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Judith Kubitscheck · Judith Kühl

Maggie Gobran

Die Mutter Teresa
von Kairo

Mit Fotos von Christoph Jorda

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© 2015 by adeo Verlag

in der Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614  Asslar  

1. Auflage Januar 2015

ISBN 978-3-86334-741-3

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

Innengestaltung: Stefan Wiesner



Wir bedanken uns für die erteilten Abdruckgenehmigungen von:

Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift
© 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart

Eric-Emmanuel Schmitt, Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran.
© Editions Albin Michel, Paris 2001. Aus dem Französischen von Annette und
Paul Bäcker. © Amman Verlag & Co., Zürich 2002. Alle Rechte vorbehalten.
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.

Die Zitate von Mutter Teresa sind entnommen aus „Mutter Teresa, Gedanken
und Zitate“, zusammengestellt von Heike Baller (Hrsg.), Leib und Seele Verlag,
Zürich 1995.

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1 – Die Professorin

2 – Erste Begegnungen mit Armut

3 – Die Zabbalin

4 – Karriere

5 – Erste Anfänge und Hausbesuche

6 – Erstes Camp

7 – Im Schatten der Gewalt

8 – Es ist nicht alles Gold, was glänzt

9 – Meine Eltern können auch nicht lesen

10 – Samira und ihr Kindergarten

11 – Umm Banat – Mutter von Töchtern

12 – Die Träumerin

13 – Wer teilen kann, ist reich

14 – Mokattam – zwischen Hoffnung und Enttäuschung

15 – Die große Schlachtung

16 – Revolution

17 – „15.-Mai“-Slum

18 – Auf dem Weg mit den Armen

Epilog

Nachwort

Bildteil

Prolog

„In die Müllstadt Mokattam zu gehen, ist, wie in eine riesige Mülltonne zu steigen. Eine riesige Mülltonne, in der sich vergammeltes Essen mit Medizinabfällen, Dosen, Plastiktüten und Babywindeln mischt.

Kleine Kinder spielen mit dem Müll zwischen Ratten und Ungeziefer in den Ausdünstungen des Kairoer Großstadtabfalls. Überall sind dicke schwarze Fliegen, die sich im Unrat nähren und auf den Gesichtern der Babys krabbeln.

Als ich zum ersten Mal hier war, wurde mir von dem üblen Geruch süßlicher Verwesung und Fäkalien flau und schwindelig. Obwohl ich ein Tuch schützend vor mein Gesicht hielt, drang der Gestank in meine Nase, selbst meine Kleidung und meine Haare saugten ihn auf.

Seit meiner Kindheit bin ich den Duft von Desinfektionsmitteln gewöhnt. In einer Arztfamilie aufgewachsen, lebte ich in einer Welt der Sauberkeit und Ordnung. Bevor ich mit meiner Puppe spielte, musste ich mir die Hände waschen. Danach natürlich auch.

Hier in Mokattam suchte ich vergeblich nach etwas, das sauber war. Ich weigerte mich, irgendetwas anzufassen, und hielt mich von den Menschen fern.

Ich war geschockt. Wie kann man nur so leben?

Doch der Gestank war nicht das Schlimmste. Schlimmer als aller Ekel, den ich empfand, war das unendliche Elend der Kinder, die im Müll aufwachsen und hier sterben. Das hässliche Hamsterrad der Armut, das nicht aufhört, sich über Generationen weiterzudrehen.

Ich fragte Gott: ‚Warum lässt du das zu, dieses Leiden, diesen Schmerz, diesen Hunger?‘ Und ich bekam eine Antwort. Aber eine andere, als ich erwartet hatte.“

1

Die Professorin

Verschwende nicht dein Leben damit, andere beeindrucken zu wollen. Dein Leben sollte nicht voll Arbeit, sondern deine Arbeit voller Leben sein.

Maggie Gobran

Kurz vor acht fährt Maggie Gobran mit ihrem schwarzen Mercedes SL vor die Amerikanische Schule in Kairo. Gerade noch rechtzeitig. Ruckartig kommt der Wagen zum Stehen. „Beeil dich!“, ruft sie ihrer Tochter Ann zu, die auf dem Rücksitz ihre Stifte zusammensucht. Dann öffnet Maggie Gobran schwungvoll die Fahrertür. Zwei schwarze Lederpumps auf hohen Trichterabsätzen, gefolgt von schlanken Beinen, die in einem engen schwarz-weißen Pepitarock stecken, schieben sich auf den Bordstein.

Egal, wo Maggie Gobran hinkommt, zieht sie die Blicke auf sich. Die achtjährige Ann ist stolz auf ihre charmante, modebewusste Mutter, die mit ihrer Kleidung ganz im Trend der 80er-Jahre liegt. „Bitte bring mich zur Schule“, hat sie deshalb morgens gebettelt, und ihre Mutter ließ sich tatsächlich überreden, obwohl sie vor Weihnachten genug zu tun hat. Maggie öffnet den Kofferraum und drückt Ann ihre Schultasche in die Hand.

„Ist das deine Mama?“, fragt Anns Klassenkameradin Zain, die ihr auf dem Weg ins Schulgebäude entgegenkommt. „Die sieht ja schön aus!“ Ann nickt triumphierend. Nicht nur Zain ist sichtlich von ihrer Mutter beeindruckt, sondern auch die Jungen aus der Klasse über ihr. Sie stehen vor dem Schuleingang, bewundern den Mercedes und die Frau, die sich gerade wieder ans Steuer setzt. Ann schaut ihrer Mutter gedankenverloren hinterher.

