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Dr. med. Hans Jürgen Scheurle ist Physiologe, Arzt und Dozent. Ehem. Doktorant am Institut für Physiologie der Universität Marburg. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Phänomenologie der Sinne und die Funktion des Gehirns. Seminare zur Wahrnehmungsschulung. Lehre in Anatomie und Physiologie sowie Embryologie und medizinische Ethik u. a. in Stuttgart, Fulda und Basel.

Hans Jürgen Scheurle

Das Gehirn ist nicht einsam

Resonanzen zwischen Gehirn, Leib und Umwelt

Mit einem Geleitwort von Thomas Fuchs

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., überarbeitete Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Bildbearbeitung: Johanna Lippmann

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17 029847-7

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pdf:     ISBN 978-3-17-029848-4

epub:  ISBN 978-3-17-029849-1

mobi:  ISBN 978-3-17-029850-7

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Inhalt

 

  1. Geleitwort von Thomas Fuchs
  2. Vorwort zur zweiten Auflage
  3. Aus dem Vorwort zur ersten Auflage
  4. Übersicht
  5. Einleitung
  6. A Zur Einführung
  7. 1 Ein Patient erwacht aus dem Koma
  8. 2 Ausgangspunkte
  9. 3 Fragen und Thesen
  10. 3.1 Warum benötigt die neuronale Weckung von Leistungen keine Informationsübertragung?
  11. 3.2 In der Physiologie wird das Gehirn als höherrangiges Organ angesehen, das den übrigen Leib steuern soll. – Besteht ein Hierarchiegefälle zwischen Gehirn und übrigem Organismus?
  12. 3.3 Gibt es Willensfreiheit? Wird im Organismus die Kontinuität der Lebensvorgänge unterbrochen? Lässt das Gehirn neues Handeln zu?
  13. 3.4 Warum sind Bewusstsein, Geist und Ich-Erleben nicht im Gehirn zu lokalisieren?
  14. 3.5 Zu Sprache und Terminologie von Gehirn und Geist
  15. 4 Leben und Er-Leben: Polaritäten des Bewusstseins
  16. 5 Lebensphänomene und Konstitution der Wirklichkeit
  17. 6 Sterbeprozesse – Der vergessene Tod oder wie der Mensch Nein sagen kann
  18. B Leib und Hirnfunktion
  19. 1 Emanzipation und Kohärenz – warum Individuation kein Hirnprozess ist
  20. 2 Resonanz und Synchronisation – zur Neuroplastizität des Gehirns
  21. 3 Spiegelneurone und die Untrennbarkeit von Sensorik und Motorik
  22. 4 Eigenaktivitäten der Glieder und Sinne – die Autonomie des Leibes (Konzept von Leibniz)
  23. 5 Hirnfunktion und Willensfreiheit
  24. C Die Selbsthemmung der Willkürorgane
  25. 1 Die periphere Hemmung
  26. 2 Zur Evolution der peripheren Hemmung
  27. 3 Die »schöpferische Pause« – Manifestation des Geistes?
  28. 4 Periphere und zentrale Hemmung als Bedingungen des Übens (»askesis«)
  29. 5 Periphere Nervenlähmung und lokale Betäubung – die einheitliche Funktion motorischer und sensibler Nerven
  30. 6 Das fehlende Zwischenglied der Hirntheorie
  31. 7 Doppelte Verneinung: Bejahung, Ich-Identität, Bewusstsein
  32. D Neuronale Schrittgeber und Resonanzen
  33. 1 Rhythmische Schrittgeber im Gehirn
  34. 2 Denkmodell der Herzphysiologie und Prinzip der Hirnstimulation
  35. 3 Bewegungsrhythmus und -gestalt – Synchronisation und Bindungsproblem (Konsequenz von Singers Theorie)
  36. 4 Inhibition: Rück- und Neubildung von Fähigkeiten – Lernen und Sprache
  37. 5 Die frontale Hemmung
  38. 6 Wahrnehmungsentscheidungen in unsicherer Umwelt
  39. 7 Phänomenologie der Sinne – Verkörperung (embodiment)
  40. 8 Wahrnehmungsstörungen
  41. 9 Neuronale Gedächtnisspuren und Leibgedächtnis – die Delokalisation von Fähigkeiten
  42. 10 Gewohnheit – wie kommt Neues in die Welt?
  43. 11 Wirklichkeit und Freiheit – wahnkrankes Subjekt und selbstverantwortliches Ich
  44. E Abschluss
  45. Zusammenfassung
  46. Literaturverzeichnis
  47. Sachregister

 

Geleitwort

 

Das Gehirn ist keine Insel; es kann nur in und mit seiner Umgebung seine Funktionen erfüllen. Das scheint einleuchtend. Doch welche Art von Beziehung besteht eigentlich zwischen Gehirn, Organismus und Umwelt? Die vorliegende Studie fasst sie unter dem Aspekt der Resonanz zusammen. Synchronisierte Schwingungsprozesse sind das verknüpfende Prinzip der Interaktion von Gehirn, Körper und Umwelt. Durch sie wird das Gehirn zu einem responsiven Wahrnehmungs- und Aktivierungsorgan für Prozesse innerhalb und außerhalb des Körpers. Es erscheint dann nicht mehr als isolierter Apparat, sondern als Organ eines Lebewesens in Beziehung zu seiner Welt.

In den gegenwärtigen Neurowissenschaften wird das Verhältnis von Gehirn und Umgebung mit dem Begriff der »Repräsentation« beschrieben: Das Gehirn soll eine innere Nachbildung oder »Stellvertretung« der Umgebung erzeugen. Diese Vorstellung beruht auf einer überholten Trennung von »Innen« und »Außen«: Die sogenannte Repräsentation wird zwar in Form bestimmter Gehirnprozesse von den eingehenden Reizen hervorgerufen, stellt jedoch kein eigentliches Abbild der Umwelt im Organismus dar. Tatsächlich kommt Wahrnehmung nur durch fortwährende Interaktion zwischen dem tätigen Organismus und der Umwelt zustande, wie schon das einfache Beispiel des Tastsinns zeigt: Nicht einzelne Tastreize, sondern nur die kreisförmige Koppelung von Eigenbewegung, Tastempfindung und Oberflächenstruktur vermittelt die Wahrnehmung des Gegenstandes. Nicht anders verhält es sich mit dem Blick, der die Dinge »abtastet«: Nur durch fortwährende Interaktion von Motorik und Sensorik nehmen wir die Umwelt wahr. Stellt man die Augenmuskeln durch Injektion eines Betäubungsmittels vorübergehend still, verschwindet das Wahrnehmungsbild – trotz intakter Sehwege und Sehzentren. Wahr-nehmen ist keine bloße Konstruktion des Gehirns, sondern eine aktive Leistung des Organismus insgesamt.

