Cover-blutiges-Buch

Das blutige Buch

 

Sam R. Milekey

 

Roman

 

 

 shutterstock-Betsy-Baranski

 


©Sam R. Milekey 2016

Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

Cover-Bildquelle: Kiselev Andrey / www.shutterstock. com

Haselünne

2016

ISBN 978-3-95959-036-5

Über den Autor und das Buch

Der Autor Sam R. Milekey hat mit diesem Debut eine gut recherchierte Mischung aus Historie, Fantasy und Science Fiction geschrieben. Die Lebenswelt der Haida und ihre Sagen entsprechen den indianischen Überlieferungen, und selbst so etwas wie das trockene Tal gibt es wirklich, Carcross Desert in Yukon, Alaska. Diese Miniatur-Wüste entstand aus den sandigen Sedimenten eines Sees, der sich dort während der letzten Eiszeit befand.


 

www.machandel-verlag.de

 

Der Machandel Verlag bietet Ihnen ungewöhnliche Fantasy aus verschiedenen Teil-Genres: Romantik-Fantasy, humorvolle Fantasy, klassische Fantasy, Urban Fantasy, Dark Fantasy. Unsere besondere Spezialität sind Kurz-Romane für Jugendliche und Erwachsene. In der Abteilung >Lesesaal< auf unserer Webseite finden Sie Leseproben und Gratis-Kurzgeschichten als pdf-Downloads.

 

 Epilog

 

Ah, da kommt Fab, mein Neffe. Ein Prachtjunge! Seine Mutter hat ein strenges Auge auf ihn. Aber ich sorge schon dafür, dass der Spaß nicht zu kurz kommt. Wird übrigens Zeit, dass ich ihn nach Hause bringe. Mara sieht es nicht gern, wenn er hier herumlungert.

Habe ich erwähnt, dass Scarface verschwunden ist? Wie vom Erdboden verschluckt. Keiner weiß, wo er abgeblieben ist. Ich könnte mir denken, dass er auf eine große Reise gegangen ist. Ob er jemals wiederkommt? Ich würde nicht drauf wetten.

Ich stöbere immer noch gern nach alten Büchern. Es gibt so viele spannende Geschichten, die gelesen werden wollen. Auf das große Abenteuer bin ich nicht mehr aus. Denn ich hab schon gefunden, wonach ich gesucht habe.

 

 

ENDE

 

Prolog

 

 

Wer ich bin, oder eher, wer ich einmal war, ist heute nicht mehr von Bedeutung. Es ist nichts übrig geblieben von meinem früheren Leben. Falls man es überhaupt ein Leben nennen kann. Immer am Rand balancierend, kurz vor dem Absturz. Der Blick über die Schulter wurde zur zweiten Natur. Zu wissen, wer gerade hinter einem stand, war überlebenswichtig. Ständig war ich auf der Flucht, doch gleichzeitig suchte ich. Wonach, das wusste ich damals nicht.

Wenn du unbedingt einen Namen willst, nenn’ mich Luther. Und sorge dafür, dass mein Glas nicht leer wird. Ich bin wie eine alte Maschine und brauche reichlich Schmierstoff. Lehn’ dich zurück, schenk dir selbst auch noch mal ein. Und dann lass mich einfach der Reihe nach erzählen.

  

1. Kapitel

 

Der Laden lag versteckt in einem Viertel, das ein normaler Bürger eher mied, besonders nachts, wenn die großen Ratten aus ihren Verstecken kamen. Ohne Laserwaffe war man dann aufgeschmissen. Aber gerade dieser Nervenkitzel, der Geruch von Gefahr, reizte mich, meinen Gleiter hier zu parken. Es war dunkel auf der Straße. Sogar vor den roten Vollmond hatten sich dicke Wolken geschoben. Durch die fast blinden Scheiben der verstaubten Auslage fiel trübes Licht auf das bröckelnde Pflaster vor der Ladentür. Das Schild über der Ladentür war mit Altersflecken übersät, nur noch einzelne Buchstaben erkennbar. Die Umgebung sah alles andere als vertrauenerweckend aus, genau das Richtige für mich. Mit einem Knopfdruck auf meinen Beamer verriegelte ich den Gleiter und legte die kurze Entfernung bis zum Eingang zurück. Die schwere Holztür gab knarrend nach, als ich mich dagegen stemmte. Voller Erwartung trat ich ein.

 

Ein alter Mann in einem verblassten, grünen Samtrock döste in einem Lehnstuhl vor sich hin. Er bewachte eine ehrwürdige Registrierkasse mit verbogenen Tasten, die wohl nur noch vom Rost zusammengehalten wurde. Ich hob grüßend die Hand. Mit einem Kopfnicken nahm er mich gleichgültig zur Kenntnis, bevor er wieder die Augen schloss. Ich war aufgeregt wie ein Kind vor der Bescherung. Fast ehrfürchtig betrat ich den ersten Gang und betrachtete mit brennenden Augen die Schätze in den Regalen um mich herum.

Ich liebe den Geruch von alten Büchern. In diesem Laden war jeder Kubikmeter davon erfüllt. Es ist eine Mischung aus feuchtem Papier, Staub und menschlichen Ausdünstungen. Manche Bücher riechen so intensiv nach Angst, Schweiß oder Tränen, als hätte der Schreiber damit die Seiten getränkt. Ich schlenderte herum, nahm wahllos ein Buch heraus, blätterte darin, stellte es wieder zurück und ging weiter.

Die Luft hier war muffig. Ich zog eine Flasche aus der Tasche und nahm einen Schluck. Der scharfe Alkohol brannte mir die Kehle aus und spülte den Staub weg. Ich griff nach dem nächsten Buch, das mir interessant erschien. Es war eine reichlich dicke, alte Schwarte und so abgegriffen, dass man nur noch Fragmente der Goldlettern auf dem Einband erkennen konnte. Als ich es aus dem Regal zog, fiel etwas zu Boden, ein dünnes Büchlein, das direkt daneben gestanden hatte. Ich hob es auf und starrte verblüfft auf die roten Flecken, die einen großen Teil der Vorderseite bedeckten. Meine Finger fühlten sich klebrig an. Ich rieb sie aneinander, die Flüssigkeit war noch ganz frisch. Etwas stieg mir in die Nase, von dem meinen Magen sich zusammenkrampfte. Dieser metallische Geruch ... Ich musste nicht erst überlegen. Das war Blut.

Instinktiv duckte ich mich in Erwartung eines Angriffs, ein Schuss aus dem Hinterhalt, ein Schlag auf den Kopf. Aber nichts geschah. Kein Laut war zu hören. Und obwohl der Laden verwinkelt und unübersichtlich war, war ich sicher, dass wir allein waren, der Alte und ich.

Ich zog ein Taschentuch heraus und reinigte notdürftig meine Hände. Wer will schon blutbesudelt nachts in diesem Viertel angetroffen werden? Dann nahm ich das Buch mit dem Taschentuch auf, ging zu dem Alten und tippte ihm auf die Schulter. Er grunzte unwillig, machte aber doch die Augen auf.

„Willste was kaufen?“, fragte er ohne jedes Interesse.

„Was sind das für Flecken?“

„Gekauft wie gesehen, ich übernehme keine Haftung für die Qualität der Ware“, leierte er herunter.