Jetzt gongt es zum zweiten Mal. Mit schnellen Schritten geht Ann zur Schultür. Zain folgt ihr und fragt: „Willst du heute neben mir sitzen?“ Ann schaut sie erstaunt an. Bisher hat ihre Klassenkameradin sie kaum beachtet. Zain gehört zu den beliebten Mädchen in der Klasse. Ann ist schüchtern und fällt normalerweise nicht besonders auf.

Die älteren Jungen stehen immer noch an der Schultür. Freiwillig treten sie einen Schritt zur Seite, als Ann sich ihnen nähert. Gestern haben sie sich ihr in den Weg gestellt und gelacht, als sie sich deshalb an ihnen vorbeidrücken musste. Kerzengerade und betont langsam geht Ann jetzt an ihnen vorbei. Ihr Plan ist aufgegangen. Der Auftritt ihrer Mutter hat gewirkt.

Der Verkehr auf der Qasr-al-Aini-Straße ist wie jeden Morgen chaotisch. Ein Eselskarren kommt Maggie Gobran entgegen. Sie hupt. Beinahe stößt sie mit dem Karren zusammen, auf dem sich meterhoch Müllsäcke stapeln. „Warum ist der so spät überhaupt noch unterwegs?“, denkt sie genervt. Wahrscheinlich wird sie wieder nicht pünktlich zu ihren Studenten kommen.

Im Zentrum der Stadt fährt sie am „Platz der Befreiung“, dem Tahrirplatz, vorbei. Die Amerikanische Universität liegt mitten im Herzen von Kairo. Mit einem Einzugsgebiet von über 20 Millionen Einwohnern ist die Megametropole eine der drei größten Städte Afrikas und des Nahen Ostens. Jeder, der etwas auf sich hält und die Mittel hat, studiert hier. Selbst die Präsidentengattin Suzan Mubarak ist Absolventin dieser Universität. Maggie Gobrans Vater bezahlte damals viel Geld, damit seine Tochter an der Eliteuniversität studieren konnte. Die Investition hat sich gelohnt: Mittlerweile arbeitet sie dort als Informatikprofessorin.

Tastaturgeklapper und Modefragen

Außer Tastaturgeklapper und leisem Murmeln ist im Computerraum der Universität nichts zu hören. 14 Studenten sitzen an klobigen Computern, starren auf grüne Zahlen und Buchstaben, die auf den kleinen Bildschirmen zu sehen sind. Die jungen Frauen und Männer kommen aus den besten Häusern Ägyptens. Dies zeigen ihre Markenklamotten, ihre Nachnamen und ihre Umgangsformen. Und die Beschäftigung mit dem Gerät vor ihnen: Nur wohlhabende Studenten können sich Mitte der 80er-Jahre einen eigenen Heimcomputer leisten.

„Habt ihr eure Programme auf Diskette gespeichert?“ Maggie Gobran schaut von ihrem Lehrbuch auf und blickt in den Raum. „Am Anfang ist der Heimcomputer etwas verwirrend, aber ihr werdet euch schnell daran gewöhnen“, sagt sie auf Englisch mit ihrer charakteristischen, ruhigen, aber ausdrucksstarken Stimme. Sie weiß, dass die meisten ihrer Schüler bislang nur mit einer Schreibmaschine gearbeitet haben und dies alles Neuland für sie ist.

Die 1,60 Meter große Frau streicht durch ihre schulterlangen, aschblond gefärbten Haare. Dezentes Make-up betont ihre dunklen Augen. An den Ohren hängen große, kreisrunde weiße Ohrclips. Seit etwa vier Jahren lehrt die 36-Jährige das Fach Informatik an der Amerikanischen Universität.

Nach einem Blick auf ihre goldene Armbanduhr klappt sie das Lehrbuch zu. „So, uns bleiben noch fünf Minuten. Gibt es Fragen?“

Eine junge Frau hebt den Finger.

„Ja, bitte, Rania“, sagt Maggie Gobran und erteilt ihr das Wort.

„Ich habe keine Frage zum Thema, aber ich wollte fragen, woher Sie Ihr neues Kostüm haben.“

Maggie spricht gerne mit den Studentinnen über die neuesten internationalen Modetrends, denn sie liebt es, schick und teuer einzukaufen, und trägt Designerstücke aus aller Welt. Bei den männlichen Studenten punktet sie mit ihren Kontakten zu prominenten ägyptischen Sportlern, Künstlern und Managern, die sie durch ihren früheren Job besitzt. Wann immer jemand das Gespräch mit ihr sucht, nimmt sie sich Zeit, hört zu und gibt Ratschläge – fachlich und persönlich. Sie pflegt bewusst einen guten und engen Kontakt mit den Studenten. Jetzt erzählt Maggie Gobran also, dass sie ihr neues Kostüm vor einigen Wochen aus London mitgebracht hat.

Ein schlaksiger junger Mann unterbricht sie: „Ich reise nächste Woche auch dorthin“, sagt er. „Wissen Sie, wie diese Straße heißt, wo die Juweliere ihre Läden haben? Ich möchte meiner Freundin ein Collier schenken.“ Seine Kommilitoninnen sehen ihn bewundernd an: Luxusgeschenke! Von so einem Mann träumt hier jede! Seine Haare sind mit Gel nach hinten gekämmt. Der Kragen an seinem Poloshirt ist hochgeklappt. Mit seinem neuen BMW fährt er jeden Tag zum Campus, damit alle wissen, dass er zu einer der reichsten Familien im Land gehört. Damit gibt er gern an.

Die anderen Studenten stört das nicht. Ihr Ziel ist es, später selbst so viel Geld zu verdienen und sich jeden Luxus leisten zu können. Während Maggie die Studenten untereinander reden lässt, fällt ihr auf, wie sehr sie alle nach Geld, Erfolg und Status streben. Sie kann ihre Studenten verstehen. Auch für sie ist das wichtig. Doch sie zweifelt, ob Glück allein davon abhängt.

