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Die Putze von Asgard

Anthologie

Hrsg. Ch.Erpenbeck



Gewidmet all den fleißigen Heinzelmännchen im

Hintergrund und Untergrund,

ohne die wir in einem Berg von Dreck und Müll

ersticken würden.


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©Machandel Verlag 2016

Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

Cover-Bildquelle: Crystal Home /www. Shutterstock. com

Haselünne

2016

ISBN 978-3-95959-037-2

Bildquellen

Das Schweigen der Schrupfköpfe : shockfactor / SlipFloat
Verflixter Staub : Kazakova Maryia
Das Match : Memo Angeles
Fenrir Rotbart : Azuzl / Christos Georghiou
Der Staubgeist : Linda Brotkorb
Eine saubere Lösung : sababa66
Kammerjäger : Den Zorin / yavi
Katzennetz : Artex67
Die Putze von Asgard : Julia Waller / Ihnatovich Maryia

 

alle Bilder stammen von www.shutterstock. com

 

Die Putze von Asgard

Tina Skupin

asgard.


Rund um die Götterfeste Asgard erstreckt sich die Ebene von Ida. Soweit das Auge blickt, findet sich keine Spur von Leben, kein Halm und kein Baum. Dort auf der Ebene bereiten sich die Krieger auf Ragnarök vor, die große Schlacht am Ende der Zeiten. Jeden Morgen bei Sonnenaufgang öffnet sich das große Portal von Asgard, und die Krieger stürmen hinaus. Sie kämpfen jeder gegen jeden, alle gegen alle, fallen, zerstückeln einander, und ihr Blut rinnt in Strömen über die nackten Steine. Doch wenn des Abends die Sonne hinter dem Horizont sinkt, erheben sich die Männer, unverletzt, ihre abgeschlagenen Gliedmaßen nachgewachsen, und kehren nach Asgard zurück, um in der Walhalla, der Siegeshalle zu zechen und zu feiern. Die Ebene von Ida bleibt als Schlachtfeld zurück.

Und was denken Sie wohl, wer aufräumen darf?

„Freya, Svala, Halldis: Ganz nach hinten! Und vergesst nicht wieder die Bottiche! Zuerst den Müll einsammeln und zum Feuer bringen. Ich werde das Gelände später inspizieren, und Gnade euch Odin, wenn ich wieder Fingerkuppen finde, so wie gestern“, donnerte Helga.

Halldis stimmte in das Gemaule ihrer Kolleginnen mit ein, wohl wissend, dass Helga sie ignorieren würde.

„Ganz nach hinten. Ist ja mal wieder klar! Wir haben wie immer den weitesten Weg“, schimpfte Svala und griff nach dem riesigen Bottich, in dem drei Krieger Platz gefunden hätten. Halldis wollte nach dem anderen Henkel greifen, doch Freya kam ihr zuvor.

„Lass mal, Halldis! Du musst schließlich den 'Räumer des Schlachtfelds' tragen“, sagte sie und wies lachend auf Halldis' Besen. Die berühmtesten Waffen Asgards trugen eigene Namen, so wie Thors Hammer Mjolner. Spaßeshalber hatten die Putzfrauen deshalb auch Halldis' Besen einen Namen verliehen. 'Der Räumer des Schlachtfelds' war dreimal so schwer wie die anderen Besen, dazu krumm und schief und so unhandlich, dass Halldis dauernd darüber fiel.

Sie schulterte den Besen und wäre beinahe nach hinten übergekippt. Schnell beugte sie sich nach vorne, um das Gewicht des Besens mit ihrem Körper auszugleichen.

„Kommst du, Halldis?“, rief Svala ihr zu.

„Schon unterwegs!“, antwortete Halldis und stapfte hinter den anderen Frauen her.