Ich hielt ihm das Buch unter die Nase.

„Da, schau hin, Alter. Das ist Blut. Und so frisch, dass das Schwein, das dazu gehört, noch nicht mal kalt ist.“

Er zuckte nur gelangweilt mit den Schultern, ohne das Buch eines Blickes zu würdigen.

„Sag ich doch, gekauft wie gesehen.“

Mein Jagdinstinkt war geweckt. Das ist es, weshalb ich diese alten Buchläden so liebe. Es sind die Geschichten hinter dem Gedruckten, die mich interessieren. In manchen Büchern stehen Widmungen, ein Datum, Namen, manchmal ist etwas angestrichen oder eine Bemerkung an den Rand gekritzelt. Das gibt meiner Fantasie freien Raum. Es ist eine Spinnerei, wenn Sie so wollen, diese fast besessene Suche nach Schicksalen, längst vergessen und zu Staub geworden. Ein blutbesudeltes Buch allerdings hatte ich noch nie gefunden.

„War vor kurzem jemand hier, ein anderer Kunde vielleicht?“

Ich zog meinen Zahlchip aus der Tasche, vielleicht würde das den Alten gesprächiger machen. Er warf einen misstrauischen Blick darauf.

„Kein Chip, hier zählt nur Bares.“

Er zeigte auf die Kasse. In den meisten dieser alten Läden musste man mit Bargeld zahlen. Ich war darauf vorbereitet, obwohl es immer schwerer wurde, an echte Scheine heranzukommen. Bei der Bank schauten sie einen immer misstrauisch an. Das Bündel, das ich aus der Tasche zog, entlockte dem Alten ein zahnlückiges Grinsen. Er schüttelte den Kopf.

„Du bist der erste seit drei Tagen.“

Ich drückte ihm das Buch in die Hand.

„Das nehme ich. Was willst du dafür?“

Er warf einen Blick darauf und ließ es neben die Kasse fallen, als ob es glühend heiß wäre.

„Gib mir zehn Kredits.“

Seine Stimme klang plötzlich gepresst. Ich beobachtete, wie er hektisch eine Taste drückte. Die Schublade der Kasse öffnete sich mit einem unmelodischen Quietschen. Er riss mir den Schein aus der Hand und warf ihn hinein.

„Ich schließe jetzt, du musst gehen.“

Zu verblüfft, um Widerstand zu leisten, ließ ich mich von ihm Richtung Ausgang schieben, dann knallte die Tür hinter mir zu. Ich hörte, wie innen der Schlüssel herumgedreht wurde, und ein schwerer Metallrollladen rauschte herab. Gerade konnte ich noch einen Satz zur Seite machen, sonst hätte er meine Füße zerquetscht.

„Verdammt!“

Wann genau war der Alte so hektisch geworden? Es musste mit dem Buch zu tun haben. Oder mit dem Blut darauf. Wahrscheinlich mit beidem. Der Kerl wusste mehr, als er mir weismachen wollte, so viel stand fest.

Die Straße war immer noch menschenleer, jedenfalls soweit ich das sehen konnte. Trotzdem richteten sich die kleinen Härchen in meinem Nacken steil auf. Mein eingebautes Radar für Gefahr schlug Alarm. Zügig, aber keineswegs hastig begab ich mich zu meinem Gleiter und drückte auf den Beamer. Lautlos schwang die Tür auf. Ich hechtete auf den Fahrersitz, warf das Buch in die Ablage, betätigte den Türschließer und ließ gleichzeitig die Düsen an.

 

Auf der beleuchteten Fahrspur des belebten Zentrums musste ich lachen über meine Hysterie. Allerdings konnte ich mich auf meine Antennen absolut verlassen. Irgendetwas hatte in der Dunkelheit der Straße gelauert. Egal, ich war heil weg gekommen. Mit einem Hochgefühl im Bauch steuerte ich meine Wohnzelle an.

 

Es war eine ganz besondere Nacht, als ich das blutige Buch nach Hause brachte. Das spürte ich schon damals. Vorsichtig schabte ich mit einem Taschenmesser etwas von der noch immer klebrige Flüssigkeit auf ein Stück Folie, das ich sorgfältig zusammenfaltete und in einen Umschlag steckte. Ich hatte einen Kumpel bei der Pathologie, der mir noch einen Gefallen schuldete. Zumindest konnte er herausfinden, ob es sich um menschliches Blut handelte. Obwohl ich im Grunde schon wusste, dass es so war.

Der Titel des Buches war unleserlich. Ich stellte fest, dass meine Hände zitterten, kein Wunder nach diesem Abend. Ich sollte vielleicht doch meinen Fund erst einmal beiseite legen und mich eine Runde aufs Ohr hauen. Schließlich musste ich in zwei Stunden schon wieder aufstehen. Ich warf noch einen langen Blick auf das Buch, so wie man einer neuen Geliebten nachschaut. Dann knipste ich widerwillig das Licht aus.

Nach einigen unruhigen Minuten stand fest, dass ich kein Auge zu kriegen würde. Das Buch wollte mich nicht loslassen. Also stand ich wieder auf und trödelte unter der Ionendusche herum, so ziemlich der einzige Luxus in meiner Behausung. Aber selbst das warme Wasser sorgte nicht dafür, dass ich mich entspannte. Ich stand unter Strom. Und obwohl ich bei jedem neuen Fund ein prickelndes Gefühl im Bauch hatte, war es dieses Mal irgendwie anders. Vielleicht war es die Ahnung, dass dieses Buch meinem Leben eine völlig neue Wendung geben würde.

 

 

2. Kapitel

 

Ich kam wieder mal zu spät zur Arbeit. Jenn zog warnend eine Augenbraue hoch, aber ich hatte bereits an Carls Gesicht gesehen, dass er übel drauf war.

„Ich hab’ nicht mehr mit dir gerechnet. In einer Stunde kommt der Neue. Kannst gleich deine Sachen packen“, knurrte er, ohne den Blick vom Herd zu nehmen.

Diese Spielchen machte er oft mit mir. Mein Job in diesem miesen Imbiss war mehr als öde, aber ich hing an den warmen Gratismahlzeiten und an Jenn, und zwar genau in dieser Reihenfolge.

„Tut mir wahnsinnig leid, Boss“, begann ich meine übliche Jammerszene, auf die er irgendwie scharf war. „Das kannste doch nicht machen. Es kommt nie wieder vor, ich versprech’s. Wo soll ich denn hin, wenn du mich rausschmeißt?“

Ich öffnete die Tür meines Spindes und nutzte den toten Winkel, um Jenn zuzuzwinkern. Carl knurrte etwas Unverständliches. Er zog seine befleckte Jacke aus, die irgendwann einmal weiß gewesen sein musste, und drückte mir auf dem Weg zur Tür die Fleischgabel in die Hand.

Damit hatte ich meinen Job wieder.

Ich arbeitete seit einiger Zeit als Koch, war aber auch schon mal in einer Gleiterwerkstatt und bei der regionalen Nahrungsreproduktion beschäftigt gewesen. Außerdem hatte ich meine Hände in ein paar anderen Jobs, über die ich nicht gerne rede. Man nimmt, was man kriegen kann. Ich war nicht wählerisch und schon immer scharf darauf, etwas Neues zu lernen. Man wusste schließlich nie, wofür man es noch einmal brauchen konnte.