Was macht ihr Leben eigentlich glücklich? Eine Frage, die sie sich schon oft gestellt hat, aber auf die sie, wenn sie ehrlich ist, für sich noch keine letztendliche Antwort gefunden hat. In Gedanken versunken, schaut sie auf die Uhr und unterbricht die Unterhaltungen: „Wir machen Schluss für heute. Allen, die Weihnachten feiern, wünsche ich ein frohes Fest.“

2

Erste Begegnungen
mit Armut

Wer teilt, dessen Herz fängt zu singen an.

Schwester Emmanuelle, 1908–2008

Gegen Nachmittag fahren Maggie und Ann zurück nach Heliopolis, einem wohlhabenden Stadtteil in Kairo. Dort leben Maggies Eltern, ihre Tante und ihre eigene Familie in einem Mehrfamilienhaus. Ann stürmt die Treppen im Flur hinauf und klingelt Sturm bei ihrer Großtante Matilda, die ein Stockwerk über ihnen wohnt. Maggie folgt ihr, so schnell es auf ihren hohen Pumps möglich ist.

„Ahlan wa sahlan – schön, dass ihr kommt“, begrüßt sie Tante Matilda, die von allen nur kurz Tedda genannt wird. Sie küsst Ann und Maggie rechts und links auf ihre Wangen.

Im Wohnzimmer sitzen zwei einfach gekleidete Frauen am Tisch und trinken schai ahmar, roten Tee. Tedda hat fast jeden Tag Gäste. Es ist ihre größte Freude, armen und einsamen Menschen ein Zuhause zu geben. Sie kocht für sie und betet mit ihnen. Zwischen den beiden Frauen, die heute bei ihr sind, hat es sich Maggies neunjähriger Sohn Amir bequem gemacht und bedient sich von den Keksen, die auf dem Tisch in einem ovalen Porzellanteller liegen.

Tante Tedda ist für Maggie wie eine zweite Mutter. Fast jeden Tag war Maggie als Kind bei ihr, weil sie auch damals schon im selben Haus gewohnt haben. Tedda konnte wunderbar Geschichten erzählen, am liebsten aus der Bibel. Inzwischen ist die Tante über 80 Jahre alt, und jetzt lieben es Amir und Ann, ihren Geschichten zu lauschen. Sie betet auch mit den Kindern – genauso, wie sie mit Maggie früher gebetet hat. Zusammen knieten sie täglich auf dem Boden vor dem Sofa im Wohnzimmer. „Mit Gott kannst du ganz unbefangen sprechen. Sag ihm, was du gerade denkst, was du dir wünschst oder was dich traurig macht“, hat Tedda Maggie und ihren Geschwistern erklärt.

Tedda ist ihr in vielem ein Vorbild. Gerade jetzt, vor Weihnachten, wenn Maggie selbst viele Geschenke für ihre Familie kauft, hat sie das Gefühl, sie sollte sich auch um Bedürftige kümmern.

Auch sie engagiert sich und bittet deshalb ihre Tante, morgen zusammen mit ihrer Mutter auf ihre Kinder aufzupassen. „Ich möchte einige Weihnachtsgeschenke an arme Menschen verteilen.“ Wie erwartet, ist ihre Tante gern dazu bereit.

Das Mädchen ohne Schuhe

Am nächsten Tag zieht Maggie ihren dicken Mantel und die schwarzen Lederstiefel an. Die wird sie heute brauchen können, denkt sie sich, während sie die Haustür hinter sich zuzieht und den Müll vor die Tür stellt. Dieser Tag im Januar kurz vor dem koptischen Weihnachtsfest ist außergewöhnlich kalt. Nur selten fallen die Temperaturen im subtropischen Kairo auf zwei, drei Grad Celsius.

Ein weißer Mitsubishi-Bus hält vor ihrem Haus. Maggie steigt zu fünf anderen Frauen in den Wagen und fährt mit ihnen in das Stadtviertel Shubra el Kheima, einem Industriegebiet, an dessen Rand die Armen des Viertels leben.

Vor Kurzem hörte Maggie von den fünf Frauen, die aus verschiedenen Kirchengemeinden kommen und sich zusammengetan haben, um an Weihnachten und zu Ostern Lebensmittel an Arme zu verteilen. Heute schließt sich Maggie ihnen zum ersten Mal an. Sie sieht darin eine schöne Möglichkeit, wenigstens ein paarmal im Jahr etwas Gutes zu tun. In der Familie Gobran gilt es als selbstverständlich, dass man sich um Menschen sorgt, die weniger haben.

Die Zeit in Shubra el Kheima vergeht wie im Flug: In der Eingangshalle einer katholischen Kirche warten Mütter, Kinder und ältere Menschen. Der Priester hat ihnen angekündigt, dass sie hier zu Weihnachten Lebensmittel bekommen. Schnell sind die Essenspakete und Geschenke für die Kinder verteilt. Als alle Kisten leer sind, geht Maggie los, um den Fahrer zu suchen, der mit dem Auto irgendwo in den Straßen nahe der Kirche wartet.

An der Hauptstraße fällt ihr Blick auf eine Frau, die auf dem schmalen Streifen zwischen den Fahrbahnen sitzt. Der chaotische Verkehr zieht an ihr vorbei. Teilnahmslos blickt sie den Autos und Mopeds hinterher. Nur bekleidet mit einem einfachen Hemd, das ihr bis zu den Füßen reicht, reibt sie ihre Handflächen aneinander. Trotz der Kälte ist sie barfuß. Auch einen Mantel hat sie nicht. Sie zittert. Das kleine Feuer vor ihr reicht nicht, um sie zu wärmen.

