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Inhalt

Vorwort

Das Experiment

Maren – „Alkohol macht das Leben erst schön!“

Saufen, bis der Arzt kommt – und er kommt immer öfter

Marek – Der Totschläger

Jugendliche Straftäter unter Alkoholeinfluss

„Komasaufen darf sich nicht ausweiten!“

Max – Vom Rausch direkt in den Knast

Wie der Alkoholmissbrauch anfängt

Koma, Drogen, Sex – Interview mit einem 14-Jährigen

Potenzierte Gefahr – Was Alkohol mit jungen Menschen macht

Wie Kinder an den Stoff kommen

Johannes – Der Säufer

Karneval – Die Hoch-Zeit der Komatrinker

Die Rolle der Politik

Julian – Saufgelage in der Oberschicht

Interview mit einem Komatrinker

Einblicke: Familie Siggelkow und der Alkohol

Kerstin – „Ich kann mein Kind nicht lieben“

Wodka, Aids und andere Krankheiten

Malte – Abstieg in die Punkerszene

Rauschtrinken – Ein europäisches Problem

Was jetzt zu tun ist

Gedanken zur Zukunft – Ein Schlusswort

Die Autoren

Anmerkungen

 

Vorwort

Erinnern Sie sich noch an Lukas W.? Lukas war 16, als er 2007 in einer Berliner Kneipe nach 45 Tequila zusammenbrach – klinisch tot. Vier Wochen lang wurde Lukas noch künstlich beatmet, doch als sich keine Besserung abzeichnete, ließen die Angehörigen die Maschinen schließlich abstellen.

45 Tequila à 0,2 Deziliter, das sind rund 250 Gramm Alkohol oder 4,2 Promille Blutalkoholgehalt – bei einem Jugendlichen! Deutschland war geschockt, „Komasaufen“ wurde quasi über Nacht ein Begriff. Und plötzlich tauchten sie überall auf, die alarmierenden Statistiken über den missbräuchlichen Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Alkohol. Lukas blieb kein Einzelfall, etliche seiner Altersgenossen tranken sich in einen Rausch, aus dem sie nicht wieder erwachten. Dem Schock folgten hitzige Debatten, Gesetzesverschärfungen, unzählige Vorschläge für mehr oder minder wirksame Präventivmaßnahmen – und ein lautes Medienecho.

Doch unsere Mediengesellschaft hat ihre Tücken. Aktuelle Nachrichten 24 Stunden lang auf dem Handy, im Radio oder auf dem Bildschirm – das zwingt uns Medienschaffende in eine ständige Hab-Acht-Stellung mit dem Fokus auf tagesaktuelle Ereignisse ... und lässt uns leider oft längerfristige gesellschaftliche Entwicklungen aus dem Blick verlieren. Und so sehen, hören und lesen wir zwar immer wieder von dramatischen Fällen wie dem von Lukas W., aber das Erschrecken der Gesellschaft über Kinder und Jugendliche, die sich buchstäblich totsaufen, ist verblasst. Und damit auch die Sensibilisierung für dieses Problem.

Warum ist dieses Buch wichtig? Es ist wichtig, weil es zeigt, wie bedauerlich selbstverständlich das „Saufen“ in der Welt unserer Kinder und Jugendlichen inzwischen ist. Es ist wichtig, weil mittlerweile jeder zehnte Jugendliche unter 12 Jahren Alkohol trinkt – und zwar regelmäßig! Es ist wichtig, weil diese jugendlichen Trinker immer jünger werden. Und dieses Buch ist wichtig, weil eine „Generation Wodka“ heranwächst, die unter Alkoholeinfluss um sich schlägt und dabei andere Menschen verletzt oder sogar tötet. Weil Menschen heranwachsen, deren körperliche und geistige Entwicklung wie bei keiner Generation zuvor durch Alkoholkonsum beeinträchtigt wird.