 

Ich brühte mir einen Turbo-Espresso, um halbwegs auf Vordermann zu kommen, und schaute zu den Tischen hinüber. Die üblichen Figuren schaufelten sich ihr Essen rein. In der trüben Beleuchtung sahen sie seltsam farblos aus, wie in ein Einheitsgrau getaucht. Jenn stapelte das Geschirr zusammen. Mit ihrer roten Fantasieuniform war sie der einzige Farbklecks hier und ihre langen Beine unter dem lächerlich kurzen Rock boten einen erfreulichen Anblick.

Mit einem Schwall frischer Luft betraten neue Gäste den Imbiss. Es herrschte ziemlich großer Andrang heute. Fluchend vermengte ich die Zutaten für Pancakes mit einem Schneebesen, schlug Eier in einer Schüssel auf und stellte die Brotmaschine an. Die Bestellchips rauschten im Takt des Heavy Metal Beat in den Eingangsschacht. Es würde eine lange Schicht werden.

 

Es war fast Mittag, als der Ansturm endlich abflaute. Ich verzog mich erleichtert in die Ecke neben dem kleinen Fenster und zog das Buch aus meiner Tasche. Die Blutflecken waren inzwischen getrocknet und formten auf dem schmucklosen, grünen Einband eine Art Klecks. Es erinnerte mich an diese Testbögen, die sie früher den Leuten vorlegten, um festzustellen, wo ihre geistigen Defizite lagen. Ich fuhr mit einem Finger die Ränder der dunklen Fläche nach und versuchte, irgend etwas zu erkennen. Eine perverse Idee, wenn man bedenkt, dass der Blutfleck nur durch einen abwegigen Zufall auf das Buch gekommen sein konnte. Aber irgendwie faszinierte mich dieses Spielchen. Nach einer Weile kam ich darauf, das Buch auf den Kopf zu drehen. Und plötzlich sah ich ihn. Es war ein Vogel, eine Krähe oder ein Rabe. Einen Flügel hatte er abgespreizt. Der Kopf mit dem riesigen Schnabel und sogar ein Auge hatten sich so deutlich in den Einband hinein gefressen, als wären sie durch die Hand eines Künstlers entstanden.

Verblüfft starrte ich ihn eine ganze Weile an, dann stand ich auf und ging in die Herrentoilette. Man konnte hier drinnen kaum die Hand vor Augen sehen. Carl geizte, wo es ging, sogar an der Beleuchtung. Ich zerrte mir das Shirt über den Kopf und betrachtete im halb blinden Spiegel ein schwarzes Tattoo, das ich auf der linken Schulter habe. Ich brauchte dringend eine Bestätigung, dass ich jetzt nicht völlig abgedreht war. Denn auch mein Tattoo, das ich schon so oft gesehen hatte, stellte einen Vogel dar. Einen Raben mit großem Schnabel und einem abgespreizten Flügel, die genaue Kopie des Blutflecks. Ich hatte keine Erinnerung mehr daran, wann ich diesen Körperschmuck bekommen hatte. Jemand musste ihn mir in meinen ersten Lebensjahren gestochen haben.

Ein Mann kam herein. Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Wie ich da so halb ausgezogen im Trüben stand, konnte ich ihm eine gewisse Skepsis nicht verübeln. Beruhigend hob ich meine Hände.

„Alles okay, ich schau nur nach, ob ich Knutschflecken abgekriegt habe. Meine Alte reagiert äußerst komisch auf so was.“

Er grinste und stellte sich an eines der Pissoirs. Ich zog mich wieder an und verließ den Abort.

Zurück in meiner Ecke schlug ich das Buch vorsichtig auf. Auf der ersten Seite stand der Titel in wuchtiger Zierschrift. Er lautete ,Die wahre Geschichte von Abe und Jack Smith und dem Berg aus Gold’.

Wow! Das war ein Volltreffer und versprach, eine spannende Lektüre zu werden. Der Name des Autors dagegen war völlig unspektakulär: A. Smith, ein Allerweltsname. War das dieser Smith aus dem Buchnamen? Hatte er seine eigene Geschichte aufgeschrieben? Meist stand irgendwo die Jahreszahl des Drucks. Aber Fehlanzeige, hier gab es so etwas nicht.

Wenn ich ein neues Buch in der Hand habe, gehe ich äußerst behutsam vor. Ich koste jeden Moment aus, ziehe ihn genießerisch in die Länge. Vorsichtig blätterte ich auf die nächste Seite um und fand mich Auge in Auge einem Mann gegenüber. Es war eine Schwarzweiß-Fotografie, mit ihrer ovalen Form typisch für das Ende des 19. Jahrhunderts. Ich datierte sie nur nebenbei, sozusagen automatisch. Meine ganze Aufmerksamkeit galt dem Mann, dessen stechender Blick mir aus der vergilbten Buchseite heraus eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

„Huch, der ist ja zum Fürchten!“

Die heisere Stimme von Jenn ließ mich zusammenzucken. Sie stand plötzlich neben mir und beugte sich neugierig über das Buch.

„Wer ist DAS denn?“

Das war eine gute Frage, es stand nicht dabei. Der Verfasser in Person, vermutete ich. Sein Gesicht war von einem wahren Urwald an Haaren bedeckt. Unter einer Fellmütze quollen seine Zotteln in verfilzten Strähnen über die Stirn und die buschigen Augenbrauen bis zu dem aufgestellten Kragen einer speckigen Jacke hinunter. Der Bart bedeckte die ganze untere Hälfte des Gesichts. Einzig die Nase schaute seltsam dünn und bleich aus dem dunklen Dickicht hervor. Gedankenverloren strich ich mir über meinen eigenen, kahl rasierten Schädel.

„Hat der wen umgebracht?“

Ich klappte das Buch zu und schaute Jenn böse an. Meine Schätze teilte ich nicht gern, schon gar nicht, wenn sie so neu waren wie dieser.

„Ih, das ist ja ganz dreckig“, entrüstete sie sich.

Ich hatte den befleckten Einband ganz vergessen und starrte jetzt auf meine Finger, die wie Krallen auf dem Vogel lagen. Sie sahen aus, als wollten sie ihn greifen. Das Buch schien unter ihnen heiß zu werden, klebrig und unangenehm. Mit dem Ellenbogen schob ich Jenn beiseite und stopfte das Buch zurück in meine Jackentasche.

„Steck deine Nase nicht in Dinge, die dich nichts angehen“, bellte ich unfreundlich.

„Ist ja schon gut“, knurrte sie zurück. „Du könntest auch was Besseres tun, als solche komischen Bücher zu lesen.“

Sie verschwand in Richtung Tresen.