Vor ihr liegen kleine Stücke Kohle, die sie für wenig Geld verkauft. Maggie überquert die Fahrbahn und geht zu ihr. Schweigend bleibt sie neben ihr stehen. Sie sucht nach Worten, überlegt eine Weile und fragt die Frau plötzlich und direkt: „Masah el-kheir, anti kwayesa?“

Irritiert sieht sie die Kohleverkäuferin an, deutet auf die Kohlen, wartend, dass Maggie ihr sagt, wie viel sie kaufen möchte.

Doch Maggie fragt erneut: „Guten Abend, geht es Ihnen gut?“

Die Frau schaut ihr in die Augen. Sie überlegt einen Moment, dann platzt es aus ihr heraus: „Seit dem Tod meines Mannes vor vier Jahren hat mich niemand mehr gefragt, wie es mir geht. Weder meine Verwandten noch meine Nachbarn haben sich darum gekümmert, was ich und meine vier Kinder machen.“

Sie erzählt, dass sie täglich auf der Straße sitzt, Kohle verkauft und hofft, dass das Geld abends reicht, um den Kindern wenigstens eine Mahlzeit am Tag zu geben. Sie weint. Wahrscheinlich, weil ihr jetzt noch bewusster wird, wie mühsam und bitter es für sie war, in den letzten Jahren allein um das Überleben ihrer Familie kämpfen zu müssen. Auch Maggie ist sehr bewegt und nimmt die Frau in den Arm.

Es ist kurz vor sieben Uhr abends. Die älteste Tochter der Witwe kommt gerade von der Schule. Weil die staatlichen Schulen in den ärmeren Vierteln der Stadt mit der Schüleranzahl überlastet sind, bieten sie dreimal am Tag je drei Stunden Unterricht an. Das achtjährige Mädchen geht immer erst von 15 bis um 18 Uhr zur Schule. Statt sich danach an die Hausaufgaben zu setzen oder mit ihren Freundinnen zu spielen, läuft das Mädchen direkt zu seiner Mutter. Es löst sie ab und verkauft bis in die späten Abendstunden die Kohle, damit die Mutter die Geschwister ins Bett bringen kann.

Während die Kohleverkäuferin schnell nach Hause geht, bleibt Maggie bei dem Mädchen, das sich barfuß auf den Boden zu den Kohlen setzt. Es drückt seine dünnen, angewinkelten Beine an den Oberkörper, doch die Kälte frisst sich in Windeseile durch ihren gesamten Körper.

„Wie heißt du?“, fragt Maggie und versucht, ein Gespräch zu beginnen.

„Sherine.“

„Warum hast du denn mitten im Winter keine Schuhe an, Sherine?“

Das Mädchen sagt nichts. Maggie ahnt: Es besitzt einfach keine Schuhe.

Spontan sagt sie: „Komm, wir kaufen dir jetzt warme Schuhe.“

Sherine nickt, löscht das Feuer, scharrt die Kohle zusammen und steckt sie in einen dreckigen Plastiksack. Schüchtern folgt sie Maggie in das nächste Schuhgeschäft ein paar Meter weiter an der Hauptstraße.

„Such dir aus, was dir am besten gefällt“, fordert Maggie sie auf.

Sherine braucht nicht lange, bis sie ein passendes Paar schöner Lederschuhe in den Händen hält.

Als Maggie die Schuhe bezahlen möchte, fragt das Mädchen leise: „Kann ich diese Schuhe auch in einer anderen Größe nehmen? Ich brauche sie ein paar Nummern größer.“

Maggie fragt verwundert: „Warum? Diese Größe passt dir wie angegossen!“

Sherine schüttelt den Kopf. „Nein, ich brauche sie nicht für mich.“ Sie macht eine Pause und flüstert, damit die anderen im Laden es nicht hören: „Meine Mutter hat auch keine Schuhe. Sie braucht sie dringender als ich, denn sie schämt sich so sehr, barfuß gehen zu müssen.“

Maggie kann nicht glauben, was sie hört. Sie hätte mit vielem gerechnet: Dass das Mädchen vor Freude durch den Laden tanzt, dass es sich nicht entscheiden kann – wie manchmal ihre Tochter Ann – oder dass sie ganz viele Schuhe auf einmal haben will. Sherine reagiert völlig anders. Ihre Füße müssen Eisklötze sein. Selbst Maggie friert in ihren dicken Socken, die in gefütterten Stiefeln stecken. Wie sehr muss dann das Mädchen frieren? Doch sie denkt nicht an ihre Not, sondern an ihre Mutter. Wo hat sie diese Großzügigkeit gelernt? Maggie ist sprachlos: Was für eine Selbstlosigkeit!

Sie bezahlt zwei Paar Schuhe. Ein Paar für Sherine und eines, ein paar Nummern größer, für die Mutter. Das Mädchen strahlt vor Freude.

Maggie bringt Sherine nach Hause. Als die Mutter die neuen Schuhe für sich sieht, erzählt Maggie, dass ihre Tochter darauf bestanden hat, ein Paar Schuhe für sie zu kaufen. Die Mutter weiß nicht, was sie sagen soll. Weder sie noch irgendjemand anderer hatte dem Kind seit Jahren etwas gekauft oder geschenkt. Und jetzt, als es das erste Mal etwas geschenkt bekommt, denkt es nicht an sich, sondern zuerst an sie, seine Mutter.