Sie mussten fast eine Viertelstunde laufen, bis sie am Ende ankamen. Mittlerweile war die Sonne ganz untergegangen, und der volle Mond stand am Himmel. Das weiße Licht fiel auf eine Szene aus einem Alptraum. Abgeschlagene Arme und Beine lagen in Blut, das sich in kleinen Senken zu Pfützen sammelte. Schwärme von Raben kreisten am Himmel, aufgeregt kreischend, als die Frauen unter ihnen passierten. Sobald sie Freya erblickten, stürzten sie sich mit ausgestreckten Krallen auf sie. Halldis erschauderte. Freya mit ihrem frischen, jungen Gesicht und ihrer freundlichen Art gegenüber jeder Kreatur war von einer eifersüchtigen Hexe verflucht worden, dass die Raben sie verfolgen würden, wohin sie auch ginge, und dieser Fluch hing ihr selbst nach ihrem Tod an.

„Nein, hört auf“, hörte Halldis Freya schreien. „Nicht alle auf einmal. Ja, Krull, du wirst natürlich auch gekrault. Julka, lass deinen Bruder in Ruhe.“ Die Raben drängten sich um Freya, jeder wollte in ihre Nähe. So hatte die Hexe sich das wohl nicht vorgestellt. Schließlich rief Freya lachend „Genug“.

Die Raben hüpften von ihrer Schulter und landeten vor ihr, sie gespannt ansehend.

„Wollt ihr mir helfen?“, fragte Freya, und die Raben schnatterten beifällig durcheinander wie eine Gruppe Kinder.

„Dann mal los! Aber ihr dürft nichts übersehen. Ihr wisst ja, wie Helga ist.“

Eifrig schwangen sich die Raben in die Lüfte.

„Es sieht wohl aus, als könnten wir nun erst einmal rasten“, sagte Svala neben Halldis.

Die Raben stießen auf das Feld hinab, und schnappten nach den liegengebliebenen Körperteilen. Einige verschlangen sie unter lautem Krachen. Die übrigen Teile trugen sie herbei und warfen sie unter Freyas Applaus in den Bottich.

Gerade schleppten drei Raben gemeinsam ein ganzes Bein heran. Die Frauen ließen sich auf einem Flecken Boden nieder, der wie durch ein Wunder frei von Blut geblieben war. Halldis stolperte über ihren Besen und fluchte.

„Halldis, was ist denn los?“, fragte Freya.

„Dieser elende, dreimal verfluchte Besen“, schimpfte Halldis.

„Wie lange ärgerst du dich jetzt schon über den 'Räumer des Schlachtfelds'? Dass du dir den immer noch gefallen lässt ...“

„Ein passender Name für dieses Monster. Ich frage mich, warum ihn noch niemand weggeworfen hat.“

„Weil Asgard niemals etwas wegwirft. Und so schlecht ist er doch gar nicht. Jetzt kehrt er doch sogar, nachdem du ihn neu gebunden hast“, bemerkte Svala.

„Ja, jetzt kehrt er wenigstens ordentlich. Wenn er nur nicht so unhandlich wäre!“, gab Halldis zu.

„Warte noch ein wenig, bis ein neues Mädchen kommt.“

„Was hat das damit zu tun?“

„Der Besen wird immer der Neuesten gegeben. Um zu sehen wie sie reagiert“, sagte Svala. „Vor dir musste ich mich mit dem Trumm abgeben.“

Halldis lächelte erleichtert, dann verfinsterte sich ihr Gesicht wieder.

„Was ist Halldis? Bist du nicht erleichtert, den 'Räumer des Schlachtfeldes' bald los zu sein?“

Halldis zuckte mit den Schultern. „Doch schon, aber weißt du – als ich mich als Junge verkleidete und meinem Bruder auf das Schlachtfeld folgte, um Ehre für unsere Familie zu erwerben ... “ Sie brach ab.

„Du hast nicht damit gerechnet, zu den Toten zu gehören?“, fragte Freya mitleidig.

„Ich habe nicht damit gerechnet, für den Rest der Ewigkeit Putzfrau spielen zu müssen“, seufzte Halldis. „Mein Bruder schlug drei Feinde, ich schlug sieben. Trotzdem sitzt er jetzt in der Walhalla und säuft, und ich bin hier draußen und muss die Sauerei von ihm und seinen Kumpanen wegräumen.“ Genauso, wie es daheim immer gewesen ist, schoss es ihr durch den Kopf.