Alkohol wird in unserer Gesellschaft toleriert, Trinken ist normaler Bestandteil der Erwachsenenwelt. Und wer als Jugendlicher mithalten will, so die allgemeingültige Regel, muss auch mittrinken. Alkoholismus wird in der Gesellschaft zunehmend bagatellisiert, die Gefahr des Missbrauchs und die Tatsache, dass sich aus dem Ritual, „mal eben ein paar Gläschen zu kippen“, im Handumdrehen eine schwerwiegende Krankheit entwickeln kann, wird nicht mehr wahrgenommen. Warum also wundern wir uns, dass Jugendliche sich nichts dabei denken, wenn sie unkontrolliert bis zur Ohnmacht trinken?

In diesem Buch erzählen Jugendliche, die diesen Teufelskreis durchbrochen haben, ihre Geschichte. Es handelt aber auch von denen, die es nicht geschafft haben. Und schließlich stellt dieses Buch Forderungen auf: nach einem Alkoholverbot auf Straßen, Plätzen und an Tankstellen, nach einer 0,5-Promille-Grenze für Fahrgäste in Bussen und Bahnen, nach einem deutlichen Warnhinweis auf jeder Flasche, die Alkohol enthält, und nach einem Lizenzentzug für alle Verkaufsstellen, die rechtswidrig Alkohol an Minderjährige abgeben. Dieses Buch stellt klar, dass wir das Problem endlich in den Griff bekommen müssen, weil sich der Alkohol sonst immer mehr Kinder und Jugendliche greift.

Caren Miosga

Moderatorin der ARD-Tagesthemen

 

Das Experiment

Derzeit läuft im Herzen Europas ein gewaltiges gesellschaftliches Experiment. Es ist ein Experiment, über das keine Ethikkommission beraten und grünes Licht gegeben hätte. Es ist ein Experiment, das weitgehend unbeaufsichtigt abläuft. Und es ist ein Experiment ohne Auftraggeber. Inhalt des Experiments ist folgende Versuchsanordnung: Stelle jungen Menschen Alkohol in unbegrenzter Menge zur Verfügung – und schau, was passiert.

Es passiert viel in diesen Tagen. Der Missbrauch der Droge Alkohol nimmt zu. Zwar nicht in allen Schichten und allen Regionen, aber dafür in bestimmten Gruppierungen in einem Ausmaß, wie man sich das früher nicht hätte vorstellen können. Kinder im Grundschulalter trinken sich nachmittags krankenhausreif. Jugendliche Mädchen lassen sich zwischen dem sechsten und siebten Bier versehentlich schwängern. Teenager mit Bildungsdefiziten saufen sich systematisch aus dem System und ertränken im Alkohol nicht nur ihre Sorgen, sondern auch ihre Zukunftschancen.

Gerade erschien der aktuelle Drogenbericht der Bundesbeauftragten Sabine Bätzing, der alarmierende Zahlen gerade im Bereich des Alkoholkonsums von Jugendlichen aufweist1.

Das Experiment hat zahllose Risiken und Nebenwirkungen, über die sich die Gesellschaft viel zu wenig Gedanken macht.

Wie sollen schwerstabhängige Jugendliche später zu kompetenten und zuverlässigen Mitarbeitern in Betrieben und Behörden werden? Wer soll eigentlich für die entstehenden Schäden – vom Krankenhausaufenthalt über Fördermaßnahmen bis hin zu jahrzehntelangen Transferleistungen – bezahlen?

Wie kann die Öffentlichkeit vor gewalttätigen Alkoholisierten in der U-Bahn geschützt werden? Oder vor den Säufern, die sich auch noch hinters Steuer eines Autos setzen?

Dieses Buch will den Vorhang niederreißen, den die Öffentlichkeit vor der „Generation Wodka“ zugezogen hat. Es gibt Einblicke in eine Welt, die den meisten Lesern unbekannt sein dürfte. Auch wenn Otto Normalverbraucher hier und da mal einem betrunkenen jungen Menschen begegnet, hält er das doch eher für die Lust am Ausprobieren und das notwendige Sammeln von Erfahrungen, aber nicht für ein gesellschaftliches Problem von Rang. Und so geht das Experiment ungebremst weiter.