Das phänomenale Erleben ist durch den Repräsentationalismus zum bloßen Epiphänomen des Gehirns abgewertet worden. Diese Auffassung muss heute revidiert werden. Erleben ist ein selbständiger, nicht aus den isolierten Hirnprozessen erklärbarer Sachverhalt, der zum zentralen Gegenstand der Untersuchung erhoben werden sollte. Bewegen und Wahrnehmen stehen mit den Resonanzen der Hirnfunktion im Zusammenhang, ohne daraus inhaltlich ableitbar zu sein. Bewusstsein ist keine »Denkblase« von Repräsentationen im Gehirn, sondern der Ausdruck von Resonanzbeziehungen zwischen Gehirn, Körper und Umwelt. Wie Bewusstsein nur als Beziehung zwischen Mensch und Umwelt zu verstehen ist, so ist auch die Funktion des Gehirns nur aus seinem Resonanzverhältnis zur Umgebung zu begreifen.

Geht man vom rhythmischen Erregungsverhalten des Gehirns aus, eröffnet sich ein neuer Denkansatz zum Verständnis seiner Funktion. Er beruht auf der Annahme, dass sich das neuronale System auf das jeweils aktuelle Musterangebot der Umgebung einschwingt. Erst wenn die zerebralen Erregungen durch Synchronisierung so weit verstärkt worden sind, dass sie Sinnes- und Bewegungsorgane ausreichend aktivieren, kann das Gehirn mit der Umwelt in Resonanz treten, so dass Wahrnehmen und Handeln möglich werden. Indem das Resonanzprinzip an die Stelle des früheren kausalen Denkmodells der Hirnfunktion rückt, wird die dualistische Spaltung von Gehirn und Geist überwindbar.

In der vorliegenden Arbeit wird dargelegt, warum Bewusstsein, Wahrnehmen und Handeln nicht durch das Gehirn allein, sondern erst durch die Wechselwirkung mit hemmenden Vorgängen in der Körperperipherie (»periphere Hemmung«) möglich werden. Damit tritt die Bedeutung der Peripherie des Leibes, sowohl was die auftretenden Leistungen als auch was die lokalen Hemmungsprozesse betrifft, neu ins Blickfeld der Hirntheorie. Hier liegt ein neuer Ansatz zum Verständnis der Hirnfunktion des Menschen vor, der die seit langem festgefahrene Debatte zum Verhältnis von Gehirn und Geist aufbrechen und ihr eine neue, erfolgversprechende Richtung geben kann. Somit wünsche ich diesem Buch viele neugierige Leser.

 

Prof. Dr. Thomas Fuchs

Karl-Jaspers-Professur für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie

Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg

 

Vorwort zur zweiten Auflage

 

Die vorliegende Untersuchung stellt ein neues Konzept der Hirnfunktion vor. In der Hirnforschung sind in den letzten Jahrzehnten zahlreiche neue Ergebnisse zutage gefördert worden. Sie steht damit vor der Aufgabe, die Fakten neu zu durchdenken und zu ordnen um zu gültigen und allgemein verständlichen Aussagen zu gelangen – dies auch schon deshalb, weil die traditionelle Hirntheorie an einem ungelösten Widerspruch leidet: Einerseits wird dem Zentralnervensystem die Aufgabe zugewiesen, Träger und Produzent des Geistes sowie Steuerorgan des übrigen Organismus zu sein, andererseits sind im Gehirn weder geistige Prozesse noch entsprechende neuronal kodierte Informationen nachweisbar. Dadurch besteht eine Erklärungslücke (Levine), die das Gehirn zu jenem rätselhaften und unverstandenen Organ macht, das bis heute zu vielfältigen Spekulationen Anlass gibt. Entsprechend ist die heute verbreitete, überholte neurokonstruktivistische Theorie der Hirnfunktion durch eine geeignete und plausiblere zu ersetzen.

Den Hauptpunkt dieser Untersuchung bildet die Entdeckung einer Selbsthemmung der Willkürorgane. Sie sind im Ruhezustand physiologisch gehemmt und bedürfen zu Bewegung und Wahrnehmung daher der Auslösung durch Nervenerregungen vom Gehirn bzw. Rückenmark. Infolgedessen wird der Körper-Geist-Dualismus durch ein den empirischen Forschungsergebnissen entsprechendes Konzept der Resonanz zwischen Gehirn, Organismus und Umwelt abgelöst.

Bei Sichtung der Literatur ist dem Autor deutlich geworden, dass schon heute eine Resonanztheorie der Hirnfunktion in mehreren medizinischen Bereichen praktisch Realität geworden ist. So werden beispielsweise in der Grundlagenforschung in den Bereichen Spiegelneurone und Synchronisation von Hirnwellen, sowie in der klinischen Neurologie im Bereich der Hirnstimulation (THS, TMS) und der Anwendung von Neuroprothesen schon Resonanzprozesse als wesentliche Funktion des Nervensystems voraus- bzw. eingesetzt. Die neurokonstruktivistischen Thesen der Hirntheorie sind soweit ich sehen kann ohne Sinnverlust durch den Resonanzbegriff zu ersetzen.

Damit einher geht ein Bedeutungswandel in der Terminologie. In der aktuellen Forschung haben neurokybernetische Begriffe wie »kodierte Information« und »Informationsverarbeitung« im Gehirn etc. – im Unterschied zur dogmatischen Verwendung in vielen Lehrbüchern – schon länger keine inhaltliche Bedeutung mehr, sondern sind, wo noch gebraucht, leere Begriffshülsen geworden. Worte wie »Kodierung«, »neuronaler Informationsfluss«, »Signalübertragung« etc. haben ihren ursprünglichen Sinn verloren und werden meist gleichbedeutend mit neuronaler Repräsentation, verweisender Abbildung oder zerebraler Lokalisation gebraucht. Die schleichend fortschreitende Erosion der neurokybernetischen Kernbegriffe ist bislang jedoch kaum explizit thematisiert worden. (Ausnahmen Fuchs und vor allem Rizzolatti, der den von ihm und seiner Arbeitsgruppe entdeckten »Resonanzmechanismus« der Spiegelneurone als neues Erklärungsprinzip behutsam gegen die traditionelle Hirntheorie in Stellung bringt.) Ein Paradigmenwandel erscheint unvermeidlich, ja ist bereits im Gange. Man darf gespannt sein, was sich in der Hirntheorie in nächster Zeit bewegt!

Neben der Überwindung der traditionellen Subjekt-Objekt-Spaltung ist ein zentrales Anliegen dieser Untersuchung darzulegen, dass die Erforschung des Geistes nicht von den Naturwissenschaften nebenbei geleistet werden kann, sondern in die Geisteswissenschaften, und hier insbesondere zu den zentralen Fragestellungen der Phänomenologie gehört. So treten Ich-Bewusstsein und Geist nur in der Gegenwart auf, sind nicht erinnerbar und deshalb nur mit einer sog. phänomenologischen Einstellung zu erfassen. Allein die phänomenologische Methode erlaubt zudem gewisse notwendige Begriffsklärungen, die in der Physiologie notwendig, bislang jedoch unterblieben sind. Mein Doktorvater Herbert Hensel hat deshalb den Begriff der Phäno-Physiologie in die Sinnesphysiologie eingeführt. – Für das Verständnis der Hirntätigkeit und der Ganzheit des Leibes erweist sich weiterhin ein ziemlich vergessenes philosophisches Konzept des Organismus, die Leib-Seele-Geist-Einheit der Willkürorgane von Leibniz (sog. Monadenlehre) hilfreich, dem in dieser Untersuchung ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Erfreulicher Weise erscheint diese Neuauflage im Leibniz-Jahr 2016!