„Aber du bist eine fabelhafte Putzfrau“, sagte Freya. Es sollte wohl aufmunternd wirken. „So wie du den Besen schwingst ...“

Halldis schnaufte nur. Ja, sie war eine fleißige Arbeiterin. Aber was brachte ihr das?

„Weißt ... weißt du denn schon, wann dein Bruder zurückkehrt?“, fuhr Svala mit ausdrucksloser Stimme fort.

„Weißt du das nicht besser?“

„Was meinst du?“, fragte Svala erschrocken.

Halldis lachte. „Du bist so leicht zu durchschauen.“

Die Angesprochene wurde feuerrot. „Woher weißt du?“

„Dass du hinter meinem Bruder her bist? Svala, du kannst nicht mal vom Frühstück berichten, ohne ein Drama draus zu machen. Wenn du so teilnahmslos nach einem Mann fragst, wissen wir, dass etwas im Busch ist.“

Die Frauen lachten, Svala am lautesten.

„Ja, du hast recht. Aber ich weiß nicht, wann er zurückkehrt. Er war sehr verschlossen. Hat er dir nichts gesagt, Halldis?“

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. „Natürlich hat er mir unter die Nase gerieben, dass er jetzt schon von Thor persönlich für eine Strafexpedition ausgewählt wurde, und was für eine tolle große Ehre das wäre, und wie gefährlich, mit all den Eisriesen in der Umgebung. Aber kein Wort, wie lange sie fortbleiben würden.“

„Mach dich nicht über ihn lustig. Es ist wichtig, was er tut. Sie halten jede Bedrohung von Asgard fern. Dafür verdienen sie unsere Bewunderung. Ohne ihren Einsatz könnte uns hier sonstwas passieren.“

Da hatte sie Recht. Die Frauen waren auf der Ida-Ebene ungeschützt. Es gab keine Wachen oder ähnliches für sie. Wenn sie draußen waren, waren sie auf sich allein gestellt.

Ein riesiger Rabe landete vor Freya und krächzte dreimal.

„Was, schon fertig? Richte den anderen unseren Dank aus, Hugin! Ihr habt euch heute selbst übertroffen!“, sagte Freya und tätschelte das metallisch glänzende Federkleid. Svala und Halldis wechselten einen Blick. Der Rabe war einer von Odins Boten und auf ganz Asgard gefürchtet.

„Was meinst du, was Odin sagen würde, wenn er das zu sehen bekäme?“, fragte Svala leise. Hugin hatte sich gerade auf den Rücken geworfen, um sich am Bauch kraulen zu lassen.

„Er wäre wohl nicht begeistert“, antwortete Halldis.

„Wenn wir das versuchen würden, wären wir unsere Finger los“, bemerkte Svala.

„Wohl eher die ganze Hand!“

„Komm, lass uns weitermachen! Ich will so schnell wie möglich fertig werden. Vielleicht kommt Ragnar ja wirklich heute nach Hause.“ Svala schien ihre Zurückhaltung endlich aufgegeben zu haben.

„Und du willst ihn nicht allein lassen?“

Svala schnaufte. „Diese blonde Ziege Tjara macht sich schon die ganze Zeit an ihn ran. Die denkt, sie wäre was Besseres, nur weil sie in der Halle den Kriegern einschenkt.“

Und damit war sie was Besseres. Die Schankmaiden, die Walküren, waren in Asgard höher angesehen, während die Putzfrauen zu den niedrigsten Dienern zählten, unter denen nur noch die Sklaven standen.

„Ich denke, er mag dich lieber“, sagte Halldis vorsichtig. Svala strahlte.

„Meinst du? Er hat gesagt, vielleicht könnte er ein gutes Wort für mich einlegen, so dass ich auch in die Halle komme.“

Halldis verzog das Gesicht.

„Was ist los, Halldis?“, fragte Svala.