Wer sich häufig in sozialen Brennpunkten aufhält, nimmt diese andere Realität wahr. Der sieht, wie die Krake Alkohol nach immer mehr jungen Menschen greift und sie nicht mehr loslässt. Der sieht, wie schon Grundschulkinder mit exorbitanten Promillewerten vor die Hunde gehen, weil in ihrer Lebenssituation der Alkohol nicht mehr wegzudenken ist.

Es sind aber keineswegs nur junge Menschen aus der sogenannten „Unterschicht“, die der Generation Wodka angehören. Im Bürgertum oder bei der gesellschaftlichen Elite besteht erst recht die Neigung, vor diesem Problem die Augen zu verschließen. Während die Eltern beim Golfen sind, mischen sich die Kinder in ihren Zimmern hochprozentige Cocktails. In der Disco gehört Cola-Wodka zum Standardangebot. In den Dörfern versammeln sich viele Jugendliche am Brunnen zum feucht-fröhlichen Beisammensein und lassen die Schnapsflasche kreisen. Selbst Kinder von gut bezahlten Politikern entwickeln eine Abhängigkeit vom Alkohol – und ihre Eltern nehmen die Gefahr über lange Zeit kaum wahr.

Warum dieses Buch?

Die Autoren packen das Thema von verschiedenen Seiten an. Sie haben Studien ausgewertet, Zahlen gesichtet, Expertenmeinungen eingeholt. Sie haben Interviews geführt und diese teilweise im Originalton wiedergegeben. Und sie sind Menschen begegnet, deren Lebensgeschichte so typisch erscheint, dass die Wiedergabe im Reportagestil erhellender ist als manche wissenschaftliche Tabelle.

Dieses Buch kann vieles. Es kann informieren, illustrieren, aufklären. Es kann ungeschönt die Fakten auf den Tisch legen und gleichzeitig einen hautnahen Blick in eine Welt gewähren, die den meisten – Gott sei Dank – fremd ist. Nur eines kann dieses Buch nicht: das Experiment abbrechen. So bitter nötig und so dringend das auch wäre. Dazu fehlt es uns an Macht und Einfluss.

Die Autoren sind aber überzeugt, dass ein Ausstieg möglich ist. Nicht von heute auf morgen; dazu ist die Alkoholisierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen schon zu weit vorangeschritten. Aber in wenigen Jahren ließe sich ein Stimmungsumschwung erreichen. Dazu gibt es gegen Ende des Buchs konkrete Vorschläge.

Unsere Bitte an die Leser ist, dass sie die folgenden Kapitel mit der Bereitschaft lesen, ihren Beitrag zum Abbruch des Experiments zu leisten.

 

Bernd Siggelkow, Wolfgang Büscher, Marcus Mockler

 

Maren – „Alkohol macht das Leben erst schön!“

Maren ist 16 Jahre alt und ein bildhübsches Mädchen. Sie lebt am Stadtrand von Berlin und macht eine Ausbildung zur Fachverkäuferin in einer großen Supermarktkette. Seit drei Jahren, von einigen Unterbrechungen abgesehen, ist sie mit ihrem Freund Florian zusammen, einem 19-Jährigen, der sein Leben nicht auf die Reihe bekommt. Florian hat seinen Hauptschulabschluss nicht geschafft und „chillt seit drei Jahren ab“, wie er das nennt. Für die Arbeitsagentur ist der junge Mann schwer vermittelbar. Zu einigen Vorstellungsgesprächen ist er einfach nicht erschienen. „Ich habe verschlafen“, lautet seine Standardausrede.

Florian lebt schon in einer eigenen Wohnung, denn der neue Freund seiner Mutter wollte ihn nicht bei sich haben. „Die zwei Kleinen reichen mir vollkommen, ich will deine Mutter und nicht eine ganze Familie!“, hatte er Florian gesagt und ihn dann rausgeworfen. Florians Mutter war das gleichgültig. „Und tschüss!“, das hatte sie ihm noch hinterhergerufen. Seitdem gab es zwischen dem jungen Mann und seiner Familie keinen Kontakt mehr.