Ich bin dankbar dafür, dass das Anliegen dieser Untersuchung bei Kollegen und Therapeuten auf Resonanz gestoßen ist. In der zweiten Auflage habe ich einige Hauptpunkte aktualisieren und den gesamten Text gründlich überarbeiten können. Weitgehend umgestaltet bzw. neu sind die Kapitel »Übersicht«, A 3.4 und 3.5, A 4., C 5. und C 7. sowie die Farbtafel »Nachbilder« auf Seite 52. Dem Kohlhammer-Verlag sei hier für die gute Zusammenarbeit und das großzügige Entgegenkommen herzlich gedankt.

 

Badenweiler, Sommer 2016

Hans Jürgen Scheurle

 

Aus dem Vorwort zur ersten Auflage

 

In dieser Studie wird eine altbekannte Frage untersucht, die noch immer ungelöst ist: Die Beziehung zwischen Geist, Gehirn und Leib. Wie stellt sich die Verbindung von Mensch und Umwelt her, die wir im bewussten Wahrnehmen und Handeln erleben? Dass das Rätsel dieser Beziehung als nicht auflösbar gilt, liegt einerseits daran, dass das Ich kein räumlich fassbares, im Gehirn lokalisiertes Wesen ist, aber dennoch oft so vorgestellt wird, andererseits daran, dass Gehirn und Geist in einem kurzschlüssigen Kausalzusammenhang gedacht werden: Das Gehirn soll den Geist produzieren. – Methodisch ist hervorzuheben, dass neben naturwissenschaftlichen auch geisteswissenschaftlichen Sichtweisen, der Phänomenologie von Hirnfunktion, Körperbewegung und Umwelterleben eine zentrale Rolle zukommt.

Die Darstellung ist aus der Sicht des Arztes und Physiologen geschrieben, für den insbesondere die physiologischen Zusammenhänge einen hohen Stellenwert haben. Allerdings besteht gerade hier ein erheblicher Revisionsbedarf. So kämpft die Neurophysiologie bis heute mit dem fast 400 Jahre alten »Irrtum Descartes’« (Damasio), dem psycho-physischen Dualismus, wonach Leib und Seele, Körper und Geist in fragwürdiger Weise auseinander dividiert werden. –

Gegenüber meinen früheren Studien zur »Gesamtsinnesorganisation« (1984) und dem Fragenkreis von »Hirnfunktion und Willensfreiheit« (2009) hat sich in diesem Buch der Schwerpunkt verschoben. Das wichtigste Ergebnis der Untersuchung ist, dass positive und negative Leistung (Hemmung) primär vom übrigen Leib und erst sekundär vom Gehirn ausgehen. Die Polarität von Lebens- und Sterbeprozessen bildet den Ausgangspunkt der Untersuchung. Ich knüpfe dabei an die Phäno-Physiologie von Herbert Hensel (»Allgemeine Sinnesphysiologie« 1966, 1985) sowie an Viktor von Weizsäckers »Gestaltkreis« (1943, 1997) an, zwei zukunftsweisende Ansätze, die meines Erachtens noch lange nicht ausgeschöpft sind. In Bezug auf den Vorgang der Verkörperung (»embodiment«) und das Leibgedächtnis beziehe ich mich auf die phänomenologischen Untersuchungen von Thomas Fuchs (2008, 2013), dem auch eine gründliche Kritik des Neurokonstruktivismus zu verdanken ist. –

Das Buch wendet sich an Natur- und Geisteswissenschaftler, Biologen und Ärzte, Informatiker und Philosophen, Phänomenologen und Künstler sowie andere an der Hirnforschung interessierte Zeitgenossen. In der Diktion habe ich mich um Einfachheit und Verständlichkeit bemüht. Fachwissenschaftlich physiologische Erklärungen sind nach Möglichkeit kurz gehalten oder in Anmerkungen verlagert. Der durchgehende Normaltext kann dadurch auch von Laien ohne Verständnislücken gelesen werden.

Auf dem Weg zu diesem Buch danke ich für Hilfe und kritischen Beistand Thomas Fuchs (Heidelberg) und Rüdiger Safranski (Berlin/Badenweiler). Weiterhin bin ich Otto Eimer (Villingen), László Krasznai (Reutlingen) und Gottfried Kranz (Wien) für freundschaftlichen Austausch und fachliche Unterstützung dankbar, letzterem insbesondere auf dem Gebiet der Neuroprothetik und Hirnstimulation. Gerhard Florschuetz bin ich für mehrjährige Zusammenarbeit an der Klinik für Neurorehabilitation in Tonbridge (Kent, UK) verbunden. Schließlich danke ich besonders den Mitgliedern unserer Arbeitsgruppe Gehirn und Willensfreiheit an der Universität Witten/Herdecke (Leitung: Peter Matthiessen) für fruchtbare Anregung und kritischen Dialog.

 

Badenweiler, Juni 2013

Hans Jürgen Scheurle

 

Übersicht

 

Dieses Buch verfolgt zwei Leitgedanken: Einmal untersuche ich den Begriff des menschlichen Geistes wie er aus dem unmittelbaren Erleben hervorgeht. Das Geistige ist mit dem Leib in untrennbarer Einheit verbunden und als Ich im ganzen Leib verkörpert (embodiment). Dagegen führt der Begriff des Geistes auf einen Irrweg, wenn er vom phänomenologischen Erleben abgekoppelt wird. Denn damit wird, neben dem real gegenwärtigen Selbsterleben, zusätzlich ein subjektives Wesen, ein abgesonderter Geist im Gehirn postuliert, welcher der Träger unseres Handelns und Denkens sein soll. Da der reale Geist jedoch mit dem unmittelbaren Erleben und Bewußtsein eins ist, wird auf diese Weise ein unwirkliches, nicht existentes zweites Ich, somit eine Art Doppelwesen konstruiert. Alles was wir in der Welt erleben scheint damit zusätzlich noch einmal im Gehirn repräsentiert zu sein (sog. Repräsentationalismus – Fuchs 2013). Das vom Leib abgespaltene Subjekt, das als inneres Konstrukt von den Nervenzellverbänden hervorgebracht werden soll, bleibt jedoch irreal, unauffindbar, substanzlos und illusionär. Zwischen den materiellen Nervenprozessen und dem qualitativen Erleben einer Farbe, eines Schmerzes, einer Bewegung, eines Gedankens, des eigenen und des fremden Ich usw. klafft die genannte unüberbrückbare »Erklärungslücke«. – Ein Verständnis des Menschen bei dem der Geist im Gehirn lokalisiert wird bleibt auch deshalb unbefriedigend, weil es weder das gesunde noch das krankhafte Verhalten verständlich machen kann.