„Ich dachte, du magst meinen Bruder um seiner selbst willen. Nicht, weil er dir eine andere Stelle verschaffen kann.“

„Ach, sei doch keine so dumme Gans!“, fauchte Svala und sprang auf. „Natürlich mag ich deinen Bruder auch. Aber willst du vielleicht für den Rest der Ewigkeit das Schlachtfeld putzen? Ich jedenfalls nicht.“

„Wenn ich hier wegkomme, schaffe ich das aufgrund meiner Taten, nicht wegen dem Mann in meinem Bett“, schrie Halldis und sprang ebenfalls auf. Die krächzenden Raben lieferten ein schauriges Echo ihrer Worte.

„Na, dann viel Erfolg damit!“, schrie Svala zurück und ließ Halldis stehen.

„Die Raben haben den Boden aufgeräumt. Wollen wir mal anfangen, zu wischen?“, fragte Freya leise. Halldis nickte und griff sich ihren Besen. Sie befeuchtete die Reiser und zog sie kräftig über die Blutlachen, die schon zu trocknen begannen. Freya tat neben ihr das gleiche. In einem Halbkreis arbeiteten sich die beiden Frauen über das Schlachtfeld.

„Das war wohl ziemlich gemein von mir, was?“, fragte Halldis nach einer Minute.

Freya zuckte mit den Schultern. „Du wünschst das Beste für deinen Bruder. Wer täte das nicht an deiner Stelle?“

„Aber du hättest Svala nicht so angeschrien.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Ich kenne Svala halt schon länger, und weiß, wie unglücklich sie ist. Ihre Mutter ist eine der Sturmbringerinnen, weißt du?“

Das hatte Halldis nicht gewusst. Die Sturmbringerinnen waren die Walküren, die nach der Schlacht unter den gefallenen Kriegern die Streiter für Asgard auswählten. In der Rangfolge der weiblichen Bewohnern Asgards standen sie damit an zweiter Stelle, direkt nach den Göttinnen.

„Warum ist Svala dann hier?“, fragte Halldis.

„Weil sie sich in den Falschen verliebt hatte“, antwortete Freya. „Und nun versucht sie, den Fehler wieder gutzumachen.“

... und den ihr zustehenden Platz wieder einzunehmen, dachte Halldis. Sie hatte Svala falsch eingeschätzt, hatte geglaubt, die andere wäre ein leichtes Mädchen. Dabei unterschieden sie sich gar nicht so sehr voneinander. Halldis beschloss, ihr Verhalten so schnell wie möglich wieder gutzumachen und ...

Ein Schrei unterbrach ihre Gedanken. Dies war kein Rabe. Dieser Schrei entstammte einer menschlichen Kehle in tiefster Not. Halldis' Kopf fuhr herum. Svala stand auf der anderen Seite ihres Bereichs. Vor ihr lag ein Felshaufen. Aber das konnte nicht sein! Auf der Idaebene gab es keine Felsen. Odin wachte streng darauf, dass die Ebene kahl blieb, damit sich kein Feind darauf verschanzen konnte. Aber …

Sie begann zu rennen, als der Felshaufen einen Arm ausstreckte und nach Svala schlug. Dann stand er auf.

Halldis hatte noch niemals vorher einen Frostriesen gesehen. Trotzdem wusste sie sofort, mit was sie es zu tun hatte. Das Wesen war so hoch wie eine kleine Birke, bestimmt fünfzehn Schritt. Es ging auf allen Vieren wie ein Tier, doch die silbrig leuchtenden Augen, die ihr entgegen blickten, schauten intelligent und bösartig, wie kein Tier es vermochte. Der gesamte Körper war von weißem, glitzerndem Fell bedeckt, und im Herannahen erkannte Halldis, dass es sich um tausende und abertausende Eisnadeln handelte, die den Leib des Monstrums überzogen. Ohne zu bremsen griff Halldis nach Svalas Eimer, der unbeachtet abseits stand, und schüttete den Inhalt zielsicher über den Kopf des Eisriesen. Zu ihrer Überraschung brüllte das Monstrum auf und schlug sich die Hand vors Gesicht. Sie hatte nicht weiter darüber nachgedacht, nur das Erste gegriffen, was ihr eingefallen war, ohne damit zu rechnen, ihren Gegner mehr als ein wenig zu irritieren. Der Riese zog seine Hand fort. Darunter waren die Eisnadeln verschwunden und rotes Fleisch kam zum Vorschein, dass schmerzhaft zu pulsieren schien. Das Putzwasser schien dem Riesen richtig verletzt zu haben. Halldis hätte zu gern gewusst, ob es an dem kochenden Wasser oder der Seifenlauge darin lag, doch eigentlich kam es darauf nicht an. Ihre eigenen Eimer standen weit hinten und jetzt ...

