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Henri Nouwen

Du
schenkst
mir Flügel

Gedanken der Hoffnung
in Zeiten der Trauer

Danksagung

Vielen Dank an Maureen Wright und Sue Mosteller in der Henri Nouwen-Bibliothek und Gabrielle Earnshaw im Henri J.M. Nouwen-Archiv am St. Michael’s College in Toronto.

Ohne sie wäre dieses Buch nie zu Stande gekommen.

Danke auch an John Mogabgab für seine stetige Ermutigung und an Robert Jones für die Erlaubnis, seine Geschichte zu erzählen.

Einleitung

Hoffnung für eine verletzte Welt

Heute Nachmittag hat mich mein Freund Jonas angerufen – mit zitternder und vom Schock fast tonloser Stimme. Seine kleine Tochter, so erzählte er, sei vier Stunden nach der Geburt gestorben. „Margaret und ich und unser dreijähriger Sohn Sam hatten uns so sehr auf das Baby gefreut“, stammelte er. „Sie wurde zu früh geboren, durch einen Notkaiserschnitt, aber es sah ganz so aus, als ob sie durchkommen würde.“ Schon nach den ersten Untersuchungen hatte sich dann jedoch herausgestellt, dass Rebecca nicht lebensfähig war.

Auf der Säuglingsintensivstation hatten Jonas und Margaret das winzige Bündel Leben im Arm gehalten, und dann war es vorbei gewesen. Jonas habe noch ein Gebet für das Baby gesprochen, so erzählte er mir.

Was Jonas als Nächstes sagte, beeindruckte mich sehr: „Als ich vom Krankenhaus nach Hause fuhr, habe ich immer wieder zu Gott gesagt: ,Du hast uns Rebecca geschenkt und ich gebe sie dir jetzt zurück. Aber eine wundervolle Zukunft hat einfach ein jähes Ende gefunden. Es tut so weh, sie zu verlieren. Ich fühle mich so schrecklich leer.‘“

Ich suchte nach den richtigen Worten. Was sollte ich sagen? Ich wollte Jonas nicht in seiner Trauer stören, aber ich wusste auch, dass er sich seinem Schmerz und seiner Trauer nicht ohne Trost zu stellen brauchte.

„Rebecca“, sagte ich deshalb, „ist deine Tochter – deine Tochter und Margarets. Und das wird sie auch immer bleiben. Sam wird immer eine Schwester haben. Rebecca hat zwar nur ein paar Stunden gelebt, aber diese Stunden waren nicht vergebens, ebenso wenig wie deine Gebete. Sie ist jetzt in Gottes Armen.“

Es war ein langes Gespräch, und ich weiß, dass meine Worte nur ein bescheidener Trost für ihn waren. Jonas und ich hätten uns gern umarmt und zusammen geweint. Gerade in einem Augenblick wie diesem schien unsere Freundschaft so wichtig!

Und ich fragte mich wieder einmal – und vielleicht stellen wir uns diese Frage alle, wenn die Trauer zuschlägt –: Warum musste das passieren? Um die Herrlichkeit Gottes deutlich zu machen? Um uns daran zu erinnern, wie vergänglich das Leben ist? Oder vielleicht, um den Glauben derjenigen zu festigen und zu vertiefen, die weiterleben? Es ist schwer, auf diese Fragen mit Ja zu antworten, wenn alles so dunkel scheint.

Wenn ich an Margaret und Jonas denke, wie sie die winzige Rebecca im Arm halten, dann muss ich auch an die Mutter Jesu denken. Sie wird in Kunstwerken häufig mit dem leblosen Körper ihres Sohnes auf dem Schoß dargestellt. Sie blieb zwar nicht ohne Hoffnung zurück, aber was für ein Schmerz muss es für sie gewesen sein, mit anzusehen, wie ihr Sohn am Kreuz starb! Und wenn ich dann an Margaret und Jonas denke, dann bringt mich das zum Beten.

Das Schwere, das wir alle ertragen müssen, erfordert mehr als Worte, auch wenn es geistliche Worte sind. Wohl formulierte Aussagen können unseren tiefen Schmerz nicht lindern. Aber wir finden sehr wohl etwas, das uns durch den Schmerz und die Trauer hindurchleitet. Wir nehmen die Einladung wahr, doch zuzulassen, dass unser Klagen zu einem Ort der Heilung werden kann und unsere Trauer ein Weg durch den Schmerz hindurch.

Wer ist nach Aussage Jesu selig? „Selig sind die Trauernden“ (Mt. 5,4). Wir lernen, das, was wir verloren haben, wirklich ganz und vollständig anzusehen und dem Anblick, der so weh tut, nicht auszuweichen. Wenn wir den Schmerz, den das Leben mit sich bringt, nicht leugnen, finden wir darin vielleicht etwas ganz Unerwartetes. Indem wir Gott in unsere Schwierigkeiten hineinbitten, gründen wir das Leben – selbst seine traurigen Seiten – auf Freude und Hoffnung. Wenn wir aufhören, unser Leben krampfhaft festzuhalten, kann uns letztlich mehr geschenkt werden, als wir uns je für uns selbst nehmen könnten. Und wir erfahren, wie wir zu einer tieferen Liebe für andere Menschen gelangen können.

Wie können wir nun lernen, so zu leben? Wir neigen dazu, unseren Schmerz um jeden Preis loswerden zu wollen, wir möchten ihm unbedingt entkommen. Wenn wir jedoch lernen, durch ihn hindurchzugehen, statt ihn zu vermeiden, nehmen wir ihn ganz anders auf. Wir werden bereit, etwas von ihm zu lernen. Wir fangen sogar an zu erkennen, wie Gott ihn zu einem umfassenderen, größeren Zweck benutzen kann. Leiden wird auf diese Weise zu mehr als einem Ärgernis oder einem Fluch, dem man um jeden Preis entkommen muss. Es wird zu einem Weg zu umfassenderer, vollständigerer Erfüllung.

Letztlich bedeutet Klagen nichts anderes, als uns das, was uns verletzt hat, in der Gegenwart dessen anzusehen, der heilen kann.

Das ist natürlich nicht einfach. Normalerweise gibt es in diesem Tanz keinen Schritt, der nicht mühsam wäre. Möglicherweise muss man viel üben.

Das alles bedenkend soll das vorliegende Buch fünf Bewegungen in ein Leben aufzeigen, das in Gott gegründet ist. Diese Schritte werden den Schmerz nicht einfach verschwinden lassen. Sie bewirken nicht, dass wir von jetzt an die finsteren Täler und langen Nächte umgehen können. Aber wenn wir diese Tanzschritte nach Gottes heilender Choreographie beherrschen, können wir uns anmutig inmitten all dessen bewegen, was uns schaden könnte, und wir können Heilung erfahren, indem wir das aushalten, was uns eigentlich verzweifeln lassen würde. Wir können letztlich eine Heilung erfahren, die unseren verwundeten Geist wieder tanzen lässt, ohne Furcht vor Leid und sogar dem Tod, weil wir lernen, mit ständiger Hoffnung zu leben.

Henri Nouwen

Fünf Bewegungen in schweren Zeiten