Auch Maren lebt nicht gerade in glücklichen Familienverhältnissen. Ihre Eltern streiten sich häufig, auch im Beisein ihrer drei Kinder. Maren hat noch einen zweijährigen Bruder und eine 14-jährige Schwester. Zu Hause leben sie sehr beengt in einer kleinen Vierzimmerwohnung. Beide Elternteile sind seit vielen Jahren ohne Arbeit, das Geld ist knapp. Von ihrer kargen Ausbildungsvergütung muss Maren die Hälfte an ihre Eltern abgeben, obwohl sie fast nie zu Hause ist. Maren schläft so gut wie immer bei ihrem Freund. Das hat aus der Sicht von Maren mehrere Vorteile: Sie ist weg von ihrer Familie, hat ihre Ruhe, und es ist auch nicht ganz so weit zu ihrem Arbeitsplatz.

Allerdings gab es dadurch in den letzten Monaten auch sehr viel Stress mit ihrem Chef im Supermarkt. Fast an jedem Abend sind Freunde und „Saufkumpels“ (wie Florian sie nennt) zu Besuch bei Marens Freund, und dann geht es fast immer wild zu. Es wird viel getrunken – manchmal nur Bier, zumeist aber Hochprozentiges. „Bier ist doch kein Alkohol!“, belügen sich Florian und fast alle seiner Kumpels selbst. Sie feiern bis tief in die Nacht, und Maren kommt einfach nicht zur Ruhe. Die Wohnung von Florian ist sehr klein: Es gibt zwei kleine Zimmer, eins davon mit einer kleinen Einbauküche, sowie ein Bad.

Oft kommt es auch vor, dass einer der Freunde eine neue Freundin mitbringt, und die beiden ziehen sich in Florians Schlafzimmer zurück. Dann sind beide Zimmer besetzt und Maren kommt nicht vor 3:00 oder 4:00 Uhr morgens ins Bett. Fast immer verschläft sie nach so einer durchzechten Nacht – vor allem, wenn sie Frühschicht hat. Selbst zur Spätschicht ist sie schon einmal unpünktlich erschienen. Hinzu kommt, dass Florian sie hin und wieder überredet, doch einfach liegen zu bleiben: „Wir machen uns einen schönen Tag.“ Und dann ist sie auf Florians Drängen hin schon mal bei ihm geblieben.

Nach dem fünften Fehltag musste sie bei ihrem Chef antreten. Der war stinksauer und drohte ihr mit dem Rauswurf. Viele solcher Nummern kann Maren sich nicht mehr erlauben, und einen neuen Job zu finden, das ist in Berlin fast unmöglich, vor allem in ihrem Kiez.

***

Vor einem Jahr hat Maren zum ersten Mal harten Alkohol getrunken. Davor war es immer nur Wein, manchmal auch Alkopops. Eigentlich war es ganz schön. Der Wodka schmeckte ihr nicht so richtig, aber mit ein wenig Brausepulver klappte es ganz gut.

Zusammen mit Florian und einer weiteren Freundin schafften sie es an diesem Abend, eine ganze Flasche Wodka leer zu trinken. Florian war danach ganz kuschelig; er versuchte, Maren und die gemeinsame Freundin anzumachen. Maren hatte nicht wirklich etwas gegen Sex zu dritt. Es war ihr eher gleichgültig, aber sie war auch ein wenig neugierig. Als Florian dem Mädchen dann aber die Bluse aufknöpfte, war ihr schon ein wenig mulmig zumute. Minuten später lagen sie alle nackt im Bett. Florian wollte natürlich mehr, aber es klappte nicht so ganz mit seiner Männlichkeit. Der Wodka, die Zigaretten und ein Joint zeigten ihre Wirkung. Bei Florian lief nichts mehr. Ihm war das natürlich total peinlich. Die Freundin verließ dann ein wenig enttäuscht die Wohnung. Maren brachte sie zur Tür. Als sie zurückkam, schlief Florian bereits.

Maren legte sich neben ihn. Ihr war schwindelig. Es drehte sich alles in ihrem Kopf und sie rannte zur Toilette. Danach ging es ihr ein wenig besser, und nach einigen Minuten schlief sie auch ein.