Sie fühlte sich gepackt und fortgerissen.

„Wie lange willst du noch dastehen und glotzen. Komm schon! Lauf!“, schrie Svala ihr zu und gab ihr einen Stoß. So schnell sie ihre Beine trugen, rannten die drei Frauen in Richtung Asgard. Ihre Kolleginnen würden ihnen nicht helfen können. Erst, wenn sie die Tore passiert hätten, wären sie in Sicherheit.

Hinter ihnen krachte etwas. Der Riese hatte die Verfolgung aufgenommen.

„Wir teilen uns auf“, schlug Halldis keuchend vor. Svala nickte und drehte nach rechts ab, während Halldis geradeaus weiterrannte. Das Donnern hinter ihr wurde lauter. Gut, der Riese hatte also sie als Opfer auserkoren. Nach ihrer Attacke mit dem Wasser war er bestimmt auf Rache aus! Aber das machte nichts. In ihrem Dorf war sie immer die Schnellste gewesen, konnte stundenlang rennen ohne zu ... Etwas griff nach ihrem Mantel und zerrte sie nach hinten. Halldis stolperte und stürzte.

Im Hintergrund hörte sie Freya schreien, aber sie hatte nur Augen für den Riesen, der sich über sie beugte. Er fletschte die Zähne, gigantische Eiszapfen, die Halldis gleich durchbohren würden. Dann hob er eine Klauenhand, an deren Enden ebenfalls fünf scharfe Eiszapfen prangten. Etwas Schwarzes traf ihn an der Stirn. Irritiert wischte er es weg.

Und dann griffen die übrigen Raben an. Wie ein Gewitterregen prasselten sie auf den Riesen hernieder, ihn mit scharfen Krallen und Schnäbeln attackierend, während Halldis nicht von einem einzigen berührt wurde. Der Riese schlug nach ihnen, doch sie stoben einfach wie Schneeflocken auseinander, um sich gleich wieder zur Schar vereinigt auf ihn zu stürzen.

Svala und Freya halfen Halldis auf die Beine.

„Svala, warum bist du nicht zu den Toren gelaufen?“, fauchte sie.

„Und dich mit dem Untier allein lassen? Ich habe genug Schande auf das Haupt meiner Mutter geladen“, gab die andere zurück.

„Dann los!“

„Es ist zu spät“, stammelte Freya. „Die Raben haben ihn nicht aufhalten können. Da kommt er!“ Bang blickten sie dem herannahenden Riesen entgegen. Die Raben umschwirrten ihn wie ein Fliegenschwarm, schienen ihn aber nunmehr nur noch zu irritieren.

„Rennt los! Jeder in eine andere Richtung. Er kann sich nur für einen von uns entscheiden!“, sagte Halldis.

„Aber...“

„Wir haben keine Chance gegen ihn. Besser zwei überleben als keiner. Und, Svala – es tut mir leid, was ich eben gesagt habe.“

Svala nickte. „Mir auch. Wenn es mich erwischt, sag deinem Bruder, dass ich ihn geliebt habe. So richtig.“

„Sag ihm das Gleiche von mir! Und jetzt los!“

Die Frauen fuhren herum. Freya sprintete nach links davon, gefolgt von ihren Rabenfreunden. Svala rannte in gerader Linie auf die Tore von Asgard zu. Damit blieb Halldis nur noch der Weg nach rechts. Sie machte einen weiten Satz – und spürte, wie sich etwas zwischen ihren Beinen verhakte. Sie schlug längs hin.