Der andere Leitgedanke betrifft die Stellung des Gehirns im Organismus. Dem Gehirn wird heute eine pseudokreative Funktion, unter anderem die genannte Produktion des Geistes zugesprochen (sog. Neurokonstruktivismus). Die These vom geistproduzierenden Gehirn ist jedoch nicht durch die Forschung fundiert, sondern verdankt seine Suggestivkraft dem materialistischen Glaubensdogma, wonach das Dasein aus materiellen Teilchen herzuleiten sei, die letztlich als deus ex machina der Welterklärung herhalten sollen. Eine davon abgeleitete Variante ist die Theorie, die den menschlichen Geist auf materielle Prozesse im Gehirn zurückführt. Dass dieser weniger ein empirisch-wissenschaftliches als vielmehr ein weltanschaulich-ideologisches Konzept zugrunde liegt (etwa im Sinne von Feyerabend 1981) wird abschließend dargestellt. –

Im Folgenden wird das Gehirn in Übereinstimmung mit der empirischen Forschung als Rhythmus- und Resonanzorgan für die Auslösung physischer und psychischer Aktivitäten dargestellt. Neuronale Resonanzprozesse haben Auslöser- wie auch Verstärkerfunktionen. Wie neuere Forschungen gezeigt haben (Singer 1994; Uhlhaas und Singer 2006; Dupont et al. 2006; Buzsáki 2006; weitere Literatur s. Singer 2007), sind die Hirnfunktionen erst durch einen eigenrhythmischen Vorgang, nämlich die Synchronisation der elektrischen Entladungen, in der Lage die Willkürorgane zu wecken und zu Eigenleistungen anzuregen. Durch differenzierte Resonanzbildung im Gehirn werden die Schwellenstärken zur Erregung der Willkürorgane überschritten (Exzitation). Der Vollzug höherer Körperfunktionen wird erregt, erleichtert (fazillitiert) und stabilisiert. Eine Informationsübertragung im Nervensystem findet dabei nicht statt. Bewegung und Wahrnehmung gehen nicht aus dem Gehirn hervor, sondern aus dem ganzen Leib und seiner responsiven Interaktion mit der Umwelt.

Dabei ist wissenschaftsgeschichtlich auf Leibniz zurückzugreifen. Nach ihm sind die der Willkür unterliegenden Bewegungs- und Sinnesorgane als selbständige Leib-Seele-Geist-Einheiten (sog. Monaden) zu verstehen. Im Ganzen von Körper und Geist erfährt der übrige Leib gegenüber dem Gehirn damit eine Rehabilitierung: Statt zu bloßen Mechanismen abgewertet zu werden, interagieren und kooperieren die Willkürorgane mit dem Gehirn als gleichberechtige Partnerorgane. – Die Hirnfunktionen lösen die höheren Leistungen des Organismus zwar aus, bereiten sie vor und synchronisieren sie, verursachen sie aber nicht.

Allerdings setzt dies notwendig eine weitere Klärung voraus. Es ist nämlich die Frage, wie es zum Ruhezustand der Willkürorgane kommt aus dem diese durch die Nervenerregungen geweckt werden. Wie ich schon früher beschrieben habe, wird der Ruhezustand des Leibes durch eine physiologische Selbsthemmung der Willkürorgane bewirkt (periphere Hemmung; Scheurle 2001; 2009). Durch die dem Leib innewohnende Trägheit verharren Bewegungs- und Sinnesorgane im Ruhezustand in einer Art Lähmung, einem »Dornröschenschlaf«, der erst durch die neuronale Erregungsübertragung beendet wird.

Ich schlage in dieser Studie vor, das Gehirn nicht als Steuer-, sondern als Resonanzorgan des Organismus zu verstehen. Seine rhythmischen Erregungsmuster sind weder kodierte Informationen noch Repräsentationen des Geistes, sondern stehen im Dienst der Koexistenz und Partnerschaft von Gehirn, Leib und Umwelt. – Höhere Leistungen wie Selbstorientierung und Empathie, Widerstand und Anpassung, Tun und Lassen bedürfen zum Gelingen der Resonanz der Neurone – ohne eine kausale Wirkung derselben zu sein. An die Stelle der traditionellen Steuerungstheorie tritt eine Art musikalisches Konzept, eine Resonanztheorie des Gehirns.

 

Einleitung

 

Eine Untersuchung des Gehirns darf die Frage nach dem Ich, dem menschlichen Geist nicht einfach übergehen. Denn jene wird sich indirekt aufdrängen, sobald von der Weckung seelischer und geistiger Leistungen durch das Gehirn die Rede ist. Das personale Selbst, das sich im bewussten Wahrnehmen und Handeln darlebt und verwirklicht, ist daher von Anfang an in die Forschung mit einzubeziehen. So ist 1. zu fragen nach dem Verhältnis zwischen Gehirn und Ich-Erleben, 2. nach dem von Gehirn und übrigem Leib.

1. Als Organ zeigt das Zentralnervensystem keine geistigen Eigenschaften. Das Ich ist nicht im Gehirn, sondern im ganzen Leib verkörpert. Der menschliche Geist ist nur in der Selbsterfahrung der ersten Person, nicht als objektives wissenschaftliches Faktum gegeben. Die neurokonstruktivistische These, wonach persönliches Erleben aus den Hirnprozessen kausal hervorgehen soll, ist von Fuchs (2013) gründlich untersucht worden. Sie ist als gescheiterter Versuch einer Theorie anzusehen, die nicht überzeugender wird, wenn sie heute immer wieder in verschiedenen Varianten unter erheblichem intellektuellem Aufwand dargestellt und gebetsmühlenartig wiederholt wird. –

Dem Geheimnis des Bewusstseins kann man sich nur durch eine Phänomenologie des Geistes nähern. Geistiges Erleben, so lautet eine Botschaft dieser Studie, ist keine exotische Absonderung des Gehirns (Emergenz), sondern Inhalt einer phänomenologischen Forschung, in der der Mensch sich selbst zum Gegenstand wird. Weil Ich-Erleben kein hartes Faktum ist, das sich mit naturwissenschaftlichen Methoden erforschen ließe, bedarf es dazu eines eigenen phänomenologischen Zugangs (Husserl 1950, 1952; Rang 1990, 13ff; Böhm 1966, V–VII; Scheurle 1997b, 25f; Fuchs 2013).

Erleben und Bewegen entspringen nicht im Gehirn, sondern im ganzen Leib und in der Umwelt. Sie werden nicht über neuronale Informationen ins Zentralnervensystem hinein bzw. in die Leibesperipherie hinaus projiziert, sondern sind schlicht dort, wo der Mensch etwas fühlt, Dinge erkennt und bewusst handelt. Sie sind im Bewegen und Wollen, in Denken und Fühlen, in Taten und Gesten der Hand, in Antlitz und Miene, in Freude und Kummer, in Lachen und Weinen, in der Körpersprache usw. unmittelbar anwesend. Das erlebende Ich ist in den Sinnesfeldern unmittelbar präsent.