Zwei Stunden später wachte Maren auf. Um sie herum war undurchdringliches Dunkel und sie konnte sich kaum bewegen. Mit einer Hand ertastete sie ein Bein ihres Freundes. Der schlief fest und tief. Ihr Kopf dröhnte, und sie meinte zu schwanken wie auf einem Schiff. Es dauerte fast eine Stunde, ehe es ihr etwas besser ging. Auch am späteren Morgen – es war mittlerweile fast 11:00 Uhr –, fühlte sie sich noch schlecht.

Florian war verschwunden. Er musste an diesem Tag zur Arbeitsagentur, und ein weiteres unentschuldigtes Fehlen hätte eine Kürzung seines Hartz-IV-Satzes bedeutet. Auf dem Tisch standen noch die leeren Flaschen.

Maren zog sich an, ihre Kleidung lag verstreut in der ganzen Wohnung herum. Zum Glück hatte sie an diesem Tag Spätschicht, sonst wäre der Ärger unausweichlich gewesen. Sie fuhr direkt von Florians Wohnung aus zur Arbeit in den Supermarkt. Es war einer ihrer härtesten Arbeitstage. Sie fühlte sich leer. Heute Abend würde sie zu Hause schlafen, auch wenn sie darauf keine große Lust verspürte. Sie brauchte ihren Schlaf. Der Abend war schön gewesen ... wenn nur diese Nachwirkungen nicht gewesen wären!

Florians Erinnerung an den Vorabend war eine andere. Er hatte als Mann versagt. Woran lag das nur? Das Aufstehen an diesem Morgen war eine Qual gewesen. Der Wodka zeigte seine ganze Wirkung. Florian zog sich in die Küche zurück und versuchte, sich über sein weiteres Vorgehen klar zu werden. Würde sich der Weg zur Arbeitsagentur lohnen? Er zögerte. Seine dortige Betreuerin hasste er regelrecht. Seine Unentschlossenheit ärgerte ihn. Wovor hatte er eigentlich Angst? Er hatte keine Zeit, die Frage zu beantworten. Es war schon spät.

Florian griff sich eine halb volle Flasche Bier, die noch auf dem Tisch stand. „Fang morgens mit dem an, womit du am Abend aufgehört hast.“ Das hatte seine Mutter ihm vor einigen Jahren beigebracht, um den Kater zu überwinden. Es war der Morgen gewesen, nachdem er sich zum ersten Mal einen hinter die Binde gegossen hatte. Er nahm einen großen Schluck aus der Flasche, warf sie dann in den Abfall und verließ das Haus.

Immer noch dachte er an sein nächtliches Versagen. „Am Alkohol kann’s doch wohl nicht liegen“, machte er sich selbst vor. Schließlich konsumierte Florian schon seit einigen Jahren alkoholische Getränke und bisher hatte es mit dem Sex immer bestens funktioniert.

Es wurde ein langer Vormittag. Florian musste ganze zwei Stunden auf sein Gespräch in der Arbeitsagentur warten und dieses Mal war er sogar pünktlich. Danach ging er in ein Pornokino. Die Sache mit dem Hänger im Bett ließ ihn einfach nicht in Ruhe.

***

Den nächsten Abend verbrachte jeder für sich. Irgendwann musste man ja auch mal schlafen. Florian begriff nicht, woher einige seiner Kumpels tagsüber die Kraft hatten, auch noch zu arbeiten. Und das Tag für Tag. Florian war mit seinem Leben ganz glücklich. Es ging doch nichts über die vielen Partys in seiner Wohnung. Sein Hartz IV reichte aus, um einigermaßen über die Runden zu kommen. Hin und wieder nahm er einen Aushilfsjob an, und so kam er ganz gut klar.

Als Maren am nächsten Morgen die Augen aufschlug, wusste sie zuerst nicht, wo sie war. Wo steckte Florian? Dann fiel es ihr wieder ein. Sie schaute auf ihre Armbanduhr: Es war 9:00 Uhr. Sie blieb noch etwas liegen. Die anderen waren wohl schon weg. Durch die Wand meinte sie, die Stimmen der Nachbarn zu hören. Irgendeine Frau keifte so laut, dass Maren aufstand.