Es ist später Abend, als Maggie die Tür zu ihrer Wohnung aufschließt. Sie zieht ihre Lederstiefel aus und stellt sie in ihren großen Schrank, den sie kaum noch schließen kann, so viele Schuhe stehen darin: High Heels, Sandalen, Stiefeletten … Für jedes Wetter und jede Jahreszeit ist Maggie ausgestattet. Zum ersten Mal fällt ihr auf, wie viele Schuhe sie besitzt. Die Witwe und ihre Tochter hatten nicht ein einziges Paar.

Maggie geht in die Zimmer ihrer Kinder und drückt beiden einen Kuss auf die Wange. Sie blickt auf die selig schlafende Ann. „Wie gut du es hast im Vergleich zu Sherine“, denkt sie.

Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Ihr Ehemann Ibrahim ist noch wach. Von der Witwe und ihrer Tochter ohne Schuhe wird sie ihm erst morgen erzählen, beschließt sie und geht ins Badezimmer. Sie braucht zuerst Zeit für sich, um das Erlebte zu verarbeiten. Die Begegnung mit der Witwe lässt sie nicht los. Maggie sieht ihr Gesicht im Badezimmerspiegel, während sie sich abschminkt. Die Kohleverkäuferin ist wahrscheinlich genauso alt wie sie, denkt Maggie. „Ich hätte an ihrer Stelle sein können – und Ann wäre das Mädchen, das keine Schuhe hat.“

Dass es arme Menschen gibt, war für Maggie nie ein Geheimnis – obwohl ihre Familie zur wohlhabenden Mittelschicht Ägyptens gehört. Sie denkt an ihren Vater, George Gobran, den alle nur bei seinem Nachnamen nennen und der in Nag Hammadi in Oberägypten eine Arztpraxis hatte. Dort wohnte ihre Familie, bevor sie nach Kairo zog. Wann immer jemand in den Dörfern ringsum in Not war, setzte ihr Vater sich ins Auto und half. Wer sich keine Behandlung leisten konnte, den versorgte er umsonst. In der gesamten Region war Gobran als Arzt bekannt und geschätzt. Maggie bewundert ihn für seine Leidenschaft, anderen zu helfen. Auch seine Schwester, Tante Tedda, hat dieses große Herz für Menschen in Not.

Nach der Begegnung mit der Witwe und ihrer Tochter fällt Maggie auf, dass sie sich bisher selten länger mit den Gästen ihrer Tante unterhalten hat. So viel Aufmerksamkeit wie jetzt der Frau am Straßenrand hat sie den Armen bislang nie geschenkt.

Kleine Jungen, große Träume

Die Weihnachtstage, die die Familie Gobran zusammen feiert, gehen schnell vorbei, und sofort nimmt der Alltag Maggie wieder gefangen. Doch Sherine und ihre Mutter hat sie nicht vergessen. Wie es ihnen wohl geht? Manchmal fährt Maggie durch die Hauptstraße in Shubra el Kheima, an der sie die beiden getroffen hat. Sie sieht sie nicht mehr wieder. In Maggie bleibt das Gefühl der Ungerechtigkeit: Warum müssen die beiden zittern und hungern, während es ihr mehr als gut geht? Diese Familie hat eine solche Armut nicht verdient. Und ihr fällt auch kein Grund ein, womit sie den Überfluss, in dem sie lebt, verdient haben sollte.

Kurz vor Ostern 1986 fährt Maggie wieder in dem weißen Bus mit ihren Freundinnen nach Shubra el Kheima zur katholischen Kirche, in der sie zu Weihnachten bereits waren. Sie werden schon erwartet, als sie in die Eingangshalle der Kirche kommen. Etwa ein Dutzend Jungen schreien durcheinander und rennen um die Mütter und die älteren Frauen herum, die dort auf Plastikstühlen sitzen.

„Maggie, wie wäre es, wenn du dich um diese Jungen kümmerst, während wir das Essen verteilen?“, schlägt eine ihrer Freundinnen vor.

Maggie schart die Lautesten um sich und erzählt ihnen die biblischen Geschichten, die sie von ihrer Tante Tedda kennt. Die Kinder sitzen vor ihr und hören aufmerksam zu. Was diese fremde Frau erzählt, ist neu für sie. Ihre Füße, Hände und Gesichter sind staubig, die Haare ungekämmt und ihre Kleidung zerrissen und so dreckig, als wäre sie noch nie gewaschen worden. Maggie fragt die Jungen nach ihren Namen und sofort reden alle durcheinander: wie sie heißen, wie ihre Geschwister heißen und wo genau sie wohnen.

Der eine erzählt, dass er neben einem Kiosk wohnt, wo es Chips und Cola gibt. Ein anderer stellt sich vor Maggie, ruft „Weißt du was?“, und zieht dabei an ihrem T-Shirt, damit sie nur noch ihm zuhört: „Ich werde mal einen Kiosk aufmachen, da, wo ich wohne.“

Maggie lacht ihn an: „Ist das ein Traum von dir?“ Er nickt heftig.

Ein anderer Junge ruft aufgeregt dazwischen: „Und ich will ein Fahrrad haben.“ Voller Begeisterung erzählen die Jungen immer weiter, was sie sich wünschen und wovon sie träumen. Noch nie hat ein fremder Erwachsener sich für sie interessiert. Maggie genießt es, den Kindern zuzuhören, die anscheinend sonst so wenig Aufmerksamkeit bekommen. Die Zeit verfliegt, ohne dass sie es merkt.

„Los, Maggie, kommst du? Wir müssen gehen!“ Eine der Frauen tippt ihr auf die Schulter. „Der Fahrer ist schon da.“

„Nein, bitte geh nicht, Mrs Maggie!“, sagen die Jungen und schauen sie flehend an. „Verlass uns nicht!“

Mit ihren Armen klammern sie sich an Maggie. Es fällt ihr schwer, sich von den Jungen zu verabschieden. Sie sehnen sich so sehr nach Aufmerksamkeit.