Meine Laune sackte noch einmal um gefühlte neunzig Prozent. Was ging es Jenn an, was ich in meiner Freizeit machte? Widerwillig stellte ich mich wieder an den Herd und griff nach dem nächsten Bestellchip. Der wummernde Bass des Heavy Metal fuhr mir schmerzhaft in den Magen. Ich warf lustlos die Zutaten für einen Salat zusammen und tobte mich an den Steaks aus, die ich mit ein paar wuchtigen Schlägen auf Tellergröße plattierte. Diese Augen ließen mich nicht los. Hatte Jenn Recht? War dies das Bild eines Mörders? Auf jeden Fall hatte der Unbekannte den Blick eines Gehetzten, eines Menschen, der kurz vor der Grenze zum Wahnsinn stand oder sie sogar schon überschritten hatte. Jetzt brannte ich umso mehr darauf, zu erfahren, um was es ging in diesem blutigen Buch, das ein Rabe bewachte.

  

3. Kapitel

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a. 1886,

Bearded gentleman armed with ax, rifle, hunting knife, and two pistols, Maine,  
Joseph John Kirkbride
Library of congress, USA

 

Ich, Abe Smith, erzähle meine Geschichte dem ehrlichsten Schreiber, den ich auftreiben konnte. Oh ja, ich habe lesen und schreiben gelernt, wie es sich für einen Sohn aus gutem Hause gehört. Aber jeder meiner Versuche, die entsetzlichen Geschehnisse zu Papier zu bringen, misslang. Die Feder sträubte sich, auch nur ein Wort davon niederzuschreiben. Es ist schwer genug, davon zu erzählen, und ich habe die Geduld meines armen Schreiberlings bis aufs Äußerste gefordert. Aber das, was geschehen ist, muss heraus aus mir. So oder so wird es mich umbringen, aber ich will nicht gehen, ohne Klarheit geschaffen zu haben. Jedermann soll wissen, was aus meinem Bruder Jack geworden ist. Alles war genau so, wie ich es hier erzähle. Es ist die reine Wahrheit, vollständig und ohne Schönfärberei. Das schwöre ich beim Leben unserer unglücklichen Mutter.

 

Jack war mir ein guter Bruder. Ich habe es ihm schlecht gedankt. Ich habe mich mit seinem Blut besudelt und große Schuld auf mich geladen. Die Reue ist kein willkommener Gast, denn sie hat Bitterkeit und Verzweiflung im Gefolge. Manche Taten kann man nicht ungeschehen machen.

Ich habe nichts aus dem gemacht, was vielleicht an Gutem in mir steckte. Mein Leben war beherrscht von Zügellosigkeit und Gier. Die meisten Menschen sind so. Je mehr man hat, desto mehr will man. In seiner Wildheit kennt man nichts und niemand, weder Gebote noch Schranken, und am Ende auch sich selbst nicht mehr. Bis es zu spät ist und nach dem Rausch die Ernüchterung kommt.

 

Sucht nicht nach mir. Die Wälder sind weit. Ich bin nicht mehr wert, in Eurer Gemeinschaft zu leben, war es vielleicht nie. Die Erinnerung und mein Gewissen, sie werden mich jagen wie ein Rudel Wölfe. Mir ohne Unterlass folgen und mich am Ende in Stücke reißen. Wie und wo das geschieht, geht nur mich etwas an.

 

Diktiert und aufgeschrieben im Juni des Jahres 1894

Vancouver, British Columbia

 

Gezeichnet

Abe Smith

 

 

 

4. Kapitel

 

Die Seiten flogen mir nur so durch die Finger. Worte und Sätze, manche eigentümlich und fremd, formten sich in meinem Kopf zu Bildern und zu einer Geschichte, die mich ganz in ihren Bann zog. Ich las wie im Rausch, bis ich den letzten Satz verschlungen hatte. Dann klappte ich das Buch zu und schaute mich verwirrt um. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich seit Stunden kaum noch geatmet, musste mich erst mühsam wieder zurecht finden in meiner Wohnzelle. War das, was ich da gelesen hatte, wirklich passiert? Ich überschlug es im Kopf, das war fast zweihundert Jahre her. Eine verdammt lange Zeit. Die schreckliche Tat war in einer Welt geschehen, die längst nicht mehr existierte.

Draußen zog ein neuer Tag auf. Die grünlich schimmernde Dämmerung tauchte die Spitzen des Metro Towers, der sich vor meinem Fenster in den Himmel reckte, in ein kaltes Licht. Ich war ganz steif von der Sitzerei. Mühsam erhob ich mich von meinem Schwebebett und dehnte mich ausgiebig, um die verkrampften Muskeln zu lockern. Dieses Möbel war ungeeignet für stundenlange Leseorgien. Aber wer las heute noch? Nur solche Spinner wie ich.

 

Ich hatte gerade den ersten Schluck Espresso getrunken, als ich das blinkende Licht der Nachrichtenbox sah.

„Hallo Alter, hier ist Rupert. Da hast du mir eine Nuss zu knacken gegeben mit dieser Blutprobe. Hast du einen Neandertaler umgebracht? Es ist zweifelsfrei das Blut eines Menschen, allerdings ist die Zusammensetzung sehr außergewöhnlich. Ich konnte sogar eine Blutgruppe bestimmen, falls dir das was sagt.“

Ich nickte heftig, als könne Rupert das sehen. Blutgruppen hatte man bereits vor drei Jahrzehnten gentechnisch eliminiert, ein bahnbrechender Fortschritt in der Humanmedizin. Rupert war äußerst zuverlässig, und ich zweifelte sein Ergebnis keine Sekunde lang an. Es war also altes Blut, sozusagen. Etwas, das es nicht mehr gab, nicht mehr geben konnte, schon gar nicht in frischer, flüssiger Form. Ich ließ mich auf ein Sitzmöbel fallen, wobei ich vergaß, dass ich noch die volle Tasse in der Hand hielt. Der heiße Kaffee verbrühte mir die Haut und holte mich in die Wirklichkeit zurück.

„Verflucht!“

Ich stellte den Espresso auf den Tisch und rieb die schmerzende Stelle auf meinem Arm. Jetzt war ich hellwach und merkte, wie mir der Schweiß aus allen Poren kroch. Mühsam versuchte ich, den wilden Gedankenstrom in meinem Kopf zu sortieren. Auf keinen Fall konnte ich heute zur Arbeit gehen. Erstens hatte ich keine Sekunde geschlafen. Und zweitens hing ich an diesem Buch wie ein Piranha, der sich in ein Stück Bullenfleisch verbissen hat.

 

So lange ich denken kann, war Jack der Liebling unserer Mutter. Schon beim Herauskriechen aus dem Mutterleib kam er mir zuvor, wenn auch nur um ein paar Minuten. Welch winzige Zeitspanne, die doch so bedeutend für unser beider Leben werden sollte!

Von klein auf fand ich es sonderbar und unnatürlich, dass zwei Menschen so gleich aussehen können wie Jack und ich. Jedermann bestaunte und behätschelte uns, was Jack mit einem lieblichen Lächeln und ich mit lautem Gebrüll quittierte. Jedenfalls erzählte Mutter uns später oft davon, denn ich habe keine Erinnerung an diese Zeit.

Als wir heranwuchsen, kam uns unsere Gleichheit gut zupass. Wir foppten die Leute nach Belieben und trieben allerlei Schabernack mit ihnen. Aber als wir größer wurden, erschien Jack mir immer mehr wie ein Zerrbild meiner selbst, ein lästiger Schatten, den ich nicht loswerden konnte. Im selben Schoss gewachsen, von derselben Brust gesäugt, verband uns etwas, gegen das ich nicht ankam, so sehr ich auch dagegen kämpfte.

Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, stieß ich mir ein Messer in den linken Arm und sah mit einem Gefühl tiefer Befriedigung, wie das Blut herausquoll. Die Narbe, die blieb, war Zeichen meines Triumphs. Ich erzählte niemand davon, nicht einmal Jack. Aber endlich hatte ich den sichtbaren Beweis dafür, dass ich anders war als er.

Es ist nun einmal so, dass eine Mutter stets eines ihrer Kinder am liebsten hat, so sehr sie sich auch darum bemüht, dieses Unrecht in ihrem Herzen zu verstecken. Ich hatte keinen Grund zur Klage. Wir wurden stets gleich behandelt. Wenn einer etwas bekam, dann der andere auch. Geschenke zum Geburtstag oder Schläge wegen unserer Streiche, alles wurde mit demselben Maß verteilt. Aber wenn Mutter Jack ansah, dann war da dieser besondere Glanz in ihren Augen, der nur ihm vorbehalten war. Wir sprachen nie darüber, hätten keine Worte gefunden, dieses besondere Band zwischen den beiden zu beschreiben. Aber sehr bald schon gab ich es auf, mit ihm in Wettbewerb zu treten um Mutters Gunst. Ich wusste, wo mein Platz war.


Im langen und strengen Winter des Jahres 1889, Jack und ich waren gerade 21 Jahre alt geworden, bekam unser Vater das Fieber. Er war nicht der einzige in der Stadt, nach dem es mit stählernen Fingern griff. Ich erinnere mich gut daran, dass der alte Doc Willow, in seinem rastlosen Bemühen zu helfen, selbst am Ende seiner Kräfte war. Vor Erschöpfung taumelnd und mit blassem Gesicht ging er bei uns ein und aus und schüttelte zum Schluss ohne Hoffnung den Kopf. Wenige Stunden danach war Vater tot.

Die nächsten Tage erlebten wir in ungläubiger Erstarrung. Zu schnell war alles gegangen, es war keine Zeit geblieben zum Abschied oder auch nur für ein letztes Wort. Sogar unsere Mutter, sonst unermüdlich mit ihrer Arbeit beschäftigt, kam kaum noch aus ihrem Zimmer heraus. Aber das Leben musste weitergehen, und bereits ein paar Tage später nahm Jack ganz selbstverständlich die Geschicke unseres kleinen Unternehmens in die Hand. Er war der bessere von uns beiden für das Geschäftliche, daran hatte niemand einen Zweifel.

Die Werft von Smith & Sons hatte einen guten Ruf, der bis weit über die Grenzen der Stadt Vancouver reichte. In seiner ruhigen, überlegten Art hatte Vater uns erklärt, was es mit dem Schiffsbau auf sich hatte. „Ein Boot ist etwas Lebendiges“, sagte er oft, „wie ein Instrument, das fein gestimmt werden muss, damit es im Orchester des Meeres mithalten kann.“ Ich habe seine Worte noch genau im Ohr, jedoch sein Wesen blieb mir fremd. Oft verstand ich nicht, wovon er sprach, war wohl auch faul und gab mir wenig Mühe. Und obwohl ich schließlich den Schiffsbau ebenso erlernte wie Jack, hatte ich kein wirkliches Interesse daran. Wenn du ein gutes Boot bauen willst, musst du ein Stück deiner Seele mit hineinlegen, diese besondere Zutat, die über bloßes Geschick und Fleiß weit hinaus geht. Dazu war ich nicht bereit. Jack dagegen gab sein Herzblut und führte das Geschäft erfolgreich weiter.

Nie ließ Jack mich spüren, dass er nun das Sagen hatte. Aber nach Vaters Beerdigung war sein Platz am Kopf des Tisches. Mutter tat ihm als erstem das Essen auf und hing an seinen Lippen, wenn er über die Geschäfte sprach und neue Vorhaben anging. Mich langweilte das Gerede. Fast ärgerte es mich, dass Jack so großen Wert auf meine Meinung legte und stets danach fragte. Immerhin bemühte ich mich, zu nicken oder ihm lobend auf den Rücken zu klopfen, damit er mich nur bald wieder in Ruhe ließ.

Eines Tages brachte er Agnes mit, ein dürres, blasses Ding, das ihn aus scheuen Augen anhimmelte. Es war nicht viel dran an ihr. Aber Mutter gefiel ihre Art, und sie war von Jacks Wahl sehr angetan. Nach einer schlichten Trauung gehörte Agnes dann zur Familie. Mir war das gleich. Ich hatte keine Pläne zu heiraten. Einen Weiberrock, der an mir klebte, konnte ich nicht brauchen. Ich zog Huren vor, die ich bezahlte und damit aller Verpflichtungen ledig war.

 

Unser Schiffsbau war ein hartes, aber sehr einträgliches Geschäft. Auch ich bekam meinen Anteil am Gewinn, ohne dass ich einen Finger dafür krumm machte. Oft schwadronierte ich darüber, was für ein Dummkopf Jack doch war, dass er sich so abrackerte. Ich dagegen verbrachte meine Tage äußerst angenehm und ging hauptsächlich meinem Vergnügen nach. Umlagert von einer Schar Stiefellecker, die auf meine Freigebigkeit lauerten, zog ich durch die Stadt auf der Suche nach Zerstreuung. Mo, der Wirt vom ,Durstigen Trapper‘ rieb sich bereits die Hände, wenn wir nur zur Tür hereinkamen, und holte die Flaschen mit dem guten Whiskey unter der Theke hervor.

Ich bin ein Spieler. Das wusste ich, seit ich das erste Mal ein paar Karten in die Hand bekam. Die Erregung des Spiels ist wie ein Fieber. Manche nennen es die Schwindsucht der Seele. Es frisst den Menschen Stück für Stück auf. Ich habe lange nicht bemerkt oder nicht wahr haben wollen, wie sehr ich der Hitze des Spiels verfallen war.

Jeder Mensch trägt eine dunkle Seite in sich, auf die er gut achten sollte. Ich tat das nicht. Mit jedem Spiel und mit jeder Flasche, die ich leerte, wuchsen mein Neid und mein Hass auf Jack. Er war so tüchtig, solch ein verdammter Gutmensch, dass mir schon bei seinem Anblick übel wurde und ich die Hände zu Fäusten ballen musste, damit sie sich nicht um seinen Hals legten. Doch vielleicht wäre alles gut gegangen. Vielleicht hätten wir einfach so weiter leben und in dieser seltsamen Gemeinschaft zusammen alt werden können, wenn nicht eines Tages der Indianer aufgetaucht wäre.