„Da hat jemand einen großen Knochen liegenlassen. Das wird Helga gar nicht gefallen“, dachte sie benommen, während der Riese hinter ihr zu Stehen kam. Er überlegte wohl gerade, wo er zuerst zubeißen wollte. Sie griff nach dem Ding, über das sie gefallen war, und ihr Griff schloss sich um ihren Besen.

Der 'Räumer des Schlachtfelds'! Ich wusste doch, dass der irgendwann mein Tod sein würde“, dachte sie. Ihr Blick fiel auf Asgard, und Wut flammte in ihr auf. Wo waren die Helden jetzt? Wo waren Thor, Odin und ihre Berserker, jetzt, wo sie gebraucht wurden? Sie packte den Besen, und in dem vermutlich jämmerlichsten Angriff, den diese Ebene je gesehen hatte, schlug sie das Holz direkt in das geöffnete Maul des Monsters.

Ein Klirren wie ein zerbrechender Spiegel erklang. Etwas Hartes traf Halldis am Fuß. Sie trat einen Schritt zurück. Vor ihr lang ein Eiszapfen, so lang wie sie selbst. Über ihr schrie der Riese erneut, doch nun fehlte der aggressive Unterton. Er brüllte wie ein getretener Hund. Dann schloss er das Maul – und schnitt sich selbst an den messerscharfen Eiszahnresten den Gaumen auf.

Entgeistert hob Halldis den Besen, oder das, was mal ihr Besen gewesen war. Immer noch hingen Reiser an einem Ende, doch das war alles, was an ihren krummen, schweren Besen erinnerte. Das Holz hatte sich geglättet und war gerade und lang wie ein Kampfstab. Das obere Ende wurde von einer Metallplatte geschützt. Über seine gesamte Länge überliefen den Stab feurig glänzende Runen, die sich auf Halldis ungeschützter Hand fortsetzten. Sie spürte die Hitze, die von den Zeichen ausgingen, doch verbrannten sie sie nicht.

Etwas traf sie, und sie flog. Hart kam sie am Boden auf und überschlug sich. Sie setzte sich auf, die schwarzen Punkte fortblinzelnd, und versuchte aufzustehen, doch da war schon das Monster und zog an ihrem rechten Bein. Mit einer Drehbewegung und einem entsetzlichen Laut löste es sich vom Rest ihres Körpers. Fassungslos blickte Halldis ihrem Bein hinterher, als der Riese es fortwarf wie einen abgenagten Knochen. Der Schmerz war unerträglich. Halldis konnte nicht mehr richtig sehen. Ihr Blut sprudelte aus der riesigen Wunde. Sie drehte den Besen herum, oder sie versuchte es. Ihre Hände rutschten ab in dem Blut. Ihrem Blut. Doch dann hatte sie den Besen gedreht, gerade als der Riese sich auf sie stürzte.

Sie wusste später nicht, ob sich die Spitze des Besens wirklich in eine Spitze verwandelt hatte, bevor sie den Riesen aufspießte, oder ob sie sich das nur eingebildet hatte. Tatsache war, der Besen glitt durch das Monster wie ein heißes Messer durch einen Haufen Butter. Der Eisriese zerfiel mit einem Klirren in seine Einzelteile.

Halldis kam zu sich, als ein Eisblock von einem riesigen Hammer unter großen Getöse in winzige Splitter zerschlagen wurde. Sie schlug die Augen auf. Für einen bangen Moment dachte sie, der Hüne über ihr sei der Eisriese. Dann erkannte sie Thor, den Donnergott. Er grinste ihr zu und streckte seine Hand aus. Halldis kam auf die Beine. Ja, beide Beine! Halldis hatte noch nie gehört, dass die Magie der Idaebene auch bei Nichtkriegern wirkte. Doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn hinter ihr standen ihre Kolleginnen: Freya und Svala und Helga und die anderen Putzfrauen. Und hinter denen stand Asgard.