„Ich werde wiederkommen“, verspricht sie.

Maggie sitzt in dem weißen Bus, der über eine unbefestigte Straße holpert. Das Bild der Jungen, die sie mit bettelnden Augen ansehen, hat sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Der leere Keksteller

In Teddas Zimmer sieht es fast so aus wie immer. Nur eine Kleinigkeit ist anders seit dem 17. März 1987. Der ovale Porzellanteller, der auf dem dunkelbraunen Holztisch steht, ist leer. Vor Teddas Tod haben sich dort Baklawa und Dattelkekse gestapelt. Jederzeit war sie auf Besuch vorbereitet, und niemand, der kam, ging hungrig. Maggie vermisst das fröhliche Geplauder in der Wohnung ihrer Tante. Die Stille fühlt sich fremd, ja, falsch an diesem Ort an. Der Verlust ist für Maggie schwer zu ertragen. Tedda war wie eine zweite Mutter für sie. „Nach ihrem Tod fragte ich mich oft, wer den Armen, denen sie immer zur Seite stand, jetzt wohl helfen würde“, erinnert sich Maggie.

Immer wieder zieht es sie neben ihrer Arbeit an der Universität, dem Reisen, der Familie und diversen Nebenjobs zu den Armen. Weiterhin begleitet sie ihre Freundinnen aus der Gemeinde zu den Menschen im Slum von Shubra el Kheima. „Wir verteilten unsere Geschenke, gingen nach Hause und vergaßen die Armen im Alltag bald wieder“, sagt Maggie im Rückblick.

Doch je öfter sie bei ihnen ist, desto weniger kann sie sich ihnen und den Bildern in ihrem Kopf entziehen. Als es Winter wird und die Temperaturen sinken, denkt sie an die Familien, die nur mit Lumpen bekleidet in ihren Hütten frieren. Es lässt ihr keine Ruhe, dass diese Menschen keine Heizung und kein dichtes Dach über dem Kopf haben. Deshalb geht sie los und organisiert Decken und warme Kleidung, um sie den Familien zu geben.

Bei einem Empfang im Jahr 1987 lernen Maggie und ihr Mann einen Arzt kennen. Der Mediziner mit den schwarzen, dichten Locken und dem sympathischen Lächeln stellt sich als Dr. Adel vor. Er erzählt, dass er vor wenigen Jahren seine Stelle als Assistenzarzt in der Klinik in Heliopolis aufgegeben hat, um den Menschen in den Müllslums zu helfen. Die französisch-belgische Schwester Emmanuelle des katholischen Ordens „Notre Dame de Sion“ hätte ihn dazu gebracht. Seit 16 Jahren lebt die fast 80-jährige Schwester im Elendsviertel Ezbet el-Nakhl bei den Menschen mitten im Müll, sagt er. Die nach ihr benannte Hilfsorganisation „Association Soeur Emmanuelle“ betreibt dort Sozialzentren, zu denen auch Krankenstationen und Schulen gehören. Dort arbeitet der 38-Jährige als Arzt in einer Ambulanz.

Vor sechs Jahren hat Schwester Emmanuelle damit begonnen, auch in der größten Müllstadt Kairos, in Mokattam, den Menschen zu helfen. Dort gibt es noch so viel zu tun, betont Dr. Adel. Maggie hört ihm aufmerksam zu und fragt dann spontan, ob er sie einmal nach Mokattam mitnehmen kann, um ihr Schwester Emmanuelle vorzustellen, von der sie zuvor noch nie etwas gehört hatte. Der Mediziner stimmt sofort zu und holt sie tatsächlich eine Woche später mit einem Kleinbus zu Hause ab. Gemeinsam fahren sie in den Slum Mokattam. Die fein gekleidete Maggie ahnt noch nicht, was dort auf sie zukommt.

Menschen im Müll

Durch die engen, labyrinthartigen Gassen schieben sich Eselsfuhrwerke und klapprige, verrostete Kleinlaster mit meterhoch aufgeschichteten Müllsäcken. Die einen bringen den Müll unsortiert in ihre Häuser, die anderen fahren ihn aus der Müllstadt hinaus – sortiert nach Plastik, Pappe und Metall. Das ist das Geschäft der Zabbalin, die hier in Mokattam leben – ein Geschäft, um zu überleben, nicht, um zu leben. Die meisten Familien hier verdienen mit dem Müll umgerechnet zwei bis vier Euro am Tag. Damit muss eine durchschnittlich achtköpfige Familie auskommen. Jungen hieven auf ihren gekrümmten Rücken große Bündel mit Altpapier oder weiße, riesige Plastiksäcke durch die Straßen.

Maggie will aus dem Bus steigen, doch sie zögert. Sie hat einfache Sandalen an. Wenn sie mit ihren Füßen auf den Boden der Straße tritt, muss sie durch eine Pfütze mit braunem, stinkendem Matsch waten. Sie rutscht auf der Sitzbank des Autos zur anderen Seite, macht dort die andere Schiebetür auf – und zögert wieder.

Wenige Meter vor ihr wühlen Frauen und Kinder in riesigen Müllbergen. Sie suchen vor ihren Häusern zwischen Essensresten, Tierkadavern und Klinikabfall nach Rohstoffen. Im Müll wuseln Ratten von der Größe eines Kaninchens oder einer Katze.