 

Die Leute vom Stamm der Haida waren ein gewohnter Anblick für uns. Sie bewohnten die ganze Küstenregion und wurden auch bei uns in der Stadt geduldet. Sie waren ein Übel wie die Elche, die des Nachts den Garten zertrampelten, ein Ärgernis, mit dem man einfach lebte. Ihr Aussehen mochte sehr fremdartig sein, aber es schreckte mich nicht, weil ich von klein auf daran gewöhnt war. Sie hatten dunkle, lederne Haut, schlitzförmige Augen, in denen man wenig lesen konnte, und sie bewegten sich so lautlos wie die Katzen. Die Frauen lungerten mit ihren Babys, die sie als Bündel auf dem Rücken trugen, auf den Plätzen herum in der Hoffnung auf ein Tauschgeschäft. Ihre bunten, fein gewebten Stoffe waren begehrt bei unseren Damen. Für ein Säckchen helles Mehl oder Zucker konnte man ihnen leicht ein paar Ellen abschwatzen. Davon abgesehen waren sie ziemlich uninteressant. Niemand scherte sich darum, wie sie lebten oder was sie dachten. Einzig Doc Willow gab viel auf sie. Ihre Heilkunst hatte es ihm angetan, und er führte immer einen Vorrat streng riechender, getrockneter Kräuter mit sich. Aber er war sowieso ein sonderlicher Mensch, wenn ich auch nicht sagen will, dass er ein schlechter Arzt war.

Eines Tages also stand der Indianer in Mo’s Kneipe und fragte mit kratziger Stimme nach Whiskey. Es wurde nicht gern gesehen, wenn die Roten tranken. Sie vertrugen es nicht, und meist gab es Ärger, wenn sie betrunken waren. Mo gab seinem Burschen einen Wink, damit er ihn rausschmiss. Aber aus einer Laune heraus hielt ich Mo’s Kettenhund zurück. Ein torkelnder Haida schien mir eine hübsche Abwechslung an diesem langweiligen Tag . Ich winkte ihn an unseren Tisch und sah zu, wie er gierig trank. Er war nicht wie die meisten seiner Stammesbrüder. Die Geste, mit der er mir das leere Glas entgegen streckte, hatte nichts Kriecherisches an sich. Ich sah Stolz in seinen dunklen Augen, und das weckte meine Grausamkeit.

Wenn du mehr willst, sing uns was“, forderte ich ihn auf. Er starrte mich erst stumm an, aber dann begann er doch, mit dünner, hoher Stimme zu singen. Nach einer Weile verfiel er in eine Art Trance. Sein Oberkörper wiegte sich hin und her, und seine Füße bewegten sich in kleinen Schritten im Kreis herum wie um eine unsichtbare Feuerstelle.

Wir hatten Spaß an unserem Tanzbären, johlten und klatschten im Takt seines Singsangs. Er tanzte und sang und trank immer weiter. Es dauerte wohl eine Stunde, bis seine Bewegungen langsamer wurden. Seine Stimme brach, und schließlich sank er zu Boden. Wir sprangen auf und beugten uns neugierig über die leblose Gestalt.

Er hat sich in die Hose gemacht“, bemerkte einer meiner Kumpane. Auf der Hirschlederhose des Indianers breitete sich ein dunkler Fleck aus.

Verdammte Schweinerei“, schimpfte Mo. Er kam mit einer Handvoll Sägespäne und einem Besen, um den Indianer samt seiner nassen Hose hinaus zu befördern. In einem Anflug von schlechtem Gewissen hielt ich ihn zurück.

Lass nur, ich kümmer’ mich darum“.

Bist wohl sein Blutsbruder, was?“ knurrte der Wirt. Die Meute grölte, aber ich scherte mich nicht darum. Ich lud mir den Kerl auf die Schulter und brachte ihn hinaus in die trügerische Sicherheit der Straße. Er wog schwer, und als ich ihn im Hof hinter der Kneipe auf den Boden fallen ließ, rang ich nach Atem. Der Lederriemen, den er um seine Felljacke geschlungen hatte, war aufgegangen, und im Schein des Mondes sah ich ein Ledersäckchen, das er um den Hals trug.

Du kannst einem Indianer vieles wegnehmen, manches auch von ihm geschenkt bekommen. Er kennt keinen Besitz so wie wir. Nur seinen Medizinbeutel wird er mit seinem Leben verteidigen. Ohne den ist er wie Rauch, der sich im Nachtwind auflöst, wie die Haida sagen. Immer schon hatte ich wissen wollen, was sich wohl in solch einem Beutel befand. Jetzt konnte ich meine Neugier endlich befriedigen. Ich tätschelte die Wangen meines neuen Freundes, aber er rührte sich nicht. Vorsichtig zog ich das Säckchen über seinen Kopf. Was immer sich darin befand, wog nicht schwer.

Als erstes zog ich ein Stückchen helles Leder heraus, das sorgfältig geglättet und gegerbt worden war. Mit dunkler Farbe war ein Rabe darauf gezeichnet. Das musste das Totemtier dieses Indianers sein. Jeder Rote hatte so etwas, eine Art Schutzgeist, der ihm Mut und Tapferkeit verleihen soll. In den Geschichten der Haida ist der Rabe das klügste Tier von allen. Nun, es war sicher nicht besonders klug von diesem Mann gewesen, in Mo’s Kneipe zu kommen.

Ich fingerte weiter in dem Beutel herum und bekam ein Stück Fell zu fassen. Es mochte von einem Hasen stammen, und seine Bedeutung war mir gänzlich rätselhaft. Meine Finger gruben weiter. Der letzte Gegenstand im Beutel war der kleinste und schwerste. Ich zog ihn heraus. Der tropfenförmige Brocken glitzerte im trüben Licht. Mein Herz fing an zu rasen, denn ich wusste sofort, was das war. Rasch sah ich mich um, aber wir waren allein. Ich schlug dem Indianer ins Gesicht, packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn. Er grunzte unwillig, und es dauerte eine ganze Weile, bis er die Augen öffnete.

Woher hast du das Gold?“

Erschrocken fasste er sich an den Hals, und als er merkte, dass der Beutel nicht mehr da war, begann er, herumzuzappeln. Ich drückte ihn wieder zu Boden. Er war noch zu betrunken, um viel Widerstand bieten zu können, nur seine Augen schauten wild.

Hier, schau! Ich hab ihn.“

Ich hielt ihm den Beutel hin. Er versuchte, danach zu greifen, aber ich zog ihn weg.

Nein, mein Freund. Erzähl mir erst, wo du das Gold gefunden hast.“

Es gibt eine alte Geschichte, die man gerne an den Lagerfeuern erzählt. Es ist die Sage von Okur, dem Hüter des goldenen Berges. Und von Kermode, einem Geisterbären mit goldenem Fell. Ich hatte immer geglaubt, dass das nur die Fantasien alter Männer waren, die den Kindern Geschichten erzählen. Aber vielleicht war ja doch ein Körnchen Wahrheit daran. Eine bessere Gelegenheit würde sich mir nicht bieten. Ich musste aus dem Indianer herausbekommen, was er wusste.

Medizin“, stöhnte er mühsam.

Ich weiß, mein Junge. Du willst deinen Beutel. Aber den kriegst du erst, wenn du mir von dem Gold erzählst.“

Lange sah er mich schweigend an. Allmählich kamen mir Zweifel, ob es sich überhaupt lohnte, in diesem rattenverseuchten Hinterhof aus einem besoffenen Roten etwas über ein altes Ammenmärchen herauszupressen. Aber dann bemerkte ich, dass jeder Muskel seines Körpers aufs Äußerste gespannt war und wusste, dass ich einer sehr heißen Sache auf der Spur war.