2. Zwischen Gehirn und übrigem Leib besteht eine Arbeitsteilung, eine Partnerschaft, in der beide komplementär und gleichberechtigt miteinander interagieren. Das Gehirn ist dem Organismus nicht hierarchisch übergeordnet. Das Nervengewebe steht funktionell auf der gleichen, morphologisch sogar auf einer niedrigeren Stufe als Willkürmuskulatur und Sinnesrezeptoren, die von ihm geweckt werden. Funktionell sind die Nervenzellen oder Neurone auf Generierung und Weiterleitung elektrischer Entladungen (Aktionspotentiale) spezialisiert, welche die mitunter weit voneinander entfernten Bewegungs- und Sinnessysteme koordinieren. Ihre wissenschaftlich gesicherte Funktion ist die Weckung (Evozierung) der Willkürorgane, nicht die Übertragung kodierter Informationen. Die Eigenschaft des Nervensystems, monotone Entladungen zu produzieren, ist die Voraussetzung seiner beiden Haupteigenschaften, nämlich der Weckungs- und Schrittgeberfunktion. Durch beides verschmelzen Gehirn, Organismus und Umwelt zum Funktionskreis. Gliedmaßen und Sinnesorgane müssen dabei vom Gehirn zwar geweckt (evoziert) werden, vollziehen ihre Leistungen jedoch im Übrigen autonom, in Eigenregie (image B. 4).

Morphologisch ist das Gehirn gegen Ende der Fetalzeit bereits weitgehend ausgebildet. Als Parallelorgan des übrigen Leibes schwimmt es zeitlebens im Hirnwasser (Liquor), was als Ausdruck eines ursprünglicheren Zustands (Verbleib im Wasserorganismus!) gelesen werden kann. Zurückhaltend und diskret, ohne unmittelbaren Umweltkontakt und eigene Bewegungs- und Wahrnehmungsfähigkeiten – und wie gesagt auch ohne empirisch fassbare geistig-seelische Funktionen – steht es von der Embryonalzeit bis zum letzten Lebensaugenblick mit dem übrigen Organismus in Resonanz.

Wie gesagt ist die Phänomenologie für das Verständnis der Hirnfunktion grundlegend. Sie vermag nicht nur die Bedeutung von Gehirn und Erleben für die Erforschung der Gegenwart, sondern auch bestimmte physiologische Zusammenhänge aufzuzeigen, die in der naturwissenschaftlichen Forschung selbst unberücksichtigt bleiben. Von diesen seien hier nur die zerebral organisierte Multimodalität der Sinnesfunktionen (image D. 7) und die Ruhehemmung des Leibes bzw. der Willkürorgane genannt (image C).

Wissenschaftler überspringen oft die Phänomenologie und erklären persönliches Erleben kurzerhand zur »subjektiven Tatsache«, die als Epiphänomen aus dem Gehirn abzuleiten sei. Damit verkennen sie jedoch die Unmittelbarkeit des Erlebens, das nicht auf andere Fakten, somit auch nicht auf Hirnfunktionen reduzierbar, sondern axiomatisch, das heißt primär durch sich selbst gegeben ist (Hensel 1966, 16). Die Phänomene des Erlebens sind irreduzibel und entsprechen so gesehen den Axiomen der Mathematik. Die wissenschaftliche Forschung setzt sie ebenso voraus wie die Existenz des Gehirns. Man kann den Zusammenhang beider nur ergründen, wenn man sie zunächst unabhängig voneinander mit den jeweils für sie geeigneten Methoden untersucht: Objektive empirische Fakten sind nur mit naturwissenschaftlichen, geistig-seelisches Erleben ist allein mit phänomenologischen Methoden zu erforschen.

Das Verhältnis von Gehirn und Bewusstsein bzw. Erleben betrifft, über das rein wissenschaftliche Interesse hinaus, das menschliche Selbstverständnis, das Menschenbild überhaupt. Um sich selbst zu verstehen und sich in der Welt zu orientieren bedarf der Mensch der Selbsterfahrung. Er muss sich mit den veränderlichen und oft widersprüchlichen Elementen seiner psychischen und mentalen Existenz auseinandersetzen. Die Funktion des Gehirns ist damit in einer Weise verknüpft die jeden interessieren muss. Wenn die materialistische Hirntheorie, statt die Selbsterfahrung zu untersuchen, den Organismus durch einen angenommenen »Geist im Gehirn« zu erklären sucht, tut sie es weniger um den Menschen zu verstehen, als um ihn zu beherrschen. Je mehr der lebende Organismus auf einen unlebendigen Körpermechanismus reduziert wird, je weniger Autonomie er besitzt, desto eher erscheint es wissenschaftlich gerechtfertigt, ja notwendig, von außen in ihn einzugreifen, ihn zu dirigieren und zu manipulieren. Hier ist auf die ideologische Komponente der modernen Hirntheorie zu verweisen: Die Selbständigkeit und Würde des Individuums schwindet, seine Abhängigkeit und Unterwerfung unter die Wissenschaft wächst in demselben Maße in dem der Geist zum Produkt des Gehirns erklärt wird (image D. 11).

Der Preis dafür ist indessen allzu hoch: Dem Machtzuwachs auf biotechnischem Gebiet steht ein entsprechender Erkenntnisverlust im Bereich des Lebens selbst gegenüber. Die materialistische Theorie erklärt den lebendigen Leib zur mechanischen, seelen- und geistlosen Körperschale, Lebewesen zu Robotern, geistbegabte Menschen zu hirngesteuerten Zombies. Der menschliche Geist findet in der materialistisch-kybernetischen Hirntheorie keinen angemessenen Ort.1 Stattdessen kommt es zur Einseitigkeit materieller Nutzenbetrachtung, damit zu einer Überbetonung des Ego und Leugnung des eigentlichen lebendigen Ich-Erlebens.2

Der Glaube, dass Bewusstsein aus den neuronalen Prozessen des Gehirns auftauche (Emergenz) birgt neben den schon gestreiften wissenschaftstheoretischen Schwierigkeiten noch ein weiteres hochaktuelles ethisches Problem: Es ist die Bestimmung des Todeszeitpunkts, die sich an der Hirnfunktion orientiert. Im Jahre 1968 ist der Tod des Menschen von Forschern der Harvard-Universität als sogenannter Hirntod wissenschaftlich neu definiert worden (Wijdicks 2011, 8–12). Dieser Definition liegt die Annahme zugrunde, dass, weil der menschliche Geist vermeintlich vom Gehirn produziert werde, er nach dem Hirntod (sog. Null-Linien-EEG) nicht mehr existiere: »We learned that consciousness, personality, insights, perception, motion, emotion, memory, learning, language, and things we do every day all originate in the brain« (Wijdicks eb., 3). Der Tod des Individuums erscheint somit gleichbedeutend mit fehlender Produktion des Geistes durch das Gehirn. Aus diesem Grund sei die Explantation lebenswichtiger Organe aus dem noch warmen Leib mit schlagendem Herzen möglich, ohne sich einer Tötung des Individuums schuldig zu machen. Der mit der Organentnahme verbundene »Tod des Restkörpers« sei entsprechend zu vernachlässigen.