Maggie entweicht ein stummer Schrei. Sofort schließt sie angewidert ihren Mund. Es riecht penetrant nach Müll, Fäkalien, Abgasen und verbranntem Plastik. „Der Gestank machte mich krank und ich ekelte mich vor allem. Krampfhaft versuchte ich, nichts zu berühren“, erinnert sie sich noch Jahre später.

Als Maggie sich schließlich doch dazu überwunden hat, aus dem Wagen zu steigen, folgt sie Dr. Adel in eine kleine Hütte, die aus zusammengenagelten Kanistern und Wellblech besteht. Darin erwartet sie Schwester Emmanuelle. Die Frau, die eine große runde Brille trägt und ein Kopftuch, das am Hinterkopf zusammengebunden ist, lächelt übers ganze Gesicht. Sie bietet der sichtlich bleichen Maggie ein Glas Wasser an und erzählt ihr von dem Tag, an dem sie das erste Mal in das Müllviertel Ezbet el-Nakhl kam, das etwa 15 Kilometer von Mokattam entfernt liegt. „Damals“, so sagt sie zu Maggie, „war ich ähnlich blass und sprachlos wie Sie jetzt.“

Sechzehn Jahre sind vergangen, seit Schwester Emmanuelle, die Tochter eines Unternehmers, in einen Ziegenstall zu den Müllsammlern gezogen ist. Für die Theologin und Philosophin, die zuvor fast vierzig Jahre in Frankreich, der Türkei, in Tunesien und Ägypten Töchter aus besserem Hause und Diplomatenkinder unterrichtet hatte, war das neue Leben bei den Außenseitern der Gesellschaft anfangs sehr herausfordernd. Sie hatte einen Ruhestand gewählt, der mit Ruhe nichts zu tun hatte. Es gab so viel zu tun an diesen Orten bitterer Armut.

Schwester Emmanuelle scheint Maggies Gedanken lesen zu können. Sie erinnert sich, welche Fragen ihr damals durch den Kopf schossen, als sie mitten in den Müllbergen die vielen armseligen Wellblechhüten ohne Strom- und Wasserversorgung sah: Wie können die Menschen hier leben? Wie können sie kochen? Wie sich waschen? Wie können hier Kinder geboren werden und überleben? Wie kann man hier nachts schlafen?

Die Ordensschwester in dem blauen Nylonkittel erzählt von ihrer Arbeit. Die Not ist groß, die Hilfe noch zu wenig. Dr. Adel nickt schweigend. Maggie kann sich kaum auf das Gespräch konzentrieren, weil sie in der Nachbarhütte ein Baby weinen hört. Das Schreien klingt nicht trotzig, sondern erschöpft und wimmernd. Es ist das Schreien eines Babys, das schon stundenlang nichts mehr zu essen bekommen hat. Schwester Emmanuelle ist vorsichtig, ja, weise genug, Maggie noch nicht zu erzählen, dass hier jedes Kind hungrig ins Bett geht und sich nicht nur die Kleinsten vor Bauchschmerzen in den Schlaf weinen. Maggie hat für heute genug gesehen, gehört und gerochen. Nach einer knappen Stunde fährt Dr. Adel sie nach Hause zurück. Sie schweigen während der Fahrt, noch findet Maggie keine Worte für das, was sie umtreibt.

Schlaflos

Der Geruch von Mokattam sitzt Maggie noch viele Stunden, bis weit nach Mitternacht, in der Nase. Ihre Haare riechen ebenfalls danach – trotz des Shampoos, das sie beim Waschen großzügig einmassiert hat. Etwas auf ihrem Kopf juckt. „Hoffentlich keine Läuse“, denkt Maggie. Sie hustet. Der Rauch des brennenden Mülls liegt auf ihren Bronchien. Sie dreht sich von einer Bettseite zur anderen. Ruhe findet sie nicht. Immer wieder sieht Maggie diesen Müllhaufen vor sich, der sich bewegte. Zuerst glaubte sie, ein Tier würde nach Essensresten suchen, doch dann entdeckte sie zwei Kinderaugen. Ein kleiner Junge lag nahezu verschüttet im Müll, vergessen und schutzlos. Sie denkt auch an das Mädchen, das apathisch an einer braunen Bananenschale kaute. Ob es heute hungrig ins Bett gehen muss? Auch jetzt, Stunden nach ihrem ersten Besuch in Mokattam, scheint ihr das Erlebte wie ein Albtraum, der unmöglich wahr sein kann.

Während Maggie schlaflos an die Zimmerdecke starrt, hört sie in der schwindenden Nacht durch das offene Fenster das Klappern eines Eselskarrens. Das wird Rohani mit seinem Vater sein. Seit zwei Jahren kommen sie zusammen nach Heliopolis, um nachts den Müll der wohlhabenden Leute einzusammeln. Maggie trifft den Jungen höchstens ein Mal im Monat, um ihm das Geld für die Müllabholung zu geben. Nur umrissartig hat sie sein Gesicht vor Augen. So genau hat sie ihn nie wahrgenommen. Wie etwas, das so selbstverständlich zum Alltag gehört, dass es erst wieder auffällt, wenn es fehlt.

Kaum jemand der Hausbewohner kennt die Müllsammler persönlich, die „Zabbalin“ genannt werden. Sie sammeln täglich etwa ein Drittel des Mülls der Stadt ein. Der Begriff „Zabbalin“ – „Müllmenschen“ – stammt von dem ägyptischen Dialektwort für Müll, „zebala“. Akzeptiert werden die Zabbalin lediglich, weil sie nützlich sind. Wie ein Objekt, eine Maschine, die den Dreck der Reichen frisst.