Manchmal hatte sie es so satt. So zu leben, in einem Plattenbau, wie ihre Eltern, zwischen widerlichen Nachbarn, das wollte sie nicht. Sie stand auf und hatte es plötzlich eilig, wegzukommen. Sie duschte nicht einmal, sondern zog sich gleich an und ging in das dunkle, kleine Wohnzimmer. Die Balkontür stand offen, ihre Mutter hatte wohl vergessen, sie zu schließen. Maren atmete tief durch, ein letzter Spaziergang mit ihren Augen durch den kleinen Lebensmittelpunkt ihrer Familie, dann verließ sie die Wohnung. Heute war ihr freier Tag. Sie wollte zu ihrem Freund.

Eine Stunde später stand sie, völlig durchnässt von einem Regenschauer, vor Florians Wohnung. Mit ihrem Schlüssel öffnete sie die Haustür und fuhr mit dem Aufzug in den 9. Stock. Zum Glück war Florian zu Hause. Er lag angezogen auf dem Bett.

Maren dachte an den gestrigen Abend. Ob sie ihren Freund darauf ansprechen sollte? Schlief er im Rausch bei irgendwelchen Partys auch mit anderen Mädchen, wenn sie nicht mit dabei war? Fragen über Fragen lagen ihr auf der Zunge.

Doch bevor sie loslegen konnte, redete Florian schon von selbst los. Er räusperte sich. „Du, ich wollte mich entschuldigen, dass ich gestern nicht konnte. War wohl zu viel irgendwie.“ Mehr kam nicht. Kein Wort über die Freundin.

Na, egal, dachte Maren und schaute im Kühlschrank nach etwas Trinkbarem. Sie öffnete eine Flasche Bier und leerte sie fast in einem Zug. „Nachdurst“ nennt man das wohl. Dann legte sie sich zu ihrem Freund aufs Bett und kuschelte sich dicht an ihn heran. So verbrachten sie den Nachmittag miteinander.

Zwischendurch lief Florian zur Tankstelle in der Nachbarschaft und kaufte noch ein Sixpack Bier. Irgendwann schliefen sie dann miteinander. Es klappt also doch noch, dachte Florian erleichtert. Inzwischen war es schon 20:00 Uhr. Gegessen hatten die beiden den ganzen Tag noch nichts; der Kühlschrank war leer, Florian war pleite und Maren besaß noch stolze 8 Euro.

Die beiden gingen gemeinsam aus dem Haus. Der kleine russische Supermarkt war ihr Ziel. Dort gab es billigen Wodka und vielleicht fanden sie auch noch was Preiswertes zu essen.

Unterwegs trafen sie Mike. Er saß mit hochgezogenen Schultern auf einem Sockel vor dem Geschäft, eine Flasche Bier in der Hand. Mike verzog keine Miene, als er die beiden begrüßte. Der Junge war gerade erst 16 Jahre alt geworden und lebte bei seiner Mutter.

„Bei mir geht nicht, meine Mutter hat ’nen neuen Lover“, zischte Mike sichtlich wütend. Er hielt aber stolz einen 20-Euro-Schein in die Luft. „Hab ich ihm geklaut. Der ist zu doof, um auf seine Kohle aufzupassen.“

Kollektives Aufatmen bei den drei Freunden: Der Abend war gerettet! Die drei gingen in den Supermarkt und kauften Wodka, Bier und Limo. Auch für was Essbares war noch genügend Geld vorhanden. Dann gingen sie die 200 Meter zurück zur Wohnung. Dort angekommen rauchten sie erst einmal eine Zigarette. Auf dem Tisch lag noch eine ganze Packung, die hatte wohl einer der Kumpels gestern vergessen. Sie öffneten die Wodkaflasche und nahmen jeder einen tiefen Schluck.

Wenn doch die Tage genauso schön wären wie die Abende!, dachte Maren und öffnete mit dem Feuerzug eine Flasche Bier.

Dieser Abend verlief so wie fast alle anderen. Um 2:00 Uhr morgens gingen sie ins Bett. Mike schlief auf dem Sofa. Hoffentlich höre ich morgen den Wecker, dachte Maren, denn am kommenden Morgen war sie für die Frühschicht eingetragen. Dann schlief auch sie ein.