Erst im Morgengrauen ging ich nach Hause. Es war nicht ungewöhnlich, dass ich die ganze Nacht weg blieb, und niemand hatte mich vermisst. Ich zwang mich zur Ruhe, trank wie immer meinen Kaffee und aß ein Stück Brot, während ich fieberhaft überlegte. Ich durfte nichts überstürzen, wollte zuerst einen Plan machen, wie ich vorgehen wollte. Und vor allem durfte ich niemand ein Wort von dem verraten, was mir der Haida erzählt hatte.


Carl hatte die gleiche schlechte Laune wie gestern.

„Ich hab’s immer gesagt, dass man heutzutage keinen Fisch mehr essen kann. Kotz dich meinetwegen aus, bis sich dein Magen umstülpt. Aber morgen trittst du hier wieder an, sonst bist du deine Stelle endgültig los“, bellte er ins Fon und unterbrach die Verbindung.

Mit etwas im Bauch denkt es sich gleich besser. Ich schob den leer gegessenen Teller weg und griff nach einem Sprachblock. Die Frage war, ob sich tatsächlich zugetragen hatte, was in dem Buch stand. Denn wenn die Geschichte nicht einfach nur einem kranken Hirn entsprungen war, dann ergaben sich ungeheure Möglichkeiten für mich. Es war die einmalige Chance, aus meinem verkorksten Leben doch noch etwas zu machen, zu Reichtum und einem angenehmen Leben zu kommen. Oder zu verrecken. Ich sah beide Möglichkeiten klar vor mir und zögerte dennoch keinen Moment.

Der Sprachblock übersetzte mein undeutliches Gemurmel in klare Druckbuchstaben.

 

– Was weiß der Alte in dem Buchladen?

– Wer verfolgte mich da?

– Abe und Jack Smith, 1894, Vancouver – überprüfen!

– Infos über die Haida besorgen.

 

Ich legte den kleinen Würfel mit der Sichtseite vor mich hin. Es gab noch eine ganze Reihe von weiteren Punkten, die mir spontan einfielen, aber schon diese würde mich für eine Weile beschäftigt halten. Das Buch lag noch auf dem Schwebebett. Ich stand auf und griff danach. Es blätterte sich von allein auf, und mein Blick fiel auf den einen Satz:

,Bis es zu spät ist, und nach dem Rausch die Ernüchterung kommt.’

Es war eine klare Warnung. Einen Moment starrte ich auf die Buchstaben, aber das Abwägen, das Ergebnis aus Für und Wider konnte gar nicht anders ausfallen. Ich hatte nichts zu verlieren als diese armselige Bude und einen Job, den ich hasste. Und vielleicht – mein Leben. In der anderen Waagschale lag etwas sehr Gewichtiges, das schon Hunderttausende vor mir in seinen Bann gezogen hatte: Gold.

 

 

5. Kapitel

 

Im Hellen sah das Viertel noch schäbiger aus als bei Nacht. Aus den vereinzelt herumstehenden Häusern hatte der Zahn der Zeit gewaltige Stücke herausgebissen. Fenster ohne Scheiben starrten mich an, drohten mit scharfkantigen Glasresten, die noch im Rahmen steckten. Ein paar Stahlträger ragten in den grüngrauen Himmel, trotzten dem sauren Regen und den immensen Temperaturschwankungen, die es hier draußen gab. Die globale Klimasteuerung reichte nicht bis in die Randbezirke unserer Zivilisation. Ich umkurvte vorsichtig die Stahlfinger und schaute mich aufmerksam nach weiteren Hindernissen um. Kaum vorstellbar, dass hier noch jemand wohnte, bis auf ein paar Penner vielleicht und die allgegenwärtigen Ratten. Noch nie war ich tagsüber hier gewesen. Und ich hätte es auch heute lieber vermieden, weil ich keinen Bock auf eine Kontrolle durch die allgegenwärtigen Patrouillen hatte. Aber es drängte mich, keine Zeit zu vergeuden. Während ich systematisch die Straßen absuchte, kaute ich mit den Zähnen an einem Daumennagel herum. Das ist so eine Unart, die ich mir nie abgewöhnen konnte. Wenn ich nervös bin, muss ich einfach an irgendetwas herumbeißen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich den Laden wieder gefunden hatte. Schließlich entdeckte ich den Rollladen, der mir fast den Fuß zerquetscht hatte, ein scheußliches Teil aus verbeultem Metall. Das beantwortete auch gleich meine nächste Frage. Der alte Mann war nicht da, der Laden verschlossen. Ich hatte mir so etwas gedacht und Werkzeug mitgebracht. Der Schneidbrenner machte kurzen Prozess mit dem Rollteil. Auch die Tür, die noch aus echtem Holz gefertigt war, hielt meinen Fußtritten nicht lange stand. Die Aktion machte allerdings einigen Krach. Ich sah mich nach allen Seiten um, bevor ich mich geräuschlos in den Laden schob. Ich könnte heute nicht mehr sagen, warum ich so vorsichtig war, besonders nachdem ich mir den Weg ja gerade lautstark frei gemacht hatte. Aber sowie mich das graue Dämmerlicht des Ladens umgab, standen meine Nackenhaare wieder auf Alarm.

Wie ein Hund schnüffelte ich, sog den Duft von Papier ein, der mir entgegen schlug. Aber da war noch etwas anderes, ein fremder, scharfer Geruch, den ich nicht einordnen konnte. Ich ging ein paar Schritte vor bis zum Tresen. Das Fremde wurde intensiver. Für alle Fälle zog ich den Strahler aus dem Halfter und versuchte, nach allen Seiten gleichzeitig zu sichern.

Da! ein Aufblitzen aus den Augenwinkeln! Sofort warf ich mich zu Boden. Mit einem sirrenden Geräusch flog etwas Langes, Dünnes über mich hinweg bis zur Wand, in der es zitternd stecken blieb. Ich rollte mich so schnell wie möglich bis zu einem Bücherregal. Von hier aus konnte ich zwar nur eine kleine Fläche überblicken, war aber wenigstens nach einer Seite hin gedeckt. Mit eiserner Willenskraft beruhigte ich meinen rasenden Puls und hielt kurz die Luft an, um auch noch das kleinste Geräusch hören zu können. Es war totenstill in dem Laden. Und dann sah ich es.

Es war eine Art Wirbel, der sich von einem Punkt nach allen Seiten ausbreitet. Als wäre die Luft flüssig geworden, sah ich die alte Kasse einen Moment lang seltsam gekrümmt wie bei einer Lichtbrechung in Wasser. Der Wirbel wuchs und verformte sich zu einem großen, menschenähnlichen Gebilde. Dann passierte das Erstaunlichste, das ich je zu sehen bekommen hatte. Zwei, drei Schritte von mir entfernt materialisierte sich aus dem wirbelnden Nichts ein Mann. Ich war so verblüfft, dass ich keine Anstalten machte, den Laser hoch zu nehmen oder mir eine bessere Deckung zu suchen. Ich lag nur da und starrte ihn mit offenem Mund an.

Geschichte war noch nie meine starke Seite, auch wenn ich mich schon wegen der Bücher, die ich finde, mit dem einen oder anderen Jahrhundert befasst habe. Dass das da vor mir ein Indianer war, brauchte man mir allerdings nicht zu buchstabieren.