Die der Hirntod-Definition zugrunde liegende Annahme ist jedoch durch keine wissenschaftlichen Fakten gesichert oder beweisbar. »Die Produktion des Geistes durch das Gehirn « ist nur eine Hypothese, keine Tatsache. Das gilt auch für die Behauptungen Wijdicks im Einzelnen, wir hätten »erfahren, dass Bewusstsein, Persönlichkeit, Einsicht, Wahrnehmung, Bewegung, Empfindung, Lernen, Sprache und alles, was wir tagtäglich tun aus dem Gehirn entspringen «. Tatsächlich kann man eine solche Hypothese wegen der von Levine aufgezeigten Erklärungslücke (image A. 2) weder erfahren noch wissenschaftlich belegen, da sie, wie in Folgendem gezeigt wird, irreführend und falsch ist. – Das ist von erhöhter Wichtigkeit wenn es um etwas so Fundamentales geht wie das Sterben des Menschen. Das Todesereignis ist nicht nur ein längerer Funktionsstillstand eines einzelnen Organs, sondern das Lebensende des ganzen Organismus (image A. 5). Damit bleibt die Hirntod-Definition medizinisch-wissenschaftlich angreifbar, ethisch bedenklich und juristisch ein Menetekel – wesentliche Gründe, über Funktion und Stellung des Gehirns im Organismus neu nachzudenken!

1     »Ein entscheidendes Erklärungsdefizit der neurowissenschaftlichen Welt- und Selbstmodelle besteht […] darin, dass sie keinen Ort für den semantischen und phänomenalen Gehalt menschlichen Bewusstseins einräumen. Das neurowissenschaftliche Weltmodell schließt vom Ansatz her die Bereiche personalen Lebens aus, die einen Anhalt für semantische Bestimmungen bieten […]« Sturma 2006b, 192.

2     Schirrmacher 2013, 66; s. a. S. 32, Anm.11

 

 

 

 

 

 

 

 

A

Zur Einführung

 

 

 

1

Ein Patient erwacht aus dem Koma

 

Am 10. Mai 2005 schlug Joseph3 die Augen auf und fragte: »Und wer soll für mich sorgen, wenn ich fort bin?« – Die Frage war insofern erstaunlich, als der Patient zum ersten Mal wieder sprach. Er war vor zweieinhalb Jahren nach einer schweren Schädelhirnverletzung ins Wachkoma gefallen und gerade erstmals wieder zum Bewusstsein erwacht. Der wachkomatöse Zustand folgte auf eine mehrwöchige Phase völliger Bewusstlosigkeit. Danach hatte er zwar wieder die Augen geöffnet, dann aber mehr als zwei Jahre lang weder auf Ansprache reagiert, noch gesprochen, noch sonst irgendeine seelische Regung gezeigt. Seine Augen hatten sich selbständig gemacht. Er konnte sie nicht mehr auf Dinge richten, nicht fixieren; sie hafteten nicht an den Menschen die ihm begegneten, mit ihm sprachen und ihn versorgten, sondern glitten wie unbeteiligt über sie hinweg. Bei Ansprache reagierte er meist durch Änderung der Blickrichtung, jedoch ohne erkennbare Anteilnahme. Er musste mit einer Magensonde künstlich ernährt werden, atmete aber selbständig. Seine Gliedmaßen, die Beine und die über der Brust angewinkelten Arme und einwärts gebogenen Hände, die teils gekrümmten, teils abgespreizten Finger wirkten hölzern verkrampft. Jeden Morgen verfiel er in den spastischen Zustand, der sich löste wenn er wieder einschlief.

Der Zeitpunkt, an dem Joseph wieder zu sprechen begann, war der Vorabend einer geplanten Operation. Es sollte ein fehlendes Stück Hirnschale am Stirnschädel durch ein Implantat ersetzt werden. Die Gespräche und Vorbereitungen zur Verlegung in die chirurgische Klinik weckten ihn offenbar aus jenem stumpfen Wachschlaf, von dem niemand wusste, ob er von der Umwelt etwas mitbekam. Er hatte etwas mitbekommen! Seit diesem Abend wurde alles anders. Joseph konnte sogleich Fragen beantworten, mit einfachen Zahlen rechnen und die Farben im Zimmer auf Anhieb richtig benennen. Die Spastik der Glieder begann sich schrittweise zu lösen. Man hatte ihn zu füttern begonnen. Jetzt begann er mit Unterstützung wieder selbständig zu essen, was anfangs ziemlich schwierig war, da er nur allmählich die Herrschaft über Muskelgruppen, Sinnesorgane und Glieder wiedererlangte. In den nachfolgenden Monaten lernte er, zu stehen, sich selbst zu waschen und unbeholfen ein paar Schritte zu gehen. Seine Gesichtszüge drückten wieder Stimmungen und Emotionen aus; die Entspannung der mimischen Muskulatur ging der übrigen voran.

Auch wenn es noch Jahre dauern sollte – von jenem Abend an ging es mit Joseph ständig aufwärts. Er begann von sich aus einfache Konversationen mit anderen, die er allerdings meist nach Kurzem abbrach. Er zeigte soziales Engagement, lachte gern, meist ohne ersehbaren Grund. Er lebte auf einfachem Niveau. Aber er war wieder da! War Joseph vorher ohne aktive Interaktion mit der Außenwelt gewesen, begann er nun wieder in derselben Welt mit anderen zu leben und auch wieder mit sich selbst umzugehen. Nach zwei Jahren Rehabilitation war es so weit. Er konnte die Klinik verlassen und zuhause bei seiner Mutter unter besonderen Pflegebedingungen ein beschränktes, aber eigenes Leben aufnehmen.

Wie kommt es, dass Josephs Großhirn gerade an jenem Abend wieder zu funktionieren begann? Seit mehr als zwei Jahren hatte eine intensive klinische Rehabilitation stattgefunden, die aber bis dahin nicht zum gewünschten Erfolg geführt hatte. In der Klinik war etwa sechs Wochen vor dem Aufwachereignis mit einer besonders intensiven Übungsbehandlung (basale Stimulation, Padovan-Methode u. a.) begonnen worden. Nun hatten die Umstände und die Vorbereitung zur Operation ihn offenbar unbewusst in Angst und Furcht versetzt. Die Situation hatte sich entscheidend verändert. Es war gleichsam wie die Schlafloskeit am Vorabend einer Schlacht, an dem sich alle Kräfte des Menschen für den kommenden Tag anspannen. Bei Joseph schien eine solche innere Anspannung ebenfalls stattgefunden zu haben. War sie es, die das Gehirn wieder in seinen Eigenrhythmus versetzte, so dass es wieder mit dem übrigen Organismus zusammenstimmen, ihn wachrütteln und die Wiederkehr des Bewusstseins ermöglichten konnte?

Wie ist der Weg Josephs zurück ins Leben zu verstehen? Wie kommt es überhaupt, dass der Mensch erst durch die Funktion des Gehirns erwachen und bewusst mit der Welt interagieren kann? In welcher Weise hängen die Eigenrhythmen des Gehirns mit den Leistungen des übrigen Organismus zusammen? Diesen Fragen nachzugehen erscheint angesichts der unsicheren Prognose und Behandlung von Wachkomapatienten von vorrangigem Interesse.