Während Maggie hört, wie Rohani am Portier vorbei durch das Treppenhaus stapft, wundert sie sich über sich selbst. Noch nie hat sie über ihn und sein Schicksal nachgedacht, nie überlegt, wer er eigentlich ist. Ist er auch einer der Müllsammler, die sie heute in Mokattam getroffen hat? Einer derer, die im und vom Müll der anderen leben, dem Müll, dessen Gestank sie nicht einmal einen Nachmittag aushält? Wie alt Rohani wohl ist, vielleicht 16 oder 18 Jahre? Wann immer sie ihn getroffen hat, war er höflich, grüßte und hielt doch schüchtern Abstand, als ob er wusste, dass seine verfilzten Haare und seine abgetragene Kleidung bei den Reicheren keinen guten Eindruck hinterlassen.

3

Die Zabbalin

Wenn du weinen möchtest, besuche die Armen,
und lebe einen Tag bei ihnen.

Maggie Gobran

Für Rohani ist diese Nacht wie jede andere. Mit seinem Vater sammelt er in drei Straßen den Müll ein. Die Bewohner stellen am Abend ihre Abfalltüten vor die Wohnungstür ins Treppenhaus. Rohani läuft Stufe für Stufe, Etage für Etage die Häuser ab und befördert die Müllbeutel in den Bastkorb auf seinem Rücken. Mit vollem Korb und nach vorn gebeugtem Rücken schwankt er auf seinen Vater zu, der die Säcke auf den Karren lädt.

Am Ende der Nacht ist die gesamte Ladefläche voll, meterhoch ein Sack über den anderen gestapelt. Wenn der Morgen graut, machen sich Vater und Sohn auf den Rückweg. Um vier, fünf Uhr in der Früh sind die Straßen frei. Die Stadt schläft noch – bis auf die Müllleute und einige Muslime, die zum Morgengebet in die Moschee gehen. Je näher Rohani und sein Vater dem Stadtteil Mokattam kommen, desto mehr Pick-ups und Eselskarren treffen sie, alle beladen mit unsortiertem Müll – aus Privathaushalten, Krankenhäusern, Schulen und vereinzelt auch Firmen.

Sobald der Berufsverkehr beginnt, sind die Müllsammler von der Bildfläche verschwunden. Die Regierung duldet ihren Anblick nicht, mit ihren Eselskarren passen sie nicht in das sich ständig modernisierende Stadtbild. Das Müllgeschäft der Zabbalin ist illegal, doch zugleich alternativlos. Weder für die Abfuhr noch für die Entsorgung hat die Stadt ein funktionierendes System. Ohne die geschätzt Zehntausenden Zabbalin würde die Metropole Kairo in ihren Abfällen ersticken.

Zurück im Müllviertel, entladen Rohani und sein Vater die Beute der Nacht. Entweder bringen sie alles in das Erdgeschoss ihres unfertigen Backsteinhauses, oder sie stapeln die Säcke, wenn im Haus kein Platz ist, direkt davor. Dann beginnt das aufwendige Sortieren. Täglich sitzt Rohanis Mutter mit den beiden kleineren Schwestern zwischen acht und zwölf Stunden im Müll. Stundenlang machen sie immer dieselben Bewegungen. Die Sehnen ihrer Hände und ihre Schultern schmerzen von der einseitigen Arbeit.

Die Frauen klauben den Abfall aus den gesammelten Tüten und trennen Rohstoffe vom Restabfall. Wertvolle Materialien wie Papier, Kunststoff, Aluminium oder Glas nehmen sie genau unter die Lupe: Sie begutachten die Stärke, Farbe, Form, Beschaffenheit und Qualität und werfen die Materialien auf unterschiedliche Haufen. Rohanis Mutter kann nahezu blind sagen, was welchen Wert hat. Mit Fingerspitzengefühl wird Plastik unterschieden zwischen hart und weich und jeder Zwischenform, fest oder elastisch. Ob Verpackung, Wasserflaschen, Müllsack oder Cremetube – Rohanis Mutter weiß genau, wie sie den Müll sortieren muss, um ihn anschließend für ein paar ägyptische Pfund verkaufen zu können.

Rohanis Schwestern schneiden von den Coladosen den Deckel ab. Der Aluminium-Körper sowie andere Metalle werden zusammengepresst und anschließend auch ins Ausland, zum Beispiel nach China, verkauft. Die leeren Müllsäcke schrubben Rohanis Schwestern mit Seife und waschen auch alte Kleidung und Stoffreste mit Wasser, das sie mit Kanistern herbeigeschleppt haben. Anschließend hängen sie alles auf eine Wäscheleine, damit es trocknet.

Dann bringt Rohani die sauberen Materialien zum Nachbarn. Die sortierten Stoffe schreddert dieser so lange, bis nur noch Watte und Fusseln übrig bleiben, die nun als Füllmaterial für Matratzen, Kissen und Polstergarnituren taugen. Nicht jede Familie hat die entsprechenden Schneidemaschinen, und so gibt es innerhalb der Müllstadt Kleinunternehmer, Dienstleister und Zwischenhändler.

Was an organischen Abfällen übrig bleibt, wird an die vier Schweine der Familie verfüttert. Für die Versorgung der Tiere ist Rohani verantwortlich, für den Handel sein Vater. Die Schweine sind die beste Einkommensquelle für die Zabbalin. Mit Abfall gemästet, werden die dicken Schweine an Metzgereien verkauft und an touristische Einrichtungen geliefert. Umgerechnet bis zu 50 oder 60 Euro kann Rohanis Vater mit einem Schwein verdienen, das entspricht etwa einem Monatsgehalt. Für die Familie sind Schweine deshalb überlebensnotwendig. Aus Platznot leben die Tiere mit der Familie in denselben vier Wänden.