***

Maren kam am nächsten Morgen natürlich wieder zu spät zur Arbeit. Doch sie hatte Glück: Ihr Chef lag krank zu Hause im Bett und auf ihre Arbeitskolleginnen konnte Maren sich verlassen. Die hielten dicht.

Einige Tage später feierte Maren zusammen mit ihrer besten Freundin deren 17. Geburtstag. Florian war nicht mit dabei. Er hatte noch einen dicken Kopf vom Vortag und zudem keine große Lust, da er die Freundin nicht leiden konnte.

Der Abend verlief anfangs ganz lustig. Es wurde gekifft und vor allem viel getrunken. Dabei fiel Maren ein Junge auf, der, so fand sie, „voll süß“ aussah. Die beiden saßen bald nebeneinander auf der Couch und hatten sich viel zu erzählen. Paul, so hieß er, zeigte großes Interesse an Maren. Die beiden wollten miteinander tanzen. Zögernd nahm Maren Pauls Hand. Sofort setzte sich Paul in Bewegung, umfasste ihre Taille mit seinen braun gebrannten Armen und begann, sich mit ihr im Rhythmus zu drehen. Die beiden hatten an diesem Abend schon sehr viel getrunken. Maren versuchte, sich den Tanzschritten von Paul anzupassen, doch das klappte nicht so ganz. Es dreht sich alles in ihrem Kopf.

Als sie nicht mehr konnte, nahm Paul sie auf seine Arme und trug sie von der Tanzfläche in das Schlafzimmer ihrer Freundin. Er legt sie auf das breite Bett und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort holte er eine Flasche eines sehr süßen Getränks, das es aber in sich haben sollte, und kam zurück zu Maren. Sie tranken, bis die Flasche halb leer war. Um Maren drehte sich alles. Trotzdem nahm sie wahr, dass Paul sich auszog. Seine Hände wanderten unter ihr Shirt und dann weiter unter ihren kurzen Rock. Sie ließ es sich gefallen. Die beiden schliefen miteinander. Kondome hatten sie nicht dabei und Maren war zu betrunken, um etwas zu spüren. Sie hatte das Gefühl, sich selbst zuzuschauen. Dann ging alles ganz schnell. Sekunden später war Paul fertig, stand auf und zog sich wieder an.

Maren tat, als ob nichts gewesen wäre. Sie würde über diesen One-Night-Stand nicht ein Wort verlieren. Florian und Paul kannten sich ohnehin nicht, da würde wohl nichts durchsickern. Ob ihre Freundin etwas mitbekommen hatte, konnte Maren nicht sagen. Die Tür zum Schlafzimmer jedenfalls war nicht abgeschlossen gewesen, aber während der kurzen Aktion hatte sich niemand blicken lassen.

Maren ging ins Bad und sah in den halb blinden Spiegel. Sie fuhr sich mit den Händen durch ihre Haare, ordnete ihre Kleidung und drehte sich hin und her. Es war schon ein komisches Gefühl: Vor drei Stunden hatte sie den Jungen noch nicht einmal gekannt, und jetzt war der Sex mit ihm schon wieder Geschichte.

Als Maren zurück in Wohnzimmer ging, saß Paul schon wieder bei einem anderen Mädchen. Die beiden wechselten an diesem Abend kein Wort mehr miteinander.

***

Einige Wochen und viele Wodkaflaschen später stellte Maren fest, dass sie schwanger war. Von wem, das wusste sie nicht. Hoffentlich war Florian der Vater. Aber auch das war ihr gleichgültig. Schlecht sah Paul ja auch nicht aus und von der einmaligen Nummer hatte keiner etwas mitbekommen, nicht einmal ihre Freundin. Auch Paul hatte wohl dichtgehalten.

Mit dem Trinken will Maren während der Schwangerschaft nicht aufhören, auch mit dem Rauchen nicht. Denn auch ihre Mutter, das weiß sie von ihrem Vater, konnte während der Schwangerschaft mit Maren nicht vom Alkohol und von den Zigaretten lassen. Und was ist passiert? Nichts!, denkt Maren heute. Also: weiter wie gehabt.