Zunächst steht die Frage nach den evozierenden4 Funktionen des Gehirns im Vordergrund. Die jeweiligen Hirnregionen wirken auf unterschiedlichen Ebenen des Organismus stimulierend. Areale im sogenannten Stammhirn wecken und fördern vitale Lebensfunktionen durch Ausschüttung von Hormonen und Neurotransmittern; sie ermöglichen die Koordination vegetativer Prozesse von Stoffwechsel und Wärmebildung, Atmung, Kreislauf usw. Diese sog. autonomen Körperregulationen funktionieren großenteils auch im Wachkoma. Dagegen betreffen die Funktionen des Großhirns (Neokortex) das bewusste Erleben und Bewegen sowie die Sinnesreaktionen und Interaktionen mit der Umwelt. Diese Funktionen ermöglichen dem Gesunden auf unbekannte Weise Denken und Wahrnehmen, Erinnern und Planen, Bewegen und Handeln. Sie fehlen im Wachkoma.5 Wie neuere Forschungen gezeigt haben, wird die plastische Regeneration des Großhirns durch längere Übungsbehandlung mit verstärkter Anregung seiner Funktionen und Rhythmen gefördert.

Andererseits fällt hier insbesondere die Plötzlichkeit auf, mit der sich die Verbindung zwischen Organismus und Umwelt wieder hergestellt hat. Man hat den Eindruck, als ob der Hirnrhythmus auf einmal wieder »angesprungen« sei. Die plötzliche Restitution des Gehirns erinnert an die Therapie schwerer Herzrhythmusstörungen (zum Beispiel bei Kammerflimmern), wobei sich der regelmäßige Herzschlag durch Elektrokonversion (Defibrillation) schlagartig wieder herstellen kann. Sollte sich die Resonanzfähigkeit des Großhirns auf ähnliche Weise wieder restituieren können? Das plötzliche Erwachen scheint jedenfalls auf Resonanzeigenschaften des Gehirns hinzuweisen. Offenbar haben sich Nervenaktivitäten synchronisiert und die Interaktion mit der Umwelt wieder hergestellt. Der Tanz der Neurone im Gehirn, so die in dieser Studie verfolgte These, leitet die Aktion und Kommunikation des Menschen mit der Welt ein und erhält sie während des Lebens aufrecht. Könnten es, lautet demnach die Frage, die wiederkehrenden Resonanzfunktionen des Gehirns sein, die das rätselhafte, allzu seltene Erwachen von Wachkoma-Patienten herbeiführen?

3     Name verändert. Es handelt sich um einen meiner Patienten aus einer Klinik für Neurorehabilitation bei London.

4     Evozieren, von lat. evocare = wörtlich aufwecken, den Wachzustand herbeiführen und Exzitation = wörtlich Aufrufung, Weckung sind die etablierten physiologischen Begriffe, welche die Nervenfunktion wertfrei charakterisieren, ohne damit schon eine kodierte Informationsübertragung zu unterstellen.

5     Dennoch gibt es auch ohne Großhirnfunktion manchmal Bewusstsein. Ein Neurochirurg berichtet von seinen Erlebnissen nach einem einwöchigen Koma, bedingt durch schwere Hirnhautentzündung und kommt zum Schluss: »Wir müssen akzeptieren […], dass das Gehirn selbst kein Bewusstsein erzeugt. Das Gehirn wirkt mehr reduzierend, wie ein Filter, der ein größeres, nicht-physisches Bewusstsein, das wir in nicht-physischen Welten besitzen, umformt in die mehr begrenzten Kapazitäten unseres sterblichen Lebens« (Alexander 2012, zit. nach Heisterkamp 2012, 35).

 

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Ausgangspunkte

 

Der Mensch mag einsam sein; das Gehirn ist es nicht. Die Übertragung von Eigenschaften des Menschen auf das Gehirn entstammt dem Kausalbedürfnis, geistige Erfahrungen durch materielle Gegebenheiten zu erklären. Die Ergebnisse der Hirnforschung werden heute diesem Bedürfnis entsprechend interpretiert. Im Großhirn sollen Gedanken und Wahrnehmungen, im sogenannten limbischen System Gefühle und triebhafte Regungen entstehen, in Hippokampus und Hirnrinde soll das Gedächtnis beheimatet sein usw. Für nahezu sämtliche seelischen und geistigen Erlebnisse sind inzwischen Korrelate im Gehirn entdeckt worden, die als Ursprung oder Repräsentationen der jeweiligen Erlebnisse und Aktvollzüge gedeutet werden. Dabei wird unterstellt, dass die Hirnaktivitäten auch die eigentliche Ursache des Erlebens und Handelns seien. Wie gesagt spricht jedoch einiges dagegen, die Hirntätigkeit zur Ursache des Geistes zu erklären:

1.  Bewusstsein ist nicht reduzierbar; es stellt einen letzten, nicht weiter hintergehbaren, das heißt nicht durch andere Ursachen erklärbaren Endpunkt der phänomenologischen Analyse dar. Es gibt nichts, was die Fähigkeit, bewusst wahrzunehmen und vernünftig nachzudenken erklären könnte. Sie liegt vielmehr selbst allen anderen rationalen Begründungen und Ursachen zugrunde (Searle 1996).

2.  Bewusstsein und Denken ereignen sich in einem phänomenologischen Raum, der umfassender und vor allem anders ist als das dreidimensionale Gehirn. Erleben und Denken sind phänomenologisch delokalisiert.6

3.  Geist und Bewusstsein existieren nur im Erleben der ersten Person. Dagegen werden neuronale Prozesse stets von außen, das heißt in der Dritte-Person-Perspektive wahrgenommen. Wird die entsprechende Selbsterfahrung, das primäre Ich-Erleben unterschlagen (Selbst-Vergessenheit), lässt sich das Versäumte nicht mehr nachholen. Wer das Ich nachträglich, additiv, als Geist zum Leib hinzufügt, hat ein zweites Ich aus der Dritte-Person-Perspektive konstruiert das nicht wirklich existiert.

4.  Das Auftauchen von Geist aus dem Gehirn (Annahme der Emergenz) ist ein Fehlschluss, ist nicht verstehbar. Die behauptete Kausalbeziehung von Gehirn und Geist wirft ein zusätzliches Problem auf statt das ursprüngliche zu lösen. Statt zu einem besseren Verständnis des Gehirns führt sie zu einer unüberbrückbaren Erklärungslücke (Levine7).

