, dass sie wegkam.

Cissy brüllte wütend hinter ihr her. „Jetzt krieg ich womöglich auch noch AIDS! Ich werd das meinem Vater sagen! Du wirst schon noch sehen, was du davon hast!“