Er war ein Hüne, an die zwei Meter groß und breitschultrig. Über seinem Rücken hingen ein Bogen und ein Köcher mit Pfeilen. Eine dicke Felljacke hüllte den ganzen Körper ein und reichte ihm bis zu den Knien. Die Lederseite lag außen, an den Rändern konnte man das pelzige Futter erkennen. Kopf und Gesicht war ganz in der Kapuze verschwunden, deren Rand ebenfalls mit Fell besetzt war. Seine Hose steckte in dicken Stiefeln, die schwer und unförmig aussahen. Wo immer er her kam war es auf jeden Fall verdammt kalt.

Eigentlich hätte ich jetzt in Panik geraten sollen. Ich sah mich gerade mit einer Geistererscheinung konfrontiert, nachdem ich in einer üblen Gegend in einen Laden eingebrochen war. Vielleicht lag es an meiner Lektüre letzte Nacht, dass ich nicht sofort abhaute. Irgendwie passte dieser Typ zu der aberwitzigen Geschichte.

Die Luft hatte aufgehört, um ihn herum zu flimmern, und er setzte sich in Bewegung. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog er den langen Gegenstand aus der Wand. Es war ein Speer, ein stabiles Teil. Wenn der mich erwischt hätte, hätte jetzt mein Bauch ein unschönes Loch. Im schwachen Licht sah ich, dass der Typ in der anderen Hand ein Messer hielt. Auch das war gewaltig, aber in seinen Pranken sah es aus wie ein Spielzeug. Das Unangenehmste war, dass die Spitze dieses Mörderteils genau in meine Richtung zeigte.

Ich schluckte in einer Art Reflex, um etwas Spucke in meine trockene Kehle zu kriegen. Was war das hier, Karl May für Arme? Eine Fantasie meiner überreizten Nerven?

Plötzlich wurde mir die Lächerlichkeit der Situation bewusst. Ich lag immer noch bäuchlings auf dem Boden. Gegen diesen Hünen hatte ich nicht die geringste Chance. Er konnte mit dem Messer umgehen, daran bestand kein Zweifel. Noch ehe ich den Strahler in Position gebracht hätte, wäre seine Klinge in einer empfindlichen Stelle meines Körpers gelandet. Das Zauberwort hieß Verhandeln. Ich breitete die Arme aus, um meine Harmlosigkeit zu demonstrieren, und rappelte mich mühsam auf.

„Hi!“ krächzte ich und wartete auf eine Reaktion.

Er schien dem Wort nachzulauschen, bewegte sich aber keinen Millimeter aus seiner angespannten Haltung. Ich bückte mich betont langsam und legte den Laser auf den Boden. Vorsichtig richtete ich mich wieder auf und streckte ihm meine Handflächen entgegen. Er bewegte sich immer noch nicht und blieb weiter stumm.

„Hör mal, ich will keinen Ärger machen. Falls du zu dem Laden gehörst, ich wollte nichts stehlen. Die Tür kann ich reparieren, das ist kein Problem.“

Ich schaute bedauernd auf die zersplitterten Einzelteile, die sich über den ganzen Eingangsbereich verteilt hatten. Vielleicht hatte ihn mein gewaltsames Eindringen auf den Plan gerufen. Der Wächter des Ladens, oder so was. Aber ich ahnte, dass nicht der Laden der Grund seiner Anwesenheit war. Er hatte etwas mit dem Buch zu tun, mit diesem blutigen Buch. Ich zermarterte mir das Gehirn nach ein paar Einzelheiten. Indianer waren reichlich darin vorgekommen, alle vom Stamm der Haida. Aber ich hatte meine Recherche noch nicht begonnen und wusste über ihn nicht mehr, als wenn er vom Mars gewesen wäre.

Eine Ewigkeit verging, ohne dass er sich regte. Er stand da und starrte mich mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an. So, als würde man jemand auf der Straße treffen, den man lange nicht mehr gesehen und dessen Namen man vergessen hat. Mir taten die Arme weh, aber ich wollte sie nicht sinken lassen, bevor er nicht von meiner Harmlosigkeit überzeugt war. Also versuchte ich es weiter mit Reden.

„Mein Name ist Luther. Und wer bist du?“

Bestimmt verstand er mich nicht. In seiner Zeit hatten die Indianer vermutlich noch nicht alle Englisch gesprochen. Ich hatte schließlich auch keinen Schimmer von Haida. Gerade überlegte ich mir, wie ich ihm mit Gebärden klar machen konnte, dass ich seinen Namen wissen wollte, als er plötzlich etwas von sich gab. Es war nicht so, dass er wirklich redete. Aber in meinem Kopf formten sich Worte, die nicht meine waren. Telepathie? Konnte er Gedanken lesen? Konnten wir uns so verständigen?

„Ich bin vom Stamm der Haida, aus dem Clan des Raben.“

Ha! Ich hatte also Recht. Der Typ da stammte aus dem Buch. Aber was machte er hier? Wie kam er hierher? War es Zufall, dass er mich getroffen hatte, oder hatte er auf mich gewartet?

„Du hast Recht, ich wusste, dass du wiederkommst. Du hast dieses Buch, von dem das Böse ausgeht. Ich muss es haben. Gib es mir.“

Na toll, wie sollten wir auf dieser Basis weiter kommen? Das einzige, das ich ganz sicher nicht wollte, war, ihm das Buch zu geben. Damit hatte ich andere Pläne. Ganz davon abgesehen hatte ich es nicht bei mir. Ich musste ihn hinhalten.

„Was für ein Buch meinst du?“

Ich klang so harmlos wie ein Clown auf einem Kindergeburtstag. Aber er ließ sich nicht irritieren.

„Du weißt, was ich will. Gib es mir, oder es wird dich zerstören.“

Er griff nach der Kapuze und zog sie sich vom Kopf. Erleichtert atmete ich aus. Ich hasse es, mit jemand zu reden, den ich nicht genau sehen kann.

Sein Gesicht war gebräunt, die Haut gegerbt und dick wie altes Leder. Die Züge dagegen waren erstaunlich fein, fast zu schön für einen Mann. Die wie gemeißelte, gebogene Nase beschattete einen weichen Mund mit deutlich ausgeprägter Unterlippe. Die schmalen Wangen waren etwas nach innen gewölbt, und das Kinn lief in einem herzförmigen Bogen aus. Es hätte das Gesicht eines der Jungs von der 48. Straße sein können, die Sorte, die ständig Party machte. Er drehte leicht den Kopf, und ich sah das Tattoo, das seine rechte Wange verzierte: Der Rabe, genau so, wie ich ihn in Blut gemalt auf dem Buch gesehen hatte. Der scharfe Schnabel, das Auge, die Schwinge, es war alles da. Aber das Markanteste in seinem Gesicht waren die Augen. Sie veränderten alles und ließen mich erschrecken. Das Braun der Iris war so dunkel, dass es fast schwarz aussah. Die Lidform war irgendwie asiatisch, mandelförmig sagt man wohl dazu, obwohl die Mongolenfalte nur wenig ausgeprägt war. Sein Blick war durchdringend und klar, aber in seinen Augen lag ein Abgrund an Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.