Wenn kein Kausalzusammenhang zwischen Gehirn und Bewusstsein besteht, welcher Art ist dann ihre Beziehung? Die Physiologie spricht hier von einer Weckung (Exzitation, Evozierung) der im gesamten Leib schlummernden Fähigkeiten und Potenzen.8 Deren Lokalisierung bleibt jedoch offen. Phänomenologisch erlebt man Angst und Freude nicht im Gehirn oder in den sogenannten Mandelkernen (Amygdalae), sondern im ganzen Leib, in Kopf und Bauch, Händen und Füßen, vielleicht auch »im Herzen«, wie der Volksmund sagt; sie werden lediglich von den Hirnkernen geweckt. Der Wille zum Handeln geht nicht vom Kopf (auch nicht vom sog. Bereitschaftspotential im Großhirn, image B. 5), sondern von den auf die Umweltsituation antwortenden Gliedmaßen und Sinnesorganen aus. – Statt einer monokausalen finden sich lediglich kreisförmige Beziehungen zwischen Gehirn, Leib und Umwelt (»Gestaltkreis«, Weizsäcker 1943). Das Nervensystem ist als weckendes Verbindungsglied in den Funktionskreis von Wahrnehmen und Handeln eingeschaltet. Fällt eines der Glieder in der Kette aus, bricht die gesamte Funktion zusammen. Das Gehirn hat dabei keine übergeordnete, höhere Funktion als die anderen funktionellen Glieder. Es gibt hier, wie bei Henne und Ei, keine »erste Ursache«. –

Wie kommt es überhaupt zur Lokalisation von Seele und Geist im Gehirn? Die These eines vom eigenen Leib und von der Welt getrennten Geistes tritt zuerst bei René Descartes (1596–1650) auf. Dabei werden bewusster Geist und Materie einander unvermittelt gegenübergestellt (Dualismus; image B. 4, Anm.59). Der Geist soll nach Descartes keine direkte Verbindung zur Welt haben. Er tritt mit dem Gehirn in Kontakt und empfängt hier die Bilder von der Umwelt. Auch für spätere Philosophen wie etwa Locke ist der Verstand wie ein Zimmer, das nur einige kleine Löcher hat, um äußere Bilder und Ideen von den Dingen einzulassen als Repräsentanten oder Ideen der Dinge, die er selbst niemals zu sehen bekommt.9

Die Auffassung, Bewusstsein entstehe im Gehirn, unterstellt eine im Innern der Schädelkapsel gelegene, für Andere unzugängliche Innenwelt, deren Verbindungen nach beiden Seiten gekappt sind: Der vermutete Geist im Gehirn erscheint vom übrigen Leib ebenso abgeschnitten wie von der Welt. Damit erhalten die Wahrnehmungen, die auf bloße Hirnkonstruktionen zurückgeführt werden, einen illusionären Charakter. – Der moderne Neurokonstruktivismus hat die Bildtheorie von Locke übernommen. Nur empfängt jetzt nicht mehr der Geist im Gehirn die kartesischen Ideen, sondern das Gehirn selbst, sei es in Form eines hypothetischen doppelten Ichs, sei es, dass Gehirn und Ich überhaupt gleichgesetzt werden (sog. Identitätstheorie image A. 3.5).

Das lebendige, wirkliche Bewusstsein hat jedoch weder Ähnlichkeit mit dem Geist Descartes’ noch mit dem doppelten Ich der Neurokonstruktion. Persönliches Erleben kann von Leib und Umwelt nicht abgelöst, nicht isoliert werden. Ein vom Leib getrennter »Geist im Gehirn« ist ein ausgedachtes, irreales Phantom; ein sogenannter »Beobachter im Gehirn« ist nicht verifizierbar, ist ein Neuromythos (Fuchs 2006). Der erlebende Geist hat keinen bestimmten Ort im Körper. Geist lebt im gegenwärtigen Wahrnehmen, das heißt, er ist überall und nirgends – und damit auch nicht im Gehirn lokalisierbar (image D. 9).

Die Auffassung, der Mensch sei ein in seiner Innenwelt gefangenes Subjekt, ist nicht wertfrei, sondern stellt vielmehr eine Bewertung des menschlichen Geistes dar. Sie macht aus dem Individuum einen »Gefangenen des Gehirns« ohne eigenes Dasein.10 Wird das menschliche Ich von der Welt getrennt und als Ego gedacht11, dem nur ein illusionäres, unwirkliches Bewusstsein zukommt, sind die Konsequenzen weitreichend (image D. 11).

Mit der Isolation des Subjekts erheben sich zwei Erkenntnisklippen: Zum einen die Negierung der Freiheit, zum anderen die Eliminierung der Wahrheitssuche. Beides sind Hauptprobleme der heutigen Wissenschaft. Ein hirngesteuertes Individuum unterscheidet sich nicht von einem programmgesteuerten Automaten. Wissenschaftler welche die Auffassung vertreten, dass der Mensch in seinem bewussten Tun und Lassen vom Gehirn gesteuert sei, sehen in ihm ein grundsätzlich unfreies Wesen. Er sei das Opfer der Konditionierung seines Gehirns, Freiheit sei nur eine Illusion (Singer 2004; Roth 2003). Singer und Roth bestreiten dezidiert die Möglichkeit der Willensfreiheit. In der Konsequenz kommen nur zwei Denkmöglichkeiten infrage: Entweder ist die heutige Hirntheorie richtig – dann gibt es keine Willensfreiheit; oder es gibt diese – dann muss jene falsch sein.

Im Hinblick auf diese Konsequenz kann der Fragenkreis von Gehirn und Geist nicht mehr nur die Domäne der Naturwissenschaft sein. Vielmehr wird es nun zur Aufgabe der Philosophie, ja zur Sache des gesunden Menschenverstandes,

»das Menschenbild der Naturwissenschaften aufzuklären und den oft fragwürdigen Subtext ihrer ›reinen‹ und ›wertfreien‹ Erkenntnisse zu untersuchen. Denn was wird aus der offenen Gesellschaft, wenn man den Empfehlungen von Hirnforschern folgen und die Idee der Freiheit aufgeben würde, um sich in subalterner Demut dem Spiel der Evolution anzupassen?« (Assheuer 2011).

Die Behauptung einer generellen Unfreiheit des Menschen entzieht den heute gültigen modernen Rechtsvorstellungen den Boden. Wenn nämlich allein das Gehirn unsere Handlungen hervorbringen würde, könnte der Mensch für seine Handlungen nicht verantwortlich gemacht werden. Denn den genetischen Anlagen wie der Umwelt kommt ein erheblicher, wenn auch nur bedingt auszumachender Anteil an der Ausbildung des Gehirns zu (image B. 5, Anm.70).

Einer Preisgabe der Idee der Freiheit folgt die der Wahrheitssuche. Sieht man im menschlichen Erkennen lediglich eine Produktion des Gehirns – wird der Geist nur im materiellen Organ statt in der realen Interaktion des Menschen mit der Welt verortet – erscheint das Individuum von der äußeren Wirklichkeit abgeschnitten. Damit verliert das Bemühen um Wahrheit jeden Sinn.12 Ohne Zugang zur Wirklichkeit lassen sich Sätze nicht überprüfen, ihre Gültigkeit weder bestätigen noch widerlegen. In letzter Konsequenz trifft das Fehlen von Wahrheitskriterien die Wissenschaft selbst ins Mark (image D. 11).

Hinter dem Paradigma wonach das Gehirn den Geist produziere steht letztlich die Weltanschauung des Materialismus. Nach materialistischer Auffassung existiert in Wirklichkeit nur die Materie, während die übrige Welt bloßer Schein sein soll. Nach Demokrit (um 400 v. Chr.) gibt es »nur die Atome und das Leere«.13 Die Theorie einer Welt aus Atomen, Molekülen, Teilchen etc. stellt allerdings nur eine Denkmöglichkeit unter vielen dar. In der Hirntheorie stoßen die materiellen Prozesse des Gehirns